Der Brotkönig - Lois Leander - E-Book

Der Brotkönig E-Book

Lois Leander

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Beschreibung

Ein junger Pflanzenbau-Wissenschaftler entdeckt den ebenso wahnsinnigen wie realistischen Plan eines Konzernchefs, Macht über die weltweite Nahrungsmittelproduktion zu erlangen. Der Wissenschaftler und der Konzernchef werden Gegner, keiner von beiden ist es gewohnt oder bereit, aufzugeben. Unterwegs mit entgegengesetzten Lebenszielen – der eine strebt nach Macht, der andere nach Weisheit – erfahren sie, wie Macht funktioniert, in der Familie, in der Politik und in der Wirtschaft. Ein Abenteuer um Macht und Weisheit, um den Glauben an sich selbst oder an Gott. Eine Geschichte um die Frage, wie es der Menschheit gelingen kann, zukunftsfähig zu werden.

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Das Buch

Ein junger Pflanzenbau-Wissenschaftler entdeckt den ebenso wahnsinnigen wie realistischen Plan eines Konzernchefs, Macht über die weltweite Nahrungsmittelproduktion zu erlangen. Der Wissenschaftler und der Konzernchef werden Gegner, keiner von beiden ist es gewohnt oder bereit, aufzugeben. Unterwegs mit entgegengesetzten Lebenszielen – der eine strebt nach Macht, der andere nach Weisheit – erfahren sie, wie Macht funktioniert, in der Familie, in der Politik und in der Wirtschaft. Ein Abenteuer um Macht und Weisheit, um den Glauben an sich selbst oder an Gott. Eine Geschichte um die Frage, wie es der Menschheit gelingen kann, zukunftsfähig zu werden.

Der Autor

Lois Leander arbeitete viele Jahre in der Forschung für die Land- und Ernährungswirtschaft. Er lebt in der Region Zürich.

Der Brotkönig

Roman um Macht und Weisheit

Lois Leander

© 2022 Lois Leander

Lektorat: Dagmar Henning (satzwandel.de) Coverdesign: César Gerardo Pardo Delgado

ISBN Softcover: 978-3-347-46384-4

ISBN Hardcover: 978-3-347-46388-2

ISBN E-Book: 978-3-347-46392-9

ISBN Großschrift: 978-3-347-67500-1, Buch 1, Teile 1 - 3

ISBN Großschrift: 978-3-347-67506-3, Buch 2, Teile 4 - 6

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Dies ist ein Roman. Alle Figuren und die Handlung sind erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Menschen ist nicht beabsichtigt und wäre Zufall.

Aber der Kampf um Besitzrechte an Nutzpflanzen ist im Gange.

Lois Leander

Prolog

Der Sinn des Lebens ist kaum, nur zuzuschauen. Es geht eher ums Erkennen – und ums Handeln.

Das Leben ist nicht berechenbar.

Der Plan

Mitternacht war vorbei. Roger Seiler klickte die Tür seines Ferraris auf und schaute über das Auto zum Club zurück. Er war aufgekratzt. Und ratlos. Ein klein wenig fror ihn, trotz der angenehmen Temperatur. War es Furcht?

Auf dem Dach der Fabrikhalle leuchtete die geschwungene blaue Neonschrift den Namen des Clubs in die Nacht hinaus: Dialog. In diesem Gebäude hatte er eben die unglaublichste Geschichte seines Lebens gehört. Dabei hörte er viele Geschichten. Er war Journalist.

In der Szene galt er als Ausnahmetalent. Er war erst zweiunddreißig Jahre alt und doch kauften etliche der weltgrößten Zeitungen und Zeitschriften regelmäßig Artikel von ihm. Häufig platzierten sie diese auf ihrer Titelseite. Vor allem die Porträts und Interviews mit Persönlichkeiten liefen gut. Die Berichte etwas weniger.

An diesem Abend hatten ihn die Leute des Clubs in eine Geschichte eingeweiht, die den Rahmen dessen sprengte, was er bisher für möglich gehalten hatte. Es fühlte sich an, als hätten sie ihn zu einer Landmine geführt und gebeten, das Ding zu entschärfen. Ob die Geschichte wahr war, konnte er noch nicht sagen. Aber mit Sicherheit wollte er ihr nachgehen.

Er öffnete sein Auto, glitt in den tiefen Sitz hinter das Steuerrad und zog die Tür zu. Er fuhr selten gleich los. Meistens genoss er einige Momente im Ledersitz und ließ die Atmosphäre des Wagens auf sich wirken. In dieser Nacht verlor sich sein Blick in den Armaturen. Er bemerkte nicht, wo er war, er hätte genauso gut in einem Laster sitzen können. Er dachte an den jungen Mann, der ihn wegen dieser Geschichte in den Club hatte kommen lassen.

Er verdankte seinen Erfolg der Fähigkeit, Menschen einschätzen zu können. Schon früh hatte ihn beeindruckt, wie einzigartig jede Person war. Ebenfalls früh hatte er erkannt, dass es nur wenige Menschen gab, die aus der Masse herausragten. Als herausragend empfand er Individuen, die ihren eigenen Weg gingen, nahezu unabhängig von der Meinung der anderen. Das waren Persönlichkeiten, die sich die Mühe machten, selbst zu denken und nicht irgendetwas nachplapperten oder irgendwen zu kopieren versuchten. Sie waren nicht austauschbar wie Eier, sie hatten Ecken und Kanten. Und damit auch Gegner. Von diesen wenigen Menschen wiederum war nur eine Auswahl bereit, über sich selbst hinaus zu denken und sich gar für das Gesamte einzusetzen.

In dieser Nacht hatte er einen Mann kennengelernt, der ihm auch unter Tausenden aufgefallen wäre: Martin Elkberg. Es machte den Anschein, als wäre er einer dieser seltenen Menschen.

Dieser Elkberg war das Zentrum des Clubs, obwohl dies, oberflächlich betrachtet, kaum ins Auge fiel. Er mochte zwischen fünfundzwanzig und dreißig sein, maß etwas über einen Meter siebzig, hatte breite Schultern und bewegte sich elastisch wie ein Sportler. Er sah gut aus mit den kräftigen Gesichtszügen und dem Schopf dunkelbrauner Haare. Die gescheitelte Mähne verdeckte eine hohe Stirn. Dichte dunkle Augenbrauen überschatteten graublaue Augen.

Den ganzen Abend über zeigten seine Augen eine hohe Präsenz, einige Male auch Witz und Lachen. Vor allem aber war deutlich, wie wichtig ihm das Treffen war.

Der Respekt, den ihm die anderen Clubmitglieder entgegenbrachten, zeigte sich an einem Detail, das leicht übersehen werden konnte: Stand eine wichtige Frage im Raum, wanderten ihre Blicke zu Martin Elkberg, um zu erfahren, wie er die Sache einschätzte. Sagte jemand seine Meinung, sah er dabei meistens Elkberg an. Dies zeigte Seiler untrüglich, wer das höchste Ansehen im Raum hatte.

Es war eine beinahe unglaubliche Geschichte, die sie ihm erzählt hatten. Konnte das wahr sein? Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Es würde sich zeigen.

Elkbergs ruhige Art ließ ihn gemütlich erscheinen. Doch seinem beobachtenden Blick, dem kräftigen Kiefer und den trainierten Bewegungen nach war er auch ein Typ, der entschlossen handeln konnte. Und den nichts so leicht von seinem Kurs abbrachte.

Elkberg hatte ihn bitten lassen, heute Abend in diesen Club zu kommen, es gehe um etwas Wichtiges. Ohne weitere Erklärung. Als ob man ihn einfach herbestellen könnte. Und doch war er hergekommen.

Sie hatten sich für 20:30 Uhr verabredet. Er war früher gekommen, um sich umzusehen. Der Club befand sich am Rand von Zürich in den Mauern einer ehemaligen Maschinenfabrik. Er parkte seinen Wagen auf dem Platz vor der Fabrikhalle. Mit Ausnahme der Neonschrift auf dem Dach des Ziegelsteinbaus deutete nichts auf den Club hin. In der Mauer unter dem Clubnamen gab es eine unscheinbare Tür. Als er durchtrat und einen schweren Vorhang beiseiteschob, blieb er beeindruckt stehen: Es war, als befände er sich in einer sternenreichen Nacht irgendwo am Mittelmeer. Er ließ sich von der exotischen Atmosphäre erfassen und lauschte der leichten Musik, die um die Menschen und Dinge in der weiten Halle schwang. An der Decke funkelten unzählige winzige Lämpchen wie Sterne. Eine lange Theke zog sich an der linken Wand entlang. Sie hatte etliche geschwungene Ausbuchtungen, an denen man sich wie an Tischen zusammensetzen konnte. Es gab Dutzende kleine runde Tische mit Stühlen, ein Piano, zwei Billardtische und an der hinteren Seite des Lokals eine Bühne. Wahrscheinlich für Musiker oder Theaterstücke. Davor eine Tanzfläche. Das Augenfälligste aber, fand Seiler, war ein geschickt inszeniertes Spiel von Licht, Schatten und Farben. Kaum sichtbare Spots schufen kleine und große Lichtinseln auf Pflanzen, an der Bar, über den Rundtischchen und auf der Tanzfläche. An den Ziegelsteinwänden hingen beleuchtete Poster. Sie zeigten Blütenpflanzen im Urwald, einen grün leuchtenden Leguan, bunte Vögel und Wasser, das um bemooste Steine sprudelte. Hinter der gesamten Theke glitzerte das Licht in Spiegeln, unzähligen Flaschen und Hunderten Gläsern.

