Der blutende Himmel - Sandro Wenger - E-Book

Der blutende Himmel E-Book

Sandro Wenger

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Beschreibung

Ein übelst zugerichteter Leichnam wird entdeckt und die Attentätergruppe Gryphon proklamiert die Tötung in ihrem Namen. Diese Vereinigung der selbsternannten Verfechter der Selbstjustiz agiert im Schatten und vollstreckt grausam ihre Urteile. Inmitten dieser Geschehnisse befindet sich Patrizia Galliardi, eine blutjunge Polizistin, die beginnt auf eigene Faust in der Akte Gryphon zu recherchieren. Bereits nach kurzer Zeit muss Patrizia feststellen, dass die Seiten der Gerechtigkeit nicht so klar verteilt sind, wie es auf den ersten Blick scheint. Wer ist der Freund und wer ist der Feind?

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Ähnliche


DER BLUTENDE HIMMEL

SANDRO A. WENGER

Originalausgabe 2023

Alle Rechte vorbehalten

© Riverfield Verlag, Reinach BL (CH)

www.riverfield-verlag.ch

Covergestaltung: Riverfield Verlag

Bildnachweis Cover: Riverfield Verlag (created with generative AI)

E-Book Programmierung: Dr. Bernd Floßmann

www.IhrTraumVomBuch.de

ISBN 978-3-907459-07-2 (E-Book)

INHALT

I. Die Irrfahrt

Die Eröffnungssequenz oder das erste Mordattentat

X

Intermezzo oder was sonst noch in der Welt geschieht I

V

Tag der Katastrophe (vor 10 Jahren) – Victoria

IV

Tag der Katastrophe (vor 10 Jahren) - der Erlöser

V

Tag der Katastrophe (vor 10 Jahren) - Calypso

XVIII

Das zweite Mordattentat

XIII

Intermezzo oder was sonst noch in der Welt geschieht II

V

Tag der Katastrophe (vor 10 Jahren) - Roze

XIV

Tag der Katastrophe (vor 10 Jahren) + 736 Tage - Bastian

XIX

Tag der Katastrophe (vor 10 Jahren) - Aion

III

VIII

XII

Tag der Katastrophe (vor 10 Jahren) + 3108 Tage (S) Teil I

V

Tag der Katastrophe (vor 10 Jahren) + 3108 Tage (S) Teil II

II

Tag der Katastrophe (vor 10 Jahren) + 2563 Tagen - Elisabetta

XX

Intermezzo oder was sonst noch in der Welt so geschieht III

IX

Das dritte Mordattentat

II. Der Aufenthalt

XIV - S

XXI - S

XIV - S

XIX - S

V - S

XVIII - S

V - S

XIII - S

VIII - S

V - S

XVIII - S

XXVI - S

V - S

XIV oder das Leuchtfeuer zweier Sternschnuppen – S

XXIII - Sweetheart

V - Sweetheart

IX oder der letzte Tag der Sage - Sweetheart

XX oder der Tag, an dem wir einen kleinen Revoluzzer zum Frühstück verspeisten

V oder das Nachspiel des Tags der Vergeltung oder die Höllenqualen - S

III. Der Abschied

XVIII - die Gedanken eines jungen Herren

Der Traum oder der innere Kampf

Abgesang - S

End Credits

Anmerkungen

Über den Autor

TEILEINS

DIE IRRFAHRT

DIE ERÖFFNUNGSSEQUENZ ODER DAS ERSTE MORDATTENTAT

Wie erbärmlich, er versucht mir immer noch zu entkommen. Er denkt wirklich, dass er eine Chance gegen mich hat. Dabei war die Ausgangssituation bereits von Anfang an klar … ich werde ihn jagen und schlussendlich erlegen.

Keuchend rennt er durch die dunklen Gassen der Stadt bei Nacht. Ich bleibe ihm jedoch dicht auf den Fersen. Niemand kann mich aufhalten, meinen Auftrag auszuführen, es ist meine Bestimmung. Wir müssen die Stadt von diesem Schmutz und Elend befreien. Das Ziel bewegt sich stets langsamer. Seine Ausdauer ist wohl nicht für solche Verhältnisse gemacht. Ich dagegen bin noch topfit, ich verspüre keinen Anflug von Schwäche. Wenn es sein müsste, würde ich es sogar mit einer ganzen Armee aufnehmen. Unerwartet meldet sich mein Ohrknopf zu Wort: „Roze, wie läuft es, das Ziel schon erlegt?". - „Bald, er versucht mir noch zu entkommen, doch ich merke, wie seine Kräfte ihn verlassen. Es wird nicht mehr lange dauern und dann wird er vor mir niederknien. Ich werde mich melden, sobald der Auftrag erledigt ist Perseus." - „Einverstanden, ich wollte mich nur vergewissern, ob alles in Ordnung sei. Aber bei dir ist meistens keine Sorge angebracht." Ein müdes Lächeln war auf der anderen Seite der Leitung zu vernehmen. „Ah noch eine Bitte, mach bitte keine allzu große Sauerei." Ich stöhne und ernüchternd gebe ich eine Antwort. „Ich entscheide, welche Qualen das Ziel erleiden muss, und manchmal ist nun mal eine Sauerei nicht zu vermeiden, Roze Ende."

Nun ist es an der Zeit, meine Geschwindigkeit ein bisschen zu erhöhen. Wenn ich meine schwarzledernen Chelsea-Boots nicht tragen würde, hätte ich ihn schon längsten eingeholt. Aber so macht es mir nur noch mehr Spaß. Das Beste an der ganzen Sache ist, dass er nicht merkt, dass ich ihn in eine Sackgasse locken will. Verzweifelnd versucht das Ziel mit seinem iPhone zu telefonieren, doch anhand seines dümmlichen Gesichtsausdrucks erkenne ich, dass es wohl nicht funktioniert hat. Da hat Aion wieder hochklassige Arbeit abgeliefert. Ihr Job war es, das Handy von diesem armseligen Wicht zu hacken und funktionsunfähig zu machen.

Ich werde ihn noch weitere 100 Meter vor mir her scheuchen und dann werden wir an unserem Zielort angelangt sein. Ich werde an seiner linken Flanke auftreten und ihn versuchen, in die kleine Nebengasse rechts mit der Sackgasse zu locken. Wetten, es klappt?! Meine Vorhersehbarkeit ist einsame Spitze und damit ist jedes Wetten sinnlos. Die Verfolgung läuft weiter. Alles läuft nach Plan und sein Verhalten gleicht jenem eines in Panik geratenen Tieres.

Selbstverständlich läuft er wie ein ziellos umherirrendes Schaf in die Sackgasse. In genau solchen Situationen nehme ich die Stadt in einem anderen Licht wahr. Die alten Steinwände, wo jeder Stein mühselig in ein Mauerwerk verputzt ist und doch am zerbröckeln ist, oder die kleinen Fenster mit ihrem Holzrahmen sowie dem Fensterkreuz aus Nussholz, welches in vier Ornamentgläser unterteilt ist und bereits den Stolz vergangener Tage längst eingebüßt haben. Die streunenden Katzen, die in der nächtlichen Stille schrille Geräusche von sich geben, die überfüllten Müllcontainer an jeder Straßenecke, trist und karg. Dies alles macht, egal ob am Tag oder bei Nacht, einen schäbigen Eindruck. Der nahe Zerfall ist spürbar, jegliche Rohmaterialien wollen zur Erde zurückkehren, um dem Sumpf aus Leid und Elend zu entkommen. Doch in genau solchen Augenblicken, in denen sich die Gerechtigkeit zurückkämpft und ein Tribut von seinem Ziel einfordert, durchfließt mein Körper ein Gefühl von Anmut und Harmonie. Das Abstoßende der Stadt, der Morast des Kummers und die Not machen Platz einem stillem, rationalem sowie lieblichen Handeln.

Mit meinem Verhalten lotse ich den ahnungslosen Mistkerl in die Sackgasse. Nur das matte Licht der Straßenlaterne spendet eine Helligkeit zu dieser dunklen Stunde. Angsterfüllt ist er am Ende der Nebengasse angelangt und sein Blick wandert von rechts nach links. Mit seinem beschränkten Verstand hat er nun endlich bemerkt, dass er sich in einer Sackgasse befindet. Mit dem Rücken zur Wand genießt er meine Erscheinung.

