Der beste Sommer unseres Lebens - Michelle Spillner - E-Book

Der beste Sommer unseres Lebens E-Book

Michelle Spillner

5,0

Beschreibung

Die vier Frauen, die im Sommer 2007 nach überstandener Krebserkrankung in einer Kurklinik aufeinander treffen, haben keine großen Erwartungen an diese Zeit. Doch zu ihrer Überraschung werden sie sofort zu engen Freundinnen. Es ist, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen, als stehe die Zeit still. Wie im Mädchenpensionat verstoßen sie gegen alle Regeln, holen Verpasstes nach, klettern nachts heimlich aus dem Fenster - und fühlen sich so lebendig wie nie. In langen Gesprächen begegnen die Vier ihren Ängsten und Fragen: Warum haben wir überlebt? Was hat das Leben überhaupt für einen Sinn? Und nach und nach begreifen sie, dass die schlimmste Nachricht ihres Lebens vielleicht der Startschuss für ihr größtes Glück war. Beim Abschied vereinbaren sie: Heute auf den Tag genau in zehn Jahren wollen wir wieder hier zusammenkommen - egal, was bis dahin passiert. Werden sie wieder alle vier an diesem Tisch sitzen? Basierend auf einer wahren Geschichte.

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1

Ich würde niemals was Verbotenes tun. Im Supermarkt sehe ich Kunden, die an der Kühltheke Camembert-Verpackungen öffnen, um nachzusehen, welchen Reifegrad der Käse hat, und ihn wieder zurücklegen. Ich aber trage Camembert nach Hause, hoffe, dass er frisch ist, und schaue erst daheim nach, wie er aussieht. Meistens ist der Edelschimmel schon bräunlich gelb statt weiß, der Camembert-Kern bleibt nach dem Anschneiden nicht weißbröselig und fest an der Schnittkante stehen, sondern quillt direkt als klebriger Kleister auf den Porzellanteller. Dann werfe ich den Camembert weg. Ich mag keinen reifen Camembert.

Vor einigen Monaten hat sich etwas verändert. Ich esse nun ausschließlich frischen, jungfräulich weißen Camembert. Alter, brauner, überreifer Stinke-Camembert, der scharf-salzig schmeckt und auf dem Teller zerfließt, landet gar nicht mehr in meinem Einkaufskorb. Ich schaue jetzt auch schon im Supermarkt nach, ob der Käse mir passt. Ich würde niemals etwas Verbotenes tun. Aber es gibt neue Regeln. Die Grenzen des Verbotenen haben sich verschoben. Der Begriff des Erlaubten ist jetzt weiter gefasst. So habe ich mir heute an der Tankstelle einen Einweggrill gekauft.

Den Grill habe ich unter dem rechten Arm, in der linken Hand eine Tüte mit vier Schweinesteaks, vier Bratwürsten, vier Brötchen, zwei Sorten Ketchup und einer Zucchini. Die Einwegteller und das Plastikgeschirr haben die Mädels besorgt. Sie müssen hier irgendwo sein zwischen den Kornfeldern und Wegen, den Büschen und Bäumen.

„Wo seid ihr?“, rufe ich.

„Hi-ier!“ Ina schießt aus dem Weizenfeld links des Weges hoch und winkt.

„Wollen wir nicht lieber in den Schatten gehen? Die Sonne brennt so“, rufe ich ihr zu.

„Ach was“, winkt sie ab. „Deine Lieben daheim sollen doch denken, dass du einen Spitzenurlaub hattest. Also musst du braun werden.“

Ich bekomme sicher einen Sonnenbrand, ich habe keine Sonnencreme dabei, denke ich, während ich mir den Weg durch die Halme bahne.

„Nach wie vielen Sonnenbränden bekommt man eigentlich Hautkrebs?“, spreche ich meine Befürchtung aus, als ich bei den Mädels im Feld ankomme. Ina, Anna und Manuela prusten los.

„Das ist jetzt auch egal. Vom Grillen bekommst du auch Krebs. Hab dich nicht so“, beendet Manu das Thema.

Die Mädels haben gut sechs Quadratmeter des Weizenfeldes platt getrampelt. Ich würde so was niemals tun, betone ich: „Da wird sich der Bauer aber gar nicht freuen.“

Anna grinst: „Irgendwo müssen wir ja sitzen. Und hier sieht uns keiner …“

Es passen immer zwei Steaks und ein Würstchen auf den Rost. Der Grill steht in der Mitte, wir sitzen drum herum wie um ein Lagerfeuer, mit dem Hosenboden auf dem piksenden Halmteppich. Anna zieht zwei Flaschen Rotwein aus ihrem Rucksack, Manu popelt mit der Spitze ihres Taschenmessers die Korken zur Hälfte aus den Flaschenhälsen und drückt den Rest einfach in die Flaschen. Gläser haben wir nicht, wir trinken alle aus der Flasche. Wir teilen alles, wie Schwestern. Wenn ein Steak durchgebraten ist, bekommt jede ein Stück, wenn ein Würstchen braun ist, beißt jede einmal ab. Bis alles aufgegessen ist, mit Ausnahme der Zucchini, die bleibt liegen.

„Wer will die denn?“, rümpft Manu die Nase.

„Na, jemand, der sich auch über Hautkrebs Gedanken macht“, wirft Ina mir einen Blick zu.

Ich rechtfertige mich: „Ist ja auch gesund, so eine Zucchini.“

Manu grinst vielsagend: „Ich zeig dir mal, wie gesund die ist. Das ist ein uraltes, reinigendes Ritual der Aborigines im australischen Urwald, psychotherapeutisch extrem wertvoll.“ Sie nimmt die Zucchini vom Boden und spricht weiter: „Das ist das gesunde Böse-Sorgen-Gurken-Gemüse, ein Böse-Sorgen-Space-Shuttle. Da projizierst du deine bösen Gedanken und Sorgen rein …“, Manu reißt die Augen auf, starrt die Zucchini wenige Zentimeter vor ihrer Nasenspitze an, als wolle sie sie hypnotisieren, und spricht dazu ganz schnell hintereinander die Worte „Böse Sorgen, böse Sorgen, nimm sie mit, nimm sie mit“. Dann holt sie aus und schleudert die Zucchini mit einem schnellen Drehdrill im hohen Bogen irgendwohin. „… und dann wirfst du das Böse-Sorgen-Space-Shuttle gemeinsam mit deinen bösen Gurkengedanken weit weg. Und danach fühlst du dich besser.“

Ina japst vor Lachen: „Und gegen deinen Sonnenbrand habe ich auch noch etwas.“

Sie schnappt sich meine rechte Hand, zieht meinen Arm zu sich und drückt mir aus der Ketchupflasche einen langen, roten Streifen American Barbecue-Soße vom Oberarm bis zum Handgelenk auf die Haut. So schnell kann ich meinen Arm gar nicht wegziehen, da bin ich schon eingeschmiert: „Lichtschutzfaktor 30.“

„Och, Menno!“, beschwere ich mich mit gespielter Sauertöpfigkeit und beginne, meinen Arm abzulutschen.

