Der Bergpfarrer 269 – Heimatroman - Toni Waidacher - E-Book

Der Bergpfarrer 269 – Heimatroman E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 10 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Unter anderem gingen auch mehrere Spielfilme im ZDF mit Millionen Zuschauern daraus hervor. Sein größtes Lebenswerk ist die Romanserie, die er geschaffen hat. Seit Jahrzehnten entwickelt er die Romanfigur, die ihm ans Herz gewachsen ist, kontinuierlich weiter. "Der Bergpfarrer" wurde nicht von ungefähr in zwei erfolgreichen TV-Spielfilmen im ZDF zur Hauptsendezeit ausgestrahlt mit jeweils 6 Millionen erreichten Zuschauern. Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. In Spannungsreihen wie "Irrlicht" und "Gaslicht" erzählt er von überrealen Phänomenen, markiert er als Suchender Diesseits und Jenseits mit bewundernswerter Eleganz. Endlich Ferien! Mit einem Schwung warf Ilka Jensen die Tasche in die Ecke ihres Arbeitszimmers und stieß hörbar die Luft aus. "Puh! Das wäre geschafft." Die junge Lehrerin ging in die kleine Küche ihrer Dreizimmerwohnung in der Bremer Innenstadt, und nahm eine Karaffe mit Tee aus dem Kühlschrank, die sie am Morgen hineingestellt hatte. Schwarzer Tee, mit Zitronengras und Ingwer gewürzt. Ilka trank ihn sehr gerne, vor allem, wenn er so schön gekühlt war. Mit einem vollen Glas setzte sie sich auf das Sofa und sah die Liste durch, die sie am Abend zuvor schon teilweise abgehakt hatte. Darauf standen all die Dinge, die sie für ihre Urlaubsreise benötigte. Bis auf die Zahnbürste und einige Kosmetikartikel hatte sie bereits alles zusammen. Den Rest wollte sie heute Nachmittag einkaufen. Ilka sah auf die Uhr. Höchste Zeit, loszugehen. Anja wartete vermutlich schon. Sie warf einen hastigen Blick in den Spiegel und fuhr sich rasch noch einmal durch das kurze blonde Haar. Dann griff sie nach ihrer Handtasche und ignorierte das Klingeln ihres Telefons. Wenn es wichtig war, konnte der Anrufer ja eine Nachricht hinterlassen. Sie hatte jedenfalls keine Zeit mehr. Anja Bonge wartete in ihrem Lieblingsbistro, ein paar Straßen weiter. Vor ihr auf dem Tisch standen eine Flasche Mineralwasser und ein großer bunter Salatteller, mit gebratener Hähnchenbrust und Baguette.

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Der Bergpfarrer – 269 –

Ein Herz kann man nicht kaufen

Was wird aus Ilka und Thomas?

Toni Waidacher

Endlich Ferien! Mit einem Schwung warf Ilka Jensen die Tasche in die Ecke ihres Arbeitszimmers und stieß hörbar die Luft aus.

»Puh! Das wäre geschafft.«

Die junge Lehrerin ging in die kleine Küche ihrer Dreizimmerwohnung in der Bremer Innenstadt, und nahm eine Karaffe mit Tee aus dem Kühlschrank, die sie am Morgen hineingestellt hatte.

Schwarzer Tee, mit Zitronengras und Ingwer gewürzt. Ilka trank ihn sehr gerne, vor allem, wenn er so schön gekühlt war. Mit einem vollen Glas setzte sie sich auf das Sofa und sah die Liste durch, die sie am Abend zuvor schon teilweise abgehakt hatte. Darauf standen all die Dinge, die sie für ihre Urlaubsreise benötigte. Bis auf die Zahnbürste und einige Kosmetikartikel hatte sie bereits alles zusammen. Den Rest wollte sie heute Nachmittag einkaufen.

Ilka sah auf die Uhr. Höchste Zeit, loszugehen. Anja wartete vermutlich schon. Sie warf einen hastigen Blick in den Spiegel und fuhr sich rasch noch einmal durch das kurze blonde Haar. Dann griff sie nach ihrer Handtasche und ignorierte das Klingeln ihres Telefons. Wenn es wichtig war, konnte der Anrufer ja eine Nachricht hinterlassen. Sie hatte jedenfalls keine Zeit mehr.