Kaum hatte er sich an die Theke gesetzt, begrüßte ihn eine junge Kellnerin mit schwarzen Haaren und einer auffallend großen Nase.

»Sie sind Roger Seiler, nicht wahr?«

»Ja. Sie kennen mich?«

»Martin Elkberg hat mir ein Bild von Ihnen gezeigt. Willkommen im Dialog! Was wünschen Sie zu trinken?«

»Was empfehlen Sie?«

Sie lachte. »Wie wäre es mit einer Überraschung?«

»Gerne.«

Etwas entfernt bereitete sie das Getränk zu. Die Musik war dezent, an der Decke drehte sich eine Spiegelkugel und ließ Lichtpunkte wie Sternschnuppen über Wände und Decke wandern.

Die Barfrau kam mit einem grünen Getränk mit Ananasstückchen und einer Kirsche an einem Stäbchen in einem hohen Glas zurück. Sie stellte es vor Roger Seiler auf die Theke und hängte eine Papierblume über den Glasrand. »Ananas-Intermezzo. Eine Spezialität unseres Clubs. Schmeckt exotisch, ist alkoholfrei und erfrischt ungemein.«

»Danke. Und wie heißen Sie?«

»Melanie.« Sie nickte ihm zu, »Cheers!«, dann stellte sie einige Gläser auf ein Tablett, trug sie weg und bewirtete Gäste an einer anderen Ausbuchtung der Theke.

Das Getränk war süßlich, auch eine Spur herb. Der Journalist rätselte, was Melanie zusammengemixt hatte.

Es kamen weitere junge Leute in den Club, einzeln und in Gruppen. Seiler schlürfte seinen Cocktail in kleinen Schlucken. So entspannt hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt.

Kurz vor 20:30 Uhr bat Melanie ihn, mitzukommen. Sie öffnete eine Tür hinter der Theke und bedeutete ihm, einzutreten. Er blieb auf der Schwelle stehen: Vor ihm lag eine andere Welt!

Hinter sich hörte er die die Musik, Gespräche und Lachen. Vor sich sah er eine Art Büro aus dem Chicago der 1930er-Jahre. Oder wenigstens so, wie er sich ein Büro aus der Zeit von Al Capone vorstellte. Die Hälfte der Fläche nahmen einige alte locker verteilte Holzschreibtische ein. Auf der linken Seite stand eine Gruppe Polstersessel und in der Ecke dahinter ein Billardtisch. Darüber eine tief hängende Tellerlampe. Ein Teil der Ziegelsteinwände verschwand hinter Schränken und Regalen, in denen sich Bücher und einige Ordner reihten. Auch Musikinstrumente und Sportgeräte standen herum. An der Decke drehte ein Holzpropeller lautlos seine Runden.

Ein junger Mann hinter dem vordersten Schreibtisch schaute ihm entgegen, ruhig und interessiert. Ein anderer lehnte gegen einen Aktenschrank. Das war der Kerl, der ihm ausgerichtet hatte, dass sie ihn gerne sprechen würden. Rote Haare, weiße Haut mit Sommersprossen. Ja genau, Pote nannte er sich.

Am hintersten Schreibtisch saß ein Dritter in einem alten Bürostuhl, das heißt, er lag mehr darin, beide Beine auf der Schreibtischfläche, einen Block auf den Beinen und mit einem Füllfederhalter spielend. Seine schwarzen Haare und sein Gesicht deuteten auf italienisches Blut.

Auf den ersten Blick täuschte der Raum. Die Holzmöbel schienen einen um hundert Jahre zurückzuversetzen, doch war da auch Technik. Auf drei Schreibtischen standen Notebooks und ein Mac, an der Wand hing ein Flachbildschirm, es gab eine Musikanlage, Lautsprecherboxen und ein topmodernes Kopiergerät.

Als er die Schwelle hinter sich lassen wollte, nahm er in einem der Polstersessel eine junge Frau wahr: dunkle Haare, dunkle Augen und volle Lippen, um die ein Lächeln spielte. Er blieb wie angewurzelt stehen.

Sie erhob sich, kam auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Willkommen im Dialog. Ich bin Dominique Laperrière.« Sie schien belustigt. »Möchten Sie nicht eintreten?«

Er bemerkte, dass er immer noch auf der Schwelle stand und noch kein Wort gesagt hatte. Er lachte. »Natürlich. Guten Abend! Ich bin Roger Seiler.«

Der Mann hinter dem vordersten Schreibtisch stand auf. »Herzlich willkommen! Ich bin Martin Elkberg. Danke, dass Sie gekommen sind.«

Einen Augenblick lang musterten sie sich, dann wies Elkberg mit dem Arm in Richtung Aktenschrank. »Alexander Nussbaum alias Pote kennen Sie ja schon, und unsere Füllfeder dort«, er neigte den Kopf in Richtung des hintersten Schreibtischs, »das ist Luca Perrota.«

Luca nickte lässig. »Hallo, wie gehts?«

Elkberg wies mit einer Geste zu den Polstersesseln. »Wollen wir uns setzen? Was hätten Sie gerne zu trinken?«

Es fühlte sich seltsam an, dass sie ihn mit Sie ansprachen, obwohl sie nur wenig jünger waren. Aber ja, sie suchten in ihm den Journalisten und kein neues Clubmitglied.

»Bringen Sie mir ein Tonic Water, bitte.«

Pote nickte zu Martin. »Apfelschorle?«

»Ja, gerne.«

Die junge Frau hielt Pote ein Glas hin. »Bringst du mir nochmals Papaya-Banane, bitte?«

Pote nickte, nahm ihr das Glas ab und wandte sich zur hinteren Raumhälfte. »Luca?«

Der stand auf. »Ich komme mit und mixe mir etwas Spezielles. Dieser Abend ist es wert.«

Die beiden verschwanden.

Der Journalist sah sich um. »Und wem gehört dieser Club?«

Martin deutete einen Kreis an. »Wir sind einige junge Leute, die ihn gegründet und gebaut haben. Wir wünschten uns einen Ort, wo gute Unterhaltung und gute Gespräche möglich sind. Er gehört neun Gründern. Ja, und einer Bank.«

»Sie sind die Chefs?«

»Nein.«

»Nein?« Der Journalist schaute fragend.

Dominique deutete auf Martin. »Er hatte die Idee für den Club und ist unser Geschäftsführer. Aber wir führen den Club ohne Hierarchie. Es gibt keine Vorgesetzten, nur Teams, die selbstständig arbeiten.«

»Das funktioniert? Ein Unternehmen ohne Chefs? Wer sagt dann, wohin es gehen soll? Wer entscheidet über die Strategie, das Budget, die Einstellung von neuen Mitarbeitern?«

»Alle.« Elkberg wies in die Runde. »Im Prinzip können alle, die hier arbeiten, Entscheidungen treffen. Aber: Er oder sie muss sich vor dem Entscheid mit allen beraten, die von der Entscheidung betroffen sein werden. Manchmal betrifft das wenige, manchmal alle.«

Seiler beugte sich aus seinem Sessel vor. »Wie kommen Sie auf die Idee, sich so zu organisieren?«

Elkberg zuckte mit den Schultern. »Immer mehr Menschen fühlen sich an ihrem Arbeitsplatz nur noch als Zahnrad. Sie sehen die Arbeit als notwendiges Übel und erledigen sie ohne Begeisterung. In den Schulen ist es ähnlich. Nach der Arbeit flüchten sie in Games, Serien oder nach Disneyland, sie fordern sich im Sport, pflegen ihren Schrebergarten oder betreiben sonst ein Hobby, oft auf hohem Niveau. Dort sind sie mit Engagement und Freude dabei. Aber bei der Arbeit zählen sie die Stunden bis Feierabend oder die Tage bis zur Pensionierung. Warum?« Er schaute zum Journalisten und gab die Antwort selbst. »Weil viele Arbeitsplätze zu unpersönlichen, freudlosen und frustrierenden Orten geworden sind. Wenige Leute an der Spitze entscheiden, alle anderen müssen tun, was ihnen gesagt wird. Sie müssen Regeln und Prozesse befolgen, ob diese sinnvoll sind oder nicht.«

»Einverstanden«, der Journalist fixierte Martin, »aber wieso liegt das Problem beim Chef?«

Elkberg nickte ihm zu. »Die Leute oben in der Hierarchie entscheiden oft ohne Rücksprache mit den Betroffenen und machen den Leuten unten so das Leben schwer. Manchmal führt die Machtlosigkeit unten zu Wut, meistens aber zu fehlender Motivation und zu Resignation.« Er schüttelte den Kopf. »Wir finden, das ist eine Verschwendung von Talenten und Energie!«

Dominique saß im Schneidersitz auf ihrem Sessel. »Hierarchien, wie sie verbreitet sind, entsprechen oft weder den Leuten oben noch denen unten.«

Der Journalist nahm ein Büchlein und einen Kugelschreiber aus seiner Jacke, schlug eine Seite auf und begann, zu schreiben. Ohne aufzuschauen, hakte er nach. »Was heißt das konkret?«

»Die Führungsleute sind oft überfordert, auch wenn sie es selbst nicht merken oder geschickt überspielen.« Obwohl Dominique kerzengerade saß, wirkte sie entspannt. »Sie haben zwar einen Überblick, aber oft nicht den Durchblick. Doch sie müssen entscheiden. So entscheiden sie aufgrund von Zahlen oder Empfehlungen oder gefühlsmäßig und aufs Geratewohl. Aber jede Entscheidung, die in der Firmenzentrale gefällt wird, nimmt den Leuten vor Ort die Verantwortung. Das frustriert diese Menschen, die meistens besser entscheiden könnten. Und natürlich fühlen sie sich für diese Entscheide auch nicht verantwortlich.«

Martin beobachtete, wie der Journalist in sein Büchlein schrieb und Skizzen anfertigte. Mit unglaublicher Geschwindigkeit.