„Schmier ihr noch etwas ins Gesicht“, johlt Manu los. Anna ist schneller, spritzt Manu aus der Curryketchup-Flasche einen dicken roten Soße-Pfropfen neben die Nase: „Jetzt siehst du aus wie ein Aborigine.“

„Ich kann dir mal was auf die Glatze schmieren …“, droht Manu Anna.

Wir kringeln uns vor Lachen.

„Die Ketchup-Schlacht ist eröffnet“, krähe ich.

Als ich gerade der Barbecue-Soße habhaft werde, fliegt etwas an meinem Kopf vorbei und kracht in den glimmenden Grill. Glut spritzt. Es ist die Böse-Sorgen-Zucchini. Sie ist zurück.

Manu staunt: „Wo kommt die denn her?“

„Sag mal, geht’s noch“, kreischt eine knarzige Männerstimme.

Wir stellen uns auf. Manu hat noch den Ketchup-Spritzer am rechten Nasenflügel und versucht ihn mit langer Zunge abzulecken.

„Sie sind wohl von allen guten Geistern verlassen, unbescholtene Bürger zu bewerfen. Was da hätte passieren können …?“, schimpft der alte Mann im beigefarbenen Sommermantel mit Strohhut. Ina hält sich die Hände vor den Mund, um ihr Lachen zu verbergen – mit mäßigem Erfolg.

„Regen Sie sich nicht so auf“, hält Manu dagegen.

„Ich? Mich nicht aufregen? Und ob ich mich aufrege. Hier noch das Feld zertrampeln, was denken Sie sich denn?“

Manu wird frech: „Denken? Kenn ich nicht. Kann man das essen?“ Ich kann nicht mehr vor Lachen.

„Also so etwas Unverschämtes ist mir ja noch nicht untergekommen. Sie sind doch erwachsene Menschen, wie kann man sich nur so benehmen?“

Manu lässt nicht locker: „Wie kann man sich nur so benehmen wie Sie, freudloses, beigegraues Dasein ohne Perspektive …“

„Manu!“, fahre ich sie an, „hör auf!“

Der Meckerer resigniert: „Sehen Sie zu, dass Sie da rauskommen. Im Feld wimmelt es von Zecken, da werden Sie schon sehen, was Sie davon haben“, schimpft der Mann, deutet mit der linken Hand eine Wegwerfbewegung an, wendet sich ab und geht.

Zecken? „Au, Scheiße“, Ina wird panisch.

„Los wir müssen raus hier. Scheiße, Scheiße, Scheiße …“

„Warte, der Grill.“ Es qualmt enorm. Die Halme haben Feuer gefangen.

Ina kreischt: „Oh nein, das Feld fängt an zu brennen!“

Ich will die Glut austrampeln. Wo sind meine Schuhe?

„Nicht barfuß draufgehen“, rufe ich.

Anna schiebt mit der Plastikgabel die Aluschale zur Seite. Manu schüttet den Rest Wein über die kokelnden Halme. Ich stampfe mit den Bast-Espadrilles auf der Feuerstelle rum. Hoffentlich fangen sie kein Feuer

Ina ist panisch aus dem Feld gelaufen und steht jetzt auf dem Fußgängerweg. Sie streicht sich mit der flachen Hand hektisch über Arme und Beine, wuschelt über ihren Kopf, fingert in ihrem Ausschnitt rum, hebt das T-Shirt bis auf Höhe des BH-Unterrandes an und fegt über ihren Bauch und ihren Rücken, reibt sich durch das Gesicht, hinter den Ohren entlang und springt auf der Stelle. Abschütteln!

„Bloß keine Zecken, bloß keine Zecken, bloß keine Zecken“, fleht sie vor sich hin. „Beeilt euch doch!“, wird sie ungeduldig.

„Geh schon vor!“, fordere ich sie auf.

Ina ist dankbar und läuft los. „Okay, ja, ich gehe. Ich gehe direkt unter die Dusche, kommt dann alle zu mir ins Zimmer, dass wir uns gegenseitig absuchen, ja?“

„Ja, Ina, wir kommen“, ruft Manu ihr hinterher.

Anna steht sprachlos neben uns. „Willst du nicht auch schon mal gehen“, frage ich sie.

„Nein, es ist okay.“

„Sind Zecken kein Problem für dich?“

„Sie sind doch für uns alle ein Problem. Es wird schon nichts sein.“

Ja, keine von uns darf gebissen werden. Ich brabbele vor mich hin, versuche lustig zu sein, um die Situation zu entschärfen. Manu und Anna sagen nichts. Nach ein paar Minuten haben wir den beginnenden Brand im Feld ausgetreten und alles eingesammelt. Wir können gehen.

Im Park kommt uns der Meckermann entgegen, der die Sorgen-Zucchini zum Bumerang gemacht hat. Er bleibt stehen und schaut uns dabei zu, wie wir den verkohlten Einweggrill, die verschmierten Teller und den ganzen anderen Kram in einen öffentlichen Abfallbehälter quetschen. Manu nimmt den Meckerer ins Visier und schlägt die Sorgenzucchini rhythmisch in ihre linke Handfläche, so wie es die Spieler mit den Baseballschlägern tun, wenn sie der gegnerischen Mannschaft signalisieren wollen, dass sie zum Angriff bereit sind. Der Meckermann schaut ängstlich, sagt nichts und geht. Ich spüre, dass Manu ihm die Zucchini gerne ein zweites Mal an den Kopf schmeißen würde.

