Der bleierne Sarg - Thomas Frankenfeld - E-Book

Der bleierne Sarg E-Book

Thomas Frankenfeld

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Beschreibung

Mehr als drei Jahrhunderte lang hat das Grauen überdauert, eingeschlossen in einen bleiernen Sarg. Eine Chimäre –ein tödlicher Erreger aus den Zeiten des Dreißigjährigen Kriegs, setzt eine skrupellose Terror-Organisation ein, um einen Massenmörder aus der Haft freizupressen. In einem verzweifelten Rennen gegen die Zeit versuchen ein Archäologe und eine Kieler Hauptkommissarin die Drahtzieher aufzuspüren und zugleich uralte Aufzeichnungen zu finden, die bei der Entwicklung eines Medikamentes helfen können. Währenddessen sterben immer mehr Menschen ... Bioterrorismus gilt neben dem Atomkrieg als größte Gefahr für die Menschheit. In diesem erschreckend aktuellen und packenden Thriller hat Thomas Frankenfeld diese Bedrohung verarbeitet. Während ihrer Suche geraten die beiden Protagonisten immer wieder inKämpfe auf Leben und Tod, die beklemmend realistisch geschildert werden. Ein spannender und beeindruckend recherchierter Thriller mit vielen unerwarteten Wendungen.

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Seitenzahl: 409

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Ähnliche


THOMASFRANKENFELD

DERBLEIERNESARG

EIN THRILLER

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Epilog

Anmerkungen und Danksagung

Die Personen

Der Autor

Prolog

Juni 1643, Wedel in Holstein

Gesche Carstens rannte. Ihre nackten Füße flogen über den harten, staubigen Boden und trommelten darauf ein wildes Stakkato. Ihr Atem ging in keuchenden Stößen, aufgelöstes, verschwitztes Haar flatterte ihr hinterher wie ein dunkles Banner. Die junge Frau bemerkte weder, dass sich spitze Steine in ihre Sohlen gruben, noch, dass die scharfen Dornen einer Hundsrose ihre Waden aufrissen und rote Spuren hinterließen. Sie rannte um ihr Leben.

Als sie das geduckte Ziegelgebäude des Jacob‘schen Hofes erreichte, der eine halbe Meile nordwestlich der Stadt Wedel lag, warf sie einen gehetzten Blick zurück. Ihre Verfolger hatten an Boden verloren, behindert durch das Gewicht ihrer ledernen Wämser und stählernen Waffen. Doch sie mussten jeden Moment am Waldrand auftauchen, und die Magd wusste, was ihr dann bevorstand. Einerlei, ob es Brandenburger, Österreicher, Schweden oder andere Heere waren – die Truppen in diesem seit vielen Jahren hin- und herwogenden Gemetzel, das man später den Dreißigjährigen Krieg nennen würde, hausten allesamt unmenschlich in den umkämpften Gebieten. Ganze Landstriche waren bereits entvölkert, Dörfer und Städte in Schutt und Asche gesunken. Ausgerechnet die Bauern, die sich täglich den Rücken krumm schufteten, um eine karge Mahlzeit auf den Tisch stellen zu können, standen bei den Söldnerheeren im Verdacht, Schätze in ihren Häusern zu horten. Wie viele von ihnen in die brennenden Kamine ihrer eigenen Häuser gehängt oder mit dem grauenhaften „Schwedentrunk“ zu Tode abgefüllt worden waren, um angebliche Wertsachen preiszugeben, vermochte niemand zu sagen. Abertausende waren es gewiss. Kaum eine Frau, kaum ein halbwüchsiges Mädchen blieb auf dem Lande von der Schändung durch die grausame Soldateska verschont.

Gesche hatte die Gier und die Erbarmungslosigkeit in den Augen ihrer Verfolger gesehen. Verzweifelt warf sich die junge Frau gegen die grob gehobelte Fichtentür des Hofes und fiel erschöpft in die dämmerige Diele hinein. Sie wusste, wie auf vielen anderen Höfen gab es auch in diesem Haus geheime Winkel, in denen sich Menschen vor den Hunden des Krieges verbergen konnten.

„Freder …?“, rief sie halblaut, und dann noch einmal.

Im Haus blieb es jedoch ruhig, geradezu totenstill. Vorsichtig warf sie einen Blick zur Tür hinaus. Ihre Verfolger waren noch nicht zu sehen. Doch aufgegeben hatten sie gewiss nicht, dieser Illusion gab Gesche sich nicht hin. Sie tat ein paar Schritte in den stillen Raum hinein – und erstarrte. Diesen widerlich süßlichen Geruch kannte sie nur zu gut. Jeder in diesen unmenschlichen Zeiten kannte den Hauch des Todes.

Die junge Magd schritt eilig über den Boden aus gebrannten Ziegelsteinen hinweg, vorbei an der gemauerten Herdstelle, in der ein paar Scheite glommen, bis sie einen hölzernen Torbogen erreichte, der einen weiteren Raum mithilfe eines groben Wollvorhangs abtrennte.

„Freder? Janne?“, rief sie leise und schob dann zögernd den Stoff ein Stück beiseite.

Entsetzt keuchte sie auf bei dem Anblick, der sich ihr bot, und stolperte einen Schritt zurück. Als sie sich zur Flucht wandte, prallte sie hart gegen einen Menschen. Sie schrie. Eine Hand packte ihren Hals mit grobem Griff, erstickte gurgelnd ihren Schrei.

„Da haben wir das Täubchen ja endlich. Nun, nach einer guten Jagd schmeckt die Beute gleich noch viel besser“, grinste der Söldner, der sich mit seinen Kameraden lautlos in die Diele geschoben hatte.

Sein Atem stank nach verrotteten Zähnen und billigem Wein, in der rechten Hand hielt er einen Dolch. Er trug ein schwarzes Lederwams mit eisernen Nieten und an seinem Gürtel hing ein abgenutzter Katzbalger, das kurze Schwert der Landsknechte. Gesche starrte mit geweiteten Augen auf die schartige, aber scharf geschliffene Klinge, die sich ihrer Kehle näherte. Eisige Kälte breitete sich in ihr aus. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte, den vier Männern zu entkommen. Es sei denn, sie handelte jetzt sehr entschlossen.

„Ihr habt mich also gefunden“, presste sie heraus. „Und den Tod noch gleich dazu.“

Der Söldner runzelte verwirrt die Stirn, als sie ganz dicht an ihn herantrat. Die Spitze des Dolchs ritzte ihre Haut; sie spürte, wie ein dünnes Rinnsal Blut an ihrer Kehle herablief. Die junge Frau lächelte, hob die Arme und legte sie um den Hals des Mannes. Er starrte sie an, dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, als er ihren Rock befingerte. Das Grinsen erlosch jedoch jäh, als sie sich kraftvoll nach hinten warf und dabei zur Seite drehte. Der überrumpelte Mann geriet aus dem Gleichgewicht und wurde durch den Vorhang auf die dahinterliegende breite Bettstatt katapultiert. Mit einem rüden Fluch auf den Lippen schnellte er sogleich wieder in die Höhe.

„Bei allen Dämonen – das ist ja die Teufelspest!“

Die anderen Söldner blickten an ihm vorbei auf die Bettstatt. Dann prallten sie mit gutturalen Lauten zurück und stürmten, sich gegenseitig roh aus dem Weg stoßend, aus der Tür. Ihr Kamerad im schwarzen Wams starrte einen Herzschlag lang seine Hände an, mit denen er sich auf der Bettstatt abgestützt hatte. Dann hob er den Blick zu Gesche Carstens, in dem Hass und blanke Angst standen. Er sah sich nach seinem Dolch um, aber der lag nun auf dem Bett. Der Schwarze wich rückwärts vor der jungen Frau zurück, dann wandte er sich ruckartig um und floh mit wilden Sätzen aus dem Haus, wie von Furien gehetzt.

