Der beschwiegene Deduschka - Dina Kittel - E-Book

Der beschwiegene Deduschka E-Book

Dina Kittel

4,8

Beschreibung

Anhand einer wahren Familiengeschichte wird ein Stück deutsch-russischer Geschichte erzählt. Hierbei fließen zwei Erzählstränge zusammen. Der erste beschreibt das Leben von vier Generationen vor dem Hintergrund der geschichtlichen Ereignisse von 1850-2003 in Russland. Vom idyllischen adligen Landleben im Ural über Revolutionsumbrüche und stalinistische Säuberung zur sowjetischen Euphorie der Gemeinschaft, von sich veränderten gesellschaftlichen Werten in den Fünfziger Jahren bis hin zu den wirtschaftlich schwierigen Zeiten nach dem Zerfall der Sowjetunion. Hierbei ist der Schuldirektor und Familienvater Iwan Iwanowitsch die Hauptfigur. Krieg als Grund für die Liebe zu zwei Frauen ist hierbei ein zentrales Thema. Der zweite Erzählstrang beginnt 1990 mit den Reisen nach Russland der jungen, in der DDR aufgewachsenen, zweiten Hauptfigur Dina und deren berufliche Entwicklung während der Nachwendezeit. Der unerklärliche Drang zu Russland lässt sie trotz der dort erlebten Enttäuschungen nicht von diesem Land abbringen. Im Gegenteil, er bringt sie auf die ganz eigene Spur, die Geheimnisse um den russischen Großvater zu lüften und damit ihre Zuneigung zu Russland zu erklären. Dabei ist selbst in ihrer Familie ein weitverbreitetes politisches wie auch soziales, europaweites Tabu der Nachkriegszeit aufzuarbeiten, nämlich ein uneheliches Kind eines nichtdeutschen Offiziers zu sein. Sie widersetzt sich gesellschaftlichen Pflichten und bricht mit Tabus, um genau das in ihrer Familie zu entdecken, worum zwei Generationen vor ihr gebracht worden sind. Musik und Bildung durchziehen als Wertegerüst den gesamten Roman. Angefangen von den Tolstoianern über traditionelle Kirchenbildung bis hin zur Notausbildung als Bankkauffrau. Vom Klavier über ein Trophäenakkordeon als einziger Zeugen der Familiengeschichte bis hin zur reisenden Gitarre. Von Beethoven über Afghanistanlieder bis hin zur Samizdat-Verslyrik, beschreibt die Autorin mit Symbolik, Detailtreue und viel Emotionen der von der Hauptfigur erzählten inneren und tatsächlichen Reise nach und durch Russland.

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Der beschwiegene Deduschka

Ein deutsch-russisches Familiengeheimnis

Dina Kittel

interconnections

Dina Kittel, Jahrgang 1976, stammt aus Berlin. Sie schloss das Dolmetscherstudium für Russisch und Spanisch in Heidelberg ab und kehrte darauf in ihre Heimatstadt zurück.

Neugierig und unternehmenslustig hatte sie mit 31 Jahren bereits 33 Länder bereist, wobei Russland ein Land mit besonderer Anziehungskraft war.

Der Wunsch, ihren unbekannten und in der Familie nie erwähnten russischen Großvater zu finden, schwelte schon lange in ihr.

Ihr Weg zu ihm führte sie als DAAD-Stipendiatin nach Sankt Petersburg, als Praktikantin ins ARD-Moskau-Studio, in die Russische Staatsduma und später als Berufstätige ins Auswärtige Amt und die Russische Botschaft Berlin.

Neben wissenschaftlichen Artikeln schreibt sie Lyrik und Liedtexte, die sie zur Gitarre singt.

Sie lebt mit ihrem Sohn in ihrer Wahlheimat Potsdam.

Ähnliche Titel bei http://interconnections-verlag.de

Erhältlich über den Verlag oder im Buchhandel

Impressum

Reihe Belletristik, Band 4

Der beschwiegene Deduschka

Ein deutsch-russisches Familiengeheimnis

Dina Kittel

Umschlagfotos: Von der Autorin

Copyright

Verlag interconnections, Schillerstr. 44

79102 Freiburg, T. 0761-700 650, F. 700 688

[email protected], www.interconnections-verlag.de

ISBN: 978-3-86040-248-1, Erste E-Book-Auflage 2016

ISBN: 978-3-86040-227-6, Buch

Inhalt

Adliges Landleben im Ural

Revolutionsjahre / Auf nach Russland!

Krieg / Sankt Petersburg

Breslau / Wahre Werte

Zurück in der Heimat / Wo gehöre ich hin?

Gewissen / Berlin

Meine andere Frau / Die Suche beginnt

Sehe ich ihn noch?

Der falsche Deduschka?

Mein Land auch

Vorwort

Ich habe so gut Russisch gesprochen, dass viele Russen der Meinung waren, ich sei eine von ihnen.

Und wenn ich russische Lieder sang, hieß es, aus mir fließe die russische Seele.

Von meinem Studium in Sankt Petersburg kehrte ich enttäuscht zurück. Wieder in Deutschland und im Beruf, spürte ich aber erneut diese unerklärliche innere Verbundenheit mit Russland. Warum war das so?

Das Rätsel sollte sich aber lüften. In der Vitrine meiner Großmutter befand sich in einem geschlossenen goldenen Zuckerdöschen ein Foto mit einem Offizier der Roten Armee. War das nicht mein russischer Großvater, den ich nicht kannte und über den sie nie redete? Sie hatte lediglich seinen Namen verraten und erzählt, dass er aus dem Ural stammte, Lehrer gewesen sei und Akkordeon gespielt habe. Mehr nicht. Ich beschloss, meiner inneren Stimmung zu folgen und mich auf die Suche zu machen.

Es begann eine mühselige Suche. Zunächst über das Rote Kreuz sowie den Kriegskinderverein und die Schlesierverbände. Später half mir ein befreundeter Kollege und Mitarbeiter aus der russischen Botschaft in Berlin. Das war mein Glück. Er ließ über seinen Vater im russischen Verteidigungsministerium über mein Aktenzeichen nachforschen, das mir vom Archiv des Verteidigungsministeriums mit einem Ablehnungsbescheid und dem Hinweis zugeteilt worden war, es könne dazu keine Auskünfte erteilen. Dank seines Vaters wurde mir kurze Zeit später die Stadt genannt, wo mein Deduschka 1985 gewohnt hatte. Im Riesenreich Russland die Stadt seines Wohnsitzes zu erfahren, war ein wahres Geschenk! Damit suchte ich weiter...

Während der Suche bin ich vielen hilfsbereiten Menschen begegnet, die selbstlos Zeit und Geld geopfert haben, um für mich wertvolle Informationen herauszubekommen. Ich hörte immer wieder, dass sie viele kannten, denen es ähnlich ging und dass sie mich beglückwünschten, dass ich mich als junge Frau auf diese Suche begeben habe.

Niemand in meiner Familie hatte daran geglaubt, dass ich ihn finden würde. Daher danke ich meinen Eltern umso mehr, dass sie sich entgegen anfänglichem Desinteresses, ja sogar Ablehnung meiner Suche, mich im entscheidenden Moment unterstützt hatten, zu ihm zu fahren. Meine Mutter bewies große Tapferkeit, die verschlossenen Wunden des Tabus, ein Nachkriegskind eines nichtdeutschen Offiziers zu sein, aufzudecken und ihre 63-jährige Meinung über ihren Vater, der sie angeblich verlassen und nie einen Pfennig für sie gezahlt hatte, zu ändern. Ich danke meinem Vater, der meiner Mutter den nötigen Halt während der Suche und der ersten Begegnung gegeben hat. Und ich danke meinen russischen Verwandten, die in geteilter Geschichtsauffassung, meine Großmutter als Heldin bezeichneten, da sie sofort verstanden, dass sie unseren Deduschka mit ihrem Mantel des Schweigens vor real möglichen Repressalien schütze.

Meine Großmutter bewundere ich, wie sie aus Liebe ein Leben lang den Vater ihres einzigen Kindes niemandem preisgab.