Anja Bonge wartete in ihrem Lieblingsbistro, ein paar Straßen weiter. Vor ihr auf dem Tisch standen eine Flasche Mineralwasser und ein großer bunter Salatteller, mit gebratener Hähnchenbrust und Baguette.

»Ich nehme das Gleiche«, bestellte Ilka bei der Bedienung, nachdem sie ihre Freundin begrüßt hatte.

»Na, du Glückspilz!«

Anja lächelte.

»Nicht, dass ich neidisch wäre«, sagte sie. »Ich gönne dir deinen Urlaub von Herzen …«

»Aber?«

»Aber ich wäre sehr gerne mitgefahren. Ich liebe die Berge über alles! Und vor allem St. Johann. Grüß mir bloß die Frau Stubler und den Pfarrer Trenker! Und nimm dich vor den Burschen in Acht. Das sind allesamt fesche Kerle, die nichts Besseres im Sinn haben, als den Madeln den Kopf zu verdrehen.«

Ilka hob abwehrend die Hände.

»Da werden sie bei mir kein Glück haben«, erwiderte sie. »Ich will den Urlaub in erster Linie nutzen, um mich zu erholen.«

Anja trank einen Schluck.

»Und zu vergessen, nehme ich an«, sagte sie ernst.

Genauso ernst nickte die junge Lehrerin. Ja, dem Vergessen sollte dieser Urlaub auch dienen. Abstand wollte sie gewinnen, von Joachim Jäger, diesem gut aussehenden Mann, der ihr den Kopf verdreht hatte, mit seinen Liebesschwüren.

Liebe am Arbeitsplatz – niemals würde das für sie infrage kommen, das hatte Ilka immer behauptet. Und dann war es doch geschehen. Der Kollege hatte gleich an ihrem ersten Arbeitstag an der neuen Schule mit ihr geflirtet, und viel zu schnell war sie seinem Charme erlegen. Ganz bestimmt wäre mehr daraus geworden, wäre Ilka nicht rechtzeitig dahintergekommen, dass Joachim seine Gunst nicht nur ihr schenkte. Sie hatte die Beziehung genauso schnell wieder beendet, wie sie begonnen hatte.

Außerdem hatte Ilka bei der Schulbehörde einen Versetzungsantrag stellen wollen, doch da war Joachim Jäger ihr zuvorgekommen und hatte seinerseits die Schule verlassen. Wenn die Gerüchte stimmten, dann arbeitete er jetzt an einer deutschen Schule in Kairo.

Indes war es Ilka nicht so gleichgültig, wie sie es gerne gehabt hätte. Noch lange Zeit sollte Joachim ihr nicht aus dem Kopf gehen – aus dem Herzen schon gar nicht.

Anja Bonge war ihre beste Freundin. Sie kannten sich seit ewigen Zeiten, sie hatte ihr den Tipp mit dem Urlaub in den Wachnertaler Alpen gegeben. Als Kind war Anja oft mit den Eltern nach St. Johann gefahren, eine herrliche Zeit war es gewesen, an die sie sich heute noch gerne erinnert.

Als junge Frau hatte sie es erst einmal geschafft, ihre Ferien wieder dort zu verbringen. Wie früher, bei den Urlauben mit den Eltern, war die Journalistin in der Pension Stubler abgestiegen, die sie nun Ilka ans Herz gelegt hatte. Anjas Karriere hatte bei einer kleinen Zeitung begonnen, jetzt arbeitete sie beim Fernsehen, und das war auch der Grund, warum sie die Freundin nicht begleiten konnte. Ihr nächster Urlaub stand erst in einigen Wochen an – wenn sich nicht noch etwas daran änderte, was bei den aktuellen politischen Ereignissen durchaus der Fall sein konnte.

»Ja, ich beneide dich«, gab Anja ganz offen zu. »Aber ich wünsche dir einen wunderschönen Urlaub, mit ganz viel Sonnenschein und guter Laune.«

Lächelnd prosteten die Freundinnen sich zu.

Nach dem Essen machten sie ihren Einkaufsbummel. Ilka besorgte sich noch die letzten Sachen für die Fahrt, und den Abend verbrachten die Freundinnen bei Rotwein, Käse und einem Liebesfilm auf DVD.

Ilka startete am nächsten Morgen fröhlich und in aller Herrgottsfrühe in die wohlverdienten Ferien.