Gesche stand ein paar Sekunden wie gelähmt da. Schließlich drehte sie sich um und zwang sich dazu, noch einmal auf das Bett hinunterzublicken. Dort lagen sie – Freder, Janne und ihre vier Kinder. Der alte Gerolf, Freders Vater, hing halb von seinem schlichten, strohbedeckten Lager an der gegenüberliegenden Wand herunter. Gesche begann, vor Entsetzen am ganzen Leib zu zittern. Doch sie konnte den Blick lange nicht abwenden: von den Blutlachen, in denen die sieben Menschen lagen. Von den im Todeskampf aufgerissenen Mündern in den schwärzlich angelaufenen Gesichtern mit ihren blutigen Augäpfeln.

Endlich konnte die junge Frau die Lähmung des Schocks abschütteln. Hastig trat sie ein paar Schritte zurück. Ein Gedanke brannte in ihrem Kopf wie ein loderndes Feuer: Hatte sie sich angesteckt? Das würde den sicheren Tod bedeuten! Es hieß doch, diese entsetzliche Pest könne sogar die Luft selbst mit ihrem todbringenden Miasma vergiften. Der Pastor! Wenn einer ihr noch helfen konnte, dann der Pastor! Sagte man nicht von ihm, er hätte sich selbst von der Pest geheilt? Und sogar Tollwütige von der tödlichen Krankheit befreit? Hoffentlich war er noch nicht geflohen wie so viele andere. Gesche Carstens sprang zur Tür hinaus und rannte. Sie rannte um ihr Leben.

1

2019, Wedel in Holstein

Abgerissene Zweige knirschten unter seinen schweren Arbeitsschuhen, als Dachdeckermeister Walter Breckwoldt um die alte Kirche schritt. Er starrte zum Dach empor, wo ein dicker, borkiger Ast aus den grauen Schieferplatten ragte wie ein halb verwester Arm aus einem Grab. Der wütende Orkan letzte Nacht mit Sturmböen der Stärke zwölf hatte den Ast von einer der alten Eichen gerissen, die den bescheidenen Kirchhof umstanden, und ihn wie einen Speer in das Dach gerammt. Einige der grauen Platten waren hinabgestürzt und am Boden zerschellt. Die Pastorin hatte bereits dafür gesorgt, dass das Areal unterhalb des Schadens mit Trassierband abgesperrt wurde.

Breckwoldt wandte sich um und nickte seinem Gesellen Tim Waller zu. Waller startete den Hubwagen, den sich die kleine Firma für diesen Auftrag geliehen hatte. Das orangerote Fahrzeug vom Typ L 200 RT, dessen Arbeitskorb bis auf zwanzig Meter hinaufgefahren werden konnte, war ideal für diese Aufgabe. Breckwoldt wollte sich zunächst einen Überblick über das Ausmaß des Schadens am Dach der Kirche verschaffen, bevor er entschied, wie weiter vorgegangen werden sollte. Der kräftig gebaute Endfünfziger mit dem ergrauten Haarkranz stieg seit einem schweren Arbeitsunfall vor einigen Jahren, der ihm ein leichtes Hinken eingetragen hatte, nicht mehr selbst hohe Leitern auf die Dächer hinauf.

Vorsichtig lenkte Waller den Wagen von der schmalen Zufahrtsstraße auf den kleinen Kirchhof. Der L 200 RT wog zwar nur dreieinhalb Tonnen, aber bereits dieses Gewicht konnte ausreichen, um den dünnen Asphalt des Hofes zu beschädigen oder auf dem Rasenstreifen tief einzusinken. Waller manövrierte den Wagen geschickt um die kleine Grüninsel mit dem bronzenen Denkmal für Johann Rist herum, den berühmten Pastor und Heimatdichter aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Er suchte eine geeignete Position an der Seite der Kirche, um den Teleskopausleger für die Dacharbeiten optimal ausfahren zu können.

Der bärtige Mittdreißiger war seit vier Jahren bei Breckwoldt angestellt und hoffte, eines Tages selbst seinen Meister machen zu können. Vielleicht würde er dann gar die Firma übernehmen; Breckwoldt sprach in letzter Zeit öfter vom vorgezogenen Ruhestand. Verdient hatte der Alte ihn, und er konnte auch nicht mehr so kräftig anpacken wie früher. Mehr Geld würde Waller sehr gut gebrauchen können, er war Alleinverdiener. Seine Frau hatte ihren Beruf als Physiotherapeutin aufgegeben, um sich um die Kinder zu kümmern. Sarah war zwölf und Gregor gerade zehn Jahre alt geworden. Möglicherweise galt Sarah als hochbegabt, ihre Ausbildung würde entsprechend viel Geld verschlingen.

Waller gab behutsam Gas und der L 200 RT schob sich, von Breckwoldt durch Handzeichen eingewiesen, langsam näher an das Gebäude heran, wo er schließlich direkt neben der austrassierten Stelle zum Stehen kam. Waller stellte den Motor ab und ging zu Breckwoldt hinüber.

„Das müsste so gehen, Chef“, sagte er.

Breckwoldt blickte noch einmal zum Dach hinauf, dann nickte er. „Ich denke auch. Fahr schon mal die Stützen aus, ich gucke mir das da oben mal an. Vielleicht sind da noch mehr Schieferplatten beschädigt.“

Der Dachdeckermeister stieg die drei Stufen aus verzinktem Stahlblech am Heck des Wagens hinauf, wobei er das verletzte Bein ein wenig nachzog, und schickte sich an, in den engen Arbeitskorb zu klettern. Gerade wollte Waller die vier Stützen herunterlassen, die den L 200 RT bei ausgefahrenem Teleskopausleger stabilisieren sollten, als plötzlich ein dumpfes Knirschen ertönte und sich der Wagen ein paar Zentimeter Richtung Kirche neigte.

„Verdammt noch mal, Tim! Was machst du denn da?“, brüllte Breckwoldt und klammerte sich an das Gitter des Arbeitskorbes.

„Ich war das nicht, Chef, aber ich schau mal nach“, entgegnete Waller und ging um den Wagen herum.

„Scheiße!“, schrie er auf. „Das linke Vorderrad sackt hier irgendwo ein. Ich muss die Kiste zurücksetzen.“

„Warte mal, ich komme“, rief Breckwoldt.

Gerade wollte er die Stufen aus Profilblech hinabsteigen, als sich der L 200 RT unter Knarzen und Poltern schlagartig einen halben Meter zur Seite legte. Breckwoldt wurde hart gegen den stählernen Ausleger geschleudert, stürzte auf den Asphalt und blieb stöhnend liegen. Waller konnte sich noch mit einem Sprung zur Seite retten. Der ganze Wagen sackte nun auf der linken Vorderseite krachend bis zur Achse weg und prallte mit dem Ausleger dumpf gegen das Kirchengemäuer. In einem Hagel aus Glas- und Holzsplittern zerbarst eines der hohen Fenster unter dem wuchtigen Schlag. Ein paar Scherben trafen Breckwoldt, der schützend die Arme über den Kopf hochriss.

Einen Moment lang starrte Tim Waller verblüfft auf die bizarre Szenerie. Das linke Vorderrad des L 200 RT drehte sich langsam im Leeren. Es hing über einer tiefen Grube, die nun zwischen der Kirchenmauer und dem Fahrzeug gähnte. Waller trat näher heran, kniete sich hin und starrte in die Tiefe. Er kniff die Augen zusammen. Dort unten konnte er etwas Kantiges, grünlich Schimmerndes erkennen. Aber was war das um Gottes Willen für ein unheimliches Ding? Ein Sarg?

2

Brodersby

Diese verdammte Hitze. Der gleißende Glutball der Mittagssonne hing sengend über der steinigen Wüste, warf kurze Schatten hinter die ärmlichen Wellblechhütten mit ihren Viehgattern aus Dornengestrüpp und dörrte alles Leben aus. Die Zunge klebte ihm am Gaumen, zwischen seinen Zähnen knirschte der allgegenwärtige gelbe Staub. Er spürte – irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Er fühlte Panik in sich aufsteigen, warf sich nach vorn und wollte loslaufen. Er ahnte, dass es um Sekunden ging.

Aber er kam nur mühsam und schleppend voran, bewegte sich schwerfällig wie eine Fliege in zähem Sirup. Seine Füße schienen Tonnen zu wiegen.