Ich wünsche allen, die unter dem gleichen Tabu wie meine Mutter leiden, dass sie diese unglaublich erleichternde Entdeckung ihres unbekannten Vorfahren machen können!

Dina Kittel

Adliges Landleben im Ural

Der Ebereschenvogel

„Alles wird gut!“, sagte die Mutter, mit dem kleinen Iwan an der Hand.

Und so ging der Vater mit seinem Ältesten, Semjon, von dannen. Nach Orenburg zurück, von wo sie im letzten Sommer vor der Hungersnot aufs Land geflüchtet waren. Sie kamen bei einer verarmten Adelsfamilie unter, die sich nach der Bauernreform 1861 in einer Art und Weise für die Bauern einsetzten wie es für Tolstoianer üblich war. Sie teilten mit ihnen nicht nur das Land, das sie besaßen. Sie hatten auch eine Schule gebaut, in der ihre eigenen Kinder mit denen der Bauern lernten: Lesen und Schreiben und Singen. Denn so hatte der Graf seine Frau, ein Bauernmädchen, kennen gelernt.

Damals. Die Sonne ließ die Luft über der Steppe flirren und den Abend besonders sanft werden. Konstantin, der einzige Sohn der Familie, war ein Träumer und Idealist zugleich, spielte Klavier wenn es regnete und erkundete die Umgebung wenn die Sonne schien. Bis in den Abend hinein. Er nahm Piroggen und eine Feldflasche voller Kwas mit und kam oft erst nachts zurück. Sein Hauslehrer war seit einigen Jahren einer befreundeten Familie in Noworossijsk überlassen worden, da Konstantin es vorzog, die Bücher allein zu studieren, die er sich zuschicken ließ. Noworossijsk war eine Hafenstadt, die vor etwa zwanzig Jahren, also Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet wurde. So hatte Konstantin das Glück, dass ihn sein früherer Lehrer mit Büchern versorgen konnte. Der Hauslehrer arbeitete jetzt nämlich in der Familie eines Kapitäns. Noworossijsk war damals der neue Hafen Russlands am Schwarzen Meer. Zwar erst im Entstehen, aber vielversprechend. Und die Kapitäne wurden gut bezahlt. Eine Bücherbestellung über den Seeweg konnte zwar zur Geduldsprobe werden, war aber verlässlich. Auf dem letzten Buch, das sich Konstantin bestellt hatte, stand auf Deutsch „Ornithologie“. Der Vater hatte einmal darin geblättert und sich über das sich entwickelnde Interesse seines Sohnes an Biologie gefreut. Es waren viele Vögel darin abgebildet. Und Konstantin sollte immerhin die angedachte Geflügelfarm Wirklichkeit werden lassen.

Konstantin hingegen hatte jedoch völlig anderes im Sinn. Er versuchte die Gesänge der Vögel auf dem Klavier zu imitieren. Dazu weilte er oft weit weg vom Gut seiner Eltern, um neue, seltene Vögel aufzusuchen und deren Melodien nachzuahmen. Eines Abends, als er auf dem Fluss zu einer entlegenen Wiese ruderte, war er von einem Gewitter überrascht worden. Er konnte gerade noch rechtzeitig das Boot an Land bringen, um nicht von den aufgepeitschten Wellen mitgerissen zu werden. Er blieb die ganze Nacht dort, auch nachdem sich der Sturm gelegt und der Regen sich beruhigt hatte.

Kaum war er eingeschlafen, wurde er von einer Melodie geweckt, die er noch nie gehört hatte. Er lief ihr nach, konnte aber in der Dunkelheit keinen Vogel erkennen. So blieb er wach, um bis zum Morgengrauen zu warten und den Vogel zu erspähen. Aber vergebens, solch einen Gesang gab es bestimmt nicht noch einmal! Der Vogel aber war wohl schon fortgeflogen. Seitdem kam Konstantin öfter zu diesem Ort am Flussufer.

Maria, ein Bauernmädchen vom benachbarten Gouvernement, war gegen Mitternacht, als der strenge Vater schlief, aufgestanden, behutsam über die knarrenden Dielen geschlichen, und hatte die Tür hinter sich offen stehen gelassen, damit es ein Knarren weniger gab. Dann lief sie geschwind an den mächtigen Eichen vorbei zum Fluss hinunter und konnte es kaum erwarten, das Ufer entlang bis zur Eberesche zu laufen. Dort hatte sie eines Abends, als ein mächtiger Regenguss sie daran hinderte, vor Einbruch der Dunkelheit auf dem Hof zurück zu sein, einen Vogel singen gehört, den sie sonst noch nie gehört hatte. Sie prägte sich seinen Gesang ein und summte ihn fortan in frohen wie in schweren Stunden vor sich her. So war sie selig und vergaß alles Schwere um sich herum. Immer wenn es ihre Zeit und Kräfte erlaubten, kam sie zu diesem Ort, wo dieser Vogel sang.

Als sie sich eines Nachts von dort wieder auf den Heimweg machen wollte, hörte sie ein leises Plätschern in den Wellen. Sie unterbrach ihren Gesang und versteckte sich hinter den ausladenden Ästen der daneben stehenden Birke. So konnte sie keiner sehen. Um nichts auf der Welt wollte sie entdeckt werden, denn diese kleine Ewigkeit in der Dunkelheit mit dem Gesang des wunderbaren Vogels war ihr Lebensquell geworden. Keiner durfte wissen, dass sie hier war. Zu dieser späten Stunde und fernab des Gehöfts dort zu sein, gehörte sich nicht für ein einfaches Bauernmädchen im südlichen Ural. Durch die Zweige konnte sie ein Boot ausmachen, in dem sich ein junger Mann gleiten ließ. Es schien, als würde er gar nicht rudern, sondern direkt von den Wellen zur Eberesche getrieben werden. Er stieg aus, machte das Boot fest, nahm die Laterne mit und hockte sich vorsichtig unter die Eberesche. Er schloss die Augen und lauschte der Nachtigall, die in diesem Moment wieder zu singen begann. Als ob sie gewartet hatte, bis sich ein weiterer Zuhörer zu ihr setzte! Nur eben mit weniger angehaltenem Atem als Maria. Da der junge Mann ruhig blieb und sie nicht entdeckt zu haben schien, atmete Maria auf. Jetzt konnte sie nicht aufstehen und gehen. Denn das würde Geräusche verursachen. Also musste sie erst einmal weiter ruhig sitzen bleiben. Nach ein paar Minuten war es ihr sogar recht, ihrem Lieblingsvogel weiter lauschen zu müssen, genoss den Klang und den Duft des Abends und vergaß bald, dass sie nicht allein dort war. So gab sich jeder den lieblichen Klängen hin und träumte vor sich hin.

Er von einer Frau, die mit ihm eine Schule aufbaute. Beide würden darin lehren. Er vormittags Lesen und Schreiben und sie solle am Nachmittag mit den Kindern singen. Aber fröhliche Lieder, keine eintönigen Liturgien, die er überhaupt nicht mochte. Aber wo fand er solch eine Frau? Die seinem mittleren Adelsstand entsprechenden jungen Damen waren meist so fromm, dass sie außer den Kirchenliedern keine kannten. Es sei denn, sie hatten eine europäische Gouvernante, die ihnen deutsche oder italienische klassische Arien beibrachte. Aber diese Dämchen waren dann wieder so fein, dass man mit ihnen nicht frei und jauchzend durch die Wiesen streunen konnte. Sein Vater war schon ganz betrübt, dass er mit Ende zwanzig immer noch keine Braut hatte.

Maria träumte davon, lauthals die Melodien dieses Ebereschenvogels – wie sie ihn nannte – vor vielen Menschen singen zu dürfen, damit auch ihnen die trüben Gedanken bei der harten Arbeit durch diese Klänge verflögen. Und in der Vorstellung, eines Tages auch ihrer Familie vorsingen zu können, ohne dass der Vater grollte, da er Geräusche außer Reden in seinem Hause verboten hatte, summte sie unbewusst vor sich hin.

