Der Blutvogt - Rainer Castor - E-Book

Der Blutvogt E-Book

Rainer Castor

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

Ein düsteres Sittengemälde aus dem mittelalterlichen Berlin.

Der auch in der Heilkunde bewanderte neue Blutvogt Martin hat sich einen guten Ruf als Scharfrichter erworben. Als seine junge Frau von ihm schwanger wird, scheint sein Glück vollkommen. Doch dann ereignen sich seltsame Dinge: Zwei Ratsherren werden tot aufgefunden und in der Hütte einer alten Frau liegen rituell hingeschlachtete Kinder.

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Seitenzahl: 924

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Inhaltsverzeichnis
Zum Buch
Zum Autor
Widmung
PRIMUM: ANTE PESTIS
I.
CÖLLN-BERLIN: 21. Launing, Anno Domini 1349
II.
ERINNERUNGEN: 20. Launing, Anno Domini 1349
Copyright
Zum Buch
Cölln-Berlin, im Jahre 1349. Aus Braunschwei g trifft der neue Blutvo gt Martin Stockmann in Berlin ein. Von seiner Großmutter in der Kräuter- und Heilkunde unterrichtet, verfügt er über ein umfangreiches medizinisches Wissen, das ihn veranlaßt, neben seinen öffentlichen Aufgaben auch viele Kranke und Verletzte unter seine Obhut zu nehmen. Als seine junge Frau schwanger von ihm ist, scheint er in seinem Leben alles erreicht zu haben. Dann aber treiben ihn Leid und ein schrecklicher Verlust immer öfter in den Alraunenrausch, und bald glaubt er sich auf einer mystischen Suche, die ihn weit von seinem Stand wegführt.
Zum Autor
Rainer Castor, 1961 in Andernach geboren, absolvierte eine Lehre als Baustoffprüfer. Auf dem Umweg über politische Tätigkeiten kam er zum Schreiben. Zunächst waren es vorwiegend Science-Fiction-Romane, insbesondere Perry Rhodan, mit denen er große Erfolge hatte. Der Blutvogt ist sein erster historischer Roman.
Für Fraser Gunn
PRIMUM: ANTE PESTIS
Im Jahre 1348 erhob sich mit Hilfe und Rat einiger Fürsten jemand und sagte, er sei der Markgraf Woldemar von Brandenburg, der vor 29 Jahren gestorben und im Kloster Chorin begraben war, wie viele Leute bekundeten, die dabeigewesen waren. Er aber und diejenigen, die auf seine Seite traten, wie der Herzog Rudolf der Ältere von Sachsen sowie die Grafen von Anhalt und der Erzbischof Otto von Magdeburg, der ihm auf Anweisung der anderen beistand, sagten, er sei heimlich davongegangen und habe einen Toten in sein Bett gelegt, und dieser sei für ihn begraben worden. Hierüber entstand im Volke viel Gerede. Die vorher genannten Fürsten führten ihn in die Mark; viele Städte nahmen ihn auf, die Geistlichkeit ging ihm mit Kreuzen und Fahnen entgegen. Markgraf Ludwig widersetzte sich diesem mit Fürsten und Herren, die ihm halfen, und mit Städten, die bei ihm blieben. Da entstand ein großer Krieg in der Mark. Viele Städte, Burgen und Dörfer wurden verheert und verbrannt, und einige wurden mit Gewalt, andere durch Verrat auf die Seite des Markgrafen Woldemar gebracht. Die Bürger in einzelnen Städten verderbten und verbrannten sich untereinander. Wenn nicht die Städte Frankfurt, Spandau und Brietzen gewesen wären, so wäre Markgraf Ludwig aus der Mark verdrängt worden.
MAGDEBURGER SCHÖPPENCHRONIK
I.
Es bringt niemand Schande, sich in geziemender Weiseseines Rechts zu bedienen. Das natürliche Recht eines jeden,der auf Erden geboren ward, ist es aber, sein Leben,soviel er vermag, zu pflegen, zu erhalten und zu verteidigen.Dies ist auch so anerkannt wahr, daß schon manch einer um deslieben Lebens willen einen anderen ungestraft getötet hat.
DECAMERONE, Erster Tag, Einführung; Giovanni Boccaccio

CÖLLN-BERLIN: 21. Launing, Anno Domini 1349

Kerkerwärter Jann Melchior, ein kleiner, untersetzter Mann mit Stiernacken und grobem Gesicht, öffnete verschlafen die Tür, gähnte und spuckte dicht neben Martin Stockmanns Füße auf den Boden. »Ich hab’s gehört. Ihr seid der neue Blutvogt?«
»Stimmt.« Er wies auf den Kerkerturm; ein schlanker, aber kräftiger Mann Mitte zwanzig, der unter geschwänzter Gugel - die langzipflige Kapuze war am breiten Schulterkragen befestigt - eine kurze Tunika und mit Ledersohlen verstärkte Beinlinge trug. Die Haut des kantigen Gesichts war von der Sonne gegerbt, grüne Augen blickten kühl. »Ich will den Grasdorf sehen.«
»Gemach, Gevatter, der wartet nun schon seit Wochen geduldig; ist außerdem fast fünfunddreißig.« Jann hob die Schultern und griff zur Laterne. Über eine Stiege neben dem Haus erreichten die Männer das erste Obergeschoß des Turms, der ebenerdig keinen Zugang besaß. Folterwerkzeug stand herum, Ketten, Hand- und Fußschellen, eine Streckbank, Pechpfannen und Feuerbecken. Martin rümpfte die Nase und dachte: Welch ein Gegensatz zur Ordnung des Vaters - der alte Scharfrichter der Doppelstadt ist ziemlich schlampig gewesen.
Ihm fielen die Unterschiede zu seiner Heimatstadt Braunschweig immer wieder auf; Schweine, die sich im Dreck suhlten; Hühner und Hunde unterstützten als einzige Gassenreiniger die Kloakensäuberer, die regelmäßig undichte Senkgruben entleerten und den Inhalt vor die Stadtmauer karrten, wo er zum Teil verbrannt wurde. Die »Goldgrübler« unterstanden wie Stadtbüttel und Schinderknechte dem Scharfrichter, und Martin Stockmann nahm sich vor, mit den Gesellen ein ernstes Wort zu reden: Seit Meister Stoffel starb, scheint keine Kloake geleert worden zu sein.
Durch ein mit Planken abgedecktes Loch in der Raummitte konnten Gefangene zu den Kerkerzellen hinabgelassen werden. Im Hintergrund, halb in die Stadtmauer eingelassen, führte eine schmale Steinwendeltreppe nach oben und unten. Jann winkte und führte Martin ins Gewölbe, dessen Einzelzellen, kaum zwei Schritte im Quadrat, von keinem Lichtstrahl erhellt wurden; Fackeln oder Ölfunzeln waren zu teuer fürs Gesindel.
»Jede Sau, die im Morast wühlt, riecht besser - sagt Christian Nageler, der Büttelsprecher.« Gefangene auf verfaultem Stroh, an Fieber, eiternden Wunden und Krätze leidend, meist angekettet, lagen im eigenen Unrat, kniffen geblendet die Augen zusammen, weil der Wärter hineinleuchtete. Er hustete und sagte dann: »Das Gesindel fault vor sich hin - und mich steckt’s mit ungesundem Atem an. Vorm Jahr ging der alte Türschließer jämmerlich zugrunde. Noch leb ich, bin got dem herrn danckbar. Neben Grasdorf, der Geld und Kirchenschmuck gestohlen und dabei den Pfaffen erschlagen hat, haben wir drei Strauchvögel bei Wasser und Brot und zwei Ratmannen in Ketten, die beim Aufstand um den ›falschen Woldemar‹ anderen hohen Herren die Zähne ausbrachen und lasterhaft sprachen; nehmen’s gottergeben und reuig. Der eine ein Neffe von Münzmeister Brügge. Der andere Rädelsführer Heinrich Kremer. Macht’s wohl nicht mehr lange. Er wurde wegen Mordversuchs zu lebenslänglicher Haft verurteilt: ad perpetuos carceres. Bruder Paul flucht deshalb, konnte eine Hinrichtung aber verhindern. Jetzt verhandelt er und bietet viel Geld als Genugtuung, doch Vogt Surber zögert; ein treuer Gefolgsmann Woldemars. Er will Heinrich mindestens ein Jahr schmachten sehen. Dessen Sohn Markus kommt fast jeden Tag - wenn er’s mal nicht mit den Weibern hat. Es heißt, er stellt der Scharfrichterwitwe nach!«
»Ich hab’s von der Badstub-Mechthild gehört. Er soll mir nicht in die Quere kommen - Patriziersohn hin oder her!« Martin nahm eine Fackel aus der Wandhalterung, entzündete sie an Melchiors Laterne und leuchtete in die feuchten Gelasse. »Je mehr ich über diesen Markus erfahre, desto widerlicher find ich ihn.«
»Recht gesprochen, Blutvogt. Er ist ein häßlicher Kerl, feige und verschlagen. Jeder in der Stadt weiß es. Amalie ist jung und schön. Vielleicht hofft der Bursche, über sie dem Vater helfen zu können? Ich trau ihm jede Schandtat zu. Wenn sein Vater stirbt, bevor …« Er brach ab und sah Martin ernst an, doch den beeindruckte die unausgesprochene Drohung wenig. Heinrich Kremer war rechtmäßig verurteilt und kein Ratmann mehr. Trotzdem spürte Martin Unbehagen: Die Kremerschen können mir das Leben schwer machen. Jesus und Maria, kaum angekommen, zieht’s mich vielleicht in die persönlichen Fehden der Patrizier hinein.