Urplötzlich flammten riesige Augen direkt vor ihm auf. Sie brannten gnadenlos wie schwarze Sonnen in einem kleinen, konturenlosen Gesicht. Entsetzen ergriff ihn, er wollte schreien, doch es kam kein Ton aus seiner krächzend würgenden, ausgetrockneten Kehle. Dann ein blendend weißer Blitz. Ein Moment der Schwerelosigkeit. Und das Schreien begann.

Mit einem unartikulierten Laut fuhr Tristan Lindberg empor und zerrte hastig an der Bettdecke, die sich wie eine Würgeschlange um seine Beine gewunden hatte. Sein Herz raste, er keuchte und rang verzweifelt nach Luft. Er war schweißnass. Er setzte sich auf und zwang sich unter Aufbietung aller Willenskraft, ruhiger zu atmen, zählte beim Einatmen langsam bis sechs, hielt sechs Sekunden lang die Luft an und atmete sechs Sekunden lang wieder aus. Eine alte, bewährte Yoga-Technik. Mühsam widerstand er der in ihm aufwallenden Versuchung, einfach aufzuspringen und aus dem Haus zu rennen, immer weiter und weiter, bis ihn die Erschöpfung zu Boden werfen würde. Stattdessen streckte er einen Arm aus, eine Bewegung so langsam wie bei einem Faultier, und schaltete die Nachttischlampe ein. Lindberg rieb sich die Augen, sein Gesichtsfeld schien an den Rändern seltsam unscharf. Einatmen, Luft anhalten, Ausatmen …

Lindberg blickte zum Nachttisch. Darauf lag eine Packung Sertralin. Das Medikament wurde gegen schwere Depressionen und Angststörungen eingesetzt, hatte aber eine Reihe von Nebenwirkungen. Er streckte eine Hand danach aus. Dann ließ er den Arm wieder sinken. Nein, er musste es ohne Chemie schaffen.

Allmählich ebbte die Attacke ab. Lindberg erhob sich ächzend, ging in die Küche hinunter und leerte ein großes Glas Wasser in einem Zug. Und dann noch eins. Sein T-Shirt klebte an seinem schweißnassen Rücken. Er warf einen Blick zur grün blinkenden Anzeige der Herduhr hinüber und stöhnte. Fünf Uhr dreißig. Die Nacht war mal wieder gelaufen.

Lindberg stieg die Treppe wieder hinauf, ging ins Badezimmer hinüber und drehte die Dusche auf. Schlafen würde er jetzt ohnehin nicht mehr können. Er stöhnte wonnevoll, als das heiße Wasser seine Verspannungen in Schultern und Rücken lockerte. Doch am Ende drehte er das Wasser für ein paar Sekunden auf eiskalt – seine tägliche Übung zum Wachwerden.

Als sein Handy um halb acht klingelte, saß Lindberg im Auto auf dem Weg zum Herrenhaus Annettenhöh, der Hauptdienststelle seines Arbeitgebers, des Archäologischen Landesamtes in Schleswig. Das hellgelb gestrichene Gebäude, das ein Freiherr von Brockdorff im Jahr 1864 erbauen ließ, war seit 1985 im Besitz des Landes Schleswig-Holstein.

Lindberg griff zu seinem betagten Blackberry und blickte auf die Nummer.

„Nanu? Hanni? Was willst du denn schon so früh von mir?“, fragte er etwas zu schroff.

„Ich wünsche dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Tristan“, sagte eine penetrant gut gelaunte Stimme. Sie schnurrte geradezu.

„Fein. Mein Morgen ist allerdings etwas beschädigt. Also, was gibt es nun?“, knurrte Lindberg.

„Du musst gleich mal nach Wedel runterfahren. Ausdrücklicher Wunsch vom Chef.“

Hannah Winkler war die berüchtigt effektive Vorzimmerdame von Dr. Rüdiger Stettner, dem Leiter des Archäologischen Landesamtes.

„Wedel?“, fragte Lindberg ungläubig. „Was soll ich da denn? Haben sie einen zweiten Roland gefunden?“

„Sehr lustig und nur knapp daneben. Roland stimmt nämlich schon mal“, lachte Hannah. „Unter der Kirche am Roland ist nämlich eine Gruft mit Särgen gefunden worden.“

„Na und? Darunter befinden sich doch überall uralte Grüfte“, brummte Lindberg. „Das wissen wir doch. Die haben seit über dreihundert Jahren da ihre Leute beerdigt, Pastoren vor allem. Ist doch nichts Besonderes. Da gehen wir doch gar nicht ran. Das weiß Stettner aber auch.“

„Kann schon sein, Tristan, aber guck es dir trotzdem mal an.“

„Okay. Weil du es bist“, brummte Lindberg. „Bin schon unterwegs.“

Wedel in Holstein

Gut neunzig Minuten später lenkte Lindberg seinen alten Saab auf den kleinen Parkplatz der Wedeler Kirche. Er stieg aus und ging den schmalen, von Büschen und Bäumen gesäumten Pfad zum Gotteshaus hinüber. Die mit rotweißem Trassierband abgesperrte Einbruchstelle an der Kirchenmauer war unübersehbar. Davor wartete eine schlanke Frau mit kurzem, grauen Haar. Lindberg vermutete, dass es sich um die Pfarrerin handelte, die er von unterwegs aus angerufen hatte. Statt Talar und Beffchen trug sie Jeans und eine Windjacke.

„Dr. Lindberg?“, fragte sie und musterte ihn einen Moment mit kühlen grauen Augen. Vor ihr stand ein jugendlich wirkender Enddreißiger mit breiten Schultern, müden braunen Augen und leicht zerzausten Haaren. Lindberg schüttelte ihre ausgestreckte Hand.

„Sabine Paulsen, angenehm“, sagte die Frau. „Ich bin die Pfarrerin der Kirche hier. Sie sind der Archäologe aus Schleswig?“

„Archäologe, ja. Und Anthropologe“, nickte Lindberg zerstreut.

Neugierig trat er näher an die Grube heran, die direkt an der Kirchenwand gähnte. Sie maß gut eineinhalb Meter im Durchmesser und war offensichtlich mehrere Meter tief.

„Ja, genau, darum geht es. Wir hatten einen Schaden am Dach, und die Dachdecker sind mit ihrem schweren Hubfahrzeug hier eingebrochen. Sieht aus wie eine Gruft da unten. Wenn Sie genau hinsehen, können Sie die Ecke eines Sarges erkennen“, sagte die Pfarrerin.

„Ja, ich kann es sehen“, bestätigte Lindberg. „Sie sind doch nicht etwa da runtergeklettert?“

Die Pfarrerin schüttelte lächelnd den Kopf. „In eine uralte Gruft? Allein? Ganz sicher nicht! Naja, obwohl – interessieren würde mich das schon; ist ja sozusagen meine Kirche hier. Aber ich wollte doch erstmal auf die Profis warten. Ach ja, einer der Dachdecker hat sich da unten schon mal umgesehen. Er wollte mal sehen, was für einen Schaden er mit seinem Fahrzeug angerichtet hat. Und er sagte, da unten stehe ein massiver Bleisarg. Er sei aber durch herabfallende Steine beschädigt worden. Oben an einer Ecke sei ein großes Loch. Außerdem sei jede Menge trübes Wasser rausgeflossen. Er hat sogar darin herumgetastet und sagte, da liege wohl tatsächlich noch eine Leiche drin.“

„Wie bitte? Der hat da reingefasst? Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, entfuhr es Lindberg. Kein Archäologe schätzte es, wenn ein Laie vor den Experten an einem Fundort herumstöberte und ihn damit veränderte oder sogar so kontaminierte, dass sichere Analysen kaum mehr möglich waren. „Hat der Trottel vielleicht auch noch irgendetwas mitgenommen von da unten?“

Paulsen schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste, ich bin erst später hinzugekommen. Er sagte etwas sehr Merkwürdiges. Die Leiche da drin fühle sich ein bisschen glitschig an, aber vollkommen frisch – wie gestern gestorben. Er wirkte auch ziemlich mitgenommen. Damit hat er sicher nicht gerechnet.“

Lindberg schüttelte den Kopf. „In diesen Grüften da unten liegen nur uralte Leichen. Und nach dreihundertfünfzig Jahren sind die ganz bestimmt nicht mehr frisch. Aber vielleicht ist es ja eine Wachsleiche.“

Der Wissenschaftler bezog sich auf ein Phänomen, bei dem die Verwesung durch den Entzug von Sauerstoff abgebrochen wurde. Die Körperfette wurden dann zu einer wachsähnlichen Schutzschicht, den Adipociren, umgewandelt. Leichen konnten dann noch Jahrzehnte nach der Bestattung nahezu unversehrt wirken. Es waren meistens Wachsleichen, die hinter den Gruselgeschichten von Vampiren und Wiedergängern standen, die sich wankend aus den Gräbern erhoben.