Konstantin wunderte sich, dachte erst, es wäre der Wind oder eine zweite Nachtigall. Aber nein, es war eine Menschenstimme, eine Mädchenstimme! Er drehte sich leise um, sah aber zunächst nichts. Die Richtung musste aber diese sein. Und so wartete er. Jetzt schob ein Lüftchen die Birkenzweige beiseite und er sah eine Silhouette mit wehendem Haar, geschlossenen Augen und lächelndem Mund. Der Mond schien auf das schöne dunkle Haar, welches der Birkenzweig freigab. Konstantin erhob sich behutsam, um das Mädchen nicht zu erschrecken. Er wollte dieses mutige Geschöpf aus der Nähe betrachten. Aber die Zweige knackten, die Nachtigall verstummte und flog davon. Da schlug das Mädchen die Augen auf und erschrak, denn er war bereits bis zur Birke vorgedrungen, hinter der sie Schutz gesucht hatte.

„Guten Abend“, brachte er über die Lippen.

„Guten Abend“, flüsterte sie.

„Was treibt Sie des Nachts hierher, junge Maid?“

„Ich sage es Ihnen“, sagte Maria erschrocken, „aber nur, wenn Sie mir versprechen, dass Sie niemandem sagen, dass Sie mich hier angetroffen haben.“

„Versprochen“, antwortete er ruhig.

„Wo kommen Sie her?“

„Aus dem Nachbargouvernement, jenseits des Ufers, flussaufwärts. Mein Vater ist Graf Gusev. Mein Name ist Konstantin. Sie brauchen wirklich keine Angst vor mir zu haben. Als Beweis dafür, dass ich keinem von unserer Begegnung erzählen werde, werde ich sie nicht nach Ihrem Namen fragen.“

„Ich bin wegen des wunderschönen Gesangs dieses Vogels hier“, antwortete sie nun mit warmer, ruhiger Stimme. „Ich kenne schon viele Melodien von ihm und präge sie mir ein. Dann summe ich sie tagsüber während der Arbeit vor mich hin und alles geht mir leichter von der Hand. Leider habe ich den Vogel sonst nirgends gehört. Nur hier an dieser Eberesche. Deswegen muss ich des Nachts hierher kommen, was nicht ungefährlich ist, wie Sie wissen.“

Konstantin verstand. Er sah an ihrer Kleidung, dass sie ein Bauernmädchen war. Sie hatte gebräunte Haut und ein anmutiges Lächeln.

Sie verabredeten sich, sich hier am Fluss an der Eberesche jeden dritten Abend, wenn es nicht regnete, zu treffen. Sie brachte ihm Lieder bei. Wenn sie sang, blitzen ihre Augen. Dann fing er offenen Auges an zu träumen. Er zeigte ihr viele Vögel aus einem Buch, aus dem jedoch eine Seite herausgerissen war.

„Warum fehlt diese Seite?“, fragte Maria. „Darauf ist ein ganz besonderer Vogel, der mir sehr am Herzen liegt. Er hängt eingerahmt an der Wand über meinem Bett.“

Was gäbe sie drum, um auch diesen wohl ganz besonderen Vogel einmal zu sehen!, dachte sie und schaute dabei sehnsüchtig gen Himmel, traute sich jedoch nicht, es auszusprechen. Nach einer Weile husch ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie hatte eine Idee:

„Konstantin, bitte, bringen Sie mir Lesen bei. So kann auch ich in dem Buch lesen und die Vögel kennen lernen.“

„In Ordnung. Beim nächsten Mal beginnen wir.“ Drei Tage später brachte er ein Lied mit Buchstaben des Alphabets mit. Er hatte es selbst komponiert. So sang sie die neuen Worte, bevor sie sie monoton las. Denn jeder Buchstabe entsprach einem bestimmten Ton.

„Ich werde Sie 'Nachtigall' nennen, junge Maid, denn ganz ohne Namen ist es auch nicht gerecht. Jeder Mensch hat einen Namen. Darin liegt eine kleine Bestimmung, der man folgen sollte, wenn man sie erkennt.“

„Abgemacht“, sagte sie stolz über ihren wohlklingenden neuen Namen, der ihr viel besser gefiel als Maria.

Der Sommer ging dahin, Maria hatte schnell lesen und danach auch schreiben gelernt. Wenn einer der beiden mal nicht zur Eberesche kommen konnte, schrieb der andere liebe Zeilen, meist in Reimform in die Birkenrinde. So dachten sie immer aneinander. Ohne es auszusprechen, wussten beide, dass sich ihre Seelen gefunden hatten. Und so hatten auch beide immer ein seliges Lächeln auf den Lippen, wenn sie ihrem Wundervogel lauschten. Als es Herbst wurde, ahnten sie, dass ihr Vögelchen bald in wärmere Gefilde fliegen und nicht mehr bei ihnen singen würde. Bei diesem Gedanken wurde ihnen wehmütig ums Herz.

„Was hältst du davon, wenn du, meine liebe Nachtigall, anstelle des Vogels für uns weitersingst?“ Maria erschrak vor Glück und bekam so große Augen, dass Konstantin in diese förmlich hineinfiel. Das war doch ihr Wunsch! Aber wie sollte das gehen? Der Weg zu seinem Gut war weit für eine Nacht. Draußen würde es zu kalt sein, um sich hier zu treffen. Außerdem war sie als Magd fest eingespannt. Ihr Vater hatte bereits den Knecht als ihren zukünftigen Ehemann ausgesucht. Er hatte bei der Bauernreform so viel Land erhalten, dass er es allein nicht bearbeiten konnte. Sein Plan, durch Erbteilung dieses in der Familie zu belassen, stand fest. Dazu musste Maria einen tüchtigen Mann heiraten, und zwar so schnell wie möglich. Da wachte Konstantin aus der strahlend schwarzen Seelenflut ihrer Augen auf und erschrak. Denn ihr Glanz war verschwunden und er vernahm zum ersten Mal Traurigkeit in ihrem Blick. Er wollte ihr eine Freude bereiten, hatte aber nicht weiter nachgedacht, wie sein Vorschlag in Wahrheit aussehen könnte.

„Mein Liebling, was ist? Was schaust du so betrübt?“, fragte er mitfühlend und streichelte ihren Arm.

„Wie soll ich nicht betrübt sein? Der Weg bis zu deinem Haus ist weit und wie soll ich es in einer Nacht hin und her schaffen, um am Morgen wieder daheim zu sein?“

„Wie ruft dich dein Vater?“

Völlig verdutzt schüttelte Maria den Kopf und antwortete automatisch: „Maria“. Was hatte diese Frage zu bedeuten?

„Liebe Maria, meine liebe Nachtigall. Komm mit mir und werde meine Frau. Ich will ohne dich nicht mehr sein!“

Nun schossen, dem Gewitterregen gleich, der sie beide im Frühjahr hierher geführt hatte, klare dicke Freudentränen aus der dunklen Seelenflut. Beide lagen sich die ganze Nacht in den Armen. Bis zum Morgengrauen. Konstantin führte seine Nachtigall zu ihrem väterlichen Haus und hielt bei ihrem Vater um die Hand seiner einzigen Tochter an.

Die Hochzeit wurde auf dem Gut der Gusevs an einem wunderschönen goldenen Oktobertag gefeiert. Marias Brautstrauß war mit Birkenzweigen und roten Ebereschenbeeren durchsetzt. Ihre Mutter hatte ihr auf ihren Wunsch ein weiß-rotes schmales Tuch mit Vögeln darauf bestickt, das den Strauß zusammenhielt. Die gleiche Borte säumte ihr langes weißes Brautkleid. „Was ist in der Mitte des Straußes, mein Liebster? Was hast du hineinwinden lassen?“

„Schau nach!“, antwortete er verschmitzt.

Sie zog eine weiße Rolle heraus. Das gleiche Papier wie in seinem Buch! Ihre Augen strahlten. Ganz vorsichtig wickelte sie die Seite auf. Darauf war ein Vogel abgebildet, ihr Vogel. Darunter stand: Nachtigall. Das war also auf der herausgerissenen Seite abgebildet!