Dominique fuhr fort. »Sobald aber die Macht verteilt wird, sobald alle Leute im Unternehmen entscheiden können, fühlen sie sich gebraucht und wertgeschätzt – und übernehmen Verantwortung.«

Martin neigte den Kopf. »Auch in der Schule. Solange Schüler wie mit einem Trichter abgefüllt werden, sind sie wenig bei der Sache. Man kann neun Jahre in der Schule sitzen und kaum etwas lernen. Von dem Moment an, ab dem Schüler mitbestimmen können, gibt es eine völlig andere Dynamik.«

Der Journalist nagte an seiner Unterlippe. »Heißt das, jeder kann machen, was er will?«

Dominique schüttelte den Kopf. »Wenn bei uns jemand einen Job oder eine Rolle übernimmt oder eine Entscheidung fällt, ist er allen seinen Kollegen gegenüber verantwortlich. In dieser Hinsicht sind alle seine Vorgesetzten.«

»Und wenn jemand mit etwas nicht einverstanden ist?«

Dominique hob eine Hand. »Dann ist er verpflichtet, etwas zu unternehmen. Er weist die anderen darauf hin, vielleicht schlägt er eine Lösung vor. Dann suchen die Betroffenen eine Lösung und entscheiden. Sofort und direkt. Das Team hat die Macht, den Freiraum und die Pflicht, alle Schwierigkeiten selbst zu lösen.«

Der Journalist blieb hartnäckig. »Und wenn sich trotzdem jemand querstellt?«

Wieder antwortete Dominique. »Wenn alle im Team verantwortlich sind, regulieren Nachahmung und Gruppendruck das System besser, als es eine Hierarchie je könnte. Wenn jemand das System ausnutzt, sagen ihm die übrigen Teammitglieder rasch, was sie davon halten.« Sie hielt einen Augenblick lang inne. »Diese Organisationsform hat natürlich auch Nachteile.« Sie lächelte verschmitzt. »Probleme oder schwierige Entscheidungen kann ich nicht mehr an den Chef abschieben. Und wenn mir etwas nicht passt, kann ich nicht einfach jemandem die Schuld in die Schuhe schieben. Oder mich in Verärgerung oder Apathie zurückziehen. In einer selbstführenden Organisation muss jeder Verantwortung übernehmen.«

»Wow!« Seiler kratzte sich zwischen den Schulterblättern. »Was immer noch kommt, der Abend hat sich bereits gelohnt.«

Pote und Luca kamen mit den Drinks zurück. Sie stießen auf den Club an, dann hakte der Journalist nach.

»Kennen Sie andere, die sich so organisiert haben?«

Dominique wies mit ihrem Glas auf Martin. »Er hat uns auf ein Buch aufmerksam gemacht, das Frederic Laloux geschrieben hat: Reinventing Organizations. Wir haben es gelesen und inzwischen auch viele, die hier angestellt sind. Das meiste, das wir zum Thema wissen, stammt daraus.«

Seiler nickte. »Mit Ihrem Club wollen Sie den Menschen die Macht zurückgeben?«

Pote wiegte den Kopf. »Es ist mehr als das. Wenn man Vertrauen schenkt, wächst beim Gegenüber Verantwortung. Wer sich verantwortlich fühlt, engagiert sich!«

Luca, der wieder in seinem Sessel lag, die Beine auf der Tischfläche, hob seinen Füller. »Jeder Mitarbeiter kennt die finanzielle Situation des Clubs. So wissen auch alle, wenn es dem Club nicht gut geht.«

Dominique wies auf ihre Uhr. »Leute, wir müssen zu dem anderen Thema!«

Luca nickte ihr zu, schaute aber wieder zu dem Journalisten. Er deutete mit seinem Schreibzeug eine Rolle an. »Zentral ist: Wir wissen, dass wir zusammen die besseren Lösungen finden als ein Chef allein.« Einen Moment schwieg er. »Konflikte gehören dazu. Aber man kann einen Konflikt auch austragen, ohne im anderen einen Feind zu sehen.«

Martin stand auf. »Das Gespräch ist interessant, aber wir haben Sie nicht deswegen hergebeten. Wir möchten zum eigentlichen Thema wechseln. Einverstanden?«

»Eine Frage noch: Sind Sie als Eigentümer am Gewinn nicht interessiert?«

»Gute Frage.« Martin überlegte. »Es gibt bereits etliche selbstführende Unternehmen. Die haben nicht nur motivierte Mitarbeiter und zufriedene Kunden – sondern auch hervorragende Geschäftsergebnisse! Es klingt paradox, obwohl sie sich kaum um Gewinne kümmern, sind sie spektakulär profitabel.«

»Echt?«

Martin hob eine Schulter. »Ja, aber es geht nicht darum.«

Der Journalist schaute verblüfft. »Sondern?«

»Laloux sagt, das Ziel eines Unternehmens ist der Sinn, für den es da ist, nicht der Profit. Der Gewinn ist wie die Luft, die wir atmen, aber wir leben nicht, um zu atmen.«

»Der Sinn eines Unternehmens?« Der Journalist schaute erwartungsvoll.

Die Clubbesitzer wechselten Blicke und Roger Seiler verstand, dass sie das Thema wirklich wechseln wollten. Martin Elkberg fixierte ihn. »Sie stellen gute Fragen.« Dann grinste er. »Also haben wir den richtigen Mann eingeladen.« Er neigte bedauernd den Kopf. »Das Buch von Laloux ist über dreihundert Seiten stark. Wenn Sie es gelesen haben, diskutiere ich mit Ihnen gerne an einem anderen Abend darüber. Ich beantworte nun Ihre vorherige Frage, aber dann wechseln wir zum eigentlichen Thema unseres Treffens. Okay?«

Der Journalist grinste. »Einverstanden.«

»Der Sinn eines Unternehmens ist, ein Bedürfnis zu erfüllen, also etwas anzubieten, das benötigt wird. Zudem gibt ein Unternehmen Menschen die Gelegenheit, sich zu beweisen, sich zu verwirklichen. Dafür sind Unternehmen da.«

Der Journalist nickte, Martin fuhr fort. »Wenn die Mitarbeiter hinter dem Sinn ihres Unternehmens stehen und die Macht haben, Dinge zu verändern, gibt das viele Ideen, eine rasche Umsetzung und eine laufende Anpassung an Veränderungen. Das ist ein Riesenvorteil für ein Unternehmen.«

Der Journalist schrieb einen Augenblick lang weiter, dann schaute er erfreut in die Runde. »Spannend. Danke! – Das andere Thema?«

Martin lächelte. »Wir werden Sie weiterhin nicht langweilen. Dürfen wir Ihnen einige Fragen stellen, um bei den nachfolgenden Erklärungen keine Zeit zu verlieren?«

Der Journalist nickte. Was sich dann abspielte, kam ihm vor wie in einem Film.

Die jungen Leute setzten sich um ihn herum in Sessel und auf Schreibtische und fragten ihn gezielt danach aus, inwieweit er über Gentechnik Bescheid wusste. Gentechnik?

Taktvoll, aber gründlich erforschten sie den Stand seines Wissens. Dann wechselten sie das Thema und wollten wissen, was er über Patente wusste, über nationale und internationale Patentgesetze.

Über Gentechnik hatte er schon einiges gelesen. Das Ganze schien kompliziert, und was man sich davon versprach, mutete zum Teil fantastisch an. Zum Thema Patente kam ihm einzig Geld in den Sinn. Mit Patenten konnte man Geld verdienen, sehr viel sogar. Man brauchte nur etwas Tolles zu erfinden, ließ die Erfindung patentieren und zählte das Geld aus den Lizenzgebühren, die einem die Nutzer der Erfindung entrichten mussten. So einfach war das! Nur war es leider nicht ganz so einfach, etwas zu erfinden, das den lieben Mitmenschen ihr Geld wert war.

Als sie seinen Wissensstand ermittelt hatten, nickte Martin Dominique zu. Das Licht wurde gedimmt, der Bildschirm leuchtete auf und die junge Frau begann mit einer Lektion Biologie. Einen Moment war Roger Seiler verblüfft. Weshalb erklärte sie ihm hier Grundlagen der Biologie? Aber er riss sich zusammen. Was vor sich ging, schien durchdacht. Konzentriert folgte er der Präsentation.

Dominique erklärte die Bedeutung der Pflanzen- und Tierzüchtung für die menschliche Ernährung. Es folgte eine Einführung über den Aufbau von Tier- und Pflanzenzellen, und ehe er sich versah, lauschte er mit Spannung ihren Ausführungen über Zellen, Zellkerne und Gene. Er hörte von den aktuellen Methoden der Gentechnik zur Schaffung von neuen Pflanzensorten, von Pflanzensorten, die noch leistungsfähiger sein sollten, und von Pflanzensorten, die von Krankheiten und Schädlingen nicht mehr befallen würden. Dann verschwanden die Bilder und der Raum wurde wieder hell.