*

Sebastian Trenker wanderte von der Nonnenhöhe zum Geißenpass und stieg über den alten Pilgerpfad zur Hirschkopfalm hinauf. Neben der Kandereralm war hier die zweite von einstmals sechs Sennereien im Wachnertal übrig geblieben, bis auch sie vor sechs Jahren aufgegeben wurde. Es lohne nicht mehr, hatte der damalige Besitzer gemeint und die Alm samt Hütte verkauft. Allerdings hatte sich der neue Besitzer hier nie blicken lassen. Von ihm wusste nicht einmal der Berghahnbauer den Namen, weil der Verkauf seinerzeit über einen Münchner Makler abgewickelt wurde.

Dem guten Hirten von St. Johann gefiel dies ganz und gar nicht, und er versuchte den Besitzer der Alm ausfindig zu machen. Leider war der Makler inzwischen verstorben, die Firma erloschen, und Unterlagen über die getätigten Geschäfte gab es nicht mehr. Immerhin konnte Sebastian anhand der Grundbucheintragung feststellen, dass eine Allgäuer Immobilienfirma als Besitzer beim Katasteramt registriert war. Daraufhin war er nach Kempten gefahren, um mit den Leuten zu sprechen und in Erfahrung zu bringen, was mit der Alm geschehen soll.

Indes bereitete man dem Bergpfarrer einen frostigen Empfang, und zu einem der Inhaber wurde er gar nicht erst vorgelassen.

Seither ließ es sich der Geistliche aber nicht nehmen, immer wieder mal zur Hirschkopfalm hinaufzuwandern und nachzusehen, ob sich dort vielleicht nicht doch etwas tat.

Bisher allerdings ohne irgendein Resultat.

Sebastian setzte sich auf einen abgesägten Baumstumpf und aß seine Brotzeit, die Sophie Tappert ihm wie immer überreichlich mitgegeben hatte. Dazu trank er heißen Kaffee aus der Thermoskanne. Dabei schaute er nachdenklich zur Hütte hinüber. Dort war die jahrelange Vernachlässigung deutlich zu sehen. Das Holz, ohnehin schon von Wind und Wetter gegerbt, war ohne Pflege hier oben den eisigen Winden des Winters ausgesetzt. Schnee und Hagel setzten ihm zu, und im Frühjahr kam niemand herauf, um nach der Hütte zu sehen. Die Eingangstür war mit Brettern vernagelt, und die Fenster, deren Scheiben zum Teil zerbrochen waren, wirkten wie leere Augen.

Sebastian fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis die Hütte ganz in sich zusammenfiel.

Lange konnte es eigentlich kaum noch dauern. Mehr aus reiner Gewohnheit, denn aus Neugier, spazierte der Bergpfarrer nach dem Essen hinter die vom Zusammenbruch bedrohte Terrasse und von dort weiter zur Rückseite. Dort befand sich nicht nur eine weitere Tür, die schief in den Angeln hing, sondern auch der Eingang zum ehemaligen Reifelager der Sennerei.

Gerade wollte Sebastian an der Tür vorübergehen, als er stutzte.

Im Gegensatz zu seinem letzten Besuch hing sie nicht mehr in den Angeln, sondern war fachgerecht instand gesetzt worden und mit einem neuen Vorhängeschloss versperrt!

»Nanu«, murmelte der Geistliche verwundert, »was ist das denn?«

Er trat näher und betrachtete das Schloss. Kein Zweifel, es war nagelneu und glänzte noch. Sebastian sah sich um, aber außer ihm befand sich sonst niemand hier. Er ging weiter zum Reifelager, und es überraschte ihn kaum, auch diesen Eingang mit einem neuen Schloss verriegelt vorzufinden.

Langsam drehte sich der Bergpfarrer um und ließ seinen Blick kreisen. Auf den Almwiesen wucherte das Gras, weder Kühe, noch Ziegen hatten in den letzten Jahren dort geweidet. Die alte Wasserleitung war genauso trocken, wie der ausgehöhlte Baumstamm, der als Brunnen gedient hatte. Sebastian stieg eine Wiese hinauf und blickte zurück. Dabei machte er eine erstaunliche Entdeckung.

Als er weit genug oben war, konnte er auf das Dach der Hütte sehen und erkennen, dass dort die meisten der alten Schindeln gegen neue ausgetauscht waren, außerdem entdeckte er von seinem Aussichtspunkt aus Reifenspuren, die er zuvor nicht hatte sehen können. Sie führten vom Reifelager zum alten Wirtschaftsweg.