„Du Schlingel du hast mich nach ihr benannt!“ Und sie fielen sich lachend in die Arme.

Maria hatte sich ebenso eine Überraschung ausgedacht. Sie hatte sich alle Verse, die sie beide am Birkenbaum hinterlassen hatten, eingeprägt und sie zu einem Lied zusammengefasst. Am Abend, als sie endlich allein waren und vor der nunmehr kahlen Bettwand saßen, trug sie ihm dieses Lied vor. Er hatte Recht behalten. Sie würde bei ihm weitersingen.

„Weißt du was?“, fragte Maria mit zitternder Stimme?

„Nein, was?“

„Als ich diesen Traum hier träumte, nämlich jemandem Lieder vorsingen, hast du mich damals im Mondschein betrachtet. Erinnerst du dich noch, als ich mich vor dir unter der Birke versteckt hatte und du dann plötzlich vor mir standest?

„Und ob. Denn ich hatte mich damals schon in deine warme Stimme verliebt und in jenem Moment kam in mir ein Bild hoch, wie wir unsere Kinder in den Schlaf singen würden.“

Sie schauten einander an und wussten, dass Wünsche in Erfüllung gehen können.

Die Schule

Maria und Konstantin lebten glücklich. Im zweiten Jahr ihrer Ehe bauten sie eine Schule und gaben Unterricht, wie Konstantin es sich vorgestellt hatte. Vormittags Lesen und Schreiben und nachmittags Singen. Zu Festtagen machten sie mit den Kindern Ausflüge, um die Melodien, die sie selber sangen, bei Vögeln wiederzuerkennen. Konstantin schmunzelte dann insgeheim, denn er hatte die Melodien ja bei den Vögeln gelernt. So vergingen die Jahre. Rjabina, ihre Tochter war wie die Mutter. Sie sang fröhlich und war der Sonnenschein des Hauses. Sie hatte bei der Geburt so rote Wänglein, dass sich Konstantin und Maria sofort an die Beeren ihrer Eberesche erinnerten und sie auf den Namen Rjabina1 tauften. Wenn sie von den Feldspaziergängen zurückkam, hatte sie immer ein anderes Blümchen im Haar. Und wehe, jemand bemerkte es nicht! Dann klärte sie ihn über Pflanzenwuchs, Geschlecht und Samenart auf, was sie vorher schnell im Pflanzenbestimmungsbuch des Vaters nachgeschaut hatte. Ihren Sohn nannten sie Kyrill2 . Er stand für die Buchstaben und die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben. Denn bei all der Träumerei und der Freiheit, die Graf Gusev seinem Konstantin eingeräumt hatte, musste eine Bedingung erfüllt sein. Egal welchen Standes seine Braut war, lesen und schreiben hatte sie zu können.

Rjabina und Kyrill waren mit den Bauernkindern so eng befreundet, dass sie die laschen Anstrengungen, die ihr Vater auf Wunsch des alten Gusev zum Kennenlernen mit anderen Adelsfamilien unternahm, bald gar nicht mehr interessierten. Kyrill heiratete das Bauernmädchen Nastja, Rjabina den Bauernjungen Ilja und das schmale Erbe, das bald nur noch aus dem Herrenhaus, dem Stadthaus, einem Gemüseacker und der Geflügelfarm bestand, wurde in bewusst gelebte Gerechtigkeit in Form von Bildung eingetauscht. Kyrill übernahm die Schule der Eltern, Rjabina trat in die Fußstapfen ihrer Mutter und gab auch nach ihrer Hochzeit und der Geburt ihrer Tochter Anna weiterhin Musikstunden in der Schule.

Die adeligen Nachbarn belächelten die Gusevs.

„Bloß gut, dass der alte Gusev wenigstens den Einfall der Geflügelfarm hatte, sonst hätten die heutigen Grafen vor lauter Bücher und Noten gar nichts zu fressen.“

„Graf Singsang kommt des Weges. Haben Sie von den neuen Reiseabenteuern Ihres dicken3 Vorbildes gehört?“

Die Gusevs ließen sich davon wenig beeindrucken. Sie rückten alle zusammen, so dass im Haus bereits Großvater Konstantin mit seiner Maria und die Kinder mit ihren Familien wohnten. Der Höhepunkt einer jeden Woche war der Sonntagnachmittag. Maria hatte wie immer einen Kuchen gebacken. Am besten gelang ihr der mit Himbeeren. Alle versammelten sich im großen Salon mit Blick in die russische Weite und jeder trug etwas Neues oder Altes vor, musikalisch oder literarisch, sang oder spielte etwas auf dem Klavier oder der Gusli, die Rjabina von einem Popen geschenkt bekommen hatte.

Das Klavier

Man schrieb das Jahr 1891. Nicht genug, dass der Hoffnungsträger und Zar-Reformator Alexander II. vor neun Jahren von Terroristen ermordet wurde, was das Land in Schrecken vor Terroranschlägen versetzt hatte. Seitdem regierte sein Nachfolger Alexander III. und machte mit der Einführung der Geheimpolizei und anderen restriktiven Methoden jegliche liberalen Keime wieder zunichte.

Nein, es sollte auch das Jahr einer großen Hungersnot werden. Die Ernte 1890 war zwar gut, es folgten jedoch Dürre und ein eisiger, schneeloser Winter mit starken Stürmen. Die Frühjahrshochflut der Schneeschmelze war zur Bewässerung der Felder also ausgeblieben. Und im Mai hatte wieder Dürre eingesetzt. Es gab keine Ernte für dieses Jahr.

Aus der Gouvernementshauptstadt Orenburg zogen Familien mit Kindern auf das Land und baten bei den Bauern um Unterschlupf und Essen. Es wurde schon längst nichts mehr in die Städte auf die Märkte geliefert, denn man hatte selbst wenig genug.

„Gehen Sie zu den Gusevs, die sind gute Leute und nehmen Sie bestimmt auf“, hatte es weithin von den anderen Gutshöfen und Adelssitzen geklungen. Und so war die Schule mit den zwei Klassenräumen ein Zuhause für fast ein Dutzend Familien geworden. Eine davon waren die Moskalenkos mit ihren Söhnen Semjon und Iwan. Über ein Jahr waren sie nun in Solowjenko, hatten Brot, Zwiebeln, Gedanken und Lieder mit den anderen Familien und den Gusevs geteilt. Vater Moskalenko war jedoch ein stolzer Mann und hielt es für angebracht, zurück in die Stadt zu gehen, um wieder selbst für die Familie zu sorgen. Und sein zwölfjähriger Sohn Semjon konnte ihm dabei behilflich sein. Seine kränkelnde Frau sollte mit dem kleinen Iwan noch bei den Gusevs bleiben, bis er sie zu sich nachholen konnte.

Iwan war natürlich traurig, dass sein Vater und Semjon weggingen, aber im gleichen Atemzug war er froh, bei Graf Konstantin bleiben zu können. Immerhin konnte er so auch weiterhin in die Musikstunden der Gräfin gehen. Aber das Beste von ganz Solowjenko war das Klavier vom Grafen. Einmal pro Woche durfte er nämlich darauf spielen. Er hatte anfangs stundenlang vor des Grafen Fenster gesessen und ihm beim Klavierspiel zugehört. Es waren fröhliche Lieder, die er spielte, wenn auch manchmal falsch, aber unermüdlich. Die wenigsten Fehler machte er, wenn seine Frau Maria dazu sang.

So ging es die ersten Wochen, bis Maria Iwan beim Fensterschließen darunter hocken sah.

„Wirst du denn gar nicht müde, zuzuhören? Du besuchst schon alle Musikstunden verschiedener Klassenstufen! Geh nun und leg dich schlafen!“

Iwan war pfiffig. Er war der erste in der Klasse, der eine Melodie oder ein Gedicht auswendig lernen konnte. Auch hörte er manchmal abends zu, wenn die Erwachsenen Unterricht hatten. Den Unterricht für die Erwachsenen hatte Graf Konstantin eingeführt, nachdem eine große Anzahl an Erwachsenen durch die Hungersnot auf seinem Gut Unterschlupf suchten.