Die Pastorin zeigte zur Ecke der Kirche. „Sie können sich ja mal selbst da unten umsehen. Eine Leiter liegt dahinten.“

Lindberg nickte, ging hinüber und holte sich die leichte Teleskopleiter aus Aluminium, die auseinandergeschoben etwa sechs Meter lang sein mochte.

„Wie schätzen Sie den Fund hier ein?“, wollte die Pfarrerin wissen.

Lindberg starrte hinab in die Schwärze und zuckte mit den Schultern. „Noch kann ich gar nichts sagen. Ich will Sie ja nicht enttäuschen, aber Sie wissen sicher auch, dass unter so alten Bauwerken häufig Grüfte aus verschiedenen Epochen liegen. Auch hier in Wedel, soweit ich weiß. Ist nichts Besonderes. In der Regel machen wir uns gar nicht die Mühe, die alle zu untersuchen. Es fehlt uns einfach das Geld dafür. Und das Personal sowieso.“

Er zog die Leiter auseinander und stellte sie in die Grube. Sie guckte nur noch einen guten Meter heraus.

„Aber Sie sagten, der Dachdecker hätte von einem Bleisarg gesprochen? Naja, das wäre auf jeden Fall schon mal interessant. Jedenfalls viel interessanter als einer aus halb verfaultem Holz. Bleisärge waren nämlich sehr teuer und sind als Funde entsprechend selten. Ich frage mich, für wen der angefertigt wurde.“

„Wer weiß“, sagte Paulsen nachdenklich und starrte in die Tiefe, „am Ende stehen wir vor dem Grab von Johann Rist. Das ist ja bisher nie gefunden worden.“

„Na, dann hätte sich meine Anreise aus Schleswig auf jeden Fall gelohnt“, lachte Lindberg, zog eine kleine Stirnlampe aus der Tasche und fing an, die Leiter hinunterzuklettern.

Das Grab von Johann Rist – das wäre in der Tat ein Fund! Rist war eine Legende in Nordwestdeutschland. Der studierte Geistliche war protestantischer Pfarrer der Wedeler Kirche von 1635 bis 1667 gewesen, hatte also die Spätphase des Dreißigjährigen Kriegs mit ihren Gräueln und Verheerungen am eigenen Leib erlebt und dabei mehrfach seine ganze Habe verloren. Rist hatte außer wortgewaltigen Predigten auch Gedichte, Lieder und politische Zeitzeugnisse geschrieben; als Universalgelehrter hatte er sich auch mit Mathematik, Botanik, Heilkunst und Musik befasst. Johann Rist galt heute als einer der wichtigsten geistlichen Vertreter des Frühbarocks und war damals für seine Verdienste sogar vom Kaiser zum Hofpfalzgrafen ernannt worden.

Lindberg schaltete die Stirnlampe ein, die er nun an einem elastischen Band um den Kopf trug, und stieg behutsam weiter hinab. Der grelle Halogenstrahl schnitt durch die Schwärze der Grube und huschte mit seinen Kopfbewegungen geisterhaft hin und her. Schließlich hatte der Archäologe den Boden aus grob gepflasterten Steinen erreicht und sah sich um. Die Gruft, in der er sich befand, hatte ein Ausmaß von rund drei mal vier Metern und war etwa zwei Meter hoch. Sie wies eine tonnenförmige Decke auf. Lindberg sah nun, dass die Decke und das darüberliegende Erdreich an einer Stelle durch Wasser unterspült worden waren. Er vermutete, dass ein von der Kirche führendes Regenrohr seit Langem gebrochen war.

Mitten in der Gruft stand ein massiver Sarg. Lindberg zog Gummihandschuhe aus der Tasche, streifte sie über und trat neugierig näher. Der Sarg war schlicht gearbeitet und schien in der Tat aus massivem Blei zu bestehen. Er klopfte dagegen. Die Dicke des Materials war ungewöhnlich, die meisten sogenannten Bleisärge wiesen nur eine dünne Hülle aus dem Metall auf. Der Archäologe beugte sich interessiert hinunter und strich mit den Fingern über das kühle Metall. Seltsam – der Deckel lag nicht einfach auf dem Sarg oder war mit ihm verschraubt, sondern sorgfältig mit einer dicken Naht auf den unteren Teil gelötet worden. Warum sollte sich jemand diese Mühe gemacht haben? Aus Angst vor einem Wiedergänger? Das war durchaus möglich – der Glaube an Tote, die sich aus dem Sarg erheben und die Lebenden heimsuchen konnten, war in früheren Zeiten stark gewesen.

Nachdenklich besah sich Lindberg den wuchtigen Kasten, der im Halogenlicht matt schimmerte. Er schätzte, dass diese Gruft aus dem 17. oder 18. Jahrhundert stammte. Wie die Pfarrerin gesagt hatte, wies der Sarg an einer Ecke eine Beschädigung auf. Ein großes Loch gähnte dort, und auf dem Boden lagen schwere Asphaltplacken, einige Stücke Blei, ein paar Erdklumpen sowie mehrere alte Pflastersteine. Lindberg rekonstruierte im Kopf: Das Wasser aus dem geborstenen Regenrohr hatte nach und nach den Untergrund unterspült, der schließlich nachgegeben hatte. Die schweren Pflastersteine waren auf die Ecke des Sarges gefallen und hatten das mürbe gewordene Blei zertrümmert. Lindberg schob sich dichter an das Loch heran, aus dem noch immer eine gelbliche Flüssigkeit tropfte, und wollte gerade hineinleuchten, als der Strahl der Lampe auf drei Symbole fiel, die, wie er rasch feststellte, offenbar auf alle Seiten des sonst ungeschmückten Sarges aufgebracht worden waren. Der Archäologe kniete sich vor den Sarg und sah genauer hin. Die in das Blei eingeschnittenen Zeichen waren bereits etwas verwittert und nicht mehr leicht erkennbar. Lindberg fuhr die Linien der Symbole mit dem Finger nach. Beim dritten Zeichen erstarrte er. Der Archäologe erhob sich hastig und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Zitternd verharrte das grelle Licht seiner Stirnlampe auf dem schwach erkennbaren Symbol. Es zeigte die spiegelverkehrte Zahl Vier. Ihm lief ein Schauer über den Rücken.

3

Heist

Auf der Bundesstraße 431 lenkte Tim Waller seinen VW Golf in der Gemeinde Heist, einem übersichtlichen Ort zwischen den Städten Wedel und Uetersen in den Heideweg, an dem sein Einfamilienhaus stand. Das von seinen Eltern geerbte zweistöckige Gebäude stammte aus den 1950er-Jahren und war eher bescheiden zu nennen. Doch Waller liebte das alte efeuumrankte Haus, das ihm, seiner Frau und den beiden Kindern genügend Platz bot.

Er stellte den Wagen auf der schmalen Einfahrt ab und schloss ein paar Sekunden lang die Augen. Er streckte den rechten Arm aus. Seine Hand zitterte. Er hatte das Gefühl, Schüttelfrost zu bekommen, alles tat ihm weh. Vielleicht hatte er sich eine Grippe eingefangen. Das fehlte ihm gerade noch; in der kleinen Firma durfte eigentlich niemand ausfallen.