Die Hände der Eingeschlossenen zitterten, die Blicke waren fiebrig. Martin kannte die Zeichen, wußte, daß Gifte im Blut zirkulierten; Hitze und Kälte wechselten einander ab, Lähmung griff nach Gliedern, der Schädel schmerzte, weiß belegte sich die Zunge, Ekel drückte den Magen und aufs Gedärm. Heinrich Kremer war abgemagert, der Kopf glich einem Totenschädel, so daß die abstehenden Ohren noch größer wirkten. Er streckte flehend die Hände aus.
»Warten wir ab, ob’s zum Loskauf kommt«, sagte Martin kalt. »Wenn’s Fieber schlimmer wird, bist du sie in wenigen Wochen los. Der Tod wird sie erlösen.«
»Ob hier oder draußen - es bleibt sich gleich.« Wieder hustete der Kerkermann und stützte sich an die Wand, um nach Luft zu schnappen. »Viele hat’s Antoniusfeuer erwischt. Einige behaupten, schon letztes Jahr hätt’s Getreide schwarz ausgesehen, bedeckt mit einer Wachsschicht. Im Erntemonat starben zwei Kinder, die auf dem Feld spielten. Damals hieß es, die Roggenmuhme, eine alte Vettel mit schwarzen broste und schwarzen Haaren, sei’s gewesen. Auch Hexen benutzen die schwarzen Körner. Viel Schmerzgebrüll hallt durch die Stadt, die Kranken wälzen sich in Fallsucht, und ihre Glieder sind schwarz wie’s Brot, das sie gegessen. Es wird erzählt, daß auch der alte Meister Stoffel daran starb.«
Er schloß Johann Grasdorfs Zelle auf, und Martin wich vor dem Gestank zurück. Ratten raschelten umher. Grasdorfs Haare hingen verklebt ins bärtige Gesicht, seine überlangen Fingernägel waren stark gebogen.
»Ich bin der neue Nachrichter«, sagte Martin. »Die Vollstreckung mit dem Schwert ist am Sonnabend. Bete und bereite dich vor, dem Schöpfer gegenüberzutreten. Ich sorg dafür, daß du bis dahin besseres Essen bekommst, auch Bier und Würzwein.«
»Ich werd mich für meine Tat entschuldigen und der Obrigkeit fürs milde Urteil danken. Mein Gott, nicht wie ich will, sondern Dein Wille geschehe.« In Grasdorfs Augen kam Leben. Strafen waren, auch bei kleinen Vergehen, hart und unerbittlich, und weniger der Tod als vielmehr qualvolle Marter und die peinliche Befragung der Folter schreckten. »Schlagt die Rübe nur meisterlich ab und erspart mir eine Mißrichtung.«
»Ich geb mir Mühe, Gevatter. Haltet nur still, und es ist mit einem Wimpernschlag vorbei.« Martin erinnerte sich an Worte seines Vaters, von dem er lernte, wie wichtig es sei, daß die Verurteilten ohne Groll, im,vollen Bewußtsein ihrer Schuld zur Richtstätte geführt wurden: »Gebt starken Trank denen, die sterben sollen.«
»Gehabt Euch wohl, Grasdorf.« Martin winkte Jann Melchior, der die Zelle wieder verschloß. »Richte die Henkersmahlzeit, Jann. Er soll sich laben bis zum Ende.«
»Weizenbrei, Kapaunpasteten mit geröstetem Brot, Aal in dicker Soße, gebratene Salme und Lampreten, Fischsülze, gesottene Kalbsfüße in Essig, Johannessträubel, Mispeln, gebeizte Baumnüsse, heiße Quittenäpfel, Honigkuchen und Krapfen. Dazu eine Kanne Firnwein?« Jann leckte sich die Lippen. »Würd auch mir munden.«
Martin lachte und schlug dem Mann auf die Schulter. »Du wirst es richtig machen; nimm deinen Anteil und red nicht drüber.«
»Schon recht, Blutvogt.«
Ein Raunen ging durch die Menge, als am 25. Launing Johann Grasdorf, frisch eingekleidet und gewaschen, Haar und Bart geschoren, von Christian Nageler zum Geviert der Schöffenbänke geführt wurde, den Schranken des Gerichts, und mit gesenktem Kopf betete.
Der markgräfliche Vogt Bartholomäus Surber, Inhaber des Schultheißenamts, hockte dick auf seinem Stuhl; Schweiß rann über das runde Gesicht, graue Haarsträhnen klebten an der Stirn. Kirchenmeister Arnold Brole, aufs kantige Kinn gestützt, betrachtete Grasdorf aus zusammengekniffenen Augen. Nebenan betastete Paul Kremer, groß und breitschultrig, die Narbe auf der linken Wange. Martin Stockmanns Blick wanderte über die anderen Schöffen: Nicolaus Stulzing nickte ihm freundlich zu, Flurschütz Hillig Kurtzrocks hageres Gesicht zeigte ein kühles Lächeln, Goldschmied Theodor Lubbe betrachtete die Ringe an den Fingern, und Clauß Dreher, Baumeister und Steinherr der Doppelstadt, ein untersetzter Mann, dessen Glatze von grauem Strähnenkranz umgeben war, reinigte mit einem Messer die Fingernägel. Johannes Ryke, wie Stulzing Olderlude, schwergewichtig und groß, fuhr sich über die Glatze und sprach leise mit dem jungen Protokollarius Jakob Kurtzrock, der aufgeregt Pergamentbögen durchsah und offenbar bewußt Abstand zum Vater Hillig wahrte. Martin dachte: Nicht erst seit Woldemar gibt’s bös Blut zwischen Ratmannen, Patriziern und Zunftmeistern. Da gerät man leicht zwischen Mühlsteine.
Ein alter Mönch, begleitet von drei Fratres in grauer Kutte, trat in die Laube, Vogt Surber winkte und zischte: »Erhebt Euch, Ihr Herren Schöffen. Bruder Michael: Sprecht mit uns das Paternoster.«
»Pater noster, qui es in caelis: Sanctificetur nomen tuum: Adveniat regnum tuum: Fiat voluntas tua, sicut in caelo et in terra …« Murmeln klang auf, Martin senkte den Kopf, die Hand am Schwertgriff. »… Panem nostrum quotidianum da nobis hodie: Et dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris. Et ne nos inducas in tentationem. Sed libera nos a malo. Amen.«
»Nachrichter Stockmann« - Vogt Surber sprach mit lauter Stimme -, »geht zur Hinrichtungsstätte und bereitet mit Euren Knechten alles für Grasdorfs sijn leste ende!«
Stille trat ein, für Augenblicke hatte Martin das Gefühl, am Ende eines langen, dunklen Tunnels zu stehen. Wie sein Vater sah Martin im Richten mit dem Schwert mehr ein gottgefälliges Gewerbe denn Schinderarbeit. Er verachtete Scharfrichter, die mehrmals zuschlagen mußten und durch Mißrichtung Qual bereiteten, statt den Tod kurz und schmerzlos zu bringen. Er verstand nur zu gut, daß mancher Henker vom tobenden Volk erschlagen wurde: Nicht Mitleid mit dem Opfer, sondern Wut über stümperhafte Ausführung beim gerechten Urteil - im Namen Gottes gesprochen -, die Störung des blutigen Schauspiels, erboste die Zuschauer.
»Jawohl, Richter Surber.«
Die Gerichtsstätte, mit einem Holzzaun umgeben und gerade so hoch gebaut, daß weiter entfernt Stehende noch gute Sicht hatten, war der Obrigkeit vorbehalten. Nur Fallsüchtige durften kostenlos auf einer langen Bank Platz nehmen, die vor dem roh gezimmerten Blutgerüst aufgestellt war. Bürger steckten aber manchem Stadtknecht Geld zu, um näher heranzukommen: Am Hinrichtungsmorgen, als sich von der Spree herankriechender Dunst hob und den Sonnenstrahlen wich, befand sich nach der Frühmesse viel Volk auf dem Weg zur Richtstätte vorm alten Rathaus an der Spandauer Straße. Die Vollstreckung, für die neunte Stunde anberaumt und von Herolden öffentlich gemacht, übte eine magische Anziehungskraft aus: Menschen belebten größtenteils ungepflasterte Gassen; Stimmen und Lärm hallten im Häusergewirr. Auf den Wegen, schmal und düster, sammelten sich Abfälle und Tierkot. Es war kühl und klamm, Misthaufen dampften, nur zögernd verdrängte Blau das Grau des Himmels. In der Nacht hatte es geregnet, Morast schmauchte unter den Füßen, und manch Eiliger glitt aus, kämpfte ums Gleichgewicht oder rutschte - von Umstehenden belacht - klafterweit auf Bauch oder Hintern, um dann fluchend den Dreck abzuwischen.
Martin betrachtete das Treiben; wenn ihn die Menschen erkannten, wichen sie aus, wurden scheue und ängstliche Blikke gewechselt, die Schritte schneller. Henker, ihre Familien und Gesellen - Büttel, Schinder, Kloakenreiniger und Hundeschläger - wurden gebraucht, aber man wollte mit ihnen nichts zu tun haben, obwohl Scharfrichtern heilmagische Kräfte nachgesagt wurden - der Anblick des Richtschwerts brachte Schaudern und für viele Grauen und Schrecken. Es gab eine Insel, von unsichtbarer Glocke überwölbt, die alles und jeden abhielt. Nur außerhalb des Bannkreises war ausgelassene Stimmung; ein rechter Festtag, Ablenkung vom alltäglichen Trott, zu vergleichen mit Jahrmarkt oder Kirchweih. Auf den Gassen, von Leibern verstopft, wurden Männer und Frauen fast von Nachdrängenden zertrampelt - die Spannung, greifbar wie ein straffes Tau kurz vor dem Reißen, erreichte einen Zustand nahe Irrsinn und Verzückung.