Eines Tages fragte Iwan seine Mutter:

„Mama, ich möchte auch auf dem Klavier spielen können. Meinst du, wir können den Grafen fragen, ob er mich darin unterrichtet?“

„Mein Junge, wir sind hier wohlwollend aufgenommen worden. Du darfst in die Schule gehen und hast zudem noch Musikunterricht, was ich noch von keinem Gut weit und breit gehört habe. Und nun willst du auch noch auf des Grafen persönlichem Instrument spielen? Ich denke, das ist zu viel verlangt. Wir können Gott danken, dass er uns zu diesen gütigen Herrschaften geführt hat.“, entgegnete ihm die Mutter belehrend. Nach einer kleinen Pause schob sie jedoch mit ruhiger Stimme nach:

„Wenn du es jedoch unbedingt willst, dann frag den Herrn Graf selber.“

Iwan grübelte und grübelte, wie er es anstellen könnte, bis er auf eine Idee kam. Er würde nach der Lesestunde länger bleiben und den Grafen fragen, ob er sein Klavier nicht von innen putzen könne. Vielleicht hört es sich deswegen manchmal schief an, weil sich die Tasten schwer herunterdrücken ließen? Gedacht-getan! Während der gesamten Unterrichtsstunde konnte er sich nicht konzentrieren. Gut, dass er nicht mit Vorlesen drankam.

„Na, du willst wohl gleich mit den Großen weiterlesen, dass du auf der Bank sitzen bleibst?“, wandte sich Graf Konstantin an Iwan, der weiter auf seinem Stuhl saß, obwohl alle anderen Kinder bereits den Raum verlassen hatten.

„Nein, Herr Graf. Ich habe eine andere Frage an Sie. Wenn Sie Klavier spielen und ich vor ihrem Fenster sitze und zuhöre, was mir die Gräfin Maria erlaubt hat, dann klingt es manchmal schief. Und ich frage mich warum, wo Sie doch so gut spielen können. Kann es sein, dass das Klavier innen gereinigt werden muss?“ Der Graf lachte auf. Iwan ließ sich aber davon nicht beirren und fuhr fort.

„Ich würde es ganz vorsichtig und gründlich für Sie tun. Dann können Sie wieder ohne schiefe Töne am Sonntag spielen und Rjabina muss nicht immer neu anfangen zu singen.“

Der Graf stand jetzt verdutzt da. Auf solch eine Idee war noch niemand gekommen. Ein bisschen dreist fand er das schon. Aber der Junge hatte ein feines Gehör, das hatte ihm Maria gleich nach der ersten Musikstunde gesagt. Warum sollte er dem kleinen Jungen diesen Wunsch verwehren?

„Nun gut. Komm morgen Nachmittag nach der letzten Unterrichtsstunde der Erwachsenen zu mir ins Haus, dann werde ich dir zeigen, wie du das Klavier reinigen kannst.“

Iwan lief zu seiner Mutter auf den Acker und sprang ihr entgegen.

„Mutter, Mutter, ich darf des Grafen Klavier putzen! Gleich morgen! Stell dir vor!“ Die Mutter schaute ihn verdutzt an. Wieso ließen die Gusevs den kleinen Arbeiterjungen an ihr Heiligtum? Säuberte denn die Haushälterin nicht das Klavier?

„Mutter, freust du dich denn gar nicht?“

„D-doch, aber wolltest du nicht darauf spielen lernen?“

„Na, ich muss es mir doch erst einmal anschauen, von innen und von außen, bevor ich darauf spiele.“

Über diese Logik bzw. über dieses kluge Vorgehen ihres Jungen war die Mutter erstaunt, gleichzeitig aber auch überaus stolz. Wahrscheinlich hat Iwan dem Grafen von seinem eigentlichen Vorhaben noch gar nichts erzählt. Aber sie fragte nicht nach. Sie ließ ihren Kleinen gewähren. Er wird es schon machen und sein Ziel erreichen.

Abends, als Iwan mit den anderen Kindern im ersten Schulzimmer schon schlief, wusch die Mutter Iwans Festtagshemd. Gut, dass sie sich bei der Flucht aus Orenburg von ihrem Mann nicht hatte beeinflussen lassen, der keinerlei Hab und Gut mitnehmen wollte. Heimlich hatte sie trotzdem die Ikone und für jeden die Festtagskleidung eingepackt. Für sich das Kleid mit Tuch und für die Jungs deren am Kragen besticktes weißes Hemd. Das sollte er morgen anziehen. Immerhin ging ihr Sohn morgen in das Haus der Grafen Gusev, in das sonst keiner der hier Untergekommenen Zutritt hatte.

„Guten Tag, Nina“, sagte Iwan zur Haushälterin.

„Guten Tag. Wo willst du hin? Hast du dich nicht im Hemd geirrt? Heute ist noch nicht Ostern“, lachte sie freundlich.

„Nein, aber Graf Konstantin wartet auf mich“, sagte Iwan stolz.

„Gut, ich werde dich anmelden. Warte.“

Nach kurzer Zeit kam Nina zurück und sagte:

„Du darfst in den Salon durchtreten. Hier lang, dann eine Treppe hoch und dann links. Dort wartet der Graf auf dich.“

Iwan lief behänd die Treppe hoch trat in den Salon, wo der Graf verdeckt hinter dem Klavier saß. Es war ein dunkelbraunes Klavier, passend zu den Bergen in der Ferne, die man durch das große Fenster über der Veranda sah. Er hatte den Deckel aufgeklappt und suchte etwas darin, indem er die Tasten drückte. Iwan trat näher, so dass ihn der Graf bemerkte. Als er aufschaute, fiel sein Blick in die leuchtenden Augen des Jungen, der abwechselnd auf die Tastatur und zu ihm aufschaute.

Automatisch fing der Graf an zu spielen. Eine Kindermelodie von Mozart. Die Füße trugen Iwan hinter den Grafen und er schaute, wie dieser die Finger über die weißen und schwarzen Tasten fliegen ließ. Vielleicht mussten die schwarzen weiß poliert werden, und dann klingt es wieder einwandfrei?, dachte Iwan. Der Graf stolperte bei den schwarzen Tasten und hörte abrupt auf.

„Ach, mein altes Gedächtnis verlässt mich. Und die Finger wollen auch nicht mehr so richtig. Was für ein Ärger! Nun gut, aber du kleiner Mann bist ja der Meinung, es liege an den ungeputzten Tastenhälsen. Na, dann wollen wir mal sehen. Hier hast du einen Pinsel.“ Iwan nahm den Pinsel und schaute aufmerksam zu, wie ihm Graf Konstantin die Reinigung der Tastenhälse zeigte. Dann säuberte Iwan langsam aber geschickt die Tastenhälse so, wie es ihm Graf Konstantin gezeigt hatte. Der alte Herr schmunzelte, als er den Jungen in seinem Eifer betrachtete. Natürlich lag es nicht an den Tastenhälsen, sondern an seiner Konzentration, dass er manchmal nicht ganz sauber spielte. Aber er wollte dem Jungen die Freude nicht nehmen. Der Junge wollte sicher das Klavier nur einmal von Nahem sehen. Während Iwan putzte, setzte sich der Graf in seinen Ohrensessel und las.

Der Tag ging zur Neige, es wurde dunkel und Nina rief zum Abendessen. Fünf Hälse fehlten noch.