Waller stieß pustend den Atem aus, stieg aus dem Wagen und schlurfte zur Haustür hinüber. Selbst der kurze Fußweg fiel ihm schwer, er sog die Luft in kurzen, tiefen Atemzügen ein.

„Ich bin wieder da, Schatz“, rief er halblaut in den Flur hinein.

Seine Frau Helen kam aus der Küche, die Hände nass vom Spülen. Sie strich sich mit dem Handgelenk eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und gab ihm einen Kuss. Sie musterte ihn besorgt.

„Meine Güte! Du siehst ja total fertig aus, weißt du das? Hast du dich irgendwo angesteckt? Heute morgen warst du doch noch fit“, sagte sie.

„Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Jedenfalls fühle mich ganz furchtbar“, klagte Waller. „Ich habe tierische Kopfschmerzen und mir ist übel.“

„Ach du je. Du siehst aus, als hättest du auch Fieber“, sagte Helen und legte ihm eine Hand an die Stirn. „Meine Güte, du glühst ja! Leg dich gleich mal hin. Die Kinder sind noch drüben bei Mannsfelds, wir essen heute sowieso etwas später zu Abend. Schlaf doch noch ein bisschen bis dahin. Vielleicht geht es dir dann schon besser.“

Waller nickte und stieg mühsam die steile Treppe zum Schlafzimmer hinauf. In seinem Schädel pochte es jetzt wie in einem Hammerwerk. Ihm wurde schwindlig. Er hielt sich am Geländer fest. Waller hasste es, krank zu sein, und er spürte, wie Angst in ihm aufstieg. Das alles hatte erst vor zwanzig Minuten schlagartig eingesetzt. Mit solchen Symptomen begann doch nicht einmal eine Grippe! Was war denn nur mit ihm los? Er hatte gerade das Schlafzimmer erreicht, als ein wahnsinniger Schmerz sengend durch seinen Kopf fuhr. Aufstöhnend fiel er auf die Knie; er sah plötzlich nichts mehr, rang nach Luft, versuchte, sich am Bett festzuhalten und sackte dann schwer zur Seite.

Helen Waller stand in der Küche und wollte gerade einen Erkältungstee aufgießen, als sie oben einen dumpfen Schlag hörte. Alarmiert lief sie in den Flur.

„Tim?“, rief sie die Treppe hinauf, und als sie keine Antwort erhielt, noch einmal: „Tim? Was ist mit dir?“

Oben blieb es vollkommen still. Sie runzelte die Stirn, dann lief sie die Stufen hinauf und eilte zum Schlafzimmer hinüber. Sie starrte in den Raum, unfähig zu akzeptieren, was sie dort sah. Ihr Mann lag halb auf dem Rücken vor dem Bett. Sein Mund war wie zu einem stummen Schrei geöffnet, aus Nase, Augen und Mund strömte Blut und bildete bereits eine dunkle Lache um seinen Körper herum. Helen Waller schrie.

Fünfzehn Minuten später bog ein Rettungswagen mit rotierendem Blaulicht und gellendem Martinshorn in den Heideweg ein. Der diensthabende Notarzt, Dr. Joachim Guthmann, war Oberarzt in einer nahen Klinik, ein erfahrener Mediziner, der in jüngeren Jahren als Mitglied von „Ärzte ohne Grenzen“ auch in mehreren Ländern Afrikas Dienst getan hatte. Bezüglich Unfällen und Krankheiten gab es sehr wenig, das er noch nicht gesehen hatte. Was ihn hier erwarten würde, wusste er nicht so recht; aus dem Gestammel der verstörten Frau hatte die Leitstelle sich keinen Reim machen können. Vermutlich ein Schlaganfall.

Als der Sechzigjährige die Treppe zum Schlafzimmer der Wallers hinaufstieg, erfuhr er von der hemmungslos weinenden Helen Waller, die ihm hinterherkam, dass sich ihr Mann schlecht gefühlt, Symptome einer Grippe aufgewiesen habe und oben in einer Blutlache zusammengebrochen sei.

Im Schlafzimmer angekommen, sah Guthmann mit einem Blick, dass Tim Waller nicht mehr zu helfen war. Er drehte sich zu der Frau um und schickte sie mit ruhigen, aber bestimmten Worten ins Erdgeschoss zurück. Angesichts des vielen Blutes zog er Schutzhandschuhe an, bevor er den Tod des Mannes feststellte. Dabei bemerkte der Arzt, dass dieses Blut offenbar auch aus Wallers Augen gelaufen war. In Guthmann keimte ein furchtbarer Verdacht auf – er erinnerte sich an die entsetzlichen hämorrhagischen Fieber, die er in Westafrika gesehen hatte wie Marburg, Lassa oder das berüchtigte Ebola. In diesen Fällen kam es meist zu Blutungen aus allen Schleimhäuten, auch aus den Augen. Doch konnte es tatsächlich sein, dass hier, im ländlichen Westen von Hamburg, eine dieser tödlichen viralen Infektionskrankheiten ausgebrochen war? Und bei wem konnte sich Waller angesteckt haben? Oder waren die Blutungen doch Symptome einer ganz anderen Erkrankung?

Guthmann entschied sich, kein Risiko einzugehen. Er stürmte die Treppe hinunter, wies Helen Waller und ihre Kinder an, das Haus keinesfalls zu verlassen, eilte zum Rettungswagen hinaus und gab Anweisungen. Sanitäter und Fahrer hüllten sich umgehend in Schutzanzüge samt Kopfhaube, legten Schutzmaske, Vollsichtbrille und Handschuhe an. Auch Guthmann zog die komplette Schutzausrüstung an; er wusste, dass er sich möglicherweise infiziert hatte. In seinem Fall sollte der Anzug die Erreger nicht draußen, sondern drinnen halten. Er zückte sein Handy und informierte nacheinander das Gesundheitsamt, den Ärztlichen Leiter des Rettungsdienstes des Kreises Pinneberg sowie die Leitstelle der Polizei. Spätestens in einer halben Stunde würde hier der Teufel los sein. Man würde das ganze Gebiet absperren und alle möglicherweise Betroffenen in Quarantäne nehmen.

Der Notarzt beschloss, nach Helen Waller zu sehen und ihr vielleicht noch ein paar Fragen zu stellen. Wo hatte ihr Mann zuletzt gearbeitet? War er vielleicht vor Kurzem von einem Afrika-Aufenthalt zurückgekehrt? Guthmann kehrte ins Haus zurück und ging in die Küche hinüber.

„Frau Waller?“, rief er. „Es tut mir leid, Sie in dieser Situation behelligen zu müssen, aber könnten Sie mir noch ein paar Fragen beantworten? Es ist wirklich sehr wichtig.“

Als er vom Flur in die Küche bog, sah er, wie Helen Waller ihm entgegengetaumelt kam. Ein Stöhnen entrang sich ihrer Brust, Blut lief aus Nase und Mund. Guthmann sprang nach vorn und konnte die Frau gerade noch auffangen, bevor sie in seinen Armen zusammenbrach.

4

Wedel in Holstein

„Dr. Lindberg, verstehe ich Sie richtig: Sie rufen mich zu Hause im wohlverdienten Feierabend an, weil Sie auf irgendeinem verwitterten Sarg in Wedel die Zahl Vier gesehen haben? Fühlen Sie sich ansonsten wohl? Ich wäre Ihnen wirklich für eine zügige Erklärung äußerst dankbar – ich habe nämlich das Haus voller Gäste.“

Dr. Rüdiger Stettner war Leiter des Archäologischen Landesamtes Schleswig-Holstein und damit Lindbergs Vorgesetzter. Gemessen an seinem ätzenden Tonfall schien er ziemlich verärgert zu sein und Lindberg erinnerte sich jetzt, dass Stettner etwas von dem fünfzigsten Geburtstag seiner Frau und einer lange vorbereiteten Familienfeier erwähnt hatte.