Offensichtlich war jemand mit dem Auto hier heraufgefahren!

Bedeutete das, dass man die Hirschkopfalm samt Sennerei wieder in Betrieb nehmen wollte? Aber warum war dann nichts darüber bekannt geworden, wo sich im Wachnertal doch sonst immer alles schnell herumsprach?

Nachdenklich machte sich der Geistliche auf den Weg hinunter ins Tal. Auf jeden Fall würde er auf dem Hof des Huberbauern Halt machen. Er war der Hütte am nächsten gelegen. Vielleicht hatte Franz Huber ja etwas mitbekommen.

Einen Moment überlegte Sebastian, ob Patricia Vangaalen hinter dieser mysteriösen Angelegenheit stecken könne, doch dann verwarf er diesen Gedanken wieder.

Diese Frau gab sich nicht mit so etwas Kleinem ab. Ihre Idee der »Wachnertaler Ferienwelt« war in größeren Dimensionen gedacht. Mit einer Almhütte konnte sie doch gar nichts anfangen.

»Grüß Gott, Hochwürden«, sagte der Huberbauer erfreut, als der Geistliche in der Tür stand. »Kommen S’ herein. Was möchten S’ trinken? Tee oder Kaffee?«

»Dank’ dir, Franz, aber ein Glas Wasser reicht«, antwortete Sebastian.

Er setzte sich an den Tisch. Franz Huber deutete auf eine große Kaffeemaschine, die auf einer Anrichte stand.

»Da bin ich aber heilfroh. Mit dem Ungetüm da kann ich nämlich net umgehen, und die Burgl und die Franzi sind in die Stadt gefahren.«

Er holte eine Wasserflasche und zwei Gläser und kam an den Tisch.

»Wie schaut’s mit der Ernte aus?«, erkundigte sich der Bergpfarrer.

»Alles bestens, gottlob«, meinte der Bauer. »Wenn’s Wetter hält, können wir in vierzehn Tagen loslegen.«

»Sag mal, Franz«, wechselte Sebastian das Thema, »ich komm’ grad von der Hirschkopfalm, da scheint sich was zu tun. Hast’ vielleicht mal bemerkt, dass da ein Auto hinaufgefahren ist, oder irgendeinen Menschen gesehen?«

Sein Gegenüber schüttelte verwundert den Kopf.

»Nein«, erwiderte er. »Ich hör’ auch zum ersten Mal davon, dass da irgendwas los sein soll. Glauben S’, dass die Alm wieder in Betrieb genommen werden soll?«

»Das ist genau das, was ich mich frage.«

Der gute Hirte von St. Johann erzählte, was er entdeckt hatte. Noch immer erstaunt kratzte sich der Bauer am Kinn.

»Das ist schon seltsam«, meinte er. »Aber ich werd’ freilich Augen und Ohren offen halten und Ihnen gleich Bescheid geben, sobald ich was bemerk’.«

*

»Grüß Gott und herzlich willkommen«, sagte Ria Stubler. »Sie sind gewiss die Frau Jensen aus Bremen, gell?«

Die Lehrerin nickte.

»Stimmt, aber Ilka reicht.«

»Schön, und ich bin die Ria.«

»Ich soll Ihnen schöne Grüße von Anja Bonge ausrichten«, bemerkte die junge Frau. »Sie hofft, dass es Ihnen gut geht.«

»Herzlichen Dank«, antwortete die Wirtin, während sie den Zimmerschlüssel vom Brett nahm, »da kann ich net klagen. Und die Anja, ist sie immer noch bei der Zeitung?«

»Nein, sie arbeitet inzwischen fürs Fernsehen.«

»Tatsächlich!«

Ria Stubler war beeindruckt.

»Na, das ist aber eine Karriere«, setzte sie hinzu und ging voran.

Im oberen Stockwerk schloss sie die Tür auf und ließ Ilka eintreten.

Das Zimmer war hell und freundlich eingerichtet, die Möbel waren zum Teil mit Bauernmalerei verziert, an den Wänden hingen Bilder mit Motiven aus den Wachnertaler Alpen. Neben Fernsehen und Telefon gab es auch einen Internetanschluss, und ein kleines Badezimmer gehörte ebenfalls zur komfor­tablen Ausstattung.