„Ich muss pünktlich beim Essen erscheinen, sonst schimpft meine Maria mit mir. Du mach schon mal weiter, ich komme dann zurück.“, sagte Graf Konstantin zu Iwan. Iwan nickte und machte eifrig weiter. Er war so bei der Sache, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie es dunkel geworden war und der Graf ein Licht angezündet hatte. Der letzte Tastenhals. Nun war er fertig. Aus dem Esszimmer klangen Stimmen und Besteckgeklapper. Iwan wollte sich setzten. Vor der Veranda standen weiche, hell bespannte Sessel mit Vogelmuster. An der Wand hingen zwei gerahmte Bilder. In einem war ein Vogel, darunter stand etwas mit Buchstaben, die er nicht lesen konnte, aber mit russischen Buchstaben handschriftlich daneben geschrieben „Nachtigall“. In dem anderen Rahmen war ein Bild aus Birkenrinde, in die vieles eingeritzt war. Das konnte er aber nicht erkennen, weil es für ihn zu hoch hing. Sie musste aber alt sein, denn sie war schon ganz vertrocknet. Er setzte sich auf den Holzschemel vor dem Klavier, schaute auf die schwarzen und weißen Tasten und versuchte sich zu erinnern, mit welcher Taste der Graf die schöne Kindermelodie zu spielen begonnen hatte. Er hatte mit dem Daumen begonnen und dann kam der Mittelfinger. Iwan drückte die Tasten und erschrak, als auch wirklich Klänge herauskamen. Aber es klang so wohl, dass er weiter probierte, denn die Melodie war so schön gewesen, dass sie ihm gleich im Ohr geblieben war. Hatte sie sich der Graf selber ausgedacht? Iwan spielte und spielte im Halbdunkel und bemerkte nicht, wie der Graf eingetreten war. Dieser wartete bis Iwan hochkonzentriert das schöne Stück nochmals wiederholt hatte. Erst dann unterbrach er ihn mit seinem Applaus. Iwan schreckte zusammen, schaute den Grafen mit großen Augen an, in denen die Angst, etwas Verbotenes gemacht zu haben, schnell dem bescheidenen, aber strahlenden Kinderstolz wich.

„Hat Euch denn meine Maria auch schon Noten beigebracht?“, fragte der Graf.

„So richtig nicht, aber sie sagte, dass es welche gibt.“

„Sie stehen vor dir. Ich dachte du hättest das Stück abgespielt.“

„Nein, ich habe mir Ihre Finger und die Melodie gemerkt und sie aus dem Gedächtnis gespielt.“

Der Graf setzte sich neben Iwan und begann, ihm die Noten zu erklären. Mitten in der zweiten Zeile stand er auf und ging wortlos hinaus. Nach einem kurzen Moment kam er zurück und sagte zu Iwan:

„Wenn du willst, kannst du jeden zweiten Tag nach dem Unterricht der Erwachsenen hierher Klavier spielen lernen kommen. Meine Frau und ich haben nichts dagegen.“ Iwan strahlte und brachte keinen Ton heraus.

„Nun aber Schluss für heute, ich muss mich noch um die Geflügelfarm kümmern und deine Mutter wartet sicher auch schon auf dich“, sagte der Graf in seinem großväterlichen Ton. Iwan nickte, stand sofort auf und konnte immer noch nichts sagen. Er verneigte sich und verließ den Salon. Er wusste gar nicht mehr, wie er bis zur Schule und dann in sein Bett gekommen war. Nur noch an den klaren Nachthimmel konnte er sich erinnern, dessen Sterne ihm wie Noten erschienen waren.

Semjon

Doch dieses Kinderglück sollte nicht lange währen. Durch den Hunger waren andernorts Menschen gestorben und es hatten sich Krankheiten ausgebreitet. Davon blieb auch nicht Solowjenko verschont. Als erste starb die Gräfin. Konstantin war seit ihrem hohen Fieber nicht von ihrer Seite gewichen. Alle Familienmitglieder hatten sich um Maria gekümmert, abwechselnd. Jeder hatte eine Schicht von 3 Stunden übernommen, tagelang. Mit Tüchern versuchten sie die schwitzende Stirn abzutupfen, sie zu trocknen und ihr neuen Lebensatem einzuhauchen. Aber vergebens. Konstantin schrieb die Melodie seiner Nachtigall wie er sie mit Variationen für Maria komponiert hatte, mit schwarzer Tinte auf Ebereschenrinde und legte sie ihr mit in den Sarg.

Auch Iwans Mutter erlag so nach nur wenigen Tagen einem hohen Fieber. Die Gusevs beschlossen, die Schule zu schließen, und die Familien mussten das Gut verlassen. Bei Iwan hatte man damit noch einige Wochen gewartet, weil man hoffte, Nachricht vom Vater zu erhalten. Da keine eintraf, beschloss Graf Konstantin persönlich nach Orenburg zu fahren, um Vater Moskalenko aufzusuchen beziehungsweise nach ihm zu fragen. Durch die Verbindung zu den Tolstoianern hatte der Graf Zugang zu Fabriken oder Händlern, wo der Vater untergekommen sein konnte.

Es war bereits der vierte Tag in Orenburg und Graf Konstantin wollte schon den Heimweg antreten, als er nochmals in das Hauptbüro der Tolstoianer ging. Dort fand er Semjon am Schreibtisch, wo dieser gerade Bücher sortierte. Erfreut sah er Graf Konstantin hereintreten, wurde jedoch ob dessen besorgten Anblicks sofort betrübt.

„Semjon, mein Junge. Übst du fleißig Lesen?“

Die Sorgenfalte auf des Jungen Stirn glättete sich auf der Stelle. Es war also alles in Ordnung in Solowjenko.

„Ja, jeden Tag!“ gab er wieder strahlend zur Antwort. Graf Konstantin setzte sich auf den Sessel und holte tief Luft.

„Setz dich, Junge.“

Semjon setzte sich. Es war doch nicht alles in Ordnung.

„Wo ist dein Vater?“

„Er ist weg. Er hat in einer Fabrik gearbeitet und mich hier abgegeben, da ich Lesen und Schreiben konnte und sie hier so einen suchten. Und dann kam er nicht mehr wieder. Ich ging in seine Fabrik, aber dort sagte man mir nur, er sei eines Morgens nicht mehr zur Arbeit gekommen. Und mehr weiß ich nicht.“ „Das tut mir leid, Semjon. Dann bist du jetzt wohl Vollwaise, deine Mutter ist vor einigen Wochen gestorben. Wir haben sie bei uns begraben.“

Semjon wurde bleich.

„Und Iwan?“

„Iwan werden wir in das Bogoduchowski-Kloster geben, da auch die Gräfin gestorben ist und wir die Schule und somit die Unterkunft für euch alle auflösen mussten. Wir hatten noch auf deinen Vater gewartet, aber da er nicht kam, habe ich mich auf den Weg gemacht, euch zu suchen. Ich habe Glück gehabt und dich heute hier gefunden.“

„Vielen Dank, Graf Konstantin, Sie sind ein guter Mann. Unsere Familie hat Ihnen viel zu verdanken. Vor allem das Lesen und Schreiben. Ich kann mir die ganze Welt erlesen. Das ist fantastisch. Und die Ideen von Tolstoi haben Sie uns gelehrt, ja und vorgelebt. Ich werde sie weiter verfolgen und bei Jasnaja Poljana4 in eine Tolstoianer Kommune eintreten.“

Das sagte er noch stolz und voller Enthusiasmus. Doch plötzlich brach seine Stimme und er flüsterte:

„Jetzt, wo ich Waise bin, hält mich doch hier ohnehin nichts mehr.“ Er schluchzte.

„Mein kleiner Bruder Iwan ist versorgt.“ Tränen rollten ihm über die Wangen.

Graf Konstantin stand auf, drückte ihn und flüsterte:

„Leb' wohl! Du wirst es schon machen! Lerne, damit keine Mutter mehr an den Folgen einer Hungersnot sterben muss! Denn dieses Wissen habe ich Euch nicht mitzugeben vermocht.“

Er drückte ihm einen Kuss auf das krause Haar und ging.

Revolutionsjahre / Auf nach Russland!