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Dr. Stettner“, sagte Lindberg mühsam freundlich, „aber es könnte sehr wichtig sein. Ich habe den Verdacht, dass in diesem Bleisarg in Wedel ein Pesttoter liegt. Und zwar ein ziemlich intakter. Was uns vor Probleme stellen könnte. Die spiegelverkehrte Zahl Vier ist kein gutes Zeichen. Zudem wurden ein Dämonenzeichen und ein alchimistisches Symbol in das Metall eingeschnitten. Das verheißt nichts Gutes. Und es muss einen Grund dafür geben, dass man diesen Sarg damals sehr aufwendig zugelötet hat. Mir gefällt das nicht.“

„Was meinen Sie damit?“, unterbrach Stettner ihn.

„Wie Sie zweifellos wissen, grassierte in dieser Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg die Pest in Norddeutschland, und Pesttote gab es überall.“

„Jaja“, knurrte Stettner ungehalten. „Das weiß ich doch alles. Und?“ „Diese Toten wurden meist einfach verscharrt wie später auf dem ‚Pesthügel‘ zwischen Dammtor und Sternschanze in Hamburg. Warum also diese Mühe mit dem Bleisarg? Damit stimmt irgendetwas nicht – und ich hätte gern Ihre Erlaubnis, zunächst die zuständigen Behörden zu alarmieren.“

Stettner schwieg einen Moment und schien die Situation abzuwägen. Lindberg wusste, dass Rüdiger Stettner ein bestens vernetzter Mann war, der es sorgfältig vermied, höheren Ortes unangenehm aufzufallen. Er würde sich ungern mit einem harmlosen alten Sarg lächerlich machen. Andererseits konnte er sich beruflich noch erheblich mehr schaden, falls von diesem Sarg tatsächlich irgendeine Gefahr ausging und er es zu verantworten hatte, dass womöglich eine Pandemie ausbrach.

„Okay, machen Sie das, Lindberg“, sagte Stettner schließlich. „Rufen Sie meinetwegen das Amt für Gesundheit in Kiel an. Die sollen alles Weitere veranlassen. Ich glaube zwar, dass Sie Gespenster sehen, aber schaden kann es nicht, wenn wir uns als wachsam und besorgt um die Gesundheit der Öffentlichkeit zeigen. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Und Lindberg – halten Sie die Presse raus! Das ist ganz allein meine Sache, falls es denn überhaupt nötig werden sollte.“

Lindberg schluckte eine spöttische Bemerkung herunter und beendete das Gespräch. Dann rief er das Gesundheitsamt in der Landeshauptstadt an und berichtete von seinem Fund. Der zuständige Beamte reagierte erwartungsgemäß wenig enthusiastisch, versprach aber, sich um die Sache zu kümmern. Lindberg war überzeugt, nie wieder in dieser Sache etwas zu hören. Umso überraschter war er, als er kaum eine halbe Stunde später einen Anruf vom Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin erhielt. Der Archäologe wusste, dieses Institut war zuständig für alle hochinfektiösen Krankheiten. Wie zum Beispiel die Pest.

„Dr. Lindberg?“, fragte eine dunkle Frauenstimme. „Mein Name ist Dr. Sarah Winter. Ich bin Virologin und Bakteriologin hier am Institut. Sie haben heute in Wedel einen möglichen Pesttoten gefunden?“

„Das stimmt, ja“, sagte Lindberg überrascht. „Möglicherweise stammt die Leiche aus der Pestzeit. Wissen Sie das vom Gesundheitsamt? Ich habe nämlich gerade eben erst dort angerufen.“

„Dr. Lindberg, es ist sehr wichtig, dass Sie mir Ihren Verdacht jetzt detailliert erzählen und begründen.“ Die Stimme der Frau klang angespannt.

Lindberg berichtete der Wissenschaftlerin genau, was sich in Wedel an der Kirche ereignet hatte.

„Was hat Sie eigentlich zu dem Verdacht geführt, in dem Bleisarg könnte ein Pesttoter liegen?“, fragte Winter.

„Nun, zum einen war der Sarg sorgfältig verlötet“, sagte Lindberg. „Als wolle jemand sicherstellen, dass nichts hinausgelangen kann. Vor allem aber waren die Seiten des Sarges mit der spiegelverkehrten Zahl Vier, einem Dämonenzeichen und einem alchimistischen Symbol verziert.“

„Aha. Eine Vier also. Das sagt Ihnen was?“ Lindberg fand, die Stimme klang nun etwas herablassend.

„Die Vier in dieser dargestellten Form ist eine Warnung aus alten Zeiten“, erklärte er. „Die spiegelverkehrte Vier symbolisiert vor allem die Pest. Als Virologin dürfte Ihnen doch das Biohazard-Symbol für biologische Gefahren vertraut sein – das mit den drei klauenartigen Kreisen?“

„Ja sicher. Wie schon erwähnt, ist das mein Beruf. Ich kenne dieses Symbol“, sagte Winter ungeduldig.

„Sehen Sie – die spiegelverkehrte Zahl Vier ist eben das Biohazard-Symbol früherer Jahrhunderte.“

„Ich verstehe. Und diese anderen Symbole?“

„Eines davon sieht aus wie ein gebogener Pfeil, der von unten von einer Linie durchstoßen wird. Es ist das alchimistische Symbol für Fäulnis. Nur steht es hier auf dem Kopf. Ich interpretiere dies als die Verneinung von Fäulnis. Das dritte Symbol ist schwierig zu erklären. Stellen Sie sich einen Kreis vor, in dem allerlei Kringel und kreuzförmige Elemente angeordnet sind.“

„Und das bedeutet?“

„Ich habe dieses Symbol erst einmal gesehen. In einem alten Alchimistenkeller, den wir ausgegraben haben. Es steht für den Dämonenfürsten Buer, Herr über fünfzig Legionen von Dämonen. Buer wird in einem Grimoire, also einem Buch über Zauberkunst, aus dem 16. Jahrhundert beschrieben. Dort wird ihm die Fähigkeit zugeschrieben, alle Krankheiten heilen zu können. Auch dieses Symbol steht auf dem Kopf.“

„Das ist allerdings seltsam“, sagte Winter nachdenklich. „Sagen Sie, diese Pastorin in Wedel hat Ihnen erzählt, einer der Handwerker hätte in den Sarg gegriffen?“

„Ja, das sagte sie“, bestätigte Lindberg. „Dieser Trottel muss mit der Leiche in Berührung gekommen sein, und dann wohl auch mit dieser eigenartigen Flüssigkeit, die aus dem Sarg tropfte.“

„Eine Flüssigkeit? Über die möchte ich mehr wissen. Sagen Sie, Dr. Lindberg, fühlen Sie sich eigentlich gesund?“, fragte Winter unvermittelt.

„Das hat man mich heute schon einmal gefragt“, brummte Lindberg, „Aber ja, ich fühle mich bestens.“

„Kein Fieber, kein Schwindelgefühl, keine Schmerzen?“

„Nein, aber ich fürchte, das alles werde ich gleich bekommen, wenn Sie mir nicht endlich sagen, um was es hier geht.“

„Sie haben nicht in den Sarg gegriffen?“

„Nein, zum Teufel, das habe ich nicht! Außerdem hatte ich Gummihandschuhe an. Ich sah das Pestsymbol auf dem Sarg und habe sofort die Gruft verlassen.“

„Also gut, Dr. Lindberg. Wo sind Sie jetzt?“

„Ich bin noch in Wedel, werde mich aber gleich auf den Weg zurück nach Schleswig machen.“

„Nein, das werden Sie nicht!“, sagte die Virologin bestimmt. „Ich komme zu Ihnen. Warten Sie, bis ich bei Ihnen bin. Rühren Sie sich nicht vom Fleck! Haben Sie das verstanden?“

Lindberg platzte der Kragen. „Hören Sie, ich fahre, wohin ich will“, knurrte er. „Und zwar jetzt sofort. Es sei denn, Sie geben mir eine zufriedenstellende Erklärung, warum ich meine Zeit damit vertrödeln soll, auf eine wildfremde Frau zu warten.“

Winter schwieg einen Moment.