„Bitte, bitte tu mir nichts. Ich habe Geld. Willst du Geld? " Eine Verzweiflung ist aus seiner Stimme zu vernehmen. Langsamen Schrittes und einem Gang, welcher wahrscheinlich einem Catwalk gleicht, schlendere ich zu ihm. Was denkt er sich wohl gerade? Der Gedanke, dass eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren und einem blassen Teint sowie einem Katana an der Hüfte direkt auf ihn zukommt. Surreal-Mittelmeerraum. Meine Jagd ist unverständlich für ihn. „Was denkst du dir wohl, wenn du mich sieht?" Zuerst ist kein Wort von ihm zu hören, panisch schaut er in meine Augen. „Häää, ich verstehe es nicht, willst du Geld?"- „Ich will dein Scheißgeld nicht, kannst es dir sonst wohin stecken!! Meine Frage ist, was du dir denkst, wenn du mich siehst?" - „D-d-du bist jung und ich weiß nicht, was du von mir willst. Ich habe nichts!" Mit meiner ganzen Pracht stehe ich nach meinem kurzen Spaziergang direkt vor ihm. Ich verpasse ihm mit meiner rechten Faust einen gezielten Schlag gegen den Unterkiefer. Das Ziel taumelt rückwärts und kann noch knapp sein Gleichgewicht halten. „Beschreibe mich. Was siehst du? Was fühlst du bei meiner Betrachtung Alonso?" - „Wo-Woher kennst du meinen Namen?" Seine Pupillen nehmen die volle Irisweite ein. „Das ist jetzt nicht wichtig, ich habe dir eine Frage gestellt." - „Ich-ich habe A-Angst. Ich weiß nicht, was du von mir willst, und warum du ein Schwert auf dir trägst." Genervt von dieser Aussage rolle ich meine Augen. „Zu deiner Information, es ist ein Katana, ein japanisches Langschwert mit einer besonders langen und scharfen Hasaki." Ich lege eine gefühlvolle Pause ein. „Kommen wir zu deinen Gefühlen. Also Angst verspürst du, und was ist mit Gerechtigkeit?" - „Gerechtigkeit? Wa-warum sollte ich Gerechtigkeit empfinden? Eine wildfremde Frau mit einem japanischen Drecksschwert steht vor mir und will mich wahrscheinlich umbringen", rang aus seinem empörten mit Verzweiflung gepaarten Stimmorgan. „Ja das mit dem Umbringen hast du richtig erraten, aber es ist schon traurig, dass ein Mensch seine Fehler in Anbetracht der Gerechtigkeit nicht preisgeben kann. Es ist immer wieder dasselbe mit euch." Ich stoße einen leichten Seufzer aus. „Andererseits macht es mir umso mehr eine Freude, euch eurer gerechten Strafe zuzuführen. Denn jemand muss für Recht und Ordnung sorgen, wenn sonst niemand in diesem Land im Stande ist. „Plötzlich fällt der Groschen bei Alonso und seine Mimik verändert sich ins Fassungslose. „Du … du bist von Gryphon … " Höhnisch applaudiere ich meinem Ziel. „Bravo, endlich hast du es gecheckt, und nun weißt du auch, was mit dir geschieht." Als ich das Katana aus meiner Scheide an der Hüfte ziehe, fängt er wie eine Sau an zu quicken. Wie ein fettes Schwein, das sich auf dem Weg zur Schlachtbank befindet. Sein Gesichtsausdruck ändert sich, die Angst vermischt sich mit Hass. Seine Augenlider kneifen sich zusammen und seine Oberlippe beginnt leicht zu vibrieren. „Drecksfotze, hoffentlich findet euch die Polizei und bringt euch alle um!" Alonso weiß nun um sein Schicksal Bescheid, und wie jedes meiner Opfer muss er noch eine Runde Dampf ablassen, bevor er seinem Schöpfer gegenübersteht. Ich erhebe meine Stimme. „Schade, dass das Attentat bereits wieder vorbei ist. Jedenfalls wirst du dem Tod eher ins Gesicht blicken als ich!" Behutsam lege ich das Schneidinstrument an seinem Oberarm an. Er versucht sich aus der Reichweite meines Katanas fortzubewegen, allerdings gibt es kein Entkommen aus diesem Moment. Das alte Mosaik aus allen erdenklichen Steinen versperrt ihm den Ausweg. Der erste Schnitt meines Katanas trifft in einem perfekten rechten Winkel am linken Oberarm ein. Eine saubere Durchtrennung des Glieds ist die Folge und sein grünbraun kariertes Hemd wird langsam in Blut getränkt. Völlig entsetzt blickt er auf die offene Wunde. Im Moment steht er sprachlos vor mir und ein Freudenfest des Blutes umgibt ihn.

„Du Nutte, du hast mir den Arm abgetrennt!" Langsam schüttle ich meinen Kopf zur Verneinung. „Hat dir niemand beigebracht, einer Frau mit Respekt entgegenzutreten. Einfach solche Kraftausdrücke verwenden, was für eine schlechte Erziehung. Nun sei’s drum, ich hoffe, du bist vorbereitet, was jetzt auf dich zukommt." Mit einem schnellen Stich ziele ich zwischen seinem Schritt und stoße zu. Er jault vor Schmerzen auf und fällt auf seine Knie. „Nun kommt der letzte Schnitt." Mein Katana und ich werden in solchen Verhältnissen zu einem Individuum, wir werden Eins. Das Nachfolgende ist stets der grausamste Part, denn es folgt die Dekapitation. Mit einer enormen Wucht, Willensstärke sowie einer scharfen Hasaki trenne ich den Kopf vom kraftlosen Körper ab. In solchen Augenblicken fühle ich mich wie in einem anderen Universum. Weit weg von all dem Leid, wie in einer Schutzsphäre, die mich vor jeglichen Gefahren beschützt. Das Haupt landet in der Nähe des in sich zusammenfallenden Torso. Rot ist die dominierende Farbe dieses Spektakels. Kein Schreien und Winseln sind mehr zu vernehmen, eine Totenstille liegt vor. Das Katana hat seinen Dienst erledigt und kehrt zu seinem Stammplatz zurück. Meine Hände sind mit seinem Blut bedeckt. Meine Fingernägel haben eine tiefrote Lackierung bekommen. Scheiße! Das Blut dieses Dreckssacks hat zusätzlich auch meine Bikerjacke besudelt. Selbst nach dem Tod ist er noch Abschaum! Angewidert, dass ich sie ein weiteres Mal waschen musste, ziehe ich von dannen.

„Perseus bitte melden, habe den Auftrag ausgeführt, ich mache mich auf dem Weg zum Versteck." Eine tiefe Männerstimme meldet sich. „Sehr gut Roze, auf dich ist eben Verlass. Die Stecknadel hast du auch platziert, oder?" - „Erledigt, man soll ja schließlich wissen, wer für diese Tat verantwortlich ist." - „Perfekt, deine Kollegin wartet bereits auf dich am vereinbarten Ort." - „Verstanden und Ende." Das mit der Stecknadel war die Idee unseres Bosses, er wollte, dass nicht irgendwelche anderen Idioten Morde begehen und diese uns dann in die Schuhe schieben. Eine maßgefertigte Stecknadel aus besonderem Metall mit dem Logo von Gryphon am Kopfende. Ich hatte es dem Opfer zwischen der vierten und fünften Rippe in die Lunge gesteckt. Dort wartet es bereits auf seine Entdeckung. Ich atme die kühle Atemluft ein und genieße den Moment, sobald ein weiterer Auftrag erledigt ist. Besser als jede Rechtsprechung, denn hier nimmt jemand die Zügel selbst in die Hand. Ein Gefühl der Ritterlichkeit übermannt mich, gefolgt von der Einsicht, dass noch viele Opfer folgen werden. Schließlich war dies nur ein Auftrag von vielen.

X

06.27 Uhr, wieder eine schlaflose Nacht. Das letzte Mal als Pete einigermaßen vernünftig geschlafen hatte, war noch vor diesem terroristischen Akt. Nun schmiss er sich seit geraumer Zeit diese Zolpidemtabletten ein, aber der Nutzen von diesen Schlafmitteln ist stark begrenzt. Bei ihm finden sie keinen Anklang. Seine Gedanken quälen ihn stets aufs Neue. Jedes verdammte Mal vor dem Einschlafen dachte er an sie, an jene die er vor zehn Jahren verloren hatte. Irgendwie war es seit geraumer Zeit wieder schlimmer geworden, die Gedanken intensivieren sich und er kann sich von ihnen nicht losreißen, sie kreisen umher und verdrängen alles andere in seinem Kopf … , wenn er doch endlich zur Ruhe finden würde.