Poim

Der Vater von Dina hatte immer sehr darauf geachtet, dass auch die Ferien immer eine Bildungskomponente enthielten. Das wusste sie. Und das war ihr Problem. Sie hatte von ihren Eltern eine Reise nach Jalta geschenkt bekommen, eine Sprachreise versteht sich. Nun war sie aber von der Klassenfahrt nach Tschechien wiedergekommen und war beim darauffolgenden Sportfest Alexej näher gekommen. Dieser lud sie daher ein, in den Sommerferien zu seinem Opa in ein russisches Dorf mitzufahren. Alexej war nicht nur Dinas Klassenkamerad, er saß vor allem im Leistungskurs Russisch neben ihr. Dina hatte extra wegen dieses Leistungskurses die Schule für das Abitur gewechselt. Denn obwohl sie aus einer Russischklasse kam, wo man von der dritten Klasse an in geteilter Klasse täglich Russischunterricht bekam, hatte außer ihr und zwei anderen Schülern keiner Russisch im Leistungskurs weiter machen wollen. Und da ein Leistungskurs erst ab acht Schülern zustande kam, war sie gezwungen, die Schule zu wechseln. Dinas Mutter, die Lehrerin für Russisch und Englisch war, hatte vergeblich versucht, sie vom Vorrang des Englischen zu überzeugen. Sie argumentierte, es sei angesichts der veränderten politischen Lage im nunmehr seit drei Jahren geeinten Deutschland und der bevorstehenden Arbeitssuche günstiger, Englisch intensiv zu lernen. Dina aber fand Englisch ordinär. Hu a ju?5 Klang für sie außerdem viel mehr nach Chinesisch. Sie ließ sich von ihrer Mutter also nicht beeinflussen. Lieber wechselte sie die Schule.

Alexej hatte eine russische Mutter gehabt, die vorigen Mai verstorben war. Er wohnte nun mit seinem deutschen Vater in einem großen Haus am Rande Berlins, in dem man spürte, dass eine Frau fehlte.

Mit Alexejs Vater setzten sie sich hin und überlegten, was es für literarische oder kulturell geschichtliche Höhepunkte im Umkreis von Poim, dem Dorf des Großvaters, im Tambower Oblast', gab. Nur dann würde Dinas Vater zustimmen und die Buchung der Reise nach Jalta rückgängig machen.

Aber da brauchte man gar nicht lange zu suchen. Belinski6, die frühere Stadt Tschembarsk und Geburtststadt dieses großen russischen Kritikers des 19. Jahrhunderts, war eine halbe Stunde mit dem Auto von Poim entfernt. Und nicht zu vergessen das Anwesen Tarchany, wo der große Lermontow bei seiner legendären Omama die wichtigsten Jahre seines Lebens verbracht hatte, war keine Autostunde entfernt. All das war unschlagbar. Vom Standpunkt der klassischen russischen Literatur her hatte die Heimat von Alexejs Opa also viel mehr zu bieten als Jalta, wo ihr gerade einmal Tschechow einfiel.

Nachdem Dinas Vater Alexej noch über einige organisatorische und familiäre Dinge befragt hatte und sicher gehen konnte, dass seine Zweitgeborene in ordentlichen Händen war, gab er seine Zustimmung.

Es war das zweite Mal für Dina, dass sie nach Russland reiste. Das erste Mal war sie anlässlich der Jugendweihe zu ihrer großen Schwester nach Moskau geflogen, die dort ein Auslandssemester absolvierte. Dina kannte dadurch Moskau schon, die fehlenden Produkte in den Geschäften und die drängelnden Menschenmassen in der Metro. Deswegen war sie froh, jetzt in die russische Weite zu fahren.

Nach zehn Stunden Zhiguli7-Fahrt kamen Dina und Alexej in Poim an. Von goldenen Kuppeln und GAI8-Stationen geleitet, hatten sie abwechselnd die russischen Liedermacher Wyssotzki und Okudzhawa gehört.

Der Großvater empfing sie herzlich, zeigte Dina gleich seine Gitarre, auf der er selber nicht mehr spielen konnte, und war außer bei den Mahlzeiten nicht zu sehen. Natürlich wusste das ganze Dorf, wer sie war. Das wiederum wusste Dina nicht. Unbedarft, ja fast naiv, aber unheimlich wissensdurstig war sie mit Alexej mitgefahren. Spätestens nachdem sie die Kuh des Nachbarn gemolken hatte, galt sie auch nicht mehr als Städterin. Die Wäsche wusch sie ebenso wie die Zigeuner im Fluss. Auf dem Markt verkaufte sie mit Alexejs Tante das geschlachtete Schwein, als wäre es ihres und achtete sehr darauf, dass die Zigeuner die Tante nicht übers Ohr hauten. Sie war selbst erstaunt, wie schnell sie das Rechnen mit dem Abakus gelernt hatte, und dann noch richtig! Nur die Würmer zum Angeln, die musste Alexej alleine ausgraben. Am liebsten schaute sie in der Küche zu, wie Alexejs neue Oma Bliny9 oder Syrniki10 mit Smetana11 und Himbeeren machte. Sie träumte vor sich hin und konnte sich gut vorstellen, hier eine Zeit lang zu leben. Sie fühlte sich wohl hier. Natur, Lieder, Bücher, mehr brauchte sie nicht.

Großvaters Frau war vor zwei Jahren gestorben, aber man brauchte jemanden, der einen versorgt. Und da er wahrlich gute Karten für eine neue Partie hatte, nämlich ein Haus mit Garten und einen Zhiguli, gelang es ihm innerhalb kurzer Zeit mit dreiundachtzig Jahren ein zweites Mal zu heiraten. Die Neue war mit vierundsechzig noch rüstig und war aus Moskau in die Provinz umgesiedelt. Sie kannte viele Lieder. Die lernte Dina von ihr und sie sangen gemeinsam in der Küche. Aber wehe, Dina pfiff die neuen Melodien im Hause! Dann wurden alle, einschließlich der Großvater, der sonst zu schlafen schien, wild und schimpften sie aus: „Im Hause wird nicht gepfiffen, das bringt Unglück!“

Im Kloster

Iwan hatte schweren Herzens von den Gusevs Abschied genommen. Besonders von Graf Konstantin, zu dem er durch die musikalische Verbindung auch eine persönliche Beziehung aufgebaut hatte. Der Graf hatte Iwan in das nahegelegene Kloster gebracht, da dort Waisenkinder aufgenommen wurden. Iwan verstand sich gut mit Prochor, dem Popen, dem er zugeteilt worden war. Iwanowitsch las mit großem Interesse die Bibel und stellte viele Fragen. Prochor war geduldig und schmunzelte oft über den Gedankengang seines Zöglings. Er selber war auf ähnlichem Weg ins Kloster gelangt. Seine Mutter war ebenfalls gestorben und der Vater mit sieben Kindern überfordert. Prochor war der zweitälteste und entschied sich für den Dienst zu Gott in seinem Leben.

„Gibt es auch ein Klavier hier im Kloster?“, fragte eines Tages Iwan Prochor nach der Messe.

„Wir hatten mal ein Klavier, aber haben wir es abgegeben an eine Schule. Die benötigte es dringender.“

„Welche Schule?“ fragte Iwan aufgeregt.

„Ich weiß es nicht mehr, das war vor langer Zeit.“

Iwan hatte noch ein-zweimal nachgehakt, wo das Klavier sein könnte, aber ergebnislos. So konzentrierte er sich mehr auf das Singen.