»Das Walten des Henkers zur Volksabschreckung - es heißt auch Volksbelustigung«, flüsterte Martin und versuchte, weil die Finger zitterten, Ruhe in den tobenden Gedankenstrom zu bringen, der seinen Kopf durchzog. Bilder, in Erwartung des Kommenden blutgetränkt, flirrten vor seinen Augen, das Herz pochte fast schmerzhaft. Johann Grasdorf würde nicht der erste sein, den er tötete, aber es war die erste Enthauptung, und sie entschied, ob er als Scharfrichter angenommen wurde oder nicht. Wehrte sich der Verurteilte und verhinderte so einen guten Hieb? Ließ er sich vorher die Augen verbinden - velatis prius oculis -, was jeden Bösen Blick bannte? War er gefaßt, oder jammerte und fluchte er? Auch das Einräuchern mit Theriak und Bilsenkraut vertrieb die Fragen nicht, die Martin seit Tagen quälten. »Obrigkeit und Geistlichkeit glauben an die Abschreckung durch Hinrichtungen.« Er glaubte die Stimme seines Vaters zu hören. »Sie sind geistige Nahrung fürs Volk, Schaustellung mit Moral - vollzogen im Namen des Allmächtigen.«
Er zog das Schwert, der Daumen glitt die kurze Blutrinne entlang, prüfte dann die Schärfe der Schneiden. Martin trug die eingeölte Waffe in dunkelbrauner Lederscheide mit Eisenverschluß; blankgezogen war sie gleich als Richtschwert zu erkennen, weil das vordere Ende fast gerade verlief. Für Scharfrichter, aus Angst meist nicht beim Namen genannt, gab es viele Umschreibungen: Meister Hans, Folterer, Angstmann, Dolcher, Knüpfauf, Feldmeister, Fetzer, Kurzab, Filler oder - Blutvogt.
Martin Stockmann war ein freier Mann; Vater und Großvater hatten ihn viel gelehrt, und bei den Mönchen war er sogar einige Jahre zur Schule gegangen - meist damit beschäftigt, Laufburschendienste zu verrichten, überall mitanzupacken und den Stockhieben der grimmigen Kuttenträger auszuweichen. Von Braunschweig kommend, wo Martins Vater als Scharfrichter und Abdecker arbeitete, hatte er die Entfernung in nur sieben Tagesreisen ohne große Zwischenfälle zurückgelegt: Der Berliner Scharfrichter, im Hornung zweiundfünfzig Jahre alt geworden, hatte zwar Heiratsvorbereitungen getroffen, weil vor Jahresfrist seine zweite Frau verstorben war, aber nach einem Nachfolger Ausschau gehalten. Die alte Bekanntschaft zu Martins Vater und Großvater brachte den Stein ins Rollen; Martin sollte nach Berlin gehen, von Meister Stoffel angelernt werden und später Büttelei und Abdeckerei übernehmen. Die Witwe Amalie, ihm vorab als Braut nach des Scharfrichters seligem Fortgang versprochen, war ein Küken. Aber der Greis erstickte am blutigen Auswurf nach hitzigem Fieber, ehe Martin seine Reise antreten konnte, die sich, weil es Ende des Lenzing einen Wintereinbruch mit starken Schneefällen gab, weiter verzögerte und er erst am Montag nach Ostern aufbrach. Deshalb mußte er die erste Hinrichtung als Halbmeister durchführen.
Punkt neun läutete die Armsünderglocke, und Johann Grasdorf wurde unter Bewachung grimmig blickender Stadtknechte, begleitet von den Franziskanermönchen, die ihm das Kreuz vorhielten, zur Richtstätte geführt. In Prozession - fast widerwillig gab die Menge eine Gasse frei - folgten Büttel, Schöffen und Vogt. Grasdorf wirkte gefaßt. Zur Sicherheit hatte Martin ihm einen Becher Johanniswein, versetzt mit Bilsenkraut, Alraune und Tollkirsche, zu trinken gegeben. Volk drängte gegen die Absperrung. An schwarzem Tisch nahm das hochnotpeinliche Halsgericht Platz: Goldschmiede-Zunftmeister Lubbe, klein und fett, kratzte das aschfarbige Haar im Nacken, Dreher sprach mit Brole, während der Cöllner Ratsmeister Ryke an den buschigen Augenbrauen zupfte. Jakob Kurtzrock hob den Pergamentbogen.
»Der Grasdorf Johann, vierunddreißig, vergriff sich an Kirchenschmuck und Geld; er erschlug den Pfaffen, der den Täter in flagranti erwischte und …«
Martins Blick wanderte über die Patrizier, die vorm Blutgerüst standen. Hinter Sekretarius Paul Reitzenstein standen dessen Frau und Kinder, die er, wie Martin in den letzten Tagen oft hörte, innig liebte. Der dürre Ratsherr Albrecht Gröben, Zunftmeister der Bäckergilde, trug den kleinen Sohn auf der Schulter; er glich einer Stange, seine Augen lagen tief in den Höhlen, und das Kind zerrte am ausgebleichten Haar. Der Zunftmeister der Waffenschmiede, Ratmann Karl Alvensleben, überragte mit seinem sechs Fuß großen, sehr kräftigen Leib die meisten Leute; an ihn geschmiegt stand seine Frau - von den Hübschlerinnen wußte Martin, daß sie als »Heimliche« ihrem Mann Hörner aufsetzte, vor allem mit Mühlenmeister Vockenrode. Beim großen und schlanken Ratsmeister Tile Wardenberg entdeckte Martin Propst Orthwyn und Burchard von Arenholz, den Ordenskomtur der Tempelhofer Johanniter.
Der Protokollarius verlas unterdessen das Urteil und bestätigte die Urteilsverkündung: »… so wollt Ihr denn obgedachte Person in Gemäßheit gefällten Urteils mit dem Schwerte richten lassen und hernach verordnen, daß der Kopf, andern zur Abscheu und wegen der schrecklichen Mordtat, auf eine Stange gesteckt werde …«
Bruder Michael mahnte den Verurteilten zur Demut: »Sei tapfer, Sohn, bald trittst du ein in bessere Welt und stehst vor dem Weltschöpfer, deinem Herrn. Domine, exaudi orationem meam. Oremus. Exaudi nos, Domine, sancte Pater, omnipotens Deus …«
In feierlicher Geste zerbrach der Gerichtsschreiber einen Weidenstab über Grasdorfs Kopf zum Zeichen, daß der Nachrichter nun seines Amtes zu walten habe; das Gericht stand auf und beendete, indem es Tisch und Schemel umwarf, die richterliche Zeremonie. Büttel Dietrich Stüber packte Grasdorfs Oberarm, führte ihn rund um die Bühne, und der Verurteilte rief, für jeden deutlich vernehmbar:
»Ich hab bösen Lebenswandel geführt! Meine Missetat, die ich zutiefst bereue, war die Folge. Hütet euch vor Nachahmung! Ich bitte jeden, dem ich Leid zugefügt hab, um Vergebung. Und nochmals bedank ich mich für die mir zuteil gewordene Strafe.«
Gemurmel klang auf, irgendwo schrie jemand: »Blutvogt: Hau ab! Hau ab!«
»Tut mir den Gefallen und verbindet mir nicht die Augen!« Grasdorf richtete, als er auf dem Blutgerüst kniete, den Oberkörper auf. Martin unterdrückte die Angst vor Bösem Blick und einem Fehlhieb und nickte. »Sei robust und sicher«, hatte ihm sein Vater vor der Abreise aus Braunschweig geraten. »Verabscheu unnötige Grausamkeit, leb gemäß dem Eid, und du bist ein geachteter Mann.«
»So sei es, Johann Grasdorf.« Martin zog am Hemd und entblößte den Nacken des Verurteilten. »Bleibt beherzt!«
»Tut, was Euch befohlen ist, Blutvogt.«
Einen Schritt von Grasdorf entfernt stellte Martin sich breitbeinig auf, zog das Schwert aus der Scheide, und es wurde still - nur Hühner und Raben waren noch zu hören. Mehr als zwei Ellen war die zweischneidige Klinge lang und vier Finger breit. Dicht unter der Parierstange eingraviert waren die Worte: Soli Deo Gloria. Martin blickte noch einmal auf den Nacken, wissend, daß er, um meisterhaft beim freihändigen Hieb zu treffen, genau zwischen zwei Halswirbeln hindurchschlagen mußte. Er atmete tief ein, holte weit aus, fühlte das Gewicht des Richtschwerts, und unter dem Gebetsmurmeln des Mönchs schlug er Grasdorfs Kopf vom Rumpf.
Ohrenbetäubendes Gejohle und Geschrei brandete über den Blutvogt hinweg, rot spritzte es aus der Wunde, während der Körper langsam, nach einem reglosen Augenblick, aufs Blutgerüst sank. Martin sah wassergefüllte und an Hanfstricken aufgehängte Schweinsblasen platzen: Die letzten Tage hatte er sich vorbereitet und auf dem Schindanger geübt, verendete Schafe geköpft und die Blasen zerhackt. Schon in Braunschweig, als er dem Vater bei dessen Hinrichtungen zusah, spürte Martin deutlich, daß eigentlich nur das Schwert - meisterhaft geführt - Verurteilte wie Scharfrichter befriedigte. Nicht umsonst waren gemeine Verbrecher dankbar, wenn ihnen keine schwerere Strafe auferlegt wurde; auch Martin ließen die anderen Todesarten, das Quälen bei peinlicher Befragung, Rädern, Hängen, Vierteilen, Verbrennen, immer wieder frösteln.