Das Morgenritual von Pete war seit dem Anschlag immer dasselbe. Er stand auf und saß zunächst an seinen Bettrand. Diesen Moment nutzte er, um sein inneres Gleichgewicht zu finden den heutigen Tag zu überstehen. Die Stille in seiner Wohnung war ihm hierbei sein ärgster Feind. Nichts konnte ihn ablenken, immer wieder blitzten die Gesichter seiner verstorbenen Familienmitglieder vor seinem geistigen Auge auf. Das Einzige, was jetzt noch helfen konnte, war ein Kaffee. Pete machte sich auf Weg in die Küche, um das heiße Gebräu aufzusetzen. Obschon der Kaffee nur eine billige Mischung vom Discountermarkt war, genügte es Petes Ansprüchen. Die Küche führte direkt in sein Wohnzimmer, welches nur spärlich eingerichtet war. Alles von Ikea. Der Tisch, die Stühle sowie das Sofa alles in schlichtem Weiß gehalten. Seinen Kaffee trank er aus lauter Gewohnheit in Unterhosen immer vor den Morgennachrichten, welche im Fernseher ausgestrahlt wurden. Immer wieder der gleiche Trott seit 10 Jahren. Nichts hatte sich geändert, außer die Kaffeeflecken auf dem weißen Stoff des Sofakissens. War ja aber auch egal, schließlich kam eh niemand vorbei. Für wen sollte er die Wohnung schon herausputzen, jeder in seinem Leben hatte ihn verlassen. Vieles war im egal geworden. Er griff zur Fernbedienung und betätigte den Anschaltknopf. Millisekunden später nahm eine Nachrichtensprecherin den ganzen Bildschirm für sich ein. Laut den News war am heutigen Morgen wieder ein Attentat geschehen. Anscheinend hatte Gryphon wieder zugeschlagen, wieder mit einem Szenario, welches an Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten war. Was sollte er bloß gegen diese Bastarde unternehmen? In letzter Zeit haben sich ihre Attentate gehäuft, und es trifft meistens Bürger vom Typ „Normalo". Und ich bin auf mich allein gestellt. Gedankenverloren lehnte sich Pete zurück. Selbst die gründlichsten Recherchen hatten keine weiteren Informationen über diesen Trupp offenbart. Nichtsdestotrotz lenkte ihn die Arbeit von seinen restlichen Gedanken ab. Eine Pause von seinen verfluchten, wiederkehrenden Qualen. Wann wohl das Telefon klingelte? Der Mord war bereits in den Nachrichten ausgiebig präsentiert worden, da konnte es nicht mehr lange dauern. Seine engsten Kollegen auf dem Revier wussten, dass er an schlaflosen Nächten litt. Dies war vielleicht einer der Gründe, warum er noch nichts von ihnen gehört hatte. Sie nahmen immerzu Rücksicht auf ihn und warteten bis 07.00 Uhr, um ihn telefonisch über die Fälle aus der Nachtschicht zu informieren. Auch heute war es nichts anderes. Knapp nach sieben Uhr klingelte das Telefon. „Kolaski am Apparat." Pete war kein Morgenmensch, deshalb schwang mit seiner Stimme eine leichte Gleichgültigkeit mit. „Ja guten Morgen Pete! Hier ist Louis, oder ja so ein guter Morgen ist es nicht. Du hast sicher in den Nachrichten gehört, dass Gryphon wieder zugeschlagen hat. Und du weißt ja, dass wir für ihre Taten zuständig sind." Louis war das komplette Gegenteil zu Pete. Bereits am frühen Morgen war er voller Tatendrang, jedenfalls vermittelte sein Gerede dies. „Also das Übliche?", fragte Pete spöttisch. „Ja, das Übliche, ich übermittele dir noch den Standort. Diesmal geschah es in der Altstadt. Und iss besser nichts, ist wahrlich kein schöner Anblick." - „Okay, ich mache mich gerade auf den Weg, trinke nur noch den Kaffee aus. Bis später Louis." - „Ja kein Stress, die Leiche läuft uns ja definitiv nicht weg", schmunzelte Louis. Obgleich seine Späße manchmal ein bisschen pietätlos erschienen, lockerten sie den Alltag als Polizist ungemein auf. Nachdem Pete seinen Kaffee leergetrunken hatte, zog er sich seine blaue Polizistenuniform an und betrachtete sich im Spiegel. Er konnte sich noch immer nicht an diesen Anblick gewöhnen. Die Uniform des Leutnants passte, wie angegossen auf seinem Körper, obschon ein leichter Hauch von Mitleid Pete mit diesem Rang in Verbindung brachte. Er hatte alles verloren und seine Vorgesetzten hatten ihm einen Knochen hingeworfen, damit er nicht auch noch den Dienst quittiert hatte. Bitter. Zusätzlich kam hinzu, dass niemand den Job übernehmen wollte. Und da hatten sie den perfekten Kandidaten in ihm gefunden. Wenigstens bescherte diese Anstellung Pete ein wenig Ablenkung. Beim Hinausgehen drehte er sich nochmals um und dachte, warum man ihn nicht auch vor 10 Jahren mit in den Abgrund gezogen hatte.

Pete hatte sich nie Etwas aus Luxusautos macht, deswegen fuhr er den alten roten Honda Civic, der ihm nun seit ungefähr sieben Jahren treue Dienste erwies. Er würde den Honda in nächster Zeit mal gründlich waschen, das neuste Auto war es nicht, aber eine gewisse Fürsorge wäre nicht schlecht. Der Parkplatz seines Honda war direkt vor dem Wohnblock, in dem er hauste. Ein brauner hässlicher Betonklotz am Rande der Stadt, einer unter vielen hier draußen. Es war jedoch billig und Pete musste sich nicht oft mit seinen Nachbarn unterhalten. Ein Aspekt, den man zu schätzen wies. Den anderen Personen war es egal, was Pete unternahm und ihm war egal, was die anderen machten.

Um in die Altstadt zu kommen, musste er durch die zahlreichen Neubauten des neuen Quartiers fahren, welche auf Befehl der Regierung wie aus dem Boden gezogen wurden. Obwohl die Neubauten das Bild einer Skyline ergeben sollten, waren die meisten Gebäude nicht höher als 15 Stockwerke hoch. Aber eines musste man ihnen lassen, sie sahen mit ihren Glasfronten und Stahlträgern hochmodern aus.

Aufgrund dieser Monumente kam der krasse Kontrast zur Altstadt noch stärker zur Geltung. Beim ersten Betrachten des historischen Stadtteils fällt einem sofort das Wort Mittelalter in den Sinn. Die ganze Altstadt ist noch von einer Stadtmauer umgeben, welche eine Höhe von gut neun Metern umfasst, dahinter befinden sich allerlei verwinkelte Gassen mit Häusern aus steinernen Mauerwerken. Jeder Stein ist einzigartig und dazwischen eingebaute Ornamentfenstergläser, welche alle in einer unterschiedlichen Anziehungskraft strahlten. Die Häuser waren nicht besonders, maximal zwei bis drei Stockwerke hoch und alle mit einem Dach aus braunen Ziegeln versehen. Klar hie und da wäre schon eine kleine Renovationsarbeit notwendig, aber der Charme, der dieses Kleinod inmitten der Moderne versprühte, war einer der kleinen Momente in Petes Leben, welche ihn ein bisschen mit Wärme segnete. Das Beste an der Altstadt oder auch „Blessed Hell", wie die Ansässigen es nannten, war, dass es komplett autofrei war. Somit hatte man seine Ruhe, aber man musste, vor dem Betreten der „Blessed Hell", die anstrengende Suche nach einem Parkplatz antreten. Interessanterweise gab es nur einen Ein- und Ausgang in die Altstadt, der ständig offen lag. Manche Anwohner spekulierten jedoch, dass es anscheinend im Untergrund mehrere Geheimwege, die mit der Kanalisation in Verbindung standen, vorhanden waren. Das Zentrum der circa neun Quadratkilometer großen „Hell" bildete, die aus Sandstein erbaute Kathedrale, welche ihre besten Zeiten schon längst hinter sich gehabt hat, allerdings immer noch inmitten der Steinwerke thront. Petes Zielort war offensichtlich ein paar Quergassen von der Kathedrale entfernt. Heute Morgen spürte man deutlich, dass es noch April war. Obschon die Tage bereits länger wurden, blies ein kühler Wind und ein Gewitter lag in der Luft. An den Steinmauern war eine gewisse Feuchtigkeit zu vernehmen. Das Gestein war dunkler als sonst und bei Berührung fühlte es sich kalt an. Er bewegte sich zielstrebig in Richtung Kathedrale, wobei er ab und zu Stimmen aus den Häusern vernahm. Sicherlich in der „Blessed Hell" wohnten eher schlechter situierte Bürger, da teils immer noch keine funktionierenden Wasserleitungen vorhanden waren. Nichtsdestotrotz fände er das Wohnen hier wesentlich gemütlicher als in seinem hässlichen Betongefängnis. Und nun haben diese Bastarde von Gryphon ihren schwarzen Mantel voller Hass und Dreck über diesen Teil der Stadt gelegt und ihn beschmutzt.

Pete war nach einem kurzen Lauf beim Tatort angekommen, wo Louis bereits auf ihn wartete. „Leutnant Kolaski, guten Morgen, es gäbe eigentlich schönere Gründe für einen Abstecher in die „Hell" aber heute ist es sprichwörtlich eine Hölle … " Sein Kollege blickte ihn erwartungsvoll an. „Louis, bring mich auf den Stand der Dinge, was ist genau passiert?" - „Also, unser Opfer ist Alonso Müller 47 Jahre alt, Familienvater und Versicherungsvertreter. Sein Wohnort ist am Rande der Hauptstadt, nicht unweit von deinem Wohnort … " Kolaski unterbrach Louis inmitten seines Satzes. „Wurde er denn bereits identifiziert? " - „Ja, das gestaltet sich ein wenig schwierig … Sie werden es nachher sehen. Aber unter seinen Effekten war auch eine Brieftasche mit Identitätskarte und weiteren Utensilien, die auf diese Identität zurückschließen.“ Die Beiden befanden sich noch vor der polizeilichen Absperrung. Von den Journalisten war noch keine Spur zu sehen, wahrscheinlich sorgten einige Polizisten für Ruhe und Ordnung ein paar Querstraßen vom Tatort entfernt. „Was weiß man sonst noch?", fragte Pete aufmerksam. „Die Leiche wurde heute Morgen ungefähr um 05.00 Uhr von einem Anwohner im Haus neben dem Tatort bemerkt. Die Frau Krchowiak war auf dem Weg zur Arbeit in die Wäscherei als sie das grausige Szenario vorfand. Der Rechtsmediziner und sein Assistent sind momentan noch bei der Leiche und versuchen erste Schlüsse zu ziehen. Wir können nachher mit ihnen die Lage besprechen. Zusätzlich nehme ich an, dass die Person gejagt und in die Enge getrieben wurde. Denn wer würde sonst freiwillig in eine Sackgasse laufen." - „Ok, ja würde mich nicht wundern bei ihrer Vorhergehensweise. Hat man es gefunden?" Neugierig blickte Pete seinen Kollegen an. „Ja, man hat eine silberlegierte Stecknadel mit dem Kopf des Greifens gefunden. Sie steckte zwischen der vierten und fünften Rippe. Das Grundmaterial des Schafts wird mit an hoher Wahrscheinlichkeit grenzend aus Gold sein." - „Und was war die wahrscheinliche Todesursache?" Louis zögerte kurz und sagte dann: „Eine saubere Köpfung durch einen scharfen Gegenstand. Aber sieh es dir selbst an … es ist schwierig zu beschreiben." Auf die Frage, warum die Presse längst vom Attentat wusste, hatte Louis keine Antwort parat. Pete nickte und sie schritten dem Schauspiel entgegen.