Dominique Laperrière erkundigte sich, wie weit er mitgekommen sei. Roger Seiler erstaunte sie mit einer kurzen Zusammenfassung, die alle wesentlichen Fakten enthielt. Seine Auffassungsgabe war enorm, aber das war die Grundlage für seinen Job.

Dann kam der zweite Teil. Diesmal sprach Luca Perrota. Er erklärte Sinn und Zweck des Patentrechts und welche Chancen und Möglichkeiten es bot. Er zeigte dies anhand des schweizerischen Rechts. Als die Grundidee klar war, gab er Quervergleiche zum europäischen und US-amerikanischen Recht.

Seiler konnte dem Vortrag gut folgen, aber der Zweck des Ganzen blieb ihm unklar. Wieso kam er hier in den Genuss einer Lektion Gentechnik und einer Lektion über Patentrechte? Dann übernahm Martin Elkberg den dritten Teil.

Elkberg begann mit der Feststellung, dass kein Mensch ohne Ernährung überlebe. Er erinnerte daran, dass alle Nahrungsmittel, mit Ausnahme von Wasser und Salz, aus Pflanzen und Tieren entstünden. Er zeigte, dass auch viele Kleider und Medikamente aus pflanzlichen oder tierischen Stoffen hergestellt wurden, ebenso Genussmittel wie Tabak, Kakao oder Kaffee.

Dann sprach er von gentechnisch veränderten Pflanzensorten und Tierrassen und davon, dass es Leute gebe, die solche Pflanzen und Tiere patentieren wollten. Weil solche Patente nicht erlaubt waren, wollten diese Leute die Patentgesetze ändern. Weltweit. Elkberg zeigte Zusammenhänge zwischen Gentechnikunternehmen und Saatguthandelsfirmen auf. Er erzählte von hochrangigen Politikern, von eidgenössischen Bundesämtern und von schweizerischen, deutschen, französischen, japanischen, indischen und US-amerikanischen Konzernen. Er ging auf internationale Abkommen ein, auf Handelssanktionen gegenüber wenig kooperationswilligen Nationen und auf die Abhängigkeit vieler Staaten von Krediten und Bürgschaften. Und langsam wurde Roger Seiler klar, was ihm hier Stück für Stück zusammengefügt wurde. Ihn packte kaltes Grauen!

Wenn er richtig verstand, arbeiteten einige Menschen daran, mithilfe der Gentechnik und einem weltweit revidierten Patentrecht in den Besitz der Rechte an den wirtschaftlich wichtigen Pflanzensorten und Tierrassen zu gelangen. Den Quellen der menschlichen Ernährung. Am Brot der Erde! Jemand zielte darauf, via Patentgesetz und Gentechnik die Macht über wesentliche Teile der Nahrungsmittelproduktion zu bekommen. Und verdammt, ihm wurde erklärt, dass in diesem Augenblick, in dieser Stunde, in diesen Tagen, Wochen und Monaten gleichzeitig in etlichen Hauptstädten der Welt an der Umsetzung dieses Plans gearbeitet wurde.

Das konnte er kaum glauben. War das überhaupt möglich? Das würde ja heißen, es sei eine Art Welteroberung im Gange. Oder zumindest in Vorbereitung. So etwas gab es doch nicht mehr! Nicht in einer aufgeklärten, modernen, zivilisierten Welt. Ein Ding der Unmöglichkeit! Der Wahn nach so enormer Macht gehörte doch in die Geschichtsbücher.

Und doch zeigten ihm die drei Männer und die Frau mit Fakten logisch und überzeugend auf, dass tatsächlich wieder jemand daran arbeitete, gewaltige Macht in die Hände zu bekommen: Macht über die menschliche Ernährung!

Ein Traum von weltweiter Macht. Ein Traum, der nie Bestand haben konnte, ein Traum, der jedes Mal enormes Leid gebracht hatte, wenn ihn wieder ein Mensch zu verwirklichen versuchte, bis er unweigerlich scheiterte.

Zum ersten Mal würde der Traum nicht von Feldherren und Politikern wie Cäsar, Napoleon oder Hitler geträumt. Diesmal beruhte er auf einem wirtschaftlich-industriellen Plan. Nicht Armeen sollten über die Erde ziehen und die Macht in den Händen einiger weniger Menschen bündeln, diesmal sollten Hightech aus dem Bereich der Biotechnologie und ein revidiertes Patentgesetz die Mittel sein.

Roger Seilers Gedanken rasten. Genau darin lag die Chance dieses Plans: Er baute nicht auf politischen Ideologien auf, sondern auf der menschlichen Unersättlichkeit und Bequemlichkeit – deshalb schien er so realistisch.

Dominique Laperrière hatte das Wort wieder übernommen. Sie klickte das Foto eines Mannes auf den Bildschirm. Unwillkürlich beugte sich Seiler in seinem Sessel vor. Dieses Gesicht – diesen Mann kannte er! Aus den Medien und von Veranstaltungen. Über diesen Mann hatte er schon oft nachgedacht. Dieser riesige Schädel, diese furchtlosen Augen, dieser Ausdruck von Wille und unbändiger Kraft!

Er hörte die junge Frau nur noch von weit weg. Dieser Mann war eine Naturgewalt! Mal trat er charmant auf, dann wieder erschien er ihm als personifizierte Berechnung. Vor Seilers geistigem Auge flimmerten Fernsehbeiträge vorbei, Zeitungsartikel, politische und gesellschaftliche Veranstaltungen und immer wieder dieser Mann. Er erinnerte sich an zahlreiche geschickte Firmenübernahmen und an den Namen dieses Mannes: Julius van Erpold.

Van Erpold sollte hinter all diesen heimlichen Aktivitäten stecken, um weltumspannende wirtschaftliche und damit auch politische Macht zu erlangen? In Seilers Hirn flogen die Puzzleteile zu einem Bild zusammen: Schon oft hatte er sich gefragt, was dieser van Erpold eigentlich wollte. Was hinter diesen beherrschenden Augen, in diesem vor Kraft strotzenden Schädel vor sich ging. Nie hatte er sich einen Reim darauf machen können. Einige Male hatte er mit dem Gedanken gespielt, die Geschichte dieses Mannes zu recherchieren. Solche Menschen waren selten. Was trieb ihn an? Weshalb kaufte er mit solcher Wucht Unternehmen um Unternehmen? Weshalb zwang er immer noch mehr Unternehmen in seinen Einflussbereich? Wo kam er her? Wo wollte er hin? Woher stammte so immens viel Kapital?

Seilers Gedanken stockten. Weshalb war er die Geschichte nie angegangen? Was hatte ihn daran gehindert, mit diesem Menschen in Kontakt zu treten? – Grauen! Es war ein feines, aber nicht zu ignorierendes Grauen, das ihn jeweils davon abgehalten hatte, sich näher mit diesem Mann zu befassen. Ihn schauderte.

Es schien, als fand er Antworten auf seine Fragen. Wie ein Schlüssel in sein Schloss passt, so passte dieser Mann zu dem gigantischen Plan, den ihm die jungen Leute vorgestellt hatten.

Erschreckend fand Seiler die Gewissheit um die gewaltigen Fähigkeiten dieses Mannes. Und die Überzeugung, dass dieser Mann nahezu immer erreichte, was er sich vorgenommen hatte. Niemandem hätte er mehr Chancen eingeräumt, bei einem solchen Plan erfolgreich zu sein, als diesem Mann. Julius van Erpold.

Spät in der Nacht verließ der Starjournalist den Club. Was er erfahren hatte, grenzte an Wahnsinn, an puren Größenwahn. Im Sitz seines Ferraris versuchte er, Klarheit in seine Gedanken zu bringen. So unglaublich und kompliziert all dies schien, es war nachvollziehbar und es entsprach den Möglichkeiten der Technik und der Gesetze. Passend waren auch die komplizierten Verstrickungen von Wirtschaft und Politik in den Industrienationen. Bis eine Machenschaft, wie sie hier ihre Bahn nahm, offensichtlich wurde, konnte es lange dauern. Und irgendwann war es zu spät.

Viele Menschen interessierten sich nicht für Politik und Wirtschaft. Die einen nicht, weil sie vollauf damit beschäftigt waren, ihr Leben zu bestreiten, die anderen nicht, weil ihnen egal war, was um sie herum geschah, solange es ihnen gut ging.

Seiler atmete tief durch. Bei dieser Geschichte schützten weitere Umstände die heimlichen Machenschaften vor der Offenlegung. Zum einen erforderte die Kombination von Technik, Biologie und Recht ein so spezialisiertes Wissen, dass die Anzahl an Menschen von Beginn an beschränkt war, die das zu durchschauen vermochte. Zum anderen war eine ordentliche Portion Fantasie nötig, sich einen solchen Plan überhaupt vorstellen zu können. Und auch wenn der eine oder andere erkannte und verabscheute, was lief, so hatten doch die wenigsten genügend Zeit und Kraft – und Mut –, um sich gegen so etwas zu stellen. Gegen so viel wirtschaftliche und politische Macht. Das erforderte starke Menschen! Das brauchte die Bereitschaft, über die eigenen Bedürfnisse hinauszudenken. Und die Fähigkeit, geschickt und gezielt handeln zu können. Es war immer das Gleiche: Alles konzentrierte sich auf zu wenige Leute!

Es gab tatsächlich Bestrebungen für eine Revision des Patentgesetzes. Das hatte ihm schon ein Kollege erzählt. Mehr oder weniger gleichzeitig sei in etlichen Ländern eine Revision des Patentgesetzes aufgegriffen worden. Bei dieser Sache bestehe ein enormer politischer und wirtschaftlicher Druck. Er wisse nur nicht, wieso.