Der abgetrennte Kopf rollte bis an den Rand des Blutgerüsts, eine Blutlache entstand unter dem Halsstumpf. Das Gesicht wirkte wächsern, die Lider waren geschlossen. Martins Blick glitt die Schwertklinge entlang - Tropfen erschienen übergroß, fern war das Grölen und Kreischen der Menge. Schwindel erfaßte ihn, alles in ihm war starr. Er schloß die Augen, seine Hand umkrampfte den Schwertgriff; die Lungen schmerzten, und erst der tiefe, kühle Atemzug machte dem Mann klar, daß er die Luft angehalten hatte. Nur zögernd beruhigten sich die Bilder, schärfte sich wieder der Blick. Lärm schlug über Martin zusammen; er duckte sich und zog die Schultern hoch. Er fühlte sich müde und kraftlos, langsam drehte er sich und wandte sich an Richter Surber: »Hab ich gut gerichtet, Vogt?«
»Ihr habt dem Gesetz und göttlichem Willen durch meisterhafte Leistung Genüge getan! Martin Stockmann: Ihr seid Scharfrichter der Doppelstadt Cölln-Berlin!« Er winkte Jakob Kurtzrock, der seine Tintenhörner, Federn, Radiermesser und Pergamentblätter sortierte. »Beurkunde des Blutvogts Dienste, mach alles fertig zur Unterzeichnung und Siegelung. Meister Stoffel hat einen würdigen Nachfolger gefunden.«
Martin hatte das Gefühl, von Eisklumpen umhüllt zu werden: sämtliche Härchen standen ihm zu Berge. Das Brüllen der Menge, wild, ohrenbetäubend und voller Gewalt, schien in der Erregtheit keine Grenze zu kennen, steigerte sich mit jedem verstreichenden Wimpernschlag. Epileptiker, die Gesichter zu Fratzen verzogen, sprangen von der Bank, klapperten vorm Schafott mit Bechern und Schalen und versuchten, dampfendes Blut aufzufangen. Ein Mann trank gierig und rannte kreischend davon. Leiber drängten sich vor, jeder wollte einen Blick aus der Nähe auf den Toten werfen; herausgeputzte Bürgersfrauen wedelten mit bestickten Tüchlein, fingen damit von der Gerichtsstätte tropfendes Blut auf oder baten Büttel, sie in die rote Lache zu tunken, um sich am Geruch zu berauschen.
Martin säuberte das Richtschwert, ehe er es, nach langem und nachdenklichem Blick auf Klinge, Parierstange und Knauf, in die Scheide steckte. Unterdessen spießte der Büttelgehilfe Asmus Grasdorfs Kopf auf eine Stange und verkeilte sie, unter dem Klatschen und Jubeln der Zuschauer, neben dem Blutgerüst im ausgehobenen Loch. Während der Korpus in den herbeigeschleppten Sarg gelegt wurde und der Mönch seine Litanei flüsterte, sangen und tanzten die Leute ums Schafott. Krämer priesen lautstark »Armesünderwürste« an, und Schankwirte verkauften fuderweise »Galgenbier«.
Zechen und jede Art der Völlerei; Händel, Mord und Totschlag. Viel Arbeit für die Stadtbüttel, dachte Martin und fröstelte. Mit Verzögerung wurde ihm klar, daß er wirklich einen Mann getötet hatte - ein verurteilter Mörder zwar, das Tun rechtschaffen und in Gottes Namen, aber das Leben war durch Martins Hand beendet worden. Kein Lachen, kein Fluchen, kein Essen und kein Trinken mehr, kein Lieben und kein Gebet: Grasdorfs Kopf war über das Blutgerüst gerollt wie eine Kugel beim Kegeln - voller Blut, erschreckend und leblos. Und im Körper werden sich bald die Maden vermehren, durchs faulende Gedärm fressen und das Fleisch auflösen.
In Martins Ohren rauschte das Blut, die Leere im Kopf drohte ihm die Sinne zu rauben. Plötzlich standen dem Mann Bilder vor Augen. Vergangenes gewann Leben, Erinnerungen stiegen auf: fast glaubte er, sie mit Händen greifen und festhalten zu können. Immer lauter wurden die Geräusche, erfaßte Bewegung das Geschehen.
II.
Wir, Hermann, von Gottes Gnaden Markgraf zu Brandenburgund zu Lausitz und Herr von Henneberg, wollen es durchdiesen Brief zu allgemeiner Kenntnis bringen, daß die ehrbarenund vorsichtigen Leute, unsere Bürger zu Berlin und Cölln,unsere Lieben und Getreuen, vor uns übereingekommen sind,daß aus der Stadt Berlin zwei Drittel der Ratmannen jedesJahr erwählt werden sollen und ein Drittel der Ratmannender Stadt Cölln auch jedes Jahrgewählt werden soll …Für die Schöppen aber ist angeordnet worden, daß in beidenStädten sieben Schöppen gewählt werden, nämlich vierfür die Stadt Berlin und drei für Cölln. So oft wir aber denBürgern einen Dienst auferlegen, so sollen sie den vorgenanntenDienst uns und den Unsrigen von dem gemeinsamen Schoßeder Bürgerschaft beider Städte leisten und sollen sich dessennicht weigern. Auch sollen die Bürger von Cölln mit demZins ihrer Stadt ihre Stadt Cölln befestigen und bauen,und ebenso sollen die Bürger von Berlin mit ihrem Stadtzinsihre Stadt Berlin befestigen und bessern. Zum Zeugnis dieserDinge haben wir diesen Brief gegeben, der mit unserem Siegelbekräftigt ist. Dessen sind Zeugen die ehrwürdigen Herren,Herr Johann, Abt zu Lehnin, Busso Grevelhut, unser Truchseß,Albrecht von Lossow, Wiprecht von Barby, unser Marschall,Gerhard und Hermann von Niebede, Heinrich von der Gröben,Otto von Königsmark, unsere Ritter und Knappen, und vieleGlaubwürdige mehr. Zu Zeugnis gegeben zu Spandau durchdie Hand Herrn Slotekins, nach unseres Herrn Geburt 1307Jahre, des Montags nach Palmsonntag.
Urkunde des Markgrafen Hermann dem Langen vom 20. März 1307

ERINNERUNGEN: 20. Launing, Anno Domini 1349

»Mordio! Diebesgesindel!« Schreie hallten durch den Morgennebel, in dem Bäume und Gebüsch zu grauen Schemen verschwammen. Flüche, Krachen, Ochsengebrüll und Hufschlag drangen laut zu Martin Stockmann. Er trieb den Wallach an, und vor ihm riß der Dunst auf.
Ein halbes Dutzend Strolche stürmte aus dem Wald auf den Kaufmannszug ein. Ein Ochsentreiber lag am Boden; die Tiere kreischten und tänzelten im Kreis, zerrten an Leinen. Aus den Augenwinkeln sah Martin Gestalten, die im Handgemenge am Boden rollten und keuchten. Er ritt rücksichtslos zwischen die Mordbuben und Diebe, trat einem Burschen ins Kreuz und riß den Braunen auf der Hinterhand herum. Das Tier bäumte sich auf, Hufe wirbelten durch die Luft und trafen einen anderen Mann an der Schulter; der riß die Arme hoch, und sein Schwert wirbelte davon. Hinter Stämmen und Büschen duckten sich verängstigt Burschen, einer bekreuzigte sich.
Halb unter einer Sänfte liegend, die die Träger fallen gelassen hatten, schrie und fluchte der Händler: »Vertreibt sie, dreht ihnen den Hals um, bringt sie um! Verdient euch euren Lohn, schlafen könnt ihr in Berlin!«
Martin griff ins Haar eines Wegelagerers, der Wallach sprang los - und der Bursche brüllte, als er klafterweit mitgezerrt wurde, ehe der Reiter, ein Haarbüschel in der Hand, kehrtmachte und sich dem nächsten Mordbuben zuwandte, der einen Ochsentreiber fast erschlug. Martins Faust krachte dem Mann gegen die Schläfe; er sprang aus dem Sattel und sah sich rasch um. Mit drei Schritten erreichte er den Baum und zog das Schwert. Eine Gestalt in geschwänzter Gugel drang mit erhobenem Dolch auf den Händler ein. Martin sprang hinüber - die Klinge des Basilards glitt klirrend vom Schwert ab. Die Wagenknechte, vom Eingreifen des Fremden ebenso überrascht wie die Angreifer, hielten inne. Augenblicke, die Martin nutzte, um die Faust unters Kinn des Mannes zu hauen, der sich halb nach hinten überschlug, krümmte und dabei den Dolch verlor. Packpferde rissen sich los und galoppierten ins Unterholz, wo sich Leinen und Last verfingen; die Tiere wieherten, bäumten sich auf. Ein Ochsengespann schrammte an Stämmen entlang.
»Zurück, Leute! Schnell weg!« schrie jemand. »Clemens, komm schon!«
In Windeseile sprangen Gestalten auseinander, rappelten sich vom Boden auf, wankten und rannten. Der Mann, dessen Gugel zurückgerutscht war, kaum fünf Fuß groß, das Haar gelichtet, schüttelte drohend die Faust, knurrte Unverständliches und verschwand mit den anderen im Dunst. Martin lief zu seinem Pferd, zögerte dann aber, sich in den Sattel zu schwingen. Stöhnen und Ächzen kam von den Überfallenen. Der Händler hob die Arme und kreischte aufgebracht: »Hinterher! Verfolgt sie! Schnappt euch das Gesindel!«
Zwei Wagenknechte lagen reglos am Boden, mehrere stützten sich auf Karrenräder. Blut rann aus Mundwinkeln und Nasen, ein Mann hielt sich den Kopf.