In diesem Sommer dürfen wir nichts und alles.

Wir gehen direkt zum Zimmer von Ina. Sie sieht aus wie ein begossener Pudel, als sie die Tür öffnet. Ihre dünnen Haare hängen nass an ihrem Kopf herunter, um ihren ausgemergelten Körper hat sie ein Handtuch geschlungen.

„Hast du alle Zecken ertränkt?“, fragt Manu.

„Ich hoffe es. Könnt ihr bitte noch mal auf meinem Rücken nachschauen?“

„Am besten, wir suchen uns alle gegenseitig ab“, schlage ich vor.

„Zecken-Suchkommando“, fordert Manu in militärischem Ton auf, schlägt die Hacken in den Flipflops aneinander und reißt die flache rechte Hand zum militärischen Gruß neben ihre Stirn hoch.

„Manu, es ist ernst.“

„Natürlich ist es ernst, deshalb ja.“

Ich streife meinen Rock ab, ziehe mir das weiße T-Shirt über den Kopf und schlüpfe aus BH und Unterhose. Einen Moment später stehen wir alle splitternackt da. Anna klaubt die Klamotten zusammen und geht auf den Balkon, um sie über der Brüstung auszuschütteln.

Ich zische: „Man kann dich sehen.“

„Na und? Mir wird schon keiner was wegschauen.“

Dann stellen wir uns hintereinander auf wie bei der Elefantenparade. Manu sucht Ina ab, Anna sucht Manu ab und ich suche Anna ab. „Ich schau dann noch bei dir“, sagt Manu zu mir.

Meine Augen scannen über Annas Rückseite, beginnend bei ihrem Kopf, den Hals hinunter, über den Nacken, die Schulterblätter und die Wirbelsäule entlang. Mit der rechten Hand wische ich ein paar schwarze Fussel ihres Shirts von ihrer Haut. Nur die 30 Zentimeter lange Narbe, die sich rechts senkrecht über ihren Rücken zieht, wage ich nicht zu berühren: „Alles gut.“

„Melde: Keine Zecken gefunden!“, spielt Manu weiter.

„Ihr solltet euch aber noch die Haare waschen, nicht dass da noch Zecken drin sind“, rät Anna.

„Na gut, dann gehen wir mal. Alles gut bei dir, Ina?“

Ina nickt: „Ja, alles gut. Sorry, dass ich eben so panisch geworden bin.“

„Macht nichts, Ina, alles gut.“ Manu will die Runde beenden: „Wann sehen wir uns morgen? Ist jemand in der Psychorunde?“

Ich ziehe meinen Plan aus der Tasche: „Ja, Psychorunde, morgen als Erstes.“

Die anderen nicken: „Na, dann sind wir alle bei der Psychotante, dann wird es wenigstens lustig“, scheint Manu froh zu sein. „Gute Nacht, ihr Süßen.“

2

Die Psychotante kennen wir seit drei Tagen, so wie auch wir uns seit drei Tagen kennen. Die erste Sitzung bei ihr war unser erster gemeinsamer Termin. Die Therapeutin ist eine Mittfünfzigerin, die in Kleidungsstücken herumläuft, die sie selbst be-aquarelliert hat. Anna sagt, das heiße Batiken. Ich finde, es sieht aus wie misslungene Aquarellbilder, Bilder, die man auf keinen Fall an der Wand hängen haben möchte, die aber zum Wegschmeißen zu schade sind. Da zieht die Psychofrau sie eben an. Die Bonbonfarben passen zu ihrer weichgespülten Stimme. Und die wirkt ebenso künstlich wie das Lächeln, das Güte heuchelt.

Frau Psycho sagte zur Begrüßung, dass sie genau wisse, wie wir uns fühlen, weil sie dasselbe erlebt habe. Ich vermute, sie erhofft sich dadurch mehr Glaubwürdigkeit. Aber Glaubwürdigkeit ist nicht Kompetenz.

Das hat Ina direkt gesagt: „Wissen Sie, ich habe ein Problem, wenn ich das Gefühl habe, dass ich meiner Therapeutin intellektuell überlegen bin.“

Da hat die Psychotante gelächelt, mit dem Kopf genickt und dann gesagt: „Sie haben einen guten Kontakt zu Ihrer inneren Welt.“

Ihr gehe es um unseren Kontakt zur äußeren Welt und darum, dass es uns besser geht. Dafür sei sie da. Dafür bringt die Psychotante Spiele und Übungen mit, die Tiefgang haben sollen, aber auf den ersten Blick zu durchschauen sind.

Vor drei Tagen, nach der Vorstellungsrunde in der allerersten Sitzung, verteilte die Psychofrau 14 Notizzettel und angespitzte Bleistifte an uns, stand von ihrem Stuhl auf, atmete tief durch, schaute feierlich in die Runde und verkündete: „Zu Beginn habe ich eine Überraschung für Sie.“

Bei den Damen hielt sich die Freude in Grenzen.

„Also, wir haben für Sie blaue Luftballons mit Gas gefüllt, sodass sie weit weg und hoch in den Himmel fliegen können, bis zu den Wolken und ins All. Sie dürfen jetzt auf das Papierchen, das ich Ihnen gereicht habe, Ihre größte Sorge schreiben. Dadurch wird daraus ein Sorgenpapierchen. Dann gehen wir hinaus und jede knotet ihr Sorgenpapierchen an einen Luftballon – aber jede nur einen. Und dann lassen wir die Ballons mit Ihren Sorgen in den Himmel steigen. Sie werden sehen, danach fühlen Sie sich besser.“

Ina flüsterte: „Ich würde mich besser fühlen, wenn ich jetzt gehen könnte.“

Manu starrte mich an, als wolle sie sagen: „Das ist doch nicht ihr Ernst.“

„Kommt, Mädels, machen wir es einfach“, gab Anna den Startschuss.

„Was soll ich denn da draufschreiben?“, fragte ich hilflos.