Der Journalist startete den Motor seines Sportwagens. Er legte einen Gang ein, schaute ein letztes Mal hinüber zum Club und bog vom Parkplatz in die Straße ein. In Gedanken versunken fuhr er aus der Stadt.

Die Leute vom Club hatten ihn gebeten, die Geschichte publik zu machen. Er solle aus allen zur Verfügung gestellten Fakten eine Story schreiben. Eine Story, die jedermann verstehen könne; eine Story, die die Menschen aufrüttele, zumindest die maßgebenden Leute.

Möglichst rasch sollten diese Machenschaften offengelegt werden, damit eine solche Machtkonzentration niemals zustande kommen könne. Wenn er, einer der Weltstars unter den Journalisten, bekannt für seine seriösen Storys, diese Geschichte schreibe, dann würde dies Gewicht haben. Allen würde klar sein, dass er seinen Namen nicht einfach so hergebe. Dass die Geschichte bitterer Ernst sei. Zumindest wären dann mehr Leute darüber informiert, was lief.

Es war nun an ihm, die Fakten zu prüfen. Sie hatten ihm Dokumente und Adressen mitgegeben. Er würde das Zeug durchsehen. Aber vor allem würde er die Sache auch von völlig anderen Seiten her angehen. Das war sein Anspruch an seriösen Journalismus, da war er unerbittlich. Aber verdammt: Er fühlte, er wusste, dass er hier nicht reingelegt wurde. Was ihm die Leute vom Club erzählt hatten, hatte Hand und Fuß! So fantastisch sich alles auch anhörte, es schien schlüssig. Der Plan schien durchführbar! Wenn nur alles in aller Stille vorbereitet werden konnte.

Er fuhr über eine Landstraße, immer leicht unter dem Geschwindigkeitslimit. Er hatte keine Eile. Es war eine helle wolkenlose Nacht, der Mond stand als Sichel am Himmel, zahlreiche Sterne funkelten im All. Die Lichter des anderen Zürichseeufers spiegelten sich im glatten schwarz scheinenden Wasser des Sees. Es war eine herrliche Nacht.

Das würde eine Riesenstory werden! Die Geschichte hatte das Potenzial für eine Weltstory! Aber es war auch eine gefährliche Geschichte. Einem van Erpold trampelte man nicht einfach auf den Füßen herum.

Die Scheinwerfer seines Ferraris erfassten einen Personenwagen. Der Journalist blendete ab, fuhr gemächlich weiter. Der Wagen vor ihm fuhr langsam. Er würde ihn überholen und dann weiter seinen Gedanken nachhängen.

Die Geschichte barg zwar zahlreiche Schwierigkeiten, das Thema war verflucht kompliziert, aber er würde sie schreiben! Er setzte zum Überholmanöver an. Kaum war er auf selber Höhe mit dem anderen Wagen, beschleunigte dieser zügig. Seiler war verblüfft. Was für ein Idiot! Soll sich doch vorher entscheiden, wie schnell er fahren will. Nun ja, mit seinem Ferrari war das kein Problem. Er drückte das Gaspedal und schoss vorwärts, doch der andere Wagen zog einfach mit! Der Journalist zweifelte am Verstand des anderen Fahrers. Sie fuhren bereits mit einhundert Stundenkilometern auf der schmalen Landstraße und der andere wollte gegen seinen Ferrari antreten? Nein, dann würde er eben nicht überholen. Er ging vom Gas, um ihn vorzulassen. Fast gleichzeitig verlangsamte auch der andere. Kaum zu glauben, wo führte das hin? Seiler biss sich auf die Lippe. Dann eben doch überholen! Er trat das Pedal durch und katapultierte seinen Wagen nach vorne. Einen kurzen Moment schien es, als würde er den anderen Wagen hinter sich lassen, aber dann schoss auch das fremde Auto wieder vor, ließ ihn nicht fortkommen. Einen Augenblick lang irritierte den Journalisten, was das gegnerische Fahrzeug zu leisten vermochte, das hätte er diesem nicht zugetraut. Doch der Wagen hielt mit und er konnte kein bisschen Abstand gewinnen.

Innerhalb von wenigen Sekunden war ein irres Rennen entstanden. Sie donnerten mit weit über einhundert Stundenkilometern nebeneinander her, immer schneller. Seiler schaute zum Fahrerfenster des unbekannten Autos. Undeutlich sah er die Gestalt des Fahrers, da wandte dieser ihm das Gesicht zu, nickte nach vorne, und dann machte es den Anschein, als bliebe jener Wagen stehen. Bruchteile von Sekunden vergingen wie Ewigkeiten und der Ferrari schoss unvermindert geradeaus. In diesem Augenblick erkannte der Journalist die Falle! Er blickte nach vorne, Entsetzen packte ihn, umklammerte seinen Nacken, kräuselte seine Haare. Er riss Mund und Augen auf und trat mit aller Kraft auf die Bremse. Eine Hundertstelsekunde übertrug sich die Bremskraft auf die Räder – dann trat Roger Seiler mit dem Bremspedal ins Leere. Einfach ins Nichts! Keine Bremsreaktion, nur der Lärm des Motors, und vorne die Kurve. Wie im Flug kam sie näher, schon fuhr er in die Krümmung.

Der junge Mann versuchte, die Kurve zu fahren, er fuhr sie in Todesangst, er fuhr sie nach allen Regeln und allem Können. Aber er hatte keine Chance. Mit unverminderter Geschwindigkeit raste der Ferrari in die enge Windung der Landstraße. Im letzten Drittel der Kurve brach der Wagen aus, überfuhr einen Straßenpfosten, schoss über den Abhang hinaus ins Leere, krachte mit der linken Frontseite gegen eine Tanne. Holz splitterte, der Ferrari wirbelte auf die Seite, prallte gegen eine zweite und eine dritte Tanne. Glas und Metallteile stoben durch die Luft, Funken sprühten. Als der Sportwagen auf dem Boden aufschlug, brannte er lichterloh.

Teil 1

Lange vor dieser Zeit

Jede Geschichte wurzelt in der vorherigen Zeit. Es wird unterschätzt, wie sehr sich das Leben und die Entscheide der uns Vorangegangenen auf unser Leben und unsere Entscheidungen auswirken.

Egal, woher du kommst, …

Das Kapital

Amsterdam, 17. April 1865

An seinem vierzehnten Geburtstag fällte Garrit van Erpold, Sohn eines niederländischen Adeligen, einen Entscheid und legte damit den Grundstein für ein großes Vermögen: Er riss aus!

Den Morgen jenes Tages verbrachte er in seinem Zimmer. Der Alte hatte seinen Geburtstag vergessen und auch von den Bediensteten hatte keiner reagiert. Das hatte ihn deprimiert. Bald schlug die Traurigkeit in Wut um. Garrit zerstörte den Spiegelkasten und den Sekretär seines Zimmers und verfluchte den Tag, an dem ihn seine Eltern gezeugt hatten. Danach war ihm wohler. Er hockte auf dem breiten Fenstersims und schaute durch die dünnen Fensterscheiben über die Felder in Richtung Meer. Er dachte nach.

Er wollte reich und mächtig werden! Genau wie die Besitzer der großen Handels- und Schifffahrtsgesellschaften in Amsterdam. Von diesen Männern erzählte man sich Wundersames: In den Laderäumen ihrer Schiffe brachten sie tropische Nahrungsmittel und Rohstoffe aus aller Welt nach Europa. Und auswanderungswillige Männer und Frauen in ferne Länder. Es hieß, dass sie unwahrscheinliche Gewinne einstreichen würden. Diese Geschäftsleute hatten ihn schon immer beeindruckt.

Garrit wusste, dass die Zeit gekommen war, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. In diesem Haus langweilte er sich zu Tode, seit sich Mutter vor sechs Jahren abgesetzt hatte. Er nahm ihr nicht übel, dass sie abgehauen war. Aber sie hätte ihn mitnehmen können! Das ewige Gejammer seines Vaters ging auch ihm auf die Nerven.

Es war Mitternacht, als er aus dem Haus schlich. Ein Sturm heulte über den Gutshof und peitschte ihm Regen ins Gesicht. Die Tropfen stachen wie Nadeln. Garrit verbarg den Beutel mit seinen Habseligkeiten unter dem Mantel und kämpfte sich gegen die Böen auf die Straße in Richtung Amsterdam. Schon bald war er nass bis auf die Haut. Es kümmerte ihn wenig. Er war neugierig auf die Welt, gespannt, wie er mit ihr zurechtkommen würde.

Zwei Tage später heuerte er auf einem Handelsschiff an. Der Zahlmeister musterte den Jungen kritisch, dann schrieb er Garrits Namen und Alter mit einem höhnischen Grinsen in ein Buch. Garrit grinste in Hochstimmung zurück. Es lief besser als erwartet.

Vom Selbstmord seines Vaters erfuhr Garrit erst Jahre später. Wenige Tage nachdem er ausgerissen war, hatte sein Vater die Verkaufsverträge für die letzten Streifen Land und einen Pfandbrief auf das Gutshaus unterschreiben müssen. Danach hatte er eine Flasche Brandy geleert, war in den Keller hinabgestiegen und hatte sich erschossen. Kein Mensch hatte etwas gehört. Regen, Wind und Donner hatten das Geräusch verwischt.