Schirokaja Balka12

Der Sommer stand vor der Tür und Dina zog es nach Russland. Viel Geld hatte sie nicht. Die arbeitslose Situation des Vaters hatte sich nicht geändert. Zuhause gab es Streit, weil das Familienoberhaupt, das doch jetzt angeblich so viel Zeit habe – so die Mutter -, da es durch die gesellschaftlichen Umbrüche keine Arbeit mehr hat, herumsitze, anstatt den Haushalt zu schmeißen, die schon längst fällige Korrespondenz mit den verschiedenen Versicherungen zu führen und sich mit all den anderen, neuen westlichen bürokratischen Gegebenheiten auseinander zu setzen. Das war ungerecht von ihrer Mutter, dem Vater alles zu überlassen, wo er ohnehin mit sich und seiner Situation nervlich und psychisch zu tun hatte. Die Mutter hatte einfach Glück gehabt, dass sie mit ihrer Rostocker Ausbildung im Westen nun punkten konnte. Sie war Lehrerin und damals in den 70ern durch Zufall in einen Studiengang gerutscht, der sie bis zum Abitur zu lehren befähigte. Das bedeutete nun, dass sie auch am Gymnasium lehren durfte und nach der Wiedervereinigung Deutschlands nur die Prüfung zur Verbeamtung ablegen musste. Man hielt ihr den Rücken frei, denn sie war nun das finanzielle Haupt der Familie. Beide Elternteile wussten mitunter nicht mit der Situation umzugehen. Weder der Vater, der immer gegen die Zweidrittelgesellschaft gekämpft hatte, noch die Mutter, die ebenso eine Degradierung ihrer Leistung im Ost-West-Vergleich erfuhr. Nur, weil sie im Ostteil der Stadt wohnte und arbeitete, bekam sie für die gleiche Arbeit achtzig Prozent des Gehalts ihrer Kollegen im Westteil der Stadt.

„Jetzt reicht's“, fuhr Dina dazwischen. „Ihr habt beide Recht. Aber in unserer Familie wird sich nicht wegen Folgen gesellschaftlicher Umbrüche gestritten. Ab morgen werde ich deshalb Papa beim Abwasch helfen und Mama nicht mehr bei der Klausurenkontrolle stören, indem ich meine Sachen aus dem Schlaf- und gleichzeitig Arbeitszimmer räume. Vom Versicherungskram habe ich keine Ahnung, da kann ich euch nicht helfen. Bei meinen Wirtschaftsklausuren könnt ihr mir auch nicht helfen!“ Dina konnte es nicht aushalten, wenn sich die Eltern stritten. Das heile Zuhause war ihr seit jeher heilig.

„Na, die Bedeutung deines Namens rechtfertigt aber nicht den Ton“ warf die Mutter nach.

Hä? Ah, jetzt erinnerte sie sich. Vor kurzem erst hatte ihr die Mutter erzählt, dass Dina „die Richterin“ beziehungsweise „die Gerechte“ heißt. Aber sie wollte noch etwas ganz anderes sagen, nämlich:

„Ich wollte im Sommer wieder nach Russland fahren. Kennt Ihr nicht jemanden, zu dem ich fahren könnte?“

„Na, ich könnte mal meine Kolleginnen fragen, die waren ja ein Semester als Austauschstudenten in verschiedenen Städten. Vielleicht ergibt sich da ja was“, sagte die Mutter und stand vom Abendbrotstisch auf.

Und es ergab sich etwas. Zunächst über eine Zeitungsannonce, von der eine Schülerin berichtete und dann über eine Kollegin ihrer Mutter.

„Sie können ja zu den Russen in die Klasse!“

„Gern.“ antwortete Dina. Denn es war Geschichtsunterricht, den sie genießen würde. Bei Rybinsk, am großen Stausee, der sogar auf der Weltkarte auszumachen ist, hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund mit der Jaroslawler und einer finnischen Universität ein Sommerlager veranstaltet, zu dem sich Dina angemeldet hatte. Die meisten Deutschen kamen aus Bochum und konnten kein Wort Russisch. Um die kümmerte sich Dina auch nicht. Sie fühlte sich irgendwie den Russen zugehörig.

„Daschkowa“, wiederholte Sascha flüsternd.

Dina hatte nachgefragt, wie der Name war, den der Lehrer gerade ausgesprochen hatte. Und Sascha war aufgefallen, dass Dina besonders angestrengt zuhörte und auch etwas mitschrieb. Es war keine russische Schrift, obwohl sie Kyrillisch schrieb. Daran erkannte man immer einen Ausländer. Denn die Russen haben solch eine eindeutige Schrift, dass man sofort erkennt, wo sie zur Schule gegangen waren. Mit der Beziehung zwischen der Daschkowa und Katharina der Großen würde es morgen weitergehen.

„Wie schön!“, schmunzelte sie Sascha an.

„Kommst du nach dem Abendessen mit an den Strand?“, fragte Sascha; „dort feiern wir meinen Geburtstag“.

„Was, du hast Geburtstag? Herzlichen Glückwunsch!“

Nach dem Essen ging sie hinunter zum Stausee. Sie hatte ihre Muckhose an, mit Pluderbeinen, die besonders bequem und gut gegen Mücken war. Sie nahm ihre Gitarre mit und ging nochmals den Text des Geburtstagsliedes durch. Unten angelangt, waren schon alle versammelt. Die Deutschen scheinen länger zu essen als die Russen. Das war ihr so gar nicht aufgefallen. Jedenfalls loderte das Lagerfeuer schon richtig hoch und man hatte es sich auf den Holzbalken, die im Karree darum gestellt waren, gemütlich gemacht.

„Jetzt ist unsere Deutsche dran, sie kann auch singen.“

„Nein, sie ist keine Deutsche, sie gehört zu uns. Sie spricht fast ohne Akzent.“

Dina sang das typische Geburtstagslied „Weil heute dein Geburtstag ist, da haben wir gedacht.“ Nie hatten Gäste so aufmerksam zugehört wie diesmal. Sascha fragte, ob sie ihm das Lied aufschreibe. Klar, das machte sie. Im Gegenzug bekam sie ein schönes Lagerfeuerlied aufgeschrieben, das Sascha ihr beibrachte.

Sascha war fünfzehn und Dina zwanzig, aber russische Männer sind reifer als deutsche. Das war ihre Erfahrung. Deswegen war eine gute Konversation möglich. Er wusste viel über russische Geschichte. Deswegen war er ja für das Sommerlager ausgewählt worden. Es waren die Schulbesten in den jeweiligen Fächern, die als Auszeichnung kostenlos am Lager teilnehmen durften. Den letzten Abend verbrachten sie zusammen am See. Alles, was verbrannt werden konnte, wurde zusammen getragen: Papiermüll, nicht mehr benötigte Lehrmaterialien, sechzehn Rollen Klopapier, angeschwemmte Holzbohlen. Und so wurde ein Lagerfeuer gezaubert, das die ganze Nacht brannte. Alle waren traurig, dass das Lager zu Ende ging. Für drei Stunden ging es ins Bett und dann hieß es wieder aufstehen. Dinas Traurigkeit war wie weggeblasen, als sie erfuhr, dass sie mit den Russen im Zug nach Jaroslawl zurückfahren durfte und nicht mit den Deutschen im Bus nach Moskau zum Flughafen. Alle sangen im Zug und lachten, aber als sie ankamen, weinte Dina. Und ihre nächsten Freunde schwiegen.

Sascha schlug Dina vor, erst einmal mit zu ihm nach Hause zu kommen und dort so lange zu bleiben, bis sie ihr ein Zugticket nach Nowotscherkassk in Südrussland gekauft hatten. Denn manchmal sind die Züge ausgebucht und man muss einige Tage später fahren. Und so war sie noch zwei Tage bei ihm zu Hause. Sie fühlte sich wohl. Am Abend saßen sie lange mit den Eltern zusammen und erzählten. Es ging um Unterschiede zwischen Deutschen und Russen. Saschas Großvater berichtete, wie er kurz nach Kriegsende, im Sommer 1945, von einer deutschen Frau bei Wernigerode freundlich aufgenommen worden war, entlaust wurde, einen Verband um seinen Fuß und jeden Tag einen Krug frischer Milch bekam. Sie hatte erst Angst vor ihm gehabt. Immerhin wohnte sie allein. Es war auf einer abgelegenen Landstraße. „Ich selber war von der Kompanie zurückgeblieben. In der Armee war alles aufgebraucht, jeder hatte Wunden. Mull und Verbände reichten vorne und hinten nicht. Da entschied ich, bei den Einheimischen zu fragen, der Krieg war ja zu Ende. Na, und als die Frau sah, wie ich humpelte und lediglich nach sauberem Wasser fragte, nahm sie mich auf. Für zwei Nächte.“

„Wie Ihr mich jetzt“, fiel Dina ein.