„Na, deine Sorgen eben.“

Anna blieb locker: „Es ist doch egal. Das Ding fliegt in den Himmel und dann ist es weg.“

Ich wandte mich an die Therapeutin: „Müssen wir sagen, was wir draufschreiben?“

„Nein, das müssen Sie nicht, aber wenn Sie darüber sprechen möchten, dann selbstverständlich gerne, dafür bin ich da.“

Ich war immer noch ratlos: „Ina, was schreibst du denn?“

„Ich schreibe drauf, dass ich Therapiesitzungen machen muss, um die ich nicht gebeten habe, bei einer Frau, die ich nicht kennenlernen wollte.“

Das fand ich gewagt: „Und wenn der Ballon platzt und der Zettel runterfällt und die Psychotante das findet?“

„Ist mir egal.“

Ich beschloss, etwas Unverfängliches aufzuschreiben, und musste lachen. Ich schrieb: „Ich habe Sorge, dass die Camemberts in meinem Kühlschrank überreif sind.“

„So, jetzt falten Sie Ihr Sorgenpapierchen zwei Mal und wir gehen gemeinsam hinaus.“

Manu hatte auf ihr Sorgenpapierchen unleserliches Gekrakel gekritzelt.

Das machte mich neugierig: „Was ist das?“

„Geheimschrift!“

Sie nahm ihr Papierchen und ihren Bleistift und wir standen auf, um den anderen hinterherzugehen, während Anna noch immer schrieb.

„Wird das ein Roman?“, witzelte Manu.

„Ich komme nach“, schickte Anna uns voraus.

Auf der Wiese vor dem Haus hatte jemand die blauen Ballons an eine Parkbank geknotet. Die Ballontraube sah schön aus, als könnte man sich dranhängen und vom Ostseewind weit wegtreiben lassen. Die Damen holten sich ihre Ballons ab, wickelten den Faden um das Papier und knoteten es fest.

„Geben Sie acht, dass der Ballon nicht platzt“, ermahnte Frau Psycho.

Und da knallte es auch schon. Alle schraken zusammen. Manu stand triumphierend in der Runde, hielt den spitzen Bleistift immer noch auf der Höhe, auf der eben noch der Ballon schwebte, dessen Fetzen nun aber am Ende des Fadens schlapp über ihrem Arm baumelten.

Manu machte große Augen und jammerte mit weinerlicher Stimme: „Frau Therapeutin? Jetzt habe ich einen Sorgenzettel, aber keinen Luftballon mehr, der meine Sorgen ins All trägt, weil der Bleistift, mit dem ich meine Sorgen notiert habe, den Luftballon angesprungen hat.“ Wir konnten unser Lachen kaum zurückhalten.

„Dann nehmen Sie sich einen Ersatzballon aus dem Flur.“

Die anderen Frauen wussten nicht so recht, wie sie reagieren sollten, einige wirkten amüsiert, andere taten so, als hätten sie nichts mitbekommen. Dann hielten alle ihre Ballons in den Händen. Frau Psycho zählte zum Start. Bei Drei ließen alle los. Die Ballons flogen in den Himmel. Annas Ballon startete zuletzt und gab sich alle Mühe, die anderen einzuholen. Der leichte Wind trieb die Sorgen gen Westen. Kein Wölkchen zu sehen. Nur die dunkelblauen Ballons unterbrachen den Anblick der makellos hellblauen Himmelsfläche. Die Frauen gingen nach und nach, bis nur noch Anna und ich dastanden und den Ballons nachschauten. Als ich mich vom Himmelsanblick löste, heftete Anna ihren Blick weiter auf ihren Ballon. Ich wartete. Anna schaute.

Ich unterbrach die Stille: „Was hast du auf deinen Zettel geschrieben?“

Anna wandte ihren Blick nicht vom Himmel ab, und sie wollte meine Frage augenscheinlich nicht beantworten, sondern noch einen Moment allein sein: „Ich komme gleich.“

Manu musste nach der Gruppensitzung zum Einzelgespräch.

Am zweiten Therapietag bekamen wir wieder ein Geschenk. Dieses Mal erhielt jede der 14 Frauen eine kleine leere beigefarbene Pappkiste. Die Psychofrau hatte um jede Kiste ein dunkelgrünes Bastband geschlungen und auf dem Deckel zur Schleife gebunden.

„In dieser Kiste sind Ihre vergessenen Träume“, flötete die Therapeutin, „Dinge, die Sie als Kind machen wollten, Pläne, die Sie hatten, Träume und Wünsche, die Sie im Laufe des Lebens in den Zwängen des Alltags vergessen haben. Heute wollen wir diese Kiste öffnen und nachsehen, was darin ist, und uns daran erinnern“, erklärte die Therapeutin.

Sie wolle bei der Dame rechts anfangen und sich dann der Reihe nach nach links durcharbeiten, sodass jede von uns einmal drankäme. „Frau Mullin, Sie sind die Erste. Bitte öffnen Sie Ihre Kiste und schauen Sie hinein und sagen Sie uns, welchen Traum Sie darin finden.“

Frau Mullin ist zwischen 50 und 60 Jahre alt, blond, ein wenig rundlich, hat eine dicke Brille auf der Nase, kommt aus Bonn. Sie zog die Schleife auf, nahm den Deckel ab und blickte in die leere Kiste und sprach dann aus, was sie sah: „Prinzessin.“

Psychofrau: „Bitte was?“

„Ich wollte immer eine Karnevalsprinzessin sein. Wissen Sie, ich komme aus Bonn und da feiern wir Karneval. Und da wollte ich immer Prinzessin sein.“

Die Psychotante war begeistert: „Oh, das ist aber ein sehr schöner Traum.“

„Ja, aber habe ich nie gemacht.“

„Naja, das können Sie ja noch.“

„Wie soll das gehen?“

„Ganz einfach: indem Sie sich ein Prinzessinnenkleid kaufen und ein Krönchen und als Prinzessin gehen. Gerade zu Karneval ist das doch ein Wunsch, den Sie sich mit einfachen Mitteln leicht erfüllen können.“

„Als Prinzessin gehen ist nicht dasselbe wie Prinzessin sein. Prinzessin zu sein ist ein Amt, da muss man gewählt werden. Und ich bin fast 60 Jahre alt und ein Wrack, wer soll mich wählen?“

„Aber Frau Mullin, dann machen Sie doch Ihre eigene Prinzessinnenwahl im Freundeskreis. Es ist doch alles nur eine Frage der Definition. Hauptsache Prinzessin.“

Frau Mullin stimmte mit einem leicht ironischen Unterton zu: „Ja, klar, mach ich, super Idee!“

„Dann die Nächste.“

Allen war nun klar, dass sie besser nichts Existenzielles aus ihren Kisten holen sollten und dass sie auch nicht lange diskutieren sollten, wenn sie hier schnell wieder wegwollten.