Die Haarlem gehörte einer niederländischen Reederei. Als sie auslief, strich eine kalte Brise über das Deck. Ihr Ziel war Shanghai. Garrit wusste nicht, wo das lag. Hauptsache, er kam weg.

Nach dem Ablegen gab es eine Menge Arbeit. Ein Matrose brachte ihm bei, wie man Trossen aufschoss und im Unterdeck Ballast festzurrte. Garrit keuchte bei der Arbeit. Seine Muskeln schmerzten. Als er Zeit fand, einen Blick über die Reling zu werfen, war das Land nur noch andeutungsweise zu erkennen. Graue Wolkenfetzen trieben über das Wasser. Gut so, dachte Garrit.

Er hasste dieses Land. Er verabscheute seinen idiotischen Alten und die ganze verdammte Gesellschaft, diese heuchlerische, schadenfrohe Brut. Bis zu seinem achten Lebensjahr war es erträglich gewesen. Aber dann nannte seine Mutter ihren Mann einen winselnden Schwachkopf, der zu nichts tauge, und am allerwenigsten als Mann. Das hatte sie zwar öfter getan, aber dieses eine Mal tat sie es auf dem Silvesterball der Ersten Amsterdamer Gesellschaft.

Das neue Jahr war eine halbe Stunde alt, als das Orchester für Garrits Mutter, bekannt als temperamentvolle Frau, mit einem dramatischen Musikwisch für Aufmerksamkeit sorgte. Die edle Meute erwartete eines ihrer aufregenden Gesellschaftsspiele. Und sie bekam eines: Garrits Mutter bat ihren Mann, auf einem Stuhl mitten auf der Tanzfläche Platz zu nehmen. Sie forderte ihr Publikum auf, sich mit einem Glas Champagner auszurüsten, und als sich alle von den Tabletts der Dienerschaft bedient hatten, zeichnete sie der lüstern lauschenden Schar das Bild dieses Mannes auf dem Stuhl in ihrer Mitte. Das Bild eines verblödeten, kleinlichen und doch perversen Idioten, eines impotenten natürlich. Sie war hinreißend! Sie sprach mit spöttischem Grinsen, sie war witzig, sie war steinhart. Sie sprach nur wenige Minuten, aber sie tat dies so eindrücklich, mit Details und glaubhaft, dass die noble Gesellschaft zwischen Schock, Ekel und Faszination hin- und hergerissen war. Als sie ihr Glas in die Höhe hielt und alle dazu aufforderte, darauf anzustoßen, dass mit dem neuen Jahr für sie eine neue Zeit beginne, wusste zwar niemand genau, was sie damit meinte, aber alle prosteten ihr zu und stießen an. Garrits Vater rettete sich in einen Schwächeanfall und wurde weggetragen. Seine feurige Frau dagegen war noch nicht fertig. Sie stieg auf einen Stuhl und peitschte die Gesellschaft mit beispielloser Redekunst zu einer unvergesslichen Silvesternacht auf. Es wurde die ausgelassenste Feier, an die sich die Erste Amsterdamer Gesellschaft erinnern konnte. Die Musik spielte wilde Rhythmen, der Champagner floss in Strömen und Garrits Mutter tanzte mit den verschiedensten Männern in anzüglichster Weise. Es wurde eine Nacht, die manche Männer nachträglich bereuten. Aber Frau van Erpold hatte abgerechnet. Danach sah sie keiner mehr. Mit einer hübschen Summe Geld und dem Familienschmuck hatte sie sich abgesetzt.

Für Garrits Vater bedeutete diese Nacht das gesellschaftliche Ende. Erst heulte und tobte er, aber schon bald war er wieder der Alte: willenlos und weinerlich. Mit dem Haushalt der van Erpolds ging es jäh abwärts. Zwei Jahre später zwangen die Gläubiger zum ersten Landverkauf. Weitere Verkäufe folgten, Garrits Vater wurde noch zänkischer. Das Geld rann ihm wie Sand durch die Finger. Jahr für Jahr.

Am Tag nach seinem Selbstmord übernahm der Konkursverwalter das Haus. Das Verschwinden des Jungen kümmerte niemanden.

Auf See ging Garrit durch eine harte Schule. Aus dem Knaben wurde ein kräftiger Kerl mit dem feurigen Temperament seiner Mutter. Er besaß einen animalischen Instinkt für Gefahren und Talent für das Führen von Männern. Und er setzte sich rücksichtslos durch. In Bombay stand er das erste Mal vor Gericht. Ein rothaariger Ire, sein stärkster Konkurrent für einen Steuermannsposten, war mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden worden. Mangels Beweisen wurde Garrit van Erpold freigesprochen.

In New Orleans hatte er Pech. Nach langen Monaten auf See soff und hurte er bereits den vierten Tag in den Spelunken und Bordellen des Vieux Carré, als ihn die Polizei in einer Kneipe verhaftete. Sie warfen ihn in ein stickiges Backsteinloch zu einigen gefährlich aussehenden Kerlen. Er getraute sich nicht, die Augen zu schließen, er fürchtete, dass sie ihn umbringen würden.

Bei der Vernehmung erfuhr er, dass er eine Prostituierte mit unzähligen kleinen Messerstichen zu Tode gequält haben soll. Er konnte sich wirklich nicht mehr genau erinnern, die vergangenen Tage waren eine einzige Orgie gewesen. Das Problem war, dass die Hure im Dienst eines Syndikats gestanden hatte, das Unregelmäßigkeiten im Geschäft nicht duldete. Und gute Beziehungen zur Justiz pflegte. Die Lage war beschissen. In der dritten Nacht erwürgte er den Wärter durch die Käfigstangen und brach zusammen mit seinen Mithäftlingen aus dem Gefängnis aus.

Er setzte sich in die Karibik ab.

Mit zweiundvierzig Jahren kehrte Garrit van Erpold in die Niederlande zurück. Auf einer Wange, an den Armen und auf einer Hand glühten schlecht verheilte Narben. Aber er war ein reicher Mann. Es hieß, er habe eine verdammte Ähnlichkeit mit dem legendären schwarzen Korsaren, der über ein Jahrzehnt die Karibik unsicher gemacht hatte. Garrit scherte sich nicht darum. Er erfüllte sich seinen Traum und übernahm in Amsterdam eine Schifffahrtsgesellschaft mit drei Dutzend Handelsschiffen und über siebentausend Seeleuten und weiteren Angestellten. In den folgenden Jahren erneuerte er seine Flotte, bis sie zu den modernsten zählte. Er gab ihr seinen Namen: Van Erpold Trans-World-Line.«

Schon bald war er ein Begriff in der Branche. Zu seiner Flotte zählten die schnellsten Schiffe und für genügend Geld lieferte er alles. Von der Karibik hielt er seine Flotte fern, weil er wusste, wie gefährlich diese für Handelsschiffe war. Aber aus allen anderen Weltgegenden holten seine Schiffe in ihren Laderäumen Edelmetalle, Zucker, Kaffee, Tabak, Rum, Gewürze, Baumwolle und weitere Rohstoffe nach Europa. Später auch Getreide und Fleisch. Zusammen mit den anderen Gesellschaften überschwemmte er Europa mit billigen Agrarprodukten und steuerte damit die europäische Landwirtschaft in eine Krise. Es war im egal. Sein Geschäft blühte.

Garrit heiratete die Tochter eines anderen niederländischen Reeders. Seine Frau gebar ihm einen Nachfolger für die Gesellschaft. Garrit taufte ihn auf seinen Namen. Nun galt es, neben der Trans-World-Line den Sohn zu formen, Garrit II.

Garrit liebte sein Unternehmen. Mit seinem ganzen Geist und jeder Faser seines Körpers arbeitete er an der Firma. Zufrieden stellte er fest, dass ihm sein Sohn wie aus dem Gesicht geschnitten war. Garrit II. seinerseits bemerkte früh, welche Befriedigung sein Vater aus der Trans-World und seiner Macht gewann. Sein Vater war ein Raubtier. Garrit II. wollte auch ein Raubtier werden. Mit fünfundzwanzig Jahren stand er seinem Vater nur noch in wenigen Dingen nach.

Als Garrit van Erpold innerhalb weniger Wochen an einem Hirntumor erkrankte und verstarb, starb er reich und mächtig, mit fürchterlichen Schmerzen und grauenhafter Angst vor dem Tod. Er starb allein. Seine Frau war verreist und Garrit II. hatte anderweitig zu tun.

Die Van Erpold Trans-World-Line gedieh weiter. Auch Garrit II. liebte das Geld und die Macht und riskante Geschäfte. Auch er besaß einen feinen Instinkt für Gefahr. Selten konnte ihm eine illegale Tätigkeit nachgewiesen werden. Wenn doch, sorgte er dafür, dass die Sache im Sand verlief.

Garrit van Erpold II. war Alleinherrscher über ein weltumspannendes Transportunternehmen und ein angesehenes Mitglied der Amsterdamer Gesellschaft. Er heiratete eine Frau, die er liebte wie eine Göttin, und er wusste, dass ihn nichts mehr würde umwerfen können.

Dann gebar ihm seine Frau einen Sohn. Als er das kleine Bündel zum ersten Mal sah, brach seine Welt zusammen. Er wusste, dass Neugeborene nicht eben Schönheiten waren. Aber aus dieser schwächlichen Kreatur konnte unmöglich etwas Brauchbares werden. Das Kind schien verbogen, kümmerlich und kränklich. Nie würde er daraus den künftigen Herrscher der Trans-World schmieden können! Den zweiten Nackenschlag erhielt er beim Gespräch mit dem Arzt: Seine Frau sei bei der Geburt verletzt worden und könne keine weiteren Kinder mehr haben. Seine Frau, das einzige Wesen, für das er Gefühle aufbrachte. Er hasste das Baby! Er hasste dieses kraftlose, verkrümmte Geschöpf, das sein Leben zerstört hatte.