Martin rammte das Schwert in den Boden und winkte ab. »Nun ist’s zu spät, Gevatter. Die Burschen hat der Nebel verschluckt. Ihr habt’s überlebt, nichts wurde geraubt.«
»Dank Eurer Hilfe, Mann. Euch hat der Allmächtige gesandt!« Die Stimme des Händlers klang heiser, als er neben Martin stehenblieb und die Hand ausstreckte; er trug Kleidung mit Zaddelung und Silberschellen. Schuhspitzen von mehr als Handspannenlänge bewiesen, daß er auf großem Fuß lebte. »Habt Dank! Ohne Euch … Ich bin Joseph Zirner, Kaufmann der Hansestadt Lübeck.«
»Martin Stockmann.« Sie tauschten einen festen Händedruck. »Ich komme aus Braunschweig.«
Zirner wies auf seine Begleiter. »Mit solchen Kerlen muß man über unsichere Wege ziehen. Was haltet Ihr davon? Kommt mit nach Cölln-Berlin. Ich kann gutes Geleit brauchen; zehn Pfennig für Euch, es soll Euer Schaden nicht sein.«
Er bückte sich, hob den Basilard auf und betrachtete das Heft, das durch Querstücke am Parierbügel und Knaufende die Form eines I erhielt; die Klinge war mehr als handlang. Das Gesicht des Kaufmanus verzog sich, als er die Waffe in der Hand wog. Martin schob die Gugel zurück und kratzte dunkelbraunes Haar hinter dem Ohr.
»Einverstanden, Kaufmann. Mein Ziel ist ohnehin die Doppelstadt. Ist nicht die erste Begegnung mit Gesindel. Zwei Burschen, die mich in der Gegend von Magdeburg überfielen, mußte ich so heftig die Köpfe zusammenschlagen, daß die Knochen splitterten. Öffnet Euren Beutel, ich schau derweil nach den Männern. Einige hat’s bös erwischt.«
Während Martin die Wunden in Augenschein nahm - zwei gebrochene Nasen, ausgeschlagene Zähne, blutende Stirnen, schmerzende Köpfe -, blieb der Händler sprachlos zurück und lachte dann schallend. Er steckte den Dolch hinter den Gürtel, löste den Geldbeutel und schnitt eine Fratze. Martin nahm den Schnappsack vom Sattel seines Pferdes - hinter dem, in eine Decke eingeschlagen, das Richtschwert hing -, wickelte Leinenstreifen um Verletzungen, tupfte Blut ab und trug den Männern auf, Kräuterkrümel zu schlucken, die er ihnen gab.
Unterdessen warf Zirner Münzen in die Höhe und fing sie wieder auf; ein kleiner, drahtiger Mann mit listigen blauen Augen, die den Bewegungen des Fremden folgten. »Eure Fähigkeiten beeindrucken, Gevatter Stockmann: Ihr kämpft wie ein Berserker, und Ihr versteht Euch auch aufs Heilen?«
»Ein wenig. Die Frau Großmutter hat’s mir beigebracht.« Martin klopfte einem Mann auf die Schulter, warf den Beutel über die Schulter und nahm den Pfenniglohn. »Keine Angst, Leute. Harmlose Kräuter, kein Zauberwerk oder Hexerei. Hilft gegen’s Kopfbrummen.«
Einige Männer bekreuzigten sich rasch. Zirner lachte noch lauter, wischte rötlichblondes Haar von schweißbedeckter Stirn und brüllte: »Jetzt habt ihr genug herumgelungert. An die Arbeit! Kümmert euch um die Wagen, die Tiere. Seht alles durch. Wenn nur ein Teil fehlt, soll euch der Teufel holen. Schaut nach den Gewürztruhen! Tumbe Burschen! Muß erst ein Fremder kommen, um zu helfen? Herr im Himmel, wie soll man da gute Geschäfte machen? Ich will die Stadt vor Mittag erreichen, also beeilt euch!«
Die Wagenknechte sprangen durcheinander. Martin hielt die Luft an, weil ein Karren über Spurrillen polterte und bedrohlich wankte; Räder krachten verdächtig, hielten aber, als die Burschen die Ochsen antrieben. Ins Klatschen der Ruten mischte sich das Gebrüll der Tiere, die sich schwer ins Kummet stemmten. Die Wagen rumpelten weiter, aber ein Packpferd brach aus und schleifte den Knecht mehrere Klafter weit, bis er, in die Mähne gekrallt, das Tier bändigen konnte. Ins Wiehern mischten sich Flüche. Raben landeten auf Abdeckplanen und wurden mit Rutenhieben vertrieben; mit heiseren Schreien flatterten sie auf. Joseph Zirner lächelte kaum merklich, winkte Martin, der die Zügel seines Braunen ergriff: »Man muß ihnen tüchtig Feuer unterm Arsch machen, nur dann spuren sie. Kommt, wollen mal sehen, ob die Weinflasche nicht zerbrochen ist. Mann, Stockmann, Ihr kamt genau zum rechten Augenblick. Ich verdank Euch mein Leben! Aus Braunschweig kommt Ihr also …«
Nach Tagen unter freiem Himmel und in kaum berührter Natur, raubte der Gestank Martin den Atem, als sie die Doppelstadt fast erreicht hatten. Er wies auf die Wagen. »Ihr werdet Euch um Eure Waren kümmern wollen, Herr Zirner. Vielen Dank deshalb fürs Gespräch und Eure Weisheit.«
»Ihr habt recht. Ich muß die Kerle antreiben, sonst schlafen sie, bevor’s ans Entladen geht. Wenn Ihr helft, lad ich Euch zum guten Bier oder einer Kanne Wein ein, später. Schlagt ein, Herr Stockmann - leichter als in meiner Begleitung kommt Ihr an den Torknechten nicht vorbei, und erspart Euch’s Beantworten unnötiger Fragen.«
Martin stimmte nach kurzem Zögern zu. »Einverstanden. Ich danke für Euer Vertrauen. Sagt, was ich tun muß.«
»Wartet mit den Leuten vorm Tor. Die Stadtburschen sind aufdringlich wie die Bettler vor der Stadtmauer. Ich eile voraus und klär alles ab!« Zirner klopfte Staub von Schecke und Beinlingen und warf den Nuschenmantel über.
Martin nickte und verfolgte dann aufmerksam das Gespräch des Lübeckers mit den Stadtknechten, das Vorzeigen von Gütebescheinigungen und Begleitpapieren, die die Torschreiber vorlasen. Von Joseph Zirner hatte Martin viel über Cölln-Berlin erfahren: Der Pfeffersack, erschöpft von der Reise, aber in freudiger Erwartung des nahen Ziels, war nach einigen Bechern Wein redselig geworden. Er war weit herumgekommen und kannte sich aus, und im Fremden fand er einen Partner, mit dem zu disputieren sich lohnte - für Martin eine einseitige Rolle, weil mehr aufs Zuhören beschränkt. In Gedanken beglückwünschte er sich, daß er eingegriffen hatte. Die gute Beziehung zu Zirner wollte er nicht ungenutzt lassen. Wer weiß, wozu der Pfeffersack noch gut ist? dachte er. Nur schade, daß mir dieser Clemens und seine Kumpane durch die Lappen gegangen sind: Wär ein guter Einstieg gewesen.
Am späten Nachmittag, als die Waren abgeladen und unter die Obhut der Stadtknechte gestellt, Karren und Ochsen versorgt, Maultieren und Pferden Hafersäcke vorgehängt, die Burschen in der Herberge untergebracht und städtische Helfer entlohnt waren, watete Martin Stockmann an des Lübecker Händlers Seite über Unrat durch Berlin. Der Händler wollte in der Nikolaikirche - für gute Ankunft und heil überstandene Reise - dem Schutzpatron der Kaufleute eine Kerze stiften.
»Begleitet mich, Herr Stockmann«, hatte er gesagt, »denn anschließend feiern wir, auf meine Kosten, in der Badstub Am Krögel. Torzoll und Marktsteuer treiben mir zwar das Blut in den Kopf, aber Cölln-Berlin ist ein guter Handelsplatz: flandrische Tuche, Lüneburger Salz, Bücklinge und Heringe vom Meer, Felle und Häute über Stettin von den Moskauer Rus. Bier, Pech, Kupfer aus Ungarn. Dann die Spezereien: Ingwer, Pfeffer, Zimt. Und natürlich Steine, weil überall gebaut wird und Mühlen entstehen. Als Anno Domini 1284 Hamburg brannte, lieferten die Berliner Eichenbalken für den Wiederaufbau. Kaum hatten sie’s Stadtrecht, bauten sie eine Kirche aus Feldsteinen, mehr als hundert Ellen lang. Die Brandenburger Markgrafen gaben’s Zollprivileg und erlaubten eine Freihandelszone: Jeder Kaufmann muß für einige Tage seine Waren anbieten, Eilige dürfen sich den Weg freikaufen. Reichlich Wegezoll fürs Stadtsäckel; Kämmerer Paul Kremer scheffelt die Groschen und Gulden! Wer Kosten sparen will, bietet direkt an, zumal die flache Spree zum Umladen zwingt und sich die Waren stapeln, bis der nächste Kahn kommt. Hilfreiche Hände sind willkommen; viel Zuwanderer aus dem Rheinischen, dem Schwabengau oder anderen Gegenden - eine bunte Mischung versammelt sich unterm Bärenwappen im Adlerschild der Askanier.«
Eine der städtischen Richtstätten - Martins zukünftige Arbeitsplätze - war der Neue Markt vor der Marienkirche. Ein Mann, der nicht den Kopf zu heben wagte, wurde von einem mehr als sechs Fuß großen Burschen zum Keks geführt: Er trug die hölzerne Heucke - den faßähnlichen Schandmantel. Ketten klirrten, als der Bursche den Verurteilten an die Richtsäule des Prangers fesselte und ihm, unter dem Lachen herbeigelaufener Bürger und Kinder, einen spöttischen Klaps versetzte. Martin seufzte. Bald würde die Ausführung von Ehrenstrafen zu seiner Aufgabe gehören. Das Stadtgericht tagte, damit es jeder hören konnte, in der offenen Gerichtslaube.