Die nächste Frau holte aus ihrer Kiste eine Kreuzfahrt – ein Traum, den sie sich ja auch einfach mal erfüllen könne, wie die Psychofrau sagte: „Wenn Sie etwas wirklich wollen, dann schaffen Sie es auch. Und wenn Sie es nicht schaffen, dann sollten Sie sich fragen, ob Sie es auch wirklich wollen.“

Es folgten: ein eigenes Haus, den leiblichen Vater kennenlernen, ein Café eröffnen, Fallschirmspringen, Ballett tanzen, Klavier spielen, im Lotto gewinnen, eine Safari machen, Filmstar sein, und dann kam ich.

„Ich würde gerne mal in Nutella baden.“

Frau Psycho schien überrascht: „In Nutella? Und wieso ausgerechnet Nutella?“

„Wieso nicht? In einer Badewanne sitzen, die bis zum Rand mit Nutella gefüllt ist, dann mit beiden Händen in die Masse greifen und das Nutella in sich hineinstopfen.“

Während ich es beschrieb, schaufelte ich mit den Händen durch die Luft, schüttete mir das gedachte Nutella über das Gesicht und fraß es krümelmonsterartig mit den Worten „Jramm, jramm, jramm“ in mich hinein.

Die anderen grinsten. Missis Psycho lächelte wächsern und ging die Reihe weiter durch.

Ina wollte als Kind Tiefseeforscherin werden. Jetzt ist sie Biologin. Annas vergessener Traum spielt in Spanien: auf einer Finca mit einer Olivenplantage und einem Swimmingpool, weil sie an so einem Ort oft mit ihren Eltern im Urlaub war.

Jetzt fehlte nur noch Manu, und dann könnten wir endlich gehen. Manu zog das Band ab und löste den Knoten. Sie ließ sich Zeit. Während sie den Bast feinsäuberlich aufwickelte, wurde es ganz still im Raum. Sie schloss das Bandknäuel mit einer Schleife und legte es auf den Beistelltisch. Dann nahm sie mit einer großen Bewegung den Deckel von der Kiste, fächerte sich damit mit vier, fünf Bewegungen Luft zu, während sie in die Runde schaute, senkte den Blick in die Kiste, riss die Augen auf und sprach mit erhabener Stimme in die Stille laut und klar nur ein Wort: „Leer!“

Ein Riesengelächter brach los.

Die Psychofrau versuchte uns zu beruhigen: „Bitte, meine Damen! Natürlich ist die Kiste leer. Das habe ich Ihnen ja gesagt, Frau Burg, die Kisten sind alle leer. Sie sollen versuchen, darin vergessene Träume zu sehen.“

Manu blieb dabei: „Es ist nichts drin.“

Frau Psycho verlor ein wenig die Fassung: „Strengen Sie sich an. Irgendetwas wird ja wohl drin sein.“

„Nein, nichts. Es ist nichts drin.“

„Also ein bisschen mitarbeiten müssen Sie schon.“

„Mache ich ja, aber in meiner Kiste ist kein vergessener Traum. Ich wollte Sängerin werden und ich bin Sängerin geworden. Basta.“

Ina schaltete sich ein und gab das Stichwort zum Ende der Sitzung: „Manu, aber ich glaube, in deiner Kiste ist doch bestimmt noch der vergessene Traum von einem leckeren Kantinen-Mittagessen.“

Manu schaute noch mal in die Kiste und nickte übertrieben: „Oh ja, stimmt, jetzt, wo du es sagst, kann ich es sehen. Lecker Mittagessen. Dann gehe ich mir mal diesen Traum erfüllen …“

Mit diesen Worten stand Manu auf, stellte die Kiste auf den Tisch und verließ den Raum. Die anderen Frauen machten sich auch daran, zu gehen.

„Wir sehen uns morgen wieder, die Damen“, rief die Therapeutin überrumpelt und an mich gewandt: „Bitte sagen Sie Frau Burg, dass sie gerne noch mal zu mir kommen soll.“

„Da wird sie sich freuen.“

Gerade haben wir die dritte Sitzung. Es ist der Morgen nach dem Grillabend. Dieses Mal hat Manu ein Geschenk für die Psychofrau dabei: die Sorgenzucchini aus dem Weizenfeld.

„Nein, du wirst sie ihr nicht geben“, bremse ich Manu aus.

„Wieso nicht? Sie steht doch auf Sorgenpapierchen und Angstballons und leere Kisten mit fiktiven Schwachsinns-Ideen darin.“

„Manu, bitte. Es gibt Menschen hier, denen das etwas gibt. Uns vielleicht nicht. Aber mach es ihr doch nicht so schwer, wir müssen da hin, dann sitzen wir das eben ab, respektieren, dass manche Frauen aus den Sitzungen etwas ziehen können. Und außerdem würde Frau Psycho die Sorgenzucchini sowieso nicht verstehen.“

Vorsichtshalber nehme ich Manu die Zucchini ab und packe sie in meinen Jutebeutel.

„Heute möchte ich von jeder von Ihnen mindestens eine Sache hören, die nichts kostet und die Freude macht“, kündigt die Psychotante an und liefert auch direkt ein paar Beispiele: „Zum Beispiel Blumen anschauen oder Wolken anschauen … und jetzt Sie.“ Wieder der inzwischen bekannte Blick in die Runde.

Die Erste erbarmt sich, eine attraktive Frau mit kurzen schwarz-grauen Haaren, perfekt geschminkt mit Lidschatten und Lippenstift, geschmackvoll gekleidet: „Sterne anschauen.“

Mir ist das alles zu platt. Trivialer Kram.