»Sehr schön«, sagte die Lehrerin, »hier werde ich mich bestimmt wohlfühlen.«

Ria erklärte, zu welchen Zeiten es Frühstück gab, dass der Zimmerschlüssel auch für die Haustür passe, und dass Ilka am Abend vorher Bescheid geben solle, falls sie am nächsten Tag eine Bergtour machen wolle.

Für diesen Fall würde die Pensionswirtin ihr belegte Brote und Kaffee in einer Thermoskanne bereitstellen.

Nachdem sich die Wirtin verabschiedet hatte, packte Ilka Jensen ihre Reisetasche aus und verstaute die Sachen im Schrank. Im Magen spürte sie ein leicht flaues Gefühl. Sie war in aller Herrgottsfrühe losgefahren, um nicht am späten Abend in St. Johann anzukommen. Zwar hatte sie sich Proviant mitgenommen und einmal an einer Raststätte angehalten, aber jetzt war der Hunger wieder da.

Entweder in der Gastwirtschaft oder im Biergarten, die beide zum Hotel gehörten, könne man gut und günstig essen, hatte Anja gesagt. Auf der Fahrt durch das Dorf war Ilka daran vorübergekommen. Sie schaute noch einmal kurz in den Spiegel und schnappte sich ihre Tasche, die sie an einem Lederriemen um die Schulter hängte, und verließ das Zimmer.

Das Dorf hatte ihr schon gefallen, als sie mit der Freundin in deren Fotoalben blätterte und die Bilder aus St. Johann betrachtete. Auf ihrem Spaziergang erkannte Ilka viele Details wieder. Die Häuser, sogar die Menschen schienen ihr bereits richtig vertraut zu sein.

Wie Anja gesagt hatte, war der Biergarten gut besucht. Rechts standen kleinere Tische mit jeweils vier bequemen Stühlen darum, auf der linken Seite waren lange Tische aufgestellt, an den dazugehörigen Bänken hatten insgesamt acht Personen Platz.

»Hab bloß keine Scheu, zu fragen, ob du dich dazusetzen darfst«, klang Anjas Stimme in ihrem Ohr. »Da unten sind die Leute lange nicht so steif, wie man es uns Norddeutschen immer nachsagt.«

Dennoch zögerte Ilka einen Moment, ehe sie zu einem der großen Tische ging, an dem nur drei Gäste saßen. Ein älteres Ehepaar und ein junger Mann, kaum älter als sie selbst.

»Freilich können S’ sich dazusetzen«, nickte er, als die blonde Lehrerin fragte, ob die anderen Plätze wirklich noch frei wären.

Sie lächelte, als er ihr die Speisekarte reichte, die auf dem Tisch lag.

»Vielen Dank. Können Sie etwas empfehlen?«

»Eigentlich ist alles sehr lecker, was hier angeboten wird«, antwortete er. »Für den großen Hunger empfehle ich den Schweinsbraten mit Kartoffelknödeln, für den kleinen Appetit vielleicht das Schwammerlragout mit Semmelknödel.«

»Schwammerlragout …?«

Tief in ihrem Gedächtnis verborgen, erinnerte sie sich, dass Anja dieses Wort einmal erwähnt hatte.

Doch was war das noch?

»Pilze!«, rief die Lehrerin. »Schwammerl sind Pilze.«

»Richtig«, lachte der junge Mann. »Sie kommen wohl net von hier, was?«

»Wenn Sie mit hier ganz Bayern meinen«, schüttelte sie den Kopf, »nein, dann komme ich nicht von hier. Ich stamme aus Bremen.«

»Man merkt’s an Ihrer Aussprache«, schmunzelte er und beugte sich herüber. »Ich bin übrigens Thomas. Thomas Becker.«

»Ilka Jensen«, stellte sie sich vor und bestellte bei der Bedienung das Pilzgericht und eine Apfelschorle.

»Urlauberin also«, stellte er fest. »Ich übrigens auch. Aber ich bin ein echter Bayer, meine Wiege stand nämlich in Ingoldstadt.«

»Ich bin in der Nähe von Bremen geboren«, erzählte Ilka. »Am Rande des Teufelsmoores.«

»Teufelsmoor, klingt schön schaurig«, meinte Thomas Becker. »Aber hier gibt’s was, das kann da durchaus mithalten. Ein Bergwald namens ›Höllenbruch‹!«