„Dr. Lindberg, was ich Ihnen jetzt mitteile, unterliegt der Geheimhaltung“, sagte sie dann. „Wenn Sie damit hausieren gehen, können Sie in Ihrem Beruf in Zukunft höchstens noch Zivilisationsmüll der Inuit auf Grönland untersuchen. Wenn überhaupt. Haben Sie das verstanden?“

„Ja. Sie reden ja laut genug. Und jetzt bin ich ganz Ohr“, versetzte Lindberg wütend.

Die Wissenschaftlerin holte tief Luft. „Also: Der Handwerker, der in den Sarg gefasst hat, ist tot. Seine Frau auch. Beide wiesen Symptome eines äußerst aggressiven hämorrhagischen Fiebers auf. Sie wissen schon – Ebola, Marburg, Lassa …“

„Ich weiß, was ein hämorrhagisches Fieber ist“, unterbrach Lindberg sie gereizt. „Aber da müssen Sie sich irren. Der Tote vom Wedeler Kirchhof liegt da vermutlich seit rund dreihundertfünfzig Jahren. Und damals grassierte hier die Pest, nicht Ebola. Außerdem kann nach so langer Zeit nichts mehr infektiös sein. Aber das brauche ich Ihnen als Virologin ja nun nicht zu sagen. Ihren Infektionsherd müssen Sie sich also woanders suchen.“

„Ich kann Ihnen am Telefon keine Einzelheiten nennen“, entgegnete Winter. „Was Sie sagen, ist richtig. Und dennoch haben wir Anlass zu vermuten, dass der Tote aus Ihrer Gruft die Quelle war. Aber ich gebe zu, dass wir einfach noch nicht wissen, womit wir es hier zu tun haben. Und da wir nichts ausschließen dürfen, müssen wir zunächst einmal sicherstellen, dass Sie sich nicht angesteckt haben. Das ist ja wohl auch in Ihrem Interesse. Nennen Sie mir einen Treffpunkt – möglichst in einer wenig belebten Straße. Halten Sie großen Abstand zu Menschen. Ich werde mit einem speziellen Krankenwagen zu Ihnen kommen, wundern Sie sich also nicht.“

„Allmählich wundere ich mich über gar nichts mehr“, sagte Lindberg. Dann gab er einen Straßennamen durch. Nur eine halbe Stunde später hielt ein Notarztfahrzeug neben ihm. Es hatte Blaulicht eingeschaltet, aber kein Martinshorn. Lindberg stieg ein, als sich die Hecktüren öffneten – und fand sich in einem Szenario wieder, das ihn an Katastrophenfilme erinnerte. Eine Gestalt in einem unförmigen weißen Plastikanzug, die wirkte wie ein Michelin-Männchen auf Droge, forderte ihn auf, sich das Hemd auszuziehen und auf die fahrbare Trage zu legen, die wie ein OP-Tisch mitten im Fahrzeug angebracht war. Lindberg sah zu, wie ihm die unheimliche Gestalt die Armbeuge desinfizierte, einen Stauschlauch festzog und ihm mit einer Hohlnadel Blut entnahm. Eine zweite, ebenso in weißen Kunststoff gewandete Person maß bei ihm Fieber und Blutdruck.

Bei dem absurden Gedanken, er könnte sich in der Gruft ein hämorrhagisches Fieber zugezogen haben, wurde Lindberg fast übel. Er kannte die Bilder von Patienten, deren Organe sich bei diesen grauenhaften Infektionskrankheiten geradezu verflüssigten. Die erste Gestalt beugte sich nun dicht über ihn. Unter der Plastikverkleidung konnte Lindberg nun das Gesicht einer Frau erkennen, die ihn mit ernsthaftem Blick aus smaragdgrünen Augen musterte.

„Hallo, ich bin Dr. Winter“, sagte sie.

Irgendwo in einem gerade nicht sehr aktiven Teil seines Gehirns registrierte Lindberg, dass Augen und Stimme etwas sehr Angenehmes hatten.

„Fühlen Sie sich noch wohl?“

„Nein!“, murrte Lindberg. „Ich fühle mich nicht wohl! Gar nicht!“

„Nicht? Ist Ihnen übel – oder schwindelig? Bekommen Sie Fieber?“

„Nichts davon. Aber ich liege in einem Krankentransporter und Astronauten stechen mich mit Nadeln. Ich bin doch kein Fakir.“

Der Blick aus dem Plastikhelm wurde merklich kühler, Lindberg konnte es deutlich erkennen.

„Dr. Lindberg, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die Situation ernster nehmen könnten. Es stehen Menschenleben auf dem Spiel. Millionen Menschenleben womöglich.“

Sie trat von der Trage zurück und Lindberg setzte sich wieder auf. „Sind Sie fertig?“

„Mit den ersten Tests ja. Jetzt fahren wir ins Universitätsklinikum. Sie bleiben noch auf der Isolierstation, bis wir Ihre Blutwerte haben.“

„Braucht jemand noch diesen Tag?“, murrte Lindberg missmutig. „Ich glaube nämlich, der kann weg.“

5

Wedel in Holstein

Einen alten Sarg auf einem Friedhof bewachen, und das auch noch die ganze Nacht hindurch – das hatte Menso Sievers gerade noch gefehlt. Für diese beneidenswerte Aufgabe musste der junge Polizeiobermeister eine extra Nachtschicht einlegen. Damit hatte sich auch der Kinoabend mit seiner neuen Flamme erledigt. Na toll. Begeistert war Helene nicht gerade gewesen. Nun konnte er zusehen, wie er das wiedergutmachte. Außerdem ging sie ja auch noch mit diesem gegelten Laffen aus der Werbebranche aus, der mit seinem siebenhundert PS starken Tesla angab wie eine Tüte Mücken. Helene so kurzfristig abzusagen, würde seine Chancen bei ihr nicht gerade erhöhen.

Missmutig starrte Sievers aus dem Fenster des Streifenwagens ins Dunkle, zur Wedeler Kirche hinüber. Sein Kollege Berndt Mahlmann lief gerade eine Runde um das Gotteshaus. Mindestens zum fünften Mal in dieser Nacht. Viel hatte man ihnen nicht über diesen Auftrag erzählt. Nur so viel, dass von dem uralten Sarg in der Gruft eine Gefahr ausgehen könnte. Die Rede war von alten Pesterregern, die aus irgendeinem Grund noch aktiv sein sollten. Die beiden Beamten hatten nun dafür zu sorgen, dass sich niemand der Grabkammer näherte, bevor man die dort gefundene Leiche fachmännisch geborgen und abtransportiert hatte.

Der Bereich um das Loch im Asphalt neben der Kirchenwand war nicht nur unübersehbar mit Trassierband und Warnschildern abgesperrt, die Seuchenexperten vom Bernhard-Nocht-Institut hatten außerdem den Bleisarg unten in der Gruft in eine Kunststoffplane luftdicht eingeschweißt und auch den Einstieg an der Oberfläche mit einer Plane versiegelt. Es war eine vorläufige Schutzmaßnahme nur für diese Nacht, am Morgen sollte der Leichnam aus der Gruft gehoben und ins Institut an der Elbe überführt werden. Die Experten hatten allerdings bereits unter Vollschutz und mit einer Sonde ein paar Gewebeproben aus dem Körper entnommen. Sie sollten noch in der Nacht untersucht werden.

Sievers fragte sich, ob eine jahrhundertealte Leiche tatsächlich noch ansteckend sein konnte. Gewiss, er war kein Experte, aber die alten Friedhöfe in Norddeutschland waren doch voller Gebeine von Pestleichen. Überlebt hatte noch nie ein Erreger diese lange Zeit. Jedenfalls hatte Sievers noch nie davon gehört. Trotzdem war dieser Auftrag irgendwie gruselig.

Der junge Polizeibeamte ließ das Autofenster herunter, um besser sehen zu können. Mahlmann hätte eigentlich längst wieder auftauchen müssen, so groß war die Kirche nun auch nicht und Mahlmanns kahler Schädel leuchtete selbst im Dunkeln.

„Berndt?“, rief er halblaut.