Frau Psycho scheint froh zu sein, dass es läuft: „Sehr gut.“

Dann zählen die Frauen brav auf: spazierengehen, im Wald herumlaufen, das Gras unter den Füßen spüren, die Sonne spüren …

Ich muss auch etwas sagen und rede mich mit „Ausschlafen“ heraus. Nur Manu sagt nichts und die Psychofrau kann es nicht dabei belassen: „Von Ihnen habe ich jetzt noch gar nichts gehört. Von Ihnen möchte ich jetzt mindestens drei Sachen hören, die nichts kosten und Freude machen.“

Manu zögert nicht lange: „Bitte: fressen, ficken und Kinder erschrecken.“

Miss Psycho ist entsetzt, die Gruppe wiehert los. Die Fastnachtsprinzessin schlägt sich vor Lachen auf den Schenkel. Die elegante Sternenfrau, die eben noch in den Himmel schauen wollte, lächelt und bleibt cool, als teile sie Manus Ansichten, wenngleich sie Manus Ausdrucksweise vermutlich nicht goutiert. Die Gruppe ist außer Rand und Band. Die Therapietante fängt sich, schleudert Manu lächelnd ein „Sie sind ja ein Vulkan“ hin und beendet die Runde für heute. Manu muss zum Einzelgespräch.

Ich bin genervt, gehe direkt in mein Zimmer, werfe die Tür hinter mir zu. Pfeffere den Jutebeutel mit der Sorgenzucchini darin in die Ecke und lasse mich aufs Bett fallen.

Ich hasse dieses Schöngerede. Deshalb nehme ich mir vor, heute Nachmittag eine Liste von Dingen zu schreiben, mit denen man garantiert eine schlechte Zeit haben kann.

3

Die Liste der Dinge, mit denen man garantiert eine – mehr oder weniger lange – schlechte Zeit haben kann:

In der Therapiestunde der Psychotante sitzen.

Mit der Deutschen Bahn fahren.

Den Telefonanbieter wechseln.

Dem Zahnarzt vertrauen, wenn er sagt: „Das ist nur ein ganz kleines Loch, da brauchen wir keine Narkose.“

Mit einem Münchner Taxi eine sehr kurze Strecke fahren.

Mit einem morschen Zahn auf eine harte Lakritze beißen.

Eine Limonadenflasche öffnen, die geschüttelt wurde.

Mit dem kleinen Zeh am Türrahmen hängen bleiben.

Das heiße Bügeleisen im Fall auffangen.

Beim Sektflasche-Öffnen den Flaschenhals in Richtung Gesicht halten.

Mit nassen Füßen auf Granitboden ausrutschen.

Milch in den beheizten Beifahrersitz fließen lassen.

Zur Rushhour mit dem Auto nach Frankfurt reinfahren.

Mit einem Schalke-04-Schal im Dortmund-Block sitzen.

Im Beisein eines Vegetariers ein Schnitzel essen.

Beim Fahren ohne Führerschein erwischt werden.

In ein Wurmloch geraten.

Barfuß über eine frisch geteerte Straße gehen.

Das Mundspray mit dem Handdesinfektionsspray verwechseln.

Den Ehemann mit dem Namen des Geliebten ansprechen.

Nach der Ansage „Wir schenken uns nichts“ wirklich nichts schenken.

Jemandem einen Schokoladenpudding kochen und ihn dann selbst essen.

Sex am Sandstrand.

Unter Zeitdruck ein Ikea-Bett aufbauen.

Die Zigarette am falschen Ende anzünden.

Beim Türzuziehen die andere Hand im Türrahmen haben.

Bei der Einreise nach Amerika an der Passkontrolle einen Witz über eine Bombe machen.

Vergessen, den Herd auszuschalten.

Die Aufzählung lässt sich vermutlich beliebig verlängern.

Nach der Mittagspause erzähle ich den anderen von meiner Liste, vielleicht haben sie auch noch Ideen. Damit sie eine Vorstellung davon bekommen, was ich meine, gebe ich ihnen Beispiele: „Mit einem angespitzten Bleistift einem Luftballon zu nahe kommen, einen brennenden Einweggrill in ein Getreidefeld stellen …“

„In einen Seeigel treten“, grinst Anna, und Ina und ich verzerren die Gesichter wie im Schmerz und ziehen bei dieser Vorstellung deutlich hörbar Luft durch die zusammengebissenen Zähne.

Ina schlägt vor: „Nach dem Öleinfüllen ins Auto vergessen, den Deckel wieder auf den Einfüllstutzen zu schrauben.“

„Sehr schön“, kommentiere ich und notiere es.

Anna: „Sich im Parkhaus nicht merken, wo das Auto steht.“

„O ja, auch gut, das kenne ich, ich habe schon stundenlang gesucht“, bestätigt Ina.

Ich nicke anerkennend: „Nicht schlecht. Weitere Vorschläge?“

„Klar“, sagt Manu, „das Naheliegende habt ihr in eurer Liste ja noch gar nicht drin.“

„Und das wäre?“, freue ich mich erwartungsvoll.

„Man kann auch einfach Krebs bekommen, dann hat man auch garantiert eine Scheißzeit.“

4

Wir haben alle Krebs.

Manu: Unterleibskrebs. Ihre Gebärmutter wollte sie unbedingt behalten, aber als sie aus der Narkose aufwachte, hatten die Ärzte ihr das Organ einfach herausgenommen. Es sei nicht anders gegangen. Jetzt ist Manu 38 und nicht mehr gebärfähig. Die Chemotherapie ist schon lange genug her, dass ihre Haare nachwachsen konnten. Wenn die Haare nachwachsen, locken sie sich anfangs. Manu hatte fast hüftlange schwarze glatte Haare. Jetzt hat sie einen Bubikopf mit großen weichen Wellen, sieht aus wie eine Zwanziger-Jahre-Frau, wie Dita van Teese. Ich finde, es steht ihr großartig. Manu hasst es. Bei den Auftritten mit ihrer Rockband trägt sie jetzt eine Perücke: „Sonst müssen wir alle Promofotos neu schießen lassen.“

Anna: Brustkrebs. Sie hat seit der Chemo keine Haare mehr. Sie sieht aus wie eine krasse Punkerin.

„Du bist jetzt Rockerin“, hat ein Mädchen im Kinderladen gesagt, in dem sie arbeitet. Dann haben alle Kinder gefragt, ob sie mal Annas Kahlkopf streicheln dürfen, Anna ist in die Hocke gegangen, jedes Kind durfte über die zarte Haut streichen, und alle fanden es toll.

Auf ihrem perfekt geformten Kopf sprießen jetzt ein paar schwarze Stoppeln. Ihre riesigen dunkelbraunen Augen wirken noch größer über ihrem sinnlichen Mund.