Martin hatte die Botschaft Meister Stoffels, vom Protokollarius verlesen, genau im Ohr: »Wöchentlich zwei Mal - montags und sonnabends - die Sitzungen über geringere Sachen, alle vierzehn Tage mittwochs die wichtigeren Fälle vor dem Rathaus auf der Langen Brücke.«
»Einige Tage bleibe ich, und hoff, die Waren gut an den Mann zu bringen. Hoffentlich hält’s Wetter.« Der Pfeffersack musterte Martin und zupfte sich am Ohr. Er hatte bemerkt, wie sein Begleiter den Mann am Keks und die Handlungen des Schinderknechts betrachtete. Er sagte bedächtig: »Ich könnt einen kräftigen Begleiter wie Euch auf den unsicheren Wegen gut brauchen. Und, Gevatter Stockmann, mir ist nicht entgangen, daß Ihr ein Schwert am Sattel hängen habt. Was treibt Euch also nach Berlin?«
Martin wurde heiß und kalt, fühlte sich ertappt und bloßgestellt. Joseph Zirner lachte leise, schüttelte den Kopf und legte die Hand auf Martins Schulter. »Seid unbesorgt, Mann. Ich hab mich umgehört und kann eins und eins zusammenzählen. Wer Ordnung und Recht will, muß auch den Blutrichter und sein Handwerk gutheißen!«
Die Hand schien schwer wie ein Mühlstein. Martin atmete tief ein, wich dem Blick aus Zirners blauen Augen aus. Der Mann im Schandmantel schrie, weil ihn Kinder in die Beine zwickten und mit Sand bewarfen. Ein Badergeselle lief mit der Handglocke vorbei und brüllte: »Gegen halbe fünf ist das Wasser warm. Kommt, ihr Leut!«
Der Schinderknecht prüfte noch mal die Ketten und wandte sich ungerührt ab. Seine Bewegungen wirkten schwerfällig und auf den ersten Blick unbeholfen - aber Martin ahnte, welche Kraft in dem Körper steckte: Hände, groß wie Topfdeckel, hatten die Fußschellenbolzen fast spielerisch gebogen. Nachdenklich blieb der junge Mann stehen und sah vom Pranger zum Standbild eines geharnischten Ritters, der, aufs Langschwert gestützt, doppeltmannsgroß aufragte.
Martin leckte die Lippen; plötzlich war sein Rachen trokken, und fader Geschmack ließ ihn fast würgen. »Die Wahrheit, Herr Zirner? Ihr habt recht - ich bin der neue Blutvogt. Es stört Euch nicht? Man fürchtet und meidet Todbringer wie mich.«
»Seid kein Narr!« Der Kaufmann zitierte den Hansespruch: »Schippern un hanneln, Ebbe un Floot, Help di sülbens, so helpt di God. Feine Herrschaften wollen sich nicht die Finger beschmutzen, trotzdem werdet Ihr gebraucht, und Euer Tun ist Rechtens. Was schert Euch die Heuchelei! Beim Hobeln fallen Späne, die Kuh frißt und scheißt, ehe sie Milch gibt. Ich komme viel rum und seh’s nüchtern. Bedenkt, daß Eure neuen Herren nichts Besseres sind: Mit viel Geld haben sie sich vom Kirchenbann losgekauft, nachdem sie anno post christum 1324 höchstpersönlich den Bernauer Propst von der Kanzel zerrten und erschlugen.« Er wies auf das Sühnekreuz an der Kirche und dann zum Ritterstandbild am Platzrand. »Sie sind stolz auf ihren Roland als Zeichen für Marktfreiheit, Handelsprivilegien und Gerichtsbarkeit; was zählt, ist’s Geld. Erkaufter Ablaß ohne wirkliche Reue - non olet pecunia: Schon die Römer sagten, daß Geld nicht stinkt. Und dann der Streit um Markgraf Woldemar. Hah! Beschwert nicht Eure Seel’ mit Dingen, die Euch nicht berühren sollten.«
Zwielichtige Gestalten huschten durch Dämmer der Gassen, der Roland warf einen langen Schatten. Sie folgten der Spandauer Straße - so genannt, weil der Weg, ausreichend breit und gepflastert, durchs Stadttor führte und dem Fernverkehr diente - und kamen am Berlinischen Rathaus vorbei. Spitzbögen begrenzten die nach drei Seiten offene Gerichtslaube. Am rechten Eckpfeiler hockte auf einer Konsole ein Sandsteinvogel mit Eselsohren und grinsendem Menschenantlitz - der Kolk.
Zirner sah zur Keks-Säule, die vom Flachdach aufragte. »Sprecht mit dem Ratsherrn Nicolaus Stulzing, er ist als Schützenmeister Offiziant und einer der drei Olderlude der Doppelstadt. Beruft Euch auf mich, und Ihr habt guten Leumund.« Er hob den Zeigefinger. »Alles übrige hängt von Eurem Tun ab.«
»Habt Dank, Gevatter.«
Zirner winkte ab. »Ich bin Kaufmann. Ein Pfeffersack. Ich denke ans Geschäft. Was getan werden muß, wird getan. Macht’s gut, nur das zählt. Kommt! Zuerst die Kerze, dann Bier und Wein und Weib. Ich kenne die Badstub von früheren Besuchen …«
Martin grinste. »Böse Begierde nennen das die Pfaffen!«
»Das Fleisch gehorcht nicht dem Willen, also nimmt die Obrigkeit gelassen, um schlimmere Gefahr fürs Seelenheil abzuwenden, Hurerei in Kauf.« Der Lübecker stieß Martin in die Seite. »Dyrnen sind der Aufsicht des Scharfrichters unterstellt! Wenn Ihr’s schlau macht, habt Ihr da eine schöne und regelmäßige Pfennigquelle.«
Als Sohn eines Abdeckers und Scharfrichters kannte er den Druck des von den Pfaffen heraufbeschworenen Sündenbewußtseins, der Schuld und Hemmung, das Schüren von Ängsten, dem gegenüber tägliche Begierden standen, Lust, Verführung, Sinnesfreuden, so natürlich wie Essen oder Reiten, Krankheit und Plünderung.
»Offizielle Meinung kirchlicher Lehre ist Verteufelung des Unreinen und Körperfeindlichkeit bis zur unfrohen Härte und Askese«, sagte Zirner, als sie in die Propstgasse abbogen, die von den prächtigen Backsteinbauten der Cölln-Berliner Propstei gesäumt war. »Verführung ist nah bei Zauberei; sie wird seit Evas Sündenfall der angeborenen Schwäche und dem Leichtsinn verderbter Weibspersonen zugeschrieben.«
Martin wiegte den Kopf und sah zur Nikolaikirche. »Teil des Lebens, Kaufmann, genau wie Fluchen, Rülpsen und Furzen, roher Umgangston und plumpe Freuden.«
Die Menschen, an ärmliches Licht von Kienspan, Talgkerze und Herdfeuerschein gewöhnt, an Enge, Dunst und Gestank, erlebten jeden Tag den Gegensatz zur Kirche: Vor Martin und Joseph Zirner öffnete sich hinter dem Portal steingesäumte Höhe und Weite zum Erhaben-Überirdischen, leuchteten prächtige Altarbilder, blitzte Goldschmuck von Reliquienschreinen im Schein von Hängelaternen, Radleuchtern, Öllichtern und aufgesteckten Kerzen: Licht, das Sinnbild göttlicher Allmacht, verdrängte die Finsternis als Zeit von Versuchung, Geistern, Dämonen. Das Schöne, Sichere, Vollkommene im Gegensatz zu nächtlich-verderblicher Verlockung, Fleischeslust und Sünde. Helligkeit, in der sich Herrschaft manifestierte, der unbedingte Anspruch, Körper wie Seelenheil zu regieren in einer Welt, in der Glaube alles bestimmte, mit Tun und Denken aller verwoben war, und Gott ebenso wirklich wie der Teufel.
»Herr im Himmel!« Martin flüsterte, sank auf die Knie. Licht durchdrang farbig die Fensterrose, ohne die Scheiben zu verletzen, Staub tanzte im Kegel, der sich an Steinboden und Wand brach. Kreise, unterteilt von wiederum kreisförmig gemustertem Maßwerk. Die Rose, Sinnbild für die mit allen Tugenden gesegnete Jungfrau Maria; einzige Frau, die frei von Schuld und Unreinheit blieb.
Martin fröstelte in der Kühle, fühlte Beklemmung und Unruhe. Aus zusammengekniffenen Augen, fast geblendet, sah er umher. Lichtsterne wuchsen scheinbar zu Kreuzen und Schwertern aus und fernes Echo von Schritten hallte wie der Aufschlag abgetrennter Köpfe. Martin dachte an Johann Grasdorf, das Henkerschwert, an die Scharfrichterwitwe. Zirner begann zu beten:
»Got hêrre, vater unser, der dû in dem himel bist, geheileget sî dîn nam an uns, getriuwer reiner Krist, zuo kum an uns daz rîche dîn, dîn wille werde hie als in dîm rîche. Dîn götlich brôt daz gip uns hiute sunder zwîfels wân, vergip uns unser schult, also wir unsern schuldern hân, bekorunge uns lâz ânic sîn, lœse uns von disen übeln al gelîche.«
Der Lübecker Händler stiftete die Kerze, und auch Martin wandte sich an den Allmächtigen, bat um Segen und gutes Gelingen seiner weiteren Taten.