Sie tauften den feingliedrigen Jungen Richard.

Von überall her trafen Glückwünsche ein für den Kronprinzen der Trans-World. Garrit II. raufte sich die Haare. Glückwünsche für diese Kreatur? Diese Heuchler! Aber er gab sich keine Blöße. Diese Schadenfreude gönnte er niemandem.

Garrit II. brachte es nicht über sich, das Kind auf den Arm zu nehmen. Nur selten sprach er einige Worte zu ihm. Er entdeckte immer neue Mängel an Richard: Er schlief schlecht, aß wenig und es dauerte lange, bis er kroch. Aber vor allem hasste er seine weinerliche Stimme.

Seiner Frau zuliebe überwand sich Garrit II. schließlich doch und nahm sich des Jungen an: Er würde aus ihm einen Mann machen!

Es war kein Pappenstiel, ein Unternehmen wie die Trans-World zu führen. Das war ein hartes, kaltes Spiel; ein Spiel für schlaue Männer mit wenig Skrupel. Er hatte durchaus seinen Spaß dabei, aber nur, weil er die Zügel in der Hand behielt. Dauernd galt es, Rivalen auszubooten, mit anderen musste er sich arrangieren. Nur mit Gespür, List und Kraft war er immer einen Schritt voraus. Das Leben war nun mal keine Kinderstube.

Aber Garrit II. hatte sich entschieden: Er würde den Jungen in einer harten Schule zum künftigen Boss der Trans-World formen!

Er nahm sich Zeit für Richard. Er spielte mit seinem Sohn Fußball. Der Knabe war denkbar ungeschickt. Er nahm seinen Sohn mit auf lange Spaziergänge, aber Richard vermochte ihm kaum zu folgen. Er kaufte Richard ein Pony. Richard hatte Angst vor dem Tier. Er nahm Richard zum Schwimmen mit, der Junge fror schon nach wenigen Minuten. Garrit II. biss die Zähne zusammen. So leicht gab er nicht auf. Als Richard sieben war, engagierte er einen Privatlehrer, der den Jungen auszubilden hatte. Richard hatte keinerlei Lust, zu lernen. Am liebsten half er seiner Mutter, wenn sie ihre Blumen pflegte.

Richard wuchs, aber er blieb schmächtig und uninteressiert. Garrit II. trieb ihn weiter. Irgendwann musste es Wirkung zeigen. Er beauftragte einen zweiten Lehrer, der Richard in alle möglichen Sportarten einzuführen hatte: Der Junge musste rudern, reiten, schießen und turnen. Garrit II. ließ nichts unversucht, seinen Sohn abzuhärten. Er bestand darauf, dass Richard an zahlreichen Wettkämpfen teilnahm. Das würde seinen Ehrgeiz stählen! Richard besetzte meistens den letzten Platz. Die Abscheu seines Vaters war nicht zu übersehen. Garrit II. strafte seinen Sohn mit tage- und wochenlangem Schweigen.

Richard wusste, dass er nie genügen konnte, wusste, dass er ein schlechter Junge war. Die Enttäuschungen, die er seinem Vater bereitete, verfolgten ihn in seinen Träumen. Richard blieb kraftlos. Garrit II. ließ nicht locker.

Richard entwickelte sich zu einem misstrauischen Jungen ohne Selbstvertrauen und ohne praktisches Geschick. Er war unfähig, mit Gleichaltrigen zu spielen. Niemandem kam er einen kleinen Schritt entgegen. Seine Schulzeugnisse waren katastrophal. Die Lehrer nannten ihn verstockt.

Mit sechzehn blockierte Richard vollständig. Wann er nur konnte, schloss er sich in seinem Zimmer ein. Er hasste die Menschen. Und er hasste sich selbst. Er schämte sich wegen der unwichtigsten Dinge und war voller Zweifel. Er äußerte keinerlei eigene Überzeugung und er übernahm nirgends Verantwortung. Er war völlig abhängig von Anweisungen und Anleitungen. Täglich schämte er sich wegen seiner Ungeschicktheit und wegen seines mickrigen Körpers.

Mit zwanzig war Richard ein mürrischer, eigensinniger Mann. Er erledigte einfache Arbeiten in Garrits Unternehmen. Ohne Lust. Ohne Kraft.

Garrit II. und seine Frau verunfallten auf einer Inspektionsreise tödlich. Als sich Richard der Trans-World allein gegenübersah, geriet er in Panik und verschwand. Wochen später meldete sich bei der Van Erpold Trans-World-Line eine Schweizer Bank. Sie habe von Richard van Erpold den Auftrag, die Trans-World-Line und alle Liegenschaften zu verkaufen.

Richard war in die Schweiz geflüchtet, hatte Kontakt mit einer Bank aufgenommen und dieser den Auftrag für den Verkauf und alle nötigen Vollmachten erteilt. Für ihre Dienste hatte er mit der Bank eine vom Gesamterlös abhängige Summe vereinbart. Die Banker arbeiteten geschickt, und die Summe, die sie für die Trans-World lösten, war gigantisch.

Richard van Erpold blieb in der Schweiz. Er verteilte das Geld auf mehrere Schweizer Banken, ließ sie nach ihrem Gutdünken damit arbeiten und verglich die Erträge. Wer gut arbeitete, bekam mehr.

In der Nähe von Zürich kaufte er sich ein herrschaftliches Haus, auf einer Anhöhe über einem Tal gelegen. Hier war er weit weg vom Meer. Weit weg von Schiffen und von Leuten, die ihn kannten. Er ging keiner Erwerbstätigkeit nach. Jede geschäftliche, sportliche oder gesellschaftliche Aktivität war ihm ein Gräuel. Die Größe seines Vermögens schüchterte ihn immer wieder von Neuem ein. Und es wuchs weiter.

Ohnmächtig

Jeder Sieger bedingt mindestens einen Verlierer.

Der eine jubelt, der andere weint, ist vielleicht gar vernichtet.

Dresden, Ende 1933

Der vierzehnjährige Abraham Perlstein faltete die Zeitung seines Vaters zusammen. Es war zum Verzweifeln! Gleich nachdem die Nazis die Macht in Deutschland übernommen hatten, weiteten sie ihren Terror gegen Juden und Andersdenkende aus. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei von Anfang an eine antijüdische Organisation gewesen sei. 1920 hatte die Partei ihren Namen von Deutsche Arbeiterpartei in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP geändert. Am selben Tag verkündete Adolf Hitler im Münchner Hofbräuhaus das Parteiprogramm. Zu den vier zentralen Elementen des 25-Punkte-Programms gehörte, ein Großdeutsches Reich anzustreben, den Versailler Vertrag aufzuheben, einen autoritären Staat aufzubauen sowie die Juden von der deutschen Staatsbürgerschaft auszuschließen. Sein Vater war der Ansicht, dass die Nazis wegen ihres Antisemitismus lange eine Splitterpartei geblieben seien. Aber dann hatte Joseph Goebbels befohlen, die antijüdische Stimmungsmache zurückzufahren, um mehr Stimmen zu erreichen. Zudem änderte die NSDAP ihre Propagandastrategie. Ab dann erzählte sie jeder sozialen Schicht und Gruppierung im Volk, was sie hören wollte: Gegenüber den Industriearbeitern gab sie sich sozialistisch und organisierte Streiks. Für die Besitzer von kleinen Läden kämpfte die Partei gegen die großen Warenhäuser. Bei der ländlichen Bevölkerung betonte sie ihre Blut-und-Boden-Ideologie und nannte als Ziel, die deutsche Wirtschaft vom Weltmarkt abzukoppeln. Gegenüber den Großindustriellen bestritt Adolf Hitler, dass die NSDAP auf eine wirtschaftliche Unabhängigkeit hinarbeite. Ihnen sagte er, dass er Klassenkämpfe und Demokratie ablehne. Auf die Frage der Industriellen, wie das Wort ›sozialistisch‹ im Parteinamen zu verstehen sei, und auch auf die Fragen vieler anderer, wie das konkrete Aktionsprogramm aussehe, verweigerte Hitler vor der Machtergreifung konsequent, genauer zu werden. Die Kernstücke seines Programms waren der radikale Nationalismus und die Volksgemeinschaftsideologie. Vor allem die Volksgemeinschaftsideologie ließ sich je nach Publikum unterschiedlich auslegen.

Damit hatten die Nazis Erfolg. In wenigen Jahren entwickelten sie sich zur Massenbewegung. Für Abrahams Vater war klar, dass der Hauptgrund dafür die Weltwirtschaftskrise war, die Deutschland besonders zermürbte. Es gab Millionen Arbeitslose mit allem zugehörigen Elend. Die demokratischen Parteien waren zerstritten und viele Menschen trauten ihnen nicht mehr zu, einen Weg aus der Krise zu finden. Das war Wasser auf die Mühlen der Nazis. Mit all ihren Versprechen gewannen sie immer mehr Zulauf. Sein Vater und andere Menschen warnten, dass die Braunen Verderben bringen würden, sobald sie an der Macht wären. Doch kaum jemand beachtete sie. Oder sie wurden belächelt.