Keine Antwort. Hatte sein Kollege auf der anderen Seite vielleicht etwas Ungewöhnliches entdeckt? Sievers stieg aus dem Wagen, schloss die Tür und schaltete seine Nitecore TM 03 an. Diese kompakte LED-Taschenlampe konnte auf der höchsten Stufe notfalls für eine ganze Viertelstunde mit zweitausendachthundert Lumen leuchten, das reichte beinahe für einen Fußballplatz und ganz sicher für den kleinen Kirchhof.

Der Beamte ging um die erste Kirchenecke herum; das abgedeckte Loch lag nun direkt vor ihm. Alles schien unverändert zu sein. Von Mahlmann war allerdings noch immer nichts zu sehen.

„Berndt?“, rief er noch einmal.

Allmählich wurde ihm die Sache unheimlich. Falls Mahlmann ihm einen Streich spielen wollte, war das nicht komisch. Er würde ihm in den Hintern treten. Sievers zog das Funkgerät aus der Tasche und rief Mahlmann noch einmal. Als Antwort erhielt er nur ein statisches Rauschen.

Sievers runzelte die Stirn und lief nun um die nächste Kirchenecke. Er erschrak, als der Strahl der Lampe direkt vor ihm einen großen Nachtvogel aufschreckte, der mit lautem Flügelschlagen aus der Krone einer Eiche floh. Der gepflasterte Weg lag leer vor ihm. Der Strahl zuckte geisterhaft hin und her. Sievers wurde plötzlich bewusst, dass der Boden, auf dem er stand, früher einmal ein Friedhof gewesen war. Direkt unter seinen Füßen mochten sich noch Gräber aus uralten Zeiten befinden. Nur ein paar Meter entfernt lag eine alte Leiche. Ausgerechnet jetzt drängten sich beängstigende Bilder aus Horrorfilmen in sein Hirn, in denen Knochenarme aus dem Boden wuchsen und nach Lebenden griffen. Passenderweise schlug es gerade Mitternacht. Geisterstunde also. Sievers fluchte leise, sein Mund wurde trocken.

Er ging den Weg ein paar Meter weiter entlang. Der Strahl seiner Lampe glitt voraus und zur Seite. Mal links, mal rechts. Die krummen Äste der Rhododendronbüsche zauberten bizarre, zitternde Schemen auf den Weg. Sievers blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Ihm war etwas Seltsames unter einem Gebüsch auf der Seite des Weges aufgefallen, gut zehn Meter von ihm entfernt. Langsam schritt er näher. Das grelle Licht der LED-Lampe verharrte auf zwei länglichen Objekten, die direkt aus dem Boden zu wachsen schienen. Als Sievers schließlich begriff, was er dort sah, rannte er hin und zog im Laufen hastig seine Dienstpistole aus dem Holster. Eine manuelle Sicherung kannte diese Waffe nicht, sie war sofort schussbereit. Der junge Beamte bog die Zweige des Gebüschs beiseite. Und erschrak.

Stundenlang hatte der Mann im Dunkeln gewartet, ein Schatten unter Schatten. Sein langes hartes Training hatte ihm die Geduld einer Katze und zudem eine verminderte Schmerzempfindlichkeit eingetragen. Er hatte gehofft, die Polizeibeamten würden sich am späten Abend zurückziehen. Doch sie saßen noch immer in ihrem Wagen und gingen hin und wieder eine Runde um die alte Kirche. Das sah nach einer Bewachung bis zum Morgen aus. Er musste seinen Auftrag unbedingt heute Nacht erfüllen, bei Sonnenaufgang würde es zu spät sein. Man würde die Leiche aus der Gruft abholen. Gut, dann eben auf die bewährte blutige Weise. Skrupel kannte die Gestalt im Schatten nicht, sie zog es lediglich vor, so wenig Aufsehen wie möglich bei ihrer Arbeit zu erregen.

Der eine Polizeibeamte bog gerade wieder um die Ecke und leuchtete mit seiner Handlampe den gepflasterten Weg vor ihm aus. Er wirkte entspannt, gelangweilt und wenig wachsam. Warum sollte er auch angespannt sein – von der tödlichen Gefahr wenige Meter neben ihm konnte er nichts ahnen.

Als Berndt Mahlmann an einem dichten Gebüsch am Rande des Weges vorüberging, erhob sich der Schatten in einer lautlosen, fließenden Bewegung. Der vollständig in Schwarz gekleidete Mann trat mit einem Schritt hinter ihn, seine weichen Vibram-Sohlen erzeugten kein Geräusch auf dem Pflaster. Seine rechte Faust hatte sich um eine seltsame Waffe geschlossen. Ursprünglich war es ein Drehmomentschlüssel für Golfschläger gewesen, doch statt der üblichen Werkzeugspitze trug der halbmondförmige Griff nun die aufgeschweißte lange dreikantige Nadel eines Troikarts, ein chirurgisches Instrument zum Punktieren. Die geschliffene Nadel ragte rund zehn Zentimeter zwischen Zeige- und Mittelfinger heraus. Eine kraftvolle Hüftdrehung katapultierte die Faust blitzartig nach vorn – ein klassischer Karatestoß. Die lange Nadel drang mühelos an der Schädelbasis in Mahlmanns Gehirn ein und durchstieß die Medulla oblongata, die Schaltzentrale im Hirnstamm, die unter anderem Atmung und Kreislauf steuert. Mahlmann stieß ein kurzes Ächzen aus und fiel dann in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden gekappt hatte. Innerhalb von Sekunden kam seine Atmung zum Stillstand. Sein Mörder schleifte ihn hinter das Gebüsch und legte sich wieder auf die Lauer.

Sievers keuchte entsetzt auf, als er seinen Kollegen unter dem Gebüsch liegen sah. Der Lampenschein glitzerte auf seinen halbgeöffneten, starren Augen. Gerade wollte der Beamte nach dem Funkgerät an seinem Gürtel greifen, als sich seine Nackenhaare hochstellten, ein Gefahrenreflex aus Urzeiten. Ein winziges Geräusch, das leise Scharren eines Fußes, ein Wispern von Stoff auf Stoff – direkt hinter ihm. Doch bevor er mit der Waffe in der Hand herumwirbeln konnte, traf ihn ein wuchtiger Schlag gegen den Hinterkopf, verbunden mit einem scharfen Schmerz. Sievers torkelte nach vorn, seiner Kehle entrang sich ein Stöhnen. Die Pistole fiel ihm aus der kraftlosen Hand. Der Beamte brach in die Knie und verharrte ein paar Herzschläge lang in einer fast betenden Körperhaltung. Als sein Kopf zur Seite sackte, nahm er für einen Sekundenbruchteil eine schwarze Gestalt schräg hinter sich wahr. Dann wurde es dunkel um ihn. Dass er mit dem Gesicht auf den Körper seines toten Kollegen fiel, merkte Sievers nicht mehr.

6

Hamburg

Von außen glich das trutzige Gebäude am Elbhang einem Hochsicherheitsgefängnis. In den kantigen, kastenartigen Bau aus rötlichen Steinen waren keine großzügigen Fenster, sondern nur Bänder schmaler, verglaster Schlitze eingelassen, die waagerechten Schießscharten ähnelten. Ins Innere des Gebäudes drang entsprechend wenig Tageslicht – was durch ein raffiniertes, von Bewegungsmeldern gesteuertes Beleuchtungssystem ausgeglichen wurde. Auch bei diesem Haus entsprach das wichtigste Sicherheitsprinzip dem einer Haftanstalt: Nichts, was drinnen verwahrt wurde, durfte nach außen gelangen. Doch wenn dies bei der roten Festung an der Elbe jemals geschah, würde die daraus resultierende Bedrohung selbst den Ausbruch eines Serienmörders bei weitem übertreffen: Dann war das Leben von Millionen Menschen in höchster Gefahr.

Das neue Laborgebäude des Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenmedizin war 2009 eröffnet worden. Es beherbergte neunzig Wissenschaftler und neben zwanzig Laboren der biologischen Schutzstufe zwei und fünf Laboren der Stufe drei auch zwei Labore der höchsten Sicherheitsstufe vier. Nur in Berlin, Marburg und auf der Forschungsinsel Riems im Greifswalder Bodden gab es in Deutschland weitere Stufe-vier-Labore.