Sie ist bildschön und sie hat Spaß an ihrem Look: „An der S-Bahn in Berlin werde ich nun von Leuten um Feuer gebeten, vor denen ich mich bisher gefürchtet habe.“

Niemand rempele sie mehr an, alle hielten respektvoll Abstand. Anna amüsiert das. Sie ist mit 27 Jahren die Jüngste von uns. Ihre Brust wurde schon wieder aufgebaut. Das Muskelgewebe, das dafür benötigt wurde, wurde ihr aus dem Rücken entnommen, daher die lange Narbe.

Manu hat ihr vorgeschlagen: „Wenn alles überstanden ist, kannst du dir ja neben die Narbe die Worte ‚Na und?‘ tätowieren lassen.“

Ina: Unterleibskrebs. Zum zweiten Mal. Sie ist 33. Das erste Mal erwischte es sie mit 28. Dieses Mal war nach der Totaloperation auch noch eine Chemo fällig. Die kostete sie die Hälfte ihrer Haare. Das, was ausgefallen ist, wächst schon nach. Wenn sie ihr Haar senkrecht hoch über den Kopf hält, sieht man, dass das Haar im unteren Bereich nahe der Kopfhaut dicker ist als der Rest. Der dicke Unterflaum gibt dem dünnen Resthaar einen übermäßigen Stand, der die Haare vom Kopf abstehen lässt. Sie erinnert mich ein wenig an eine aufgeplusterte Meise.

Und ich, Kiki. Ich habe das, was Ina vor fünf Jahren hatte: Unterleibskrebs in einem sehr frühen Stadium. Mir geht es also am besten, dabei bin ich mit 41 die Älteste. Ich hatte keine Chemo, keinen Port im Dekolleté, über den die Chemie in meine Adern floss. Ich wäre meine Gebärmutter im Gegensatz zu Manu gerne losgeworden, statt das Gefühl zu haben, den Rest meines Lebens mit einer tickenden Zeitbombe in meinem Körper herumzulaufen. Aber als ich aus der Narkose aufwachte, war sie noch da.

Manu ist mit ihrer Gebärmutter fertig – und mit den Ärzten, die sie ihr entrissen haben. Sie fühlt sich im Stich gelassen, von der Gebärmutter und von den Ärzten.

Wir kennen uns seit drei Tagen. Am Montag sind wir in der Kurklinik angekommen. Wir sollen uns erholen, ein mehrwöchiger Aufenthalt in der Nähe der Ostsee, bezahlt von der Deutschen Rentenversicherung, damit unsere Arbeitskraft möglichst schnell wiederhergestellt ist. Drei Wochen sind garantiert, über jede weitere Verlängerungswoche entscheiden die Ärzte der Klinik von Woche zu Woche. Als ich ankam, habe ich versucht, mit der Ärztin direkt auszuhandeln, dass ich nur die vorgeschriebene Mindestzeit von drei Wochen bleiben muss und keinen Tag länger. Ich wollte so wenig Zeit wie möglich mit Krebsfrauen verbringen, weil ich fürchtete, dass ständige Gespräche über Krankheitsgeschichten ganz sicher keinen therapeutischen Effekt haben würden, der mich weiterbrächte. Aber schon nach drei Tagen weiß ich, dass ich hier so schnell nicht wieder wegwill.

Wir sind in einer Rehaklink für Frauen nach Krebs und für Menschen mit orthopädischen Problemen. 90 Prozent Frauen. Montags kommen immer die Neuen. Die wenigen Männer, die wegen orthopädischer Probleme in dieser Klinik sind, sitzen dann aufgereiht wie Silberrücken auf den Bänken vor der Klinik und taxieren jede Frau, die ankommt. Um zehn Uhr muss man am Aufnahmetag da sein. Die Klinik befindet sich in Bad Schwartau, fünfzehn Autominuten von der Ostseeküste entfernt, in einem Park an einem See neben einem Waldstück. Neben dem Hauptgebäude mit dem Speisesaal, den Vortrags- und Bastelräumen gibt es zwei mehrstöckige Nebenhäuser mit kleinen Balkonen, in denen die Patienten wohnen. Es hat etwas von Siebziger-Jahre-Urlaubs-Bunkern, Appartementhaus und Altenheim. Am Rande des Parks befindet sich ein Thermalbad. Im hinteren Bereich Therapieräume für Massagen, Inhalation, Gymnastik und Fangopackungen. In den Kellern die Behandlungsräume der Ärzte, ein paar drittklassige Zimmer, die nur genutzt werden, wenn es richtig voll ist, eine Tischtennisplatte und ein unterirdischer Übergang zum Thermalbad im Stil eines Tiefgaragentunnelsystems. An den Decken Neonröhren. Auf dem Boden Linoleum.

Zwischen den Häusern gibt es eine kleine Fläche mit Bänken und einen bemoosten Schachspielplatz. Da sitzen die Krebsfrauen und die Orthopädiefrauen neben gesunden Besuchern des öffentlichen Kurparks, die mit all dem Klinikkram nichts zu tun haben.

Ich war um drei Uhr morgens mit dem Auto in Frankfurt losgefahren, um pünktlich da zu sein. An der Rezeption erhielt ich meine Schlüssel für die Zimmertür und für meinen Briefkasten Nummer 528, eine Hausordnung, den Mittagessensplan für eine Woche, auf dem man ankreuzen muss, was man essen möchte, und eine grüne Plastikkladde.

„In die stecken Sie bitte Ihre Behandlungspläne, die Sie einmal pro Woche in Ihrem Briefkasten finden. Den Mittagessensplan werfen Sie bitte in den Briefkasten im Speisesaal. Heute haben Sie freie Auswahl“, erklärte die dicke Frau in Weiß.

Einen Teekocher gab es nicht.

„Tee können Sie im Speisesaal trinken.“

Ich beschloss, mir einen zu kaufen.

Die Frau in Weiß erklärte weiter: „Die Salzgrotte und das Thermalbad dürfen Sie kostenlos nutzen. Im Keller finden Sie Waschmaschinen. Sie sitzen im Speisesaal an Tisch 5, dort steht ein Schild mit Ihrem Namen. Rauchen Sie? Rauchen sollten Sie gar nich und wenn es unbedingt sein muss, dann nur in der Holzhütte hinter dem Haus.“

Die Verbote waren der Anweiserin am wichtigsten: „Sie dürfen während Ihres Aufenthalts nicht mit dem eigenen Auto fahren, dann haben Sie keinen Versicherungsschutz. Alkohol ist nicht erlaubt. Die Türen der Klinik werden um 23 Uhr abgeschlossen, bis dahin müssen Sie also drin sein. Besuch muss angemeldet werden. Es ist nicht erlaubt, während Ihres Kuraufenthalts nach Hause zu fahren. Sie dürfen die Pflichtkurse nicht verpassen.“

Die Verbote stehen auch auf Zetteln an der Pinnwand gegenüber der Rezeption. Ebenso die Freizeitangebote: Serviettentechnik, Traumfänger bauen, Fahrradtouren und eine geführte Kräuterwanderung. Daneben baumelt ein Kugelschreiber an einer Kordel, die mit einer Reißzwecke an der Wand befestigt ist und mit dem man sich in die Teilnahmelisten der Angebotsbeschreibungen eintragen kann.

Ich trug mich nirgends ein. Zuletzt erhielt ich einen fotokopierten Lageplan der Gebäude. Dann wurden die Neuankömmlinge über das Gelände geführt und bekamen alles gezeigt.

Wir beäugten uns scheu und wir wurden beäugt von denen, die schon länger da sind und die sich auf den Parkbänken ihre Stammplätze gesichert haben.

Die Tage sind strukturiert. Um 6.30 Uhr aufstehen. Um 7 Uhr beginnen die Anwendungen und Kurse: Wassergymnastik, Psychotherapie, Venengymnastik mal vormittags, mal nachmittags. Dann, um 8 Uhr, frühstücken, danach Walking, im Fitnessraum Fahrradfahren, Massagen, Inhalieren, Nackengymnastik, Gesundheitsvorträge, um 12 Uhr Mittagessen, danach Mittagsschlaf, Arzttermine, autogenes Training, Progressive Muskelentspannung, leichter Sport. Um 18 Uhr Abendessen.

„Wenn Sie nicht zu Abend essen wollen, müssen Sie sich bis 13 Uhr aus der Liste im Speisesaal austragen.“

Die Abende sind zur freien Verfügung. Wer gar nichts mit sich anzufangen weiß, kann zur Konzertmuschel am Rande des Parks gehen. Manchmal singen dort Kinderchöre oder der örtliche Quetschkommodenverein spielt.

Es gibt in jedem Haus einen Gemeinschaftsraum mit einem Tisch, ein paar abgewetzten Gesellschaftsspielen und einer kleinen Bibliothek, die sich aus den Büchern speist, die Gäste in der Vergangenheit liegen gelassen haben. Trivialromane, Krebsratgeber, Wandertourenpläne, mittendrin ein Bildband von Salvador Dali, den ich mir mit aufs Zimmer nehme. Charlotte Roches’ „Feuchtgebiete“ steht drei Mal im Regal. In diesem Bibliothekssammelsurium finden auch die gemeinsamen Filmabende statt.

Manus Filmvorschlag „Shaun of the Death“, eine blutig-bitterböse Zombiekomödie, wird schon allein deshalb nicht angenommen, weil es diesen Film nicht auf Videokassette gibt. Dabei findet Manu, dass ein Zombiefilm doch ganz gut zur Kulisse passen würde. Aber es laufen Heinz-Rühmann-Filme, sämtliche Schmonzetten mit Audrey Hepburn, Traumschifffolgen mit Sascha Hehn und streifige Aufnahmen von Lindenstraßenfolgen.

Ich wollte hier nicht hin, auch wenn eine Kur mir angeblich guttut. Aber die Vorstellung, mehrere Wochen mit depressiven Krebsfrauen verbringen zu müssen, war mir ein Graus. Ich fürchtete, sie würden die ganze Zeit über ihre Krankheiten reden, sich bedauern, heulen, jammern und weinen, ihr Leben am Ende sehen und sich von ihren Ängsten vor sich hertreiben lassen. Ich rechnete mit Frauen, die um sich selbst kreisten, in Schilderungen, wie sie ihre Diagnose bekamen, wie die Chemotherapie ihren Körper auffraß, dass ihnen speiübel wäre, wie sie im Krankenhaus aus der Narkose aufgewacht wären, wie die Bestrahlung ihre Haut zerstörte, wie es war, als sie sich den Kopf rasierten und sich eine Perücke aussuchten … all diese Geschichten hatte ich im Krankenhaus und in den Wartezimmern gehört, sie sind schrecklich und sie führen zu nichts. Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben. Ich wollte nach vorn blicken.

Keine der Krebsfrauen wollte hierher. Warum auch? Die Behandlung ist abgeschlossen. Das Krankenhaus ist Vergangenheit. Das Thema ist durch. Ich will nicht wieder zurück in dieses Thema, in diesen Lebensabschnitt. Ich will leben. Und, bei Gott, ich lebe, wir alle leben, wir haben überlebt. Das ist das Einzige, was zählt. Wenn es rum ist, wollen wir so weitermachen, als wäre nichts gewesen. Und jetzt müssen wir zurück in dieses Grauen, uns neu konfrontieren mit dem, was uns bedroht. Das will ich nicht.

Deshalb hatte ich mir schon vor Kurantritt vorgenommen, möglichst wenig Kontakt mit den Depri-Krebsfrauen zu haben und mich lieber an die Orthopädiepatienten zu halten. Bei ihnen vermutete ich einen stabileren, fröhlicheren und lebensbejahenderen Gemütszustand. Denen geht es doch gut. Für sie spielen die Fragen um Leben und Tod keine Rolle.

Sie haben nicht den Moment erlebt, in dem sie fürchteten, das Leben könne demnächst zu Ende sein. Sie haben nicht Rotz und Wasser geheult, gefleht und gebettelt, das Leben möge ihnen noch eine Verlängerung geben. Sie haben nicht geschworen, dass sie nun alles ändern wollen, wenn sie denn nur weiterleben dürfen. Sie sind nicht mitten in der Nacht noch halb schlafend voller Angst aus dem Bett gesprungen und einfach losgerannt und erst stehen geblieben, als sie wach genug waren, um sich dem Impuls der Flucht zu widersetzen.