»Gute Speis, Bader, viel Bier und Wein.« Zirner zog den Beutel und bezahlte den Bader. Der Kaufmann löste sein Versprechen ein: Die Männer hatten das Badehaus aufgesucht, und Martin folgte der Einladung gern, weil er an sein knappes Reise- und Zehrgeld dachte. »Für mich und meinen Begleiter. Wir sind weit gereist und rechtschaffen müde.«
»Ihr werdet zufrieden sein, ihr Herren.« Der Bader prüfte die Groschen mit geschwärzten Zahnstummeln, grinste breit und senkte die Stimme. »Habt Ihr besondere Wünsche? Wollt Ihr fingerln …? Meine Mägde sind sauber und gesund - nicht so fett wie die Vetteln im Schandhaus der Rosengasse oder ausgemergelte Hurenweiber, deren broste hangen wie ein leerer Sack auf einer Stangen. In der verachte gass wohnen nur arme lude, hoeren und gar schlecht folk!«
»Suppe macht Wampe, Wampe macht Ansehen, Ansehen geht in Kauf«, sagte Zirner energisch; die blauen Augen blitzten. »Zuerst das Bad, frisches Wasser, kneten, walken, Haarschur. Dann Essen, trinken, singen und lachen. Später werden wir sehen, Gevatter.«
»Wie Ihr wünscht; die Herren werden’s wissen.« Er wies zum Aus- und Ankleideraum für Frauen und Männer, grinste wieder und verbeugte sich. »Gut Loch will gebohrt sein.«
»Ist die Rut gut, tut’ s jeder Fut gut. Auch wenn die Pfaffen sagen: Post coitum omne animal triste. Heilkundige, Quacksalber und vor allem die Pfaffen«, meinte der Kaufmann grinsend, »sagen zwar, daß zu häufiges Waschen ungesund sei, weil es Poren öffnet und so das Eindringen von Krankheiten ermöglicht, aber ich halte nicht viel von einer Schutzkruste aus Schweiß und Dreck.«
»Sagte mein Vater auch immer.« Martin dachte an den Gestank von Vaters Abdeckerei; nur tägliches Waschen von Körper und Kleidung verhinderte, daß der schlechte Dunst zum ständigen Begleiter wurde. Flüchteten sogar die Hunde mit eingeklemmtem Schwanz, brauchte man sich nicht zu wundern, daß auch die Menschen sich abwandten, voller Angst und Aberglauben. »Ein kluger Mann, der mich viel lehrte, und der’s wiederum von seinem Vater erfuhr.«
Mochten die Pfaffen noch so sehr von den Kanzeln brüllen - der Reiz des Verbotenen mischte sich mit mangelndem Verständnis über Gebote, die die Heuchler meist selbst nicht befolgten - und concubines hielten oder mit »Pfäffinnen« lebten. Der Volksmund brachte passende Redensarten in Umlauf: »Gibt’s überhaupt einen Mönch, der’s nicht mit den Weibern treibt?« - »Solange der Bauer Weiber hat, braucht kein Pfaffe zu heiraten!« - »Wenn der Pater wiehert, tut die Klosterfrau den Riegel weg.«
»Das Bad ist bereitet!« Der Badergeselle im Lederschurz winkte. »Kommt, ihr Herren …«
Rosenduft durchzog die Badstub, warme Feuchtigkeit umfing Martins nackten Leib, als er vom Bademädchen in Empfang genommen wurde, dessen Trägerkleidchen an Brüsten, Bauch und Schenkeln klebte; schwarzhaarig, klein und schlank - Martin fühlte den Stachel kribbeln. Dielen und Bänke troffen vor Nässe, in Großkufen hockten Frauen und Männer, Lachen klang herüber, wo schmale Wannen für zwei standen - zwischen ihnen Bretter, beladen mit Speisen und Getränken. Martin stieg zu Zirner, heißes Wasser wurde auf Wunsch mit kaltem gemischt, Körper mehrmals abgespült, Haare gewaschen, Messer zur Bartschur gewetzt.
»Ein paar Pfennig, Herr«, flüsterte die Kleine in Martins Ohr, als sie sein Haar auskämmte. »Für die ganze Nacht. Wollt Ihr?«
Er drehte den Kopf; ihr Gesicht war gerötet, sie blies eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn und lächelte. »Dein Name? Wie alt?«
»Mechthild, Herr. Achtzehn, sagt man.«
»Hast hibsche Paradisepfelin!« Martin sah sie aufmerksam an. »Und das Hemdchen klebt am Kätzlein.«
Sie kicherte und sagte, ohne rot zu werden: »Zwei Tüttlin fein, sagen die Herren. Euer Ritutelstap steigt!«
Martin nickte. Während im Schandhaus lichte frawen höheren Alters arbeiteten, fett und verlebt, die die Erfahrung der Straße hinter sich hatten und von stadtfremden Kunden - Bauern, Vagabunden, Wanderern - besucht wurden, oftmals »betreut« von Frauenwirten oder den uphelderschen, alten Kupplerinnen, die sich vom Scharfrichter neyt helffen en layssen, arbeiteten in Winkelwirtschaften, Gasthäusern und Badstuben Schloephoeren. Wanderhuren hausten vor den Stadtmauern unter Bettelvolk. Martin dachte: Brave Bürgersfrauen, obwohl viele »Heimliche« sind, bezeichnen alle Huren durchweg als Sausuhlen und Unflat. Doppelzüngige Heuchlerinnen!
»Legt die Lanze ein, Herr, unterm Hemd wird’s Kachelchen heiß!«
»Schön, Mechthild, dann hör genau zu!« Sie gehörte, dessen war er sicher, zum Kreis der Schlupfhuren mit Kontakten zu einem der dyrnen huysere. Er packte hart in ihr Haar, zog sie näher, bis die Gesichter nur fingerbreit voneinander entfernt waren, und grinste kalt. »Dein Angebot nehm ich gern an. Fürs Bett darfst du den Bader aber selbst bezahlen. Ich bin Martin Stockmann, der neue Blutvogt!«
Die junge Frau begann zu zittern. Martin küßte sie, kurz und fordernd, stieß sie fort und knurrte: »Bis später, Hübschlerin. Heut nacht bist du meine Schlafbuhle. Gib dir Mühe, dann verzicht ich auf meinen Anteil für die ganze Woche.«
Mechthild wich mit hängenden Schultern zurück, nickte mit ausdruckslosem Gesicht und wagte kaum, ihn anzusehen. »Wie Ihr wünscht, Herr. Ich warte, ruft mich.«
Dampf verhüllte den Raum, ein Mann rutschte aus und polterte gegen eine Kufe. Der Kopf war kahl, die Ohren standen ab wie Segel. Mit lauerndem Blick sah er in die Runde. Niemand lachte. Als Joseph Zirner Martin anstieß, unterdrückte auch er das Grinsen, Zirner senkte die Stimme: »Ein Patriziersohn. Sein Vater Heinrich war Rädelsführer beim Aufstand gegen Woldemar. Markus’ Oheim Paul, obgleich Schöffe beim Hochgericht und ein reicher Fernhändler, kann kaum was für den Bruder tun. Mit dem Magdeburger Recht wurden die Schöffenstühle eingeführt; Paul ist nur einer von sieben. Da hilft auch kein Geld, obwohl die Kremerschen natürlich alles versuchen.«
»Hhm.« Martin sah Markus Kremer fröstelnd hinterher, der betrunken aus der Badstub wankte, die Faust gegen die Wand donnerte und einen Bader anrempelte. Ihn durchzog die untrügliche Ahnung, daß es mit dem Patriziersohn noch Ärger geben würde. »Er kocht vor Wut, scheint mir.«
»Die Schmach des Vaters fällt auf den Sohn. Hinter seinem Rücken wird getuschelt. Als Händler - ich weiß es aus Erfahrung - ist er ein Versager. Ein Saufhans und Schürzenjäger, hochnäsig, jähzornig, aber tumb wie Stroh.«
Die Badegäste wurden wieder lauter, lachten und brüllten nach Speis und Trank. »Also ein Bursche, der nach Maulschellen schreit.«
»Legt Euch mit ihm nicht an, Stockmann - oder wollt Ihr in dunkler Gaß ein Messer in den Rücken bekommen? Leuten wie Markus liegt’s Meucheln in der Seel’.«
»Abwarten, Gevatter. Ich weiß mich zu wehren. Erzählt mir mehr von den Hohen Herren der Doppelstadt.«
»Den Neffen des Rentmeisters habt Ihr kennengelernt. Paul Kremer wurde vom Rat als Stadtkämmerer eingesetzt; er ist schon siebenundvierzig, ein großer und breitschultriger Mann, hat eine Narbe auf der linken Wange.« Zirner kratzte sich den Nacken und murmelte nach einer Pause, in der er den Becher leerte: »Drei Söhne. Sie leben in Lübeck, Hamburg und im rheinischen Köln, die Töchter sind an Hanseleute verheiratet. Vogt Bartholomäus Surber, von Markgraf Woldemar eingesetzt, ist magistri civium, der Vorsteher des Hochgerichts: vierzig Jahr alt, dick und grau. Er ist Witwer, stammt aus Brandenburg. Hat zwei Söhne, und die drei Töchter sind gut unter die Haube gebracht. Dann Hillig Kurtzrock, der Flurschütz der Doppelstadt; Sohn Jakob, achtzehn, einziger legitimer Sproß seiner unermüdlichen Lenden, ist Protokollarius beim Gericht. Mühlenmeister Sigismund Vockenrode ist wie Münzmeister Tyle Brügge, der die Zöllner beaufsichtigt, und Vogt Surber ein Amtmann des Markgrafen. Brügge und Surber liegen miteinander in persönlicher Fehde: Anno Domini 1345, wurde Brügge noch vom Wittelsbacher das Schultheißenamt mit oberstem und niederstem Gericht übertragen. Woldemar aber machte seinen Gefolgsmann Surber zum Vogt und beließ Brügge, seither Unterschultheiß, nur das Recht, Silberpfennige zu prägen - sehr zur Freude von Stadtkämmerer Kremer. Seit Anno Domini 1322 gibt’s Münzabkommen. Die Münzmeister von Berlin und Brandenburg schlagen Pfennige, daß neunundzwanzig Schillinge Silber eine Mark wiegen, und Brügge wacht übern Prägestempel wie seinen Augapfel, auch wenn Kremer dies manchmal belächelt und darüber scherzt.«
Joseph Zirners Gesicht war wie die Haut krebsrot. Eine Bademagd stolperte, hielt sich am Kufenrand fest. Ein Gast klatschte ihr auf den Hintern, begleitet vom brüllenden Lachen.