Abraham erinnerte sich an all die Essen mit Mutter, Vater und Gästen, bei denen Politik das beherrschende Thema gewesen war. Es waren düstere Mahlzeiten gewesen. Manchmal ließen ihn die bedrohlichen Ereignisse kaum Schlaf finden.

Am meisten setzte ihm zu, dass alles so unausweichlich schien. Unablässig gab es neue schlechte Nachrichten und man konnte nichts tun. Allein in diesem Jahr 1933 war gleich zu Beginn Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden, kurz darauf ließ er den Reichstag auflösen. Ende Februar brannte das Reichstagsgebäude in Berlin, im März gewann die NSDAP mit großem Erfolg die Wahlen. Nach der Machtergreifung schalteten die Nazis die Demokratie Schritt für Schritt aus. Der Reichsrat verabschiedete das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, das Hitler praktisch diktatorische Vollmacht übertrug. Gegner wurden verhaftet, es gab Prozesse und die Konzentrationslager Dachau und Wittmoor wurden gegründet. Die Nazis führten eine Kampagne nach der anderen gegen die Juden und boykottierten ihre Geschäfte. Sie verboten die Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei Deutschland. Sie veranstalteten auch Bücherverbrennungen. Die Opposition verstummte. Die Ausschreitungen gegen Geschäfte von Juden nahmen zu, sie wurden beschädigt oder geplündert. Im Oktober verkündete die Regierung den Austritt des Deutschen Reichs aus dem Völkerbund.

Und jetzt verkündete die Zeitung die Einführung des Einparteiensystems.

»Krieg und Tod!«, hatte sein Vater gemurmelt, als er die Zeitung nach dem Lesen vor einer halben Stunde auf den Tisch gelegt hatte.

»Krieg und Tod? Wie meinst du das?« Abraham hasste es, dass sein Vater alles so negativ sah. Und doch fürchtete er, dass er recht behalten würde. Sein Vater hatte ihn traurig angeschaut.

»Ich hoffe nicht, dass es so weit kommt. Ich hoffe auf ein Wunder! Aber diese unglaubliche Wut und Heftigkeit, diese Kompromisslosigkeit, Skrupellosigkeit und Siegesgewissheit der Nazis, das führt über kurz oder lang zu Krieg und Vernichtung.« Dann blickte er gedankenverloren an seinem Sohn vorbei. »Nun haben die Nazis die absolute Macht erreicht. Damit ist die Guillotine aufgestellt.« Sein Blick wanderte zu seinem Sohn zurück. »Kein Mensch ist gut genug für die absolute Macht. Kein Mensch und auch keine Partei.« Gebeugt verließ er das Zimmer.

Abraham packte die Wut. Vor wenigen Jahren war sein Vater ein fröhlicher Mensch gewesen. Als Mitinhaber einer angesehenen Bank hatte er gut verdient. Mutter sagte, dass sie Teil der noblen Gesellschaft von Dresden gewesen seien, bei vielen Leuten zu Gast und mit vielen Gästen im eigenen Haus. Daran erinnerte sich Abraham gerne. Seine Mutter sagte auch, dass niemanden gekümmert habe, ob sie Juden waren oder nicht. Inzwischen war alles anders.

Aus seinem Vater, einem selbstbewussten Mann, war ein pessimistischer, ängstlicher Mensch geworden. Und aus Mutter eine schweigsame Frau. Abraham wusste, dass seine Wut auf seinen Vater falsch war. Aber seit einiger Zeit beobachtete Abraham, dass dieser leicht gebeugt ging. Das ärgerte ihn. Es ärgerte ihn ungeheuer und es ärgerte ihn auch, dass sein Vater dauernd jammerte. Er klagte nicht nur über die Nazis, sondern auch über die Politik insgesamt, über die Dummheit des Volkes und darüber, dass er überall auf Ablehnung und Feindseligkeit stoße. Und kaum noch Geschäfte tätigen könne.

Aber er unternahm nichts! Damit hatte Abraham am meisten Probleme.

Immerhin, am vergangenen Sonntag war Vater richtig wütend geworden. Ein Bekannter, mit dem er Schach spielte, hatte ihm einzureden versucht, dass sich die Sache schon wieder beruhigen werde, sobald die Nazis ihre Positionen gesichert hätten. Erst hatte ihn sein Vater zynisch ausgelacht. Dann hatte er ihn wütend gefragt, wo es hinführe, wenn der Terror gegen Juden und Andersdenkende täglich zunehme. Die Nazis seien daran, ihre politischen Gegner beiseitezuschaffen. In rasendem Tempo und mit immer weniger Skrupel. »Und diese Rassenideologie, was soll das? Darüber willst du nicht nachdenken!«

Abraham teilte diese Ansichten seines Vaters. Aber er war trotzdem wütend auf ihn: Nie sagte er, was man gegen all das tun konnte!

Die Zeit zog sich mit immer neuen Hiobsbotschaften hin. Erstaunlicherweise ließen ihn seine Eltern eine Mechanikerausbildung beginnen. Früher hatte sein Vater versucht, ihm das Bankgeschäft schmackhaft zu machen. Aber das war ihm zu abstrakt. Motoren und Maschinen waren die Welt, die ihn interessierte. So arbeitete und lernte Abraham nun täglich in der mechanischen Werkstatt, die einem Bekannten gehörte. Die Arbeit gefiel ihm, aber das Geschäft lief schlecht. Immer weniger Leute gaben einer Firma Aufträge, die einem Juden gehörte. Auch gab es zwischen den Gesellen immer wieder Streit. Einige waren Mitglieder der NSDAP und einer, Herbert Pfeiffer, ein besonders unsympathischer Kerl, bildete sich viel auf seine arische Herkunft ein. Und sorgte andauernd für Unruhe.

Dann kam das Jahr, in dem das Deutsche Reich der Welt sowohl die Olympischen Winterspiele in GarmischPartenkirchen als auch die Olympischen Sommerspiele in Berlin präsentierte. Die Nazis schlachteten die Olympiaden propagandistisch gnadenlos aus. Dadurch waren sie so beschäftigt, dass sie kaum Zeit fanden, um gegen die Juden zu hetzen. Kaum aber waren die Spiele vorbei, verstärkte Minister Goebbels die Propaganda gegen die Juden erneut.

Adolf Hitler feierte einen Erfolg nach dem anderen. Er erreichte nahezu Vollbeschäftigung und ihm gelang die Wiederbewaffnung Deutschlands. Für die Deutschen war er ein Wundertäter. Dass er mit Gesetzen und Gewalt immer härter gegen die Juden vorging, schien den meisten Bürgern nebensächlich.

Pfeiffer benahm sich immer arroganter. Er bezichtigte Abrahams Meister, den Inhaber der Werkstatt, unfähig zu sein, die Werkstatt erfolgreich zu führen. Abraham stellte sich auf die Seite seines Meisters und geriet dadurch in eine Dauerfehde mit Pfeiffer. Abraham riet seinem Chef, Pfeiffer zu entlassen. Doch dieser getraute sich nicht, weil Pfeiffer Mitglied der NSDAP war. Zudem war es mit Hitlers neuen Gesetzen für Vollbeschäftigung kaum mehr möglich, jemanden auf die Straße zu setzen.

Als Abraham eines Morgens gegen Ende des Jahres 1937 ins Büro seines Meisters trat, saß dieser völlig verwirrt an seinem Schreibtisch. Er hatte Tränen in den Augen. Pfeiffer hatte eben laut auf ihn eingeredet. Abraham bestand darauf, zu erfahren, worum es ging. Da erläuterte ihm Pfeiffer hämisch, dass ab Neujahr ein Gesetz in Kraft trete, nach dem es den Juden im Deutschen Reich verboten sei, Einzelhandelsgeschäfte und Handwerksbetriebe zu betreiben oder Waren und Dienstleistungen anzubieten.

Abraham war perplex. »Das ist nicht wahr?!« Er schaute zu seinem Vorgesetzten.

Diesem traten erneut Tränen in die Augen. Er legte den Kopf in seine Arme auf der Tischfläche.

»Und was hat das mit dir zu tun?«, herrschte Abraham Pfeiffer an.

Pfeiffer grinste. »Ich werde diesen Betrieb übernehmen. Und auf Vordermann bringen!«

»Du?« Abraham schaute den blonden Mechaniker ungläubig an. »Wieso du?«

Zuerst war Pfeiffer verunsichert, aber dann antwortete er mit erhobenem Kinn: »Es ist für das Deutsche Reich von Vorteil, wenn Betriebe durch echte Deutsche geführt werden. Das sagt der Führer!«

»Echte Deutsche?«, echote Abraham. »Was zum Teufel soll an ihm nicht echt sein?« Abraham wies auf den Meister.

»Er ist Jude!«

»Na und? Ich auch. Wir sind Deutsche und Juden!« Unsäglicher Groll stieg in Abraham auf. »Und wovon sollen wir Juden leben, wenn ihr uns die Arbeit wegnehmt?«

»Wir nehmen euch die Arbeit nicht weg! Ihr dürft diese Geschäfte nur nicht mehr selbst betreiben. Sowieso ist das nicht mein Problem. Das hättet ihr euch früher überlegen sollen.«

Abraham sah nur noch rot! Es kam wie eine Wolke, das Blut rauschte in seinem Kopf – und er schlug zu! Erst traf er Pfeiffer mit der rechten Faust auf die Nase, dann mit der linken an der Schläfe. Der nächste rechte Haken traf ihn von unten ans Kinn. Die Wucht des letzten Schlags schleuderte Pfeiffer gegen einen Metallschrank. Der