Bereits von weitem erkannte Pete, dass Louis nicht Unrecht hatte. Und nach betreten der polizeilichen Absperre wurde es ihm beinahe übel. Das, was vor ihm lag glich keinem Menschen mehr. Mehrere von Blut verkrustete Leichenteile verstreut über mehreren Metern. Die Farbe eines verschmutzten Rot dominierte das Bild. Leutnant Pete Kolaski erkannte einen abgetrennten Kopf neben einem halbwegs verstümmelten Torso. Soweit er es beurteilen konnte, wurde der linke Arm abgetrennt. Eine grausame Szene. Kolaski und sein Kollege gingen zu den Rechtsmedizinern, welche den abgetrennten Arm begutachteten. Zum Glück war es Dr. Stellwag der heute Dienst hat. Ein rundlicher grundsätzlich gut gelaunter Kerl, mit einem blonden Vollbart und leicht schütterem Haarwuchs. Die Krähenfüße um seine Augenwinkel widerspiegelten sein Alter und brachten seine lindengrüne Augenfarbe zur Geltung. „Guten Morgen Stellwag, ich muss sagen, ich bin froh, dass Sie heute Dienst haben und nicht ihr Kollege“, begrüßte Kolaski den Rechtsmediziner. „Haha ja der Herr Thiel kann schon ein spezieller Artgenosse sein, selbst Personen in der Rechtsmedizin würden ihn als verschroben bezeichnen", verstohlen blickt er seinen Assistenten an. Jener blickte sogleich weg. „So, was haben wir hier Dr. Stellwag?" - „Nun mal das Offensichtlichste. Ihr Kollege Herr Rembrack hat Ihnen sicherlich bereits erzählt, dass wir die Stecknadel gefunden haben. Da dies Gryphons Markenzeichen ist, ist die Chance groß, dass sie ihre Finger im Spiel haben. Allerdings ist das zu beurteilen glücklicherweise nicht mein, sondern ihr Job. Aber nun zu den harten Fakten: Der Todeszeitpunkt wird aufgrund der Leichenstarre sowie den Totenflecken vor über 8 Stunden gesetzt, da die Totenflecken noch teilweise umlagerbar sind sowie die Starre bei dem Torso bereits vollständig eingesetzt hat. Somit lag der Zeitpunkt frühestens bei gestern um 21.00 Uhr. Bei der Todesart darf man sicherlich von einem Delikt ausgehen, so übel zurichten kann sich keiner durch die eigene Hand. Zur Todesursache dürfte ich theoretisch noch nichts sagen, dennoch ist die Dekapitation für den Organismus fatal gewesen. Was aber definitiv gesagt werden kann, ist, dass dem Opfer zwei Verletzungen vor seinem Tod zugefügt wurden. Die erste Verletzung, wie Sie sicherlich bereits bemerkt haben, ist der abgetrennte Oberarm. Der Schnitt erfolgte auf Höhe der Mitte des Bizepsmuskels. Die zweite Verletzung ist eher dezenter, aber für uns Männer eine, die einem mentale Schmerzen verursachen kann, nämlich einen Stich in die Genitalien." Pete verzog angewidert sein Gesicht. Was für widerliche Bestien! „Ok, demnach ein richtiges Massaker … wurde das Genital noch weiter verstümmelt oder war es nur ein Stich?" - „Nur ein Stich, aber auch hier hat es geblutet wie ein Schwein, wie Sie nur unschwer erkennen." Stellwag legte daraufhin eine kurze Pause ein. „Und zu der Tatwaffe, kann hier bereits etwas gesagt werden?", fragte Kolaski neugierig. „Wir können sicherlich von einem Schnittwerkzeug ausgehen, die Wundränder sind sauber und scharf und weisen keine Risse oder Quetschungen auf. Der Stichkanal, welcher sich bei den Genitalien bildete, deutet auf ein Schwert oder einen ähnlichen Gegenstand hin. Bei vorherigen Gryphontaten wurden auch ähnlich Verletzungen gesehen und somit gehe ich davon aus, dass die Tatwaffe wieder ein Katana sein könnte. Aber da möchte ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. In meinem Bericht werden Sie dann noch weitere Informationen dazu lesen." - „Okay Stellwag, ich danke für die Zusammenfassung, und es wäre vorzüglich, wenn ich den Bericht möglichst schnell hätte." Der Rechtsmediziner begann dezent zu lächeln. „Kein Problem, unser Plan ist die Obduktion gerade nachfolgend zu erledigen, dann haben Sie den vorläufigen Bericht spätestens in drei Tage. Sofern nicht noch etwas Unvorhersehbares geschehen sollte." Kolaski nickte zum Abschied und machte mit leicht säuerlicher Miene kehrt. Wie ist ein Mensch nur zu einer solchen Tat fähig? Was muss ein Mensch erleiden, damit er jemandem solche Qualen zufügen kann? Louis Rembrack holte ihn aus seinen Gedanken zurück. „Du Pete, wir bekommen heute noch ein neues Mitglied in unser Team, respektive eine neue Aspirantin. Patrizia Galliardi. Sie wartet auf uns im Revier. Ich dachte, dort könnten wir sie dann zusammen einführen, auch in den laufenden Fall, ok? Und nachher können wir ja die Familie des Opfers befragen gehen. Die Zeugenaussagen in der Umgebung des Tatorts sind bereits von unseren Kollegen durchgeführt worden." Leicht abwesend gab Pete seine Antwort. „Ja kein Problem. Kommt Sie von der Polizeischule oder was ist ihr Hintergrund?" - „Ja Polizeischule, hat aber dort anscheinend durch ihren Tatendrang bereits Qualifikationen im Bereich der Fahndung dazu gewonnen. Wurde als Jahrgangsbeste ausgezeichnet. Die von oben haben wohl gedacht, Sie ist bei uns am besten aufgehoben." Ein Schmunzeln lag auf den Lippen von Louis. „Louis wir brauchen jeden denn wir finden können, und das Wichtigste ist, dass Frau Galliardi etwas auf dem Kasten hat!"

Kolaski und Rembrack schritten zurück in Richtung Kathedrale. Wie es bei Rembrack üblich war, beklagte er wenig später über einsetzende Müdigkeit. Mit anderen Worten wollte er, dass ihm Pete einen Kaffee spendierte. Aufgrund des Traditionsbewusstseins dieses kleinen Mätzchens, kaufte er Louis in der nächsten kleinen Espressobar einen schwarzen Kaffee. Während Louis das Getränk genoß, dachte Pete an den Fall. Es kann nicht schon wieder sein, dass Gryphon ein solches Spektakel abziehen konnte. Diese Freaks! „Du willst sicherlich keinen Schluck von meinem Kaffee?", wurde Pete aus seinem Gedankenkonstrukt gerissen. „Nein ist schon okay, sonst bekomme ich wieder Magenbrennen." Nebst den wiederkehrenden quälenden psychischen Gedanken hatte Gott Pete noch mit einer eingeschränkten Aufnahme von Kaffee bestraft. Wenn er mehr als drei bis vier Becher am Tag trinkt, würde er mit entsetzlichen Schmerzen im Bett liegen. Und der heutige Tag war erst gerade angebrochen und Pete wusste nicht, wie lange jener noch werden sollte.

Der Marsch zum Honda verlief mehrheitlich stumm. Kolaski und Rembrack tauschten keine besonderen Gesprächsthemen aus. Pete schätzte Louis in solchen Situationen, er brauchte Zeit zum Nachdenken … wie war es möglich, dass wir diese Übeltäter immer noch nicht dingfest machen konnten? Ab und zu strich sich Louis mit seinen Fingern durch seinen Quiff in den Haaren. Erst seit neustem hatte er diese Frisur. Allgemein kann man bei Louis von einem staatlichen Kerl ausgehen. Er war vielleicht nicht gerade der größte, aber umso muskulöser und stets mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht. Zusätzlich zu seinem Changeover hat er sich auch noch einen Dreitagebart wachsen lassen. Scheinbar will er sich auf dem Singlemarkt umsehen. Bei diesen Gedanken musste Pete schmunzeln, denn es war eine geraume Zeit her, dass sich Pete für eine Person das letzte Mal in Szene gesetzt hatte.

Die Autofahrt von der Altstadt zum Polizeirevier dauerte nicht lange. Nach zehn Minuten waren sie an ihrem Bestimmungsort angelangt. Sie standen vor einem schlichten beigefarbenen Gebäude aus Beton mit vier Stockwerken sowie den üblichen 0815-Fenstern, so wie man sich ein Verwaltungsgebäude vorstellt. Auf der Fahrt zum Revier packte Pete die Chance beim Schopf, um Louis zu fragen, was es mit seinem Stilwechsel auf sich hat. Louis fing nun an zu lachen und erwiderte, dass er sich seit neustem mit einem neuen Verehrer trifft. Er hatte ihn Online kennengelernt, und das letzte Treffen sei ziemlich gut verlaufen. Ergänzend erwähnte Louis noch, dass sie auch heute Abend noch ein Stelldichein haben und er wenn möglich um spätestens 18.00 Uhr gehen sollte. Pete freute sich für seinen Kollegen und sagte zu Louis er könne auch ausnahmsweise früher gehen, wenn es ihm wichtig erscheine.

Bei der Anmeldung auf dem Revier wurden Kolaski und Rembrack von der Sekretärin aufgehalten. „Leutnant Kolaski, eine Person wartet auf sie, eine Frau Galliardi, wird anscheinend heute neu zu arbeiten beginnen, habe Sie zu Ihnen ins Büro geschickt." - „Ok, vielen Dank." Pete war gespannt, was für einen Charakter bereits auf ihn wartete.

* * *

Beim Betreten des Büros stand die wartende Person direkt vom Besucherstuhl auf. Vor ihnen stand eine kleine, dezent muskulöse und mit breiten Schultern ausgestattete junge Frau. Ihre Haare waren schulterlang zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie hatte eine markante Gesichtsform mit stahlblauen Augen und einer spitzen Nase, welche im leichten Winkel nach oben zeigte. Ein hübsches Ding. „Patrizia Galliardi mein Name, ich bin Ihnen neu zugeteilt worden. Es ist mir eine Ehre Sie kennenzulernen." - „Nun nicht so förmlich, ich bin Pete Kolaski und wie Sie sicherlich bereits wissen ihr Leutnant, und die Person neben mir ist Louis, meine rechte Hand. Es ist uns ein Vergnügen Sie in unserem Revier zu begrüßen. Wir können uns gerne Duzen." - „Somit könnt ihr mich gerne Patrizia nennen." Der Neuling gab kurz ein Lachen preis und setzte sich zurück auf den Stuhl. Kolaski gesellte sich auf seinen Bürostuhl und Louis blieb in der Nähe des Türrahmens stehen. „Ja Patrizia, du hast dir heute einen guten Tag ausgesucht für deinen Arbeitsbeginn. Wie du sicherlich bereits in den Nachrichten vernommen hast, wurde heute Nacht in der „Hell" ein Mord verübt und wir sind für diese Sauerei zuständig. Ich gebe dir dann die Zugangsdaten für den Computer, dass du dich sofort einlesen kannst aber zuerst eine Frage: Wie gut kennst du dich mit Gryphon aus?" Ihre Mimik veränderte sich in ein großes Fragezeichen. „Gryphon die Killerbande?" - „Genau die." - „Ehrlich gesagt nicht besonders, in den Medien wird ihr Name oft erwähnt, aber zu den Umständen wurde nie viel darüber berichtet." Kolaski nickte und schloss lehrerhaft seine Augen. „Ok, dann unterrichte ich dich kurz. Gryphon, oder auf Deutsch die Greifen, ist eine Truppe voller Mörder, die im Namen der Gerechtigkeit töten. Wobei hier der Begriff der Gerechtigkeit weit gedehnt werden kann. Grundsätzlich sind immer Bürger, wie du und ich … " Hierbei zeigte Pete bewusst auf Patrizia. „ … von ihren Attentaten betroffen. Solche Menschen, die es nicht verdient hätten zu sterben. Ihr Markenzeichen ist eine aus Gold bestehende Stecknadel, die mit Silber legiert ist, sowie einen Greif auf dem Kopf eingraviert hat. Wie viele Mitglieder Gryphon umfasst, können wir dir nicht sagen. Und ihre Tötungsmuster sind ganz unterschiedlich, das Spektrum umfasst Vergiftung, Strangulation oder wie auch im letzten Fall Schwertattacken. Auf ihr Konto gehen bis und mit heute 14 Morde. Rein faktenmäßig wissen wir nicht viel über die Greifen, allerdings war beim ersten verübten Mord ein Bekennerschreiben dabei, welches ihre Absichten offenbarte."

Wir sind die Richter und Henker über die Schuldigen,

Wir werden sie verurteilen,

Sie ihrer gerechten Strafe zufügen und so Gerechtigkeit walten lassen,

Bis der letzte Schandfleck dieses Staates ausgelöscht ist!

Jenen, die untätig sind, wird das gleiche Schicksal erfahren,

Jenen, welche jedoch unsere Hilfe verlangen, werden wir beistehen!

- GRYPHON

„Somit gehen wir davon aus, dass die Greifen aus ihrer Sicht die Gerechtigkeit wiederherstellen wollen. Aber ja, der Begriff ist dehnbar. Am besten du liest die vorläufigen Informationen des Falls von heute Morgen. Louis und ich werden uns in ungefähr einer Stunde zum Haus des Opfers aufmachen. Du kannst gerne mitkommen." Patrizia machte einen gefassten Eindruck und bestätigte sein Vorhaben. „Ja, dann lese ich mich mal in die Akten rein und später komme ich gerne mit."- „Einverstanden, dann ist Abfahrt in einer Stunde und bereite dich auf die Situation vor, denn die Familie über die Geschehnisse von gestriger Nacht aufzuklären, wird eine emotionale Achterbahn." Bei diesem Satz musste Pete abermals an seine verstorbene Familie denken.

INTERMEZZO ODER WAS SONST NOCH IN DER WELT GESCHIEHT I

Das Schwitzen wurde langsam unerträglich. Wahrscheinlich hatte das warme Wetter an diesem sonnigen Nachmittag auch seinen Effekt dazu beitragen, aber seitdem er mit dieser Opioid-Therapie gestartet hatte, begann er zu schwitzen wie ein Schwein. Das schwarze T-Shirt mit Metallicaaufdruck bekam bereits wieder Schweißflecken und klebte an seiner feuchtwarmen Haut. „Mist nicht schon wieder!" Als er daran roch, rümpfte er die Nasse. Dabei war er nur zum Arzt gegangen, um gegen seine verdammten Rückenschmerzen eine Arbeitsunfähigkeit zu bekommen. Aber Nein, der liebe Herr Doktor dachte sich, dass eine Opiatmedikation mehr bringen würde. Und wo war er nun, schweißnass in einem alten Citroën auf seine Kollegen am Warten und mit höchster Wahrscheinlichkeit noch eine Medikamentenabhängigkeit am Entwickeln. Wenn George sich so im Rückspiegel betrachtete, bemerkte er, wie eingefallen seine Augen waren und die kränklichen Ringe um jene Augen rundeten das Erscheinungsbild weiter ab. Er sah krank aus. Wenn heute Abend alles rund abläuft, versuchte er eine Weile ohne die Pillen auszukommen. Selbst das Zigarettenrauchen konnte er sich abgewöhnen, da wird es mit diesen Tabletten nicht allzu schwieriger ausfallen. Ein paar feuchte braune Haarsträhnen klebten an seiner Stirn. Entnervt griff er sich die Haare und strich sie zu Recht nach hinten. George war sich nicht an lange Haare gewöhnt, er ließ sie auch nur wachsen, damit er nach dem Auftrag eine Glatze rasieren kann und besser in der Masse untertauchen konnte.

Grundsätzlich war er zufrieden mit seiner Position. Er, der leicht mollige George, sollte nur das Fluchtfahrzeug fahren und den Fluchtweg mit einer Reserveroute auswendig lernen. Arbeiten, welche wie eine Faust aufs Auge für ihn passte, denn er war tagsüber als selbstständiger Taxifahrer tätig und somit kannte er sich in seiner Stadt wie in seiner Westentasche aus. Er hoffe einfach, dass seine Kollegen ihren Anteil nicht verbockten. Der Plan an sich war überzeugend und wies nur geringe Schwachstellen auf. Immerhin war er von seinem Cousin Mark entwickelt worden und ihm vertraute er blindlings. Jedoch hat man bei solchen Machenschaften immer gewisse Bedenken.

An welchem Schritt sie wohl gerade waren? Der Ablauf des Auftrages sah vor, dass Mark mit seinem Kollegen, welcher sich nur das Raubein nannte (wobei George diesen Namen einfach nur beschissen lächerlich fand), den Bankdirektor von zu Hause aus entführten und gefangen nahmen. Da er als einziger den Schlüssel zu den Schließfächern respektive zum Tresor hatte, verschafften sich Mark und sein Kollege Zugang und knacken die einzelnen Fächer dann gewaltsam auf. Der wichtigste Punkt und zudem auch der riskanteste war, dass sich Mark und das Raubein als normale Schließfachbesitzer verkleiden und so mit dem entführten Direktor, ohne Verdacht zu hegen, zum Tresor gelangen sollten. Nach getaner Arbeit würden sie ihn K. O. schlagen und ihn in der Stahlkammer einsperren. Mal schauen, ob es funktioniert! Im schlimmsten Fall fährt er früher oder später ohne sie los.

Zum Glück musste er sich solche Aufträge nicht ausdenken und organisieren. Er war eher der Typ zum Ausführen der Befehle und nicht jener, der sie erteilte.

Vor acht Minuten hatten sie nun die Bank betreten, wie lange wollten sie sich wohl noch Zeit lassen. Langsam bekam er Hunger. Ein Sandwich mit Parmaschinken und schmallgeschnittenen Birnenschnitze, für ein solches würde er jetzt gerade ein Mord begehen. Dies war einer der schlechten Angewohnheiten von George, bei Nervosität verlangten der Magen und das Gehirn nach Nahrung. Noch zehn Minuten gebe ich ihnen Zeit, sonst fährt er ohne sie los! Obschon er seinen Cousin respektierte, war ihm sein Leben in Freiheit wichtiger. Sicherlich, seine Freiheit sah aus, dass er sich jeden Abend ein Mikrowellenmenü warm machte und dazu im Fernseher rumzappte. Aber er war zufrieden mit einem solchen Programm, wenn auch ein wenig unerfüllt.

Tief im Inneren war ihm bewusst, dass er sich von Mark nicht überzeugen hätte sollen, an diesem Coup teilzunehmen. Ganz gewiss, das Vertrauen war in Marmor gemeißelt und das Geld konnte er gut gebrauchen. Aber war er wirklich bereit, in den Knast zu gehen, falls etwas schiefläuft?

Fünf Minuten waren vergangen und von seinen Kollegen fehlte immer noch jegliche Spur. Obwohl, solange sie nicht aufgeflogen sind, läuft ja alles am Schnürchen. Was er wohl mit dem Geld machen werde? Mit der Asche an sich kann er sich kein Glück kaufen … obgleich, er sich eine Steigerung seiner Lebensumstände erhofft. Er will sich eine größere und saubere Wohnung leisten sowie sich endlich an einer Partnerbörse anmelden. Seine letzte intime Partnerschaft lag bereits einige Jahre zurück. Und wer weiß, vielleicht ist seine Traumfrau sehnsüchtig im Web auf ihn am Warten. George größter Traum, obwohl man es ihm nicht auf den ersten Blick ansah, wäre es ein Vater zu sein. Die Erinnerungen an seine Kindheit erfüllten ihn mit einer Wärme um sein Herz von der er am liebsten ständig träumen würde. Ein rein nostalgischer Wohlfühlfaktor. Wie er mit seinem Vater im Garten herumtollte und Fußball spielte und Mutter eine herzhafte Mahlzeit in der Küche herbeizauberte. Nachts, wenn er dann ganz erschöpft war, bekam er von seinen Eltern eine herzerwärmende, selbstausgedachte Geschichte zu hören, welche seine kindlichen Fantasien mit allen Sinnen anregten. Die Kindheit war seine glücklichste Zeit auf diesem irdischen Leben. Er wünschte, dass er solche Momente und Erinnerungen auch mit seinen zukünftigen Kindern teilen kann. Am liebsten hätte er ein Mädchen und einen Jungen. Und zwar die klassischen Stereotypen, wie man sich ein Girlie und ein Knabe vorstellt.

* * *

Jäh wurden die Autotüren aufgerissen und George aus seinen Alltagsträumen. „Komm fahr Cousin, wir dürfen keine Zeit verlieren!" Ohne zu zögern, drückte er das Gaspedal durch. Der gemietete Automat war in Windeseile auf 50 km/h beschleunigt und wurde gekonnt durch die Straßen gehetzt. „Und wie sieht die Beute aus?", wollte George mit leicht nervösem Unterton wissen. „Nicht schlecht, was man teils in all den Schließfächern findet … katastrophal! Von alten Briefmarken über Schmuck und Geld. Wir haben uns jetzt auf die materiellen Sachen beschränkt … vor allem viel Gold ist dabei. Springt für jeden mehrere tausend Franken heraus, das kann ich dir garantieren!" Mark und das Raubein lachten süffisant auf der Hinterbank. „Und mit dem Bankdirektor ist mit dem alles in Ordnung?", erkundigte sich George bei Mark. „Ja, der wurde ins Land der Träume geschickt, Raubein versetzte ihm einen gekonnten Karateschlag in den Nacken. Der hält nun ein Nickerchen.". Dann ist es ja gut, dachte sich George. Jetzt nur noch raus aus der Stadt und zum Rastplatz fahren, wo sie ihr weiteres Fluchtfahrzeug deponiert hatten. Es lief alles wie am Plan, keine Verfolgung durch die Polizei, keine Verletzten und anscheinend war die Raubbeute etwas wert.

Jedoch geschah in den nächsten Sekunden etwas, was niemand vorhersehen konnte. Und dieses Szenario sollte jedem Beteiligten in Gedächtnis bleiben. Kurz vor einer Kreuzung in einem Wohnviertel, wo es tagsüber sonst ruhig ist, lief ein kleiner Knabe auf die Straße. Mit seinen tapsigen Schritten verfolgte er einen blauen Ball mit weißen Punkten. George konnte nicht mehr reagieren. Obwohl er mit der gesetzlichen Höchstgeschwindigkeit fuhr und zu bremsen versuchte, erwischte er den Knirps mit der Front seines Autos direkt am Kopf. Als nächstes hörte George nur kurz ein Poltern … er blickte in den Rückspiegel und sah, wie ein Vater auf die Straße rannte und das Kind in seine Arme schloss. Ein Schrei war zu vernehmen. Alles, was nachher ablief, erinnerte sich George nur sehr vage. Seine Kollegen sagten energisch, er solle sofort weiterfahren, das Kind habe ja eine Versorgung und sogleich drückte er wie eine Maschine wieder das Gaspedal durch. Wie in Trance lenkte er den Wagen zum Zielort, dort wechselten sie das Vehikel und fuhren weiter. Niemand sprach mehr ein Wort. Als sie in seiner Wohnung ankamen, teilten sie ihre Beute gerecht untereinander auf und gingen getrennte Wege. Alles lief im Film ab. George fühlte sich wie eine Marionette, er hatte keine Kontrolle mehr über sein Leben.

Das Einzige, was ihn seinem Gedächtnis hängen blieb, waren die Worte von Mark, als er gerade auf der Türschwelle nach draußen stand: „Mach dir keinen Kopf, das kann jedem passieren. Der Vater hätte besser auf sein Kind aufpassen müssen." Mit diesen Worten schloss er die Tür hinter sich und verschwand ins Dunkle hinaus …

An diesem Abend soff er sich in den Schlaf. Am nächsten Morgen vernahm er vom Tod des kleinen Jungen. Es wird nach Fahrerflucht gefahndet und nach Zeugen gesucht. Seine Gewissensbisse wurden immer größer. Warum er? Warum er? Er löschte mit einer einzigen Tat das Leben eines kleinen Jungen aus. Warum geschieht ihm eine solche Strafe? Warum er? Er versuchte seine Schmerzen mit seinen Medikamenten zu betäuben. Doch es nützte nichts. Die seelischen Schmerzen wurden immer wie extremer, doch er sah auf einmal ein klares Bild vor seinen Augen. Er wusste, was nun seine Bestimmung war. Der einzige Ausweg war das Seil in der kleinen Vorratskammer … der letzte Gedanke, welcher George hatte, war, ob das Heizungsrohr an der Decke halten würde. Er knüpfte eine Schlinge und befestigte sie. Er legte das Seil um seinen Hals und hing hinein. Seine Füße berührten noch den Boden, das war aber egal. Er ließ sich fallen. Sein Eigengewicht schnürte die Kehle zu. George wurde bewusstlos und wachte nie mehr auf.

V

Unruhe war kein schlechter Begriff, um ihr Inneres am besten zu beschreiben. Obschon sich Patrizia Gedanken über das erste Zusammentreffen mit ihrem neuen Vorgesetzten und dem Team gemacht hatte, war die Situation dennoch immer eine andere. Aus ihrer Sicht war das Gespräch gut verlaufen, obwohl sie den Leutnant und seine rechte Hand nicht so richtig einordnen konnte. Der erste Eindruck war durchwegs sympathisch, aber nach einiger Zeit kam ihr Louis wie ein Lackaffe vor, der wohl alles für seinen Chef machen würde. Loyalität ist nicht schlecht, aber eine gewisse Hinterfragung von Dingen und Skepsis ist ihrer Meinung nach immer angebracht. Und was sie von Kolaski halten sollte, war sie sich nicht klar bewusst. Zwiespältig wäre der exakte Begriff. Hinter all dieser sympathischen Fassade erblickte sie eine tiefe Traurigkeit, gepaart mit einer Gleichgültigkeit.

Patrizia musste sich am Haltegriff im Auto festklammern, damit sie nicht hin und her geschleudert wurde. Ein entschuldigender Blick von Pete traf ihr Gesichtsfeld. Der Leutnant war mit ihr und Louis auf dem Weg zur Familie des Opfers. Es war ein höllischer Verkehr und die Autoschlange bewegte sich nur schleppend vorwärts. Und dann gab es noch so Idioten, welche ständig die Spur wechselten. Meistens hatte man sie aber einige Hundert Meter später wieder eingeholt. „Dieser scheiß Mittagsverkehr!", fluchte Pete leise vor sich hin. Hinten auf der Rückbank machte sich Louis breit und studierte die Akten. „Warst du bereits mal an einer Befragung oder auch Vernehmung von Angehörigen eines Todesopfers dabei?", fragte und blickte der Leutnant sie nüchtern an. „Nein, heute ist es das erste Mal." Er bemerkte wohl ihre Anspannung. „Du musst nicht nervös sein. Louis und ich übernehmen das Reden. Am Anfang ist es am besten, wenn man einfach nur zuhört und lernt. Und dieser Fall ist so oder so eine heikle Angelegenheit. Nahe an einer Staatsangelegenheit. Wichtig ist einfach, dass du ruhig bleibst und nicht allzu stark mitschwingst. Ich weiß, es kann manchmal schwierig sein, bei solchen Umständen eine gewisse Distanz zu wahren. Deine Psyche wird es dir aber später danken. Der Druck der emotionalen Last ist nicht zu unterschätzen." Sie konnte nicht deuten, ob hier Pete über seine Erfahrungen berichtete oder nur Weisheiten vor sich hinsprach. „Eine gesunde, emphatische Distanz ist der Schlüssel zum Erfolg."

Sie waren endlich an ihrem Ziel angelangt. Die Wohnung der Familie Müller lag in der Peripherie der Großstadt und war ein Musterbeispiel des Stadtbildes. Charakterlose Wohnblöcke wie aus einem Ei gepellt. Bereits früher mochte sie solche Gegenden nicht. Patrizia war mit ihrer Familie ein bisschen außerhalb aufgewachsen und konnte so eine ruhige und behutsame Kindheit genießen. Weit weg von dieser Stadt. „Also noch mal kurz zur Vorgehensweise: Du stellst dich vor und überlasst uns dann das Reden", hierbei zeigte Pete auf Louis und sich selbst. „Zu den Fakten: Nach den Akten war Alonso Müller mit seiner Frau Rebekka seit 17 Jahren verheiratet und sie haben einen Sohn mit dem Namen Erik. Alonso arbeitete nun seit mehreren Jahren als Versicherungsvertreter." Erwartungsvoll schaute Pete in die Runden und wartete auf ein gemeinsames Kopfnicken von Patrizia und Louis. Sie wusste diese Fakten bereits, denn immerhin hatte sie auf dem Revier noch Zeit, sich ausgiebig mit den Akten auseinanderzusetzen. Sie stiegen gemeinsam aus dem Honda hinaus und machten sich auf den Weg in Richtung Eingang.

Auch aus näherer Betrachtung erzeugte der Wohnblock keinen einladenden Eindruck. Louis betätigte die Klingel der Familie Müller und ein Surren signalisierte, dass man nun eintreten konnte. Im Treppenhaus dominierte die Farbe Grau, wobei man relativieren musste, das Tageslicht nur spärlich vorhanden war. Ausschließlich durch den Eingang konnte die hinter den Wolken hervorleuchtende Sonne ihre Strahlwirkung entfalten. Rebekka und ihr Sohn wohnten im dritten Stockwerk. In einem angenehmen Tempo stiegen sie die Treppe hinauf. Täuschte sich Patrizia, oder war der Leutnant nach diesem minimen sportlichen Akt bereits leicht aus der Puste?

Frau Müller erwartete sie längst an ihrem Türeingang. Sie machte einen unschuldigen und unscheinbaren Eindruck. Eine zierliche Brünette mit einer ähnlichen Körpergröße wie ihrer. Vom Aussehen her würde man wohl tausend vergleichbare Frauen im Land finden, aber dennoch spürte Patrizia eine starke Aura von ihr ausgehend. „Ich habe auf sie gewartet, treten sie ein". Es verwunderte Patrizia, dass sie ihre Ausweise nicht sehen wollte. Argwohn war hier anscheinend ein Fremdwort oder vielleicht waren die Polizeiuniformen für Frau Müller genug. „Wir sind vom Polizeirevier und untersuchen den Mordfall ihres verstorbenen Ehemannes, mein Name ist Kolaski, dies ist mein Kollege Rembrack und die Dritte im Bunde ist Frau Galliardi", zur Begrüßung zeigten wir aus reiner Gewohnheit alle dennoch unsere Ausweise. Rebekka Müller nahm diese zur Kenntnis, aber legte keinen großen Wert auf eine gründlichere Beschauung. Sie sagte, dass wir doch im Wohnzimmer Platz nehmen sollten, es wäre gerade den Flur entlang. Sie gehe noch rasch den Sohn holen, wahrscheinlich wollten sie ja auch mit ihm sprechen. Selbst die Wohnung machte, wie auch die Frau, einen unscheinbaren Eindruck. Eine Behausung wie jede andere. Gründlich geputzt und ordentlich aufgeräumt. Ihrer Auffassungsgabe nach zwei Zimmer auf der rechten Seite des Flurs und links die Küche mit Badezimmer. Ähnlich wie das Wohnzimmer machte die Küche einen herausgeputzten Eindruck. Sie nahmen auf der Couch Platz und warteten auf Rebekka und ihren Sohn. Sogleich kam sie mit Erik herein und setzte sich auf den Sessel direkt gegenüber dem Sofa, wobei Erik auf den Boden neben ihr ein Plätzchen fand und in einem Bilderbuch herumblätterte. „Zuerst die Formalitäten: Sie sind Rebekka Müller, Alter 39, Hausfrau und Ehefrau von Alonso Müller. Und das neben ihnen ist Erik Müller, 8 Jahre alt und euer gemeinsamer leiblicher Sohn. Ist dies korrekt?", startete Kolaski nüchtern das Gespräch. Nicht gerade gefühlvoll, wenn man bedenkt, dass sie vor wenigen Stunden ihren Ehemann respektive den Vater verloren haben. „Ja, das ist korrekt." Ganz neutral bestätigte Frau Müller die Frage. „Von unserer Seite aus möchte ich ihnen unser herzliches Beileid entgegenbringen." Ein Nicken ihrerseits war zu vernehmen. „Wir haben auch nicht sonderlich viele Fragen, wir möchten nur ein bisschen die Zusammenhänge verstehen. Ihr Mann wurde heute Morgen tot in der Ble … Altstadt in der Nähe der Kathedrale aufgefunden. Wussten Sie, warum er sich in der Altstadt befand?" Patrizia bemerkte, dass Kolaski kurz ins Stocken geriet, wahrscheinlich wollte er „Blessed Hell" sagen, aber in Anbetracht der Umstände kam es ihm wohl ein bisschen pietätlos vor. „Keine Ahnung, mein Mann war häufig nachts noch einen Trinken mit seinen Arbeitskollegen und kam erst spät nach Hause. Vielleicht haben sie sich ja in der Altstadt einen Drink genehmigt." - „Okay, und war ihr Gatte gestern nach der Arbeit noch zu Hause, oder pflegen er und seine Kollegen direkt in eine Bar zu gehen?" - „Ja, ich koche abends häufig noch etwas Kleines, da er sich mittags nur von Sandwiches ernährt, er geht häufig erst nach dem Abendessen. Gestern ging er wohl so gegen sieben Uhr." - „Und kam es ihnen nicht verdächtig vor, als er nicht heimkam?" - „Ehrlich gesagt nein, ich gehe meistens früh zu Bett und Alonso pflegte erst spät schlafen zu gehen. Um halb zehn bin ich im Bett und er kam erst häufig nach elf zurück." Als der kleine Erik seiner Mutter sein Bilderbuch zeigen wollte und hierfür die Arme ausstreckte, rutschte ihm der rechte Ärmel von seinem blauen Pulli mit einem Abbild von einem comichaften Dinosaurier auf der Brust, genauer gesagt einem Brachiosaurus, nach hinten. Es blitzten zahlreiche kleine kreisförmige Verbrennungen auf seiner rechten Innenseite des Unterarms hervor. Rasch zog er sich den Ärmel nach vorne und bereits war die Sicht wieder verdeckt. Kolaski und Rembrack machten aber nicht den Anschein, dass sie es bemerkt hatten. Sie fokussierten sich weiter auf die Ehefrau. „Frau Müller ist gestern Abend noch etwas Spezielles geschehen, oder hat sich Alonso seltsam benommen?" Verwundert blickte Rebekka Müller in die Runde. Zum ersten Mal im Gespräch war eine leichte Gemütsregung von der Ehefrau zu vernehmen. „Nein nicht das ich wüsste, er war wie immer." Das Erscheinungsbild und Verhalten von Rebekka lösten in Patrizia eine klare Nüchternheit aus. Kein Anflug von Trauer war zu ermitteln. „Hatte ihr Ehemann irgendwelchen Kontakt zur Rebellentruppe Gryphon?" Das Wort Rebellentruppe betonte Pete leicht sarkastisch und abfällig. „Keine Ahnung, außer die paar Infos, welche wir aus den Nachrichten wissen, wussten wir, genauer gesagt, nichts weiter über Gryphon. Und Kontakt hatte er wohl kaum, Alonso war ja ein Versicherungsvertreter." Sie machte eine kurze Pause und stellte eine Gegenfrage. „Warum fragen sie?" Ihre kühle Gelassenheit wurde durch ein kurzes Blitzen ihrer Augen unterbrochen. War da noch mehr dahinter? „Mit höchster Wahrscheinlichkeit steckt hinter dem Mord ihres Mannes Gryphon. Wir haben eindeutige Beweise gefunden, welche mit ihnen in Verbindung gesetzt werden konnten." Kolaski hackte nach: „Sie wissen wirklich nichts über Gryphon oder ähnliches?" Die Frage seitens Pete klang forsch. „Nein nichts, haben sie sonst noch irgendwelche Fragen?" Das komplette Ablocken von Rebekka löste in Patrizia Neugierde aus. Da ergriff der Leutnant wieder das Wort: „Okay von unserer Seite haben wir demnach keine weiteren Fragen mehr, aber hier haben sie meine Karte, falls Ihnen sonst noch etwas in den Sinn kommen sollte", er überreichte ihr die Karte mit seinen Kontaktdaten. „Zusätzlich wäre es gut, wenn sie die Stadt die nächste Zeit nicht verlassen, falls wir noch weitere Umstände erfragen müssen. Ja, dann verabschieden wir uns wieder nochmals unser herzliches Beileid." Frau Müller nickte und begleitete sie zur Haustür. Kolaski und Louis bildeten die Spitze und traten hinaus. Patrizia fragte sich, ob wirklich niemand die Verbrennungen an Eriks Unterarm bemerkt hatte. Ihrer Meinung nach handelte es sich klar um Verbrennungen, die gut und gerne von Zigaretten stammen könnten! Sie konnte nicht anders und stellte beim Hinausgehen Rebekka Müller die Frage: „Raucht in ihrem Haushalt jemand?" Die nüchterne Fassade von der Ehefrau begann leicht zu bröckeln. „Ich nicht, jedoch mein verstorbener Mann hat ab und zu geraucht, aber nicht regelmäßig.“ Ihre Augen musterten Patrizia wie ein aufgescheuchtes Raubtier. Vergrößerte Pupillen beäugten sie und erweckten den Eindruck, als wollten sie Patrizia etwas mitteilen. Doch Kolaski und Rembrack befanden sich bereits auf dem Flur und ihre Intention für weitere Fragen hielt sich in Grenzen. „Komm Patrizia, lass uns gehen. Frau Müller braucht nun Zeit für sich." Patrizia verabschiedete sich noch mal bei Frau Müller und folgte ihren Kollegen. Sie würde ihnen im Auto allerdings definitiv ihre Beobachtungen mitteilen.

Auf der Rückfahrt zum Revier wollte Patrizia endlich Gewissheit. „Pete und Louis, habt ihr die Verbrennungen auf dem Unterarm von Erik nicht auch bemerkt?". Louis schüttelte den Kopf und auch ihr Vorgesetzter hielt sich bedeckt. „Wirklich nicht?", verwundert hakte Patrizia nach. „Also mir wäre nichts aufgefallen. Sicherlich waren es nur irgendwelche rote Flecken", erwiderte Pete. „Aber ich bin mir sicher, dass dies Verbrennungen sein könnten, müssten wir da nicht irgendwie das Jugendamt verständigen oder so?" - „Nicht so voreilig, das waren sicher nur Schrammen vom Spielen. Wahrscheinlich hat er ein Legostück zu fest auf seine Haut gedrückt und dann gab es einen Abdruck. Solche Sachen geschehen nun mal, da muss man nicht gerade das Jugendamt verständigen. Wenn wir bei jedem Verdachtsmoment noch andere Behörden einschalten würden, käme das ganze System zum Kollaps." Patrizia war definitiv nicht zufrieden mit der Antwort. Spielte hier gerade ihr Vorgesetzter eine potenzielle Kindesmisshandlung hinunter? Sie wollte bereits wieder nachhaken, aber sie wusste, dass sie die Meinung ihrer Kollegen nicht ändern konnte. Louis war eh nur auf seinem Smartphone am herumdrücken und der Eindruck der Gleichgültigkeit seitens Pete bestätigte sich für Patrizia.

* * *

Die Rückfahrt ereignete sich komplett ereignislos. Ab und zu war ein Hupen von einem anderen Verkehrsteilnehmer zu hören, aber sonst schwiegen alle Autoinsassen. Zurück im Revier und an ihrem Schreibtisch ließ sie ihren Gedanken noch einmal freien Lauf. Es kann doch nicht sein, dass man solche Sachen einfach nicht melden sollte. Hier lag ganz klar ein Verdacht auf Kindesmisshandlung vor. Ob seitens des verstorbenen Vaters oder der Mutter, es musste aufgeklärt werden. Und auch die Reaktion von Rebekka Müller, als man Gryphon erwähnt hatte. Dieses Augenblitzen wie ein Körper, der in eine Flucht-Abwehr-Reaktion schaltete. Haben dies Louis und Pete nicht gemerkt? Waren sie bereits so lange im Dienst und damit taub für solche Reaktionen? Eine Ratlosigkeit machte sich in Innerem breit, aber sie hielt ihre Kollegen in genau diesem Augenblick für ziemlich inkompetent. Weiterhin warf das Verhalten von Rebekka Fragen auf, denn ihre Nüchternheit ließ Patrizia stutzig zurück. Ganz nüchtern und ohne jegliche Gefühlsregungen gab sie ihnen die Antworten. Keine Träne, einfach nichts. Allgemein machte Rebekka auf sie nicht den Eindruck einer trauernden Witwe. Da war doch mehr dahinter! Solche Hinweise lösten in ihr den Spürhund und rasende Emotionen aus. Bereits auf der Akademie war sie für ihre Neugierde bekannt und sie war sich sicher, wenn sie hier graben würde, käme ein entscheidender Punkt für die Aufklärung des Falles zum Vorschein! Sie musste nochmals mit Frau Müller sprechen und womöglich ihr Geheimnis aufdecken! Jedenfalls hätte sie am nächsten Tag einen Informatikkurs über die Bedienung der polizeiinternen Software, aber diesen konnte sie sich getrost sparen, denn soeben gab es für Patrizia einen Prioritätenwechsel!

TAG DER KATASTROPHE (VOR 10 JAHREN) – VICTORIA

Die Motivation, mit meinen Eltern für den Geburtstag meiner Mutter einkaufen zu gehen, war relativ gering. Ich hätte so viel Besseres an diesem sonnigen, milden Frühsommervormittag erleben können und zudem war es Samstag! Meine beste Freundin Melissa verabredete sich mit den anderen Mitschülern von meiner Klasse um den Tag gechillt am See zu verbringen. Bei diesen Temperaturen wäre bereits ein vorsichtiges Plantschen im Gewässer möglich. Aber nein, ich wurde ausgewählt und „darf" nun bei den Vorbereitungen helfen. Das Einkaufen an sich wäre kein Problem, aber nachher das Herrichten der Sitzflächen und Arrangieren der Dekorationen. Wie ich meine Mutter kenne, werden wir sicher nicht vor sechs Uhr fertig sein. Richtig mühsam! Und heute wäre auch noch mein Schwarm am See gewesen, Jason, eine wahrhafte Sportskanone. Mit seinem verschmitzten Lächeln und seinem halblangen schwarzen Haar für mich der Traumtyp schlechthin. Ich wurde aus meinen Schwärmereien gerissen. „Du Victoria, könntest du mir bitte noch die kleinen Schokokugeln besorgen, die ich so mag?", zaghaft fragte dies meine Mutter. Sie wusste, dass sich meine Begeisterung für diesen Ausflug in Grenzen hielt. „Und bitte mach nicht so ein Gesicht, ich werde nur einmal im Leben 45 Jahre alt." Sie lächelte mich an. „Okay soll ich sonst noch etwas bringen?", entgegnete ich spöttisch. Der leicht genervte Blick meiner Mutter sprach Bände. Mit anderen Worten soll ich mich jetzt auf den Weg machen!

* * *

Diese Supermärkte sahen auch alle gleich aus. Ein Geschäft glich dem anderen bis auf die geringsten Unterschiede. Sie nahmen in der Wirtschaft gerade die Thematik des Monopols durch, und dieser Discounter war das perfekte Beispiel. In fast jeder Stadt, eigentlich in fast jedem größeren Dorf in der Schweiz wurden solche Geschäfte aus dem Boden gestampft. Jeden Monat kam ein neuer hinzu. Mein Telefon meldete sich und schnurrte wie eine Katze, die sanft gestreichelt werden wollte. Ohne überhaupt Zweifel zu hegen, wusste ich, dass die Whatsapp-Nachricht von Melissa war. Die Nachricht bestand aus einem Selfie, in dem sie und ihre Kollegen auf eine kleine Shoppingtour waren, bevor sie in Richtung des Sees gingen. Verdammt, und Jason war auch dabei. Mit dem gleichen Atemzug erreichte ich endlich diese dämlichen Süßigkeiten. Ich hasste diese Kugeln, das Einzige, was mir solche Naschereien bescherten, war eine Fettschicht um den Bauch und Akne im Gesicht. Meine Mutter stopft sich mit dieser Schokolade voll, aber eine Gewichtszunahme ist bei ihr kein Thema. Wenn ich diesen Aspekt von meiner Mutter im hohen Alter geerbt habe, wäre ich ihr allerdings sehr dankbar. Ich schlenderte zurück und versuchte unseren Einkaufswagen zu finden. Unterwegs glotzte mir noch so ein schmieriger Käufer hinterher. Ich hasste es, wenn Männer ihre Augen nicht bei sich behalten können. Klar, ich war jetzt auch nicht die Hässlichste und mein muskulös geformter Körper waren für manche in der Herrenwelt ein wahrlicher Segen. Aber dennoch, solches Verhalten widerte mich an.

Jedenfalls steckte auch sehr viel Arbeit hinter meiner Statur. Jeden zweiten Tag ging ich zum Rudertraining und absolvierte außerdem noch einen Fitnessparcours. Grundsätzlich war ich bereits in meiner Kindheit kräftiger als meine Altersgenossen. Diesen Umstand konnte ich meinem Vater verdanken. Denn abgesehen von seinem intensiven blonden Haar sowie seine lindgrüne Augenfarbe habe ich seine kräftige Statur in die Wiege gelegt bekommen. In Sachen Frisuren unterschied sich unsere Familie vom Rest. Mein Vater trug stets sein langes blondes Haar, welches er häufig zu einem Pferdeschwanz zusammenband und meine Mutter schnitt sich einen kurzhaarigen braunen Bob. Ich kannte niemanden in meinem Umkreis, von dem ein Vater einer Freundin solch lange Haare hatte. Wenig später fand ich den Einkaufswagen und erkannte sogleich das weiche Gesicht meines Vaters. Gemütlich schob er die Karosserie vor sich her, währenddessen meine Mutter hektisch Sachen in das Gefährt lud. Dies war auch einer seiner bemerkenswerten Fähigkeiten. Er war die Ruhe in Person und konnte uns und vor allem meine Mum immer beruhigen. Egal wie schlecht die Situation stand, er blieb positiv und versuchte uns den Tag zu retten. „Naaa Schatz, hast du die Kugeln gefunden?", fragte er mich mit seiner tiefen, sonoren Stimme. „Kein Problem soll ich noch etwas holen gehen?" Dieses Mal fragte ich wirklich ernsthaft. „Nein ist gerade gut, so viel wie unser drittes Familienglieder hier am Hamstern ist." Mum warf meinen Vater einen missbilligenden Blick zu und er erwiderte es mit einem sarkastischen Lächeln. Ich habe ja meine Eltern schon sehr lieb …