»Die Ursach allen Übels ist’s Weib«, kreischte einer. Jemand fragte: »Sind die Weiber auch Menschen? An der Jungfer und dem Fisch der mittlere Teil der beste ist!« - »Will Fraw nit, so kunn die Magd.«
Männer schöpften aus Schalen Bier in Becher, soffen schlimmer als Pferde, grölten und wünschten einander die schlimmsten Plagen an den Hals: »Daz dich das höllisch Fewer verbrenne!« - »Ich wünsch dir den Veitstanz!« - »Ich schwör’s dir bei Blut, Darm, Leber, Lunge und Schweiß!«
Martin achtete kaum darauf, die wohlige Wärme verleitete zum Dösen; vereinzelt drangen Gesprächsfetzen ans Ohr, heisere Stimmen zwischen Kichern und Kreischen, klatschenden Wassergüssen, Rülpsen und Schmatzen:
»… hält der Luxemburger Karl zu Markgraf Woldemar …«
»… der Wittelsbacher umgekommen … kein Kaiser führt’s sacrum imperium romanum … und der Schwarzenburg bald stirbt!«
»Sauf dich voll und leg dich nieder«, knurrte Zirner hämisch, »steh früh auf und füll dich wieder. Große Säufer, Lüstlinge, unanständig beim Bechern, Hurentreiber obendrein. Die bürgerlichen Herren schwadronieren, daß die Schwarte kracht. In Berlin gärt’s weiterhin wie junger Wein. Woldemar schloß - vor seinem ›Tod‹ - im Norden Verträge und verglich sich, um Zugang zum Meer zu erhalten, mit dem Deutschen Orden und dem pommerschen Herzog. Mit dem Markgrafen von Meißen gab’s Kämpfe; obwohl er ihm Großenhain und Torgau nahm, schrumpfte die Kasse beträchtlich. Zwischen Wenden siedelten Eingewanderte, denen die Ländereien Barnim, Ruppin und Teltow gegeben wurden, oft befreit von Abgaben oder Frondiensten. Die Landschaft …«
Mit halb geschlossenen Augen hörte Martin zu, Bilder gaukelten vor seinen Augen, stiegen auf wie Träume und versanken ebenso schnell. Er sah nur müde auf, aber sein Magen knurrte laut, als das Essen aufgetragen wurde: Eiersuppe mit Safran, Pfefferkörnern und Honig, Schaffleisch mit Zwiebeln, gerösteter Bückling mit Leipziger Senf, kleine Vögel in Schmalz gebraten, Backwerk, gefüllt mit Äpfeln und Salbeiblättern. Dazu gab es heißen Würzwein und Bier, das nach Wacholder schmeckte.
Ein Musikant sang aus der carmina burana: »Es stand ein Mädchen, in rotem Kleidchen. Wer sie berührte: Das Kleidchen knisterte. Eia!«
Vereinzelt wankten Zecher zum Hinterausgang und pinkelten vor die Tür. Andere steckten sich den Finger in den Hals, spien den Mageninhalt aus und taumelten zurück, um ihren Brand zu löschen. Wer am meisten soff, brauchte die Zeche nicht zu bezahlen und stieg im Ansehen der übrigen, die notgedrungen die Kosten übernahmen. Zunftmeister und Handwerker waren unter den Badegästen, die meisten dem Bader bekannt: Er ritzte die Zechen ins Kerbholz, dessen oberer Riegel den Betrunkenen unters Wams geschoben wurde, während das Gegenstück im Badehaus verblieb - auch geeignet, Zahlungsunwilligen damit eins über den Schädel zu ziehen. Bei Kleinigkeiten wie diesen, das wußte Martin, wurde kein Stadtknecht bemüht, kein Gerichtsbüttel gerufen.
Zirner ließ seinen Becher auffüllen, trank hastig, so daß ihm Wein über Kinn und Hals lief, stieß Martin an und sagte mit schwerer Zunge: »Betrunkene - hups - die nachts aufgegriffen werden, setzt man in Narrenkisten, damit sie in den Käfigen ihren Rausch öffentlich ausschlafen. Spott und Gekeif - hups - ist ihnen sicher … Schon Anno 1288 sollen die alten Weiblein vom ›Hospital zum Heiligen Geist‹ sehr gutes Bier gebraut haben.« Er lachte - Schalk blitzte in den blauen Augen - und hob den Becher. »Jeder, der Haus und Hof besitzt, darf Bier brauen. Davon verstehen sie wirklich was - hups -, die Berliner. Als sei der Saufteufel unter sie gefahren. Berühmt das Bernauer Bier, aber seit sie den Propst meuchelten, trinken sie das eigen Gebraute lieber.«
Dann sprach Zirner über Patrizier, Schöffen und Ratmannen, und Martin merkte sich Namen und Beschreibungen: Merkelyn Pletner, reich durch Landbesitz, sommersprossig, untersetzt, war Richter und Ankläger beim Hochgericht, wo er stets strenge Bestrafung und hartes Durchgreifen forderte; Tile Wardenberg, Berliner Olderlude, groß, schlank, galt als durchtrieben und heimtückisch - stand aber eindeutig auf Woldemars Seite; der Cöllner Ratsmeister war Johannes Ryke, ein wohlbeleibter Mann mit Glatze, der das klare Wort liebte und laut und polternd redete; Arnold Brole, der Kirchenmeister des Rates, wohlhabend dank Grundbesitz und zinspflichtiger Bauern, war im Mariensprengel der Fähnlein-Hauptmann; Paul Reitzenstein, schlank und groß, Sekretarius der Stadt, kümmerte sich rührend um seine Kinder Markus und Magdalena. Theodor Lubbe, Cöllner Ratsherr und Goldschmied, war ein kleiner und fetter Mann, Albrecht Gröben Zunftmeister der Bäcker; Rudolph Wedel, Bannerherr der Metzgerinnung - sechs Fuß groß, kräftig und breitschultrig: Fähnrich des Heiliggeistquartiers, Vater von drei Jungfern; Clauß Dreher, Baumeister und Steinherr aus Cölln, betreute die städtischen Ziegeleien und Kalkscheunen …
Weitere Bürger kamen und setzten bei Speis und Trank auf der Gasse begonnene Gespräche fort. Frauen trugen nur Strohgebinde auf dem Kopf und Armringe und Halsketten auf nackter Haut. Sie standen in Kufen, schlürften, von Wasser übergossen oder abgebürstet, lieblichen Rotwein, reckten pralle Euter, entblößten schamlos Vliese; manche entleerten plätschernd ihre Blase ins Bad.
Am späten Abend winkte der Lübecker Pfeffersack, ziemlich angeheitert vom Wein beim langen Gespräch, Martin mit leuchtendem Gesicht, eine Bademagd in den Armen, die ihm den rötlichen Schopf zerzauste und mit der er die Stiege zu den Stundenstuben im Obergeschoß hinaufschwankte. Auch Martin fand, daß es Zeit war, rief Mechthild und griff nach seinen Kleidern; halbnackt folgte sie, nahm eine Laterne mit zur Stiege und sagte: »Ihr solltet Euch um die Wanderhuren up dem velde kümmern, Blutvogt. Und die Schlupfhuren schleppen uns ebenfalls die Burschen weg, verderben’s Geschäft. Das schmälert auch Euren Anteil, vor allem wenn’s statt Lohn nur Spott und Prügel von Hohen Herren gibt. Besonders Engelbert Rathenow, Ankläger beim Gericht, ist brutal und nimmt’s mit Gewalt.«
Martins Einstellung Frauen gegenüber war vom Elternhaus geprägt: Der Vater hatte die Frau Mutter immer mit Achtung und Aufmerksamkeit behandelt, ihn aber auch gelehrt, daß bei dem lichten Weibsvolk Härte angesagt war - immerhin stammte ein Großteil der Einnahmen eines Scharfrichters und seiner Helfer von den Dirnen. Sechs Pfennig für jede in der Woche, und mindestens vier Schilling als Einstandsabgabe bei Neuen, dachte er, während seine Hände über ihren Leib tasteten, der sich an ihn drängte und ihn erregte.
»Ich werd mich drum kümmern«, murmelte er. »Zahlt pünktlich und korrekt, und ihr bekommt’s Berechtigungszeichen. Du kannst morgen den anderen Hübschlerinnen meine Ankunft mitteilen. Überführte Winkeldirnen werden am Pranger bloßgestellt oder mit Ruten ausgestrichen. Ich werd die Rosengasse besuchen, wo schoene frewlin da ein unnd auss gont, und wir können alles besprechen, auch die Höhe des Wochensatzes und der Einstandsabgabe.«
»Wie Ihr wünscht, Herr Blutvogt.«
»Wo ist eigentlich das Haus der Scharfrichterwitwe? Und die Büttelei?«
»Vor der Stadtmauer, an der Landstraße nach Spandau. Der alte Meister Stoffel hatte bei der Abdeckerei eine Knochenmühle, wollt nicht ins Haus beim Kerkerturm am Ende der Klostergasse. Dort lebt nur Jann Melchior und bewacht die Zellen. Die Büttel wohnen im früheren Rathaus am Alten Markt.«
Er umfaßte ihre Hüfte fester, griff an ihre Brust. Holz
Vollständige Taschenbuchausgabe 12/2005 Copyright © 1997 by Haffmanns Verlag AG Zürich Copyright © 2001 der Taschenbucherstausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co.KG, München Copyright © 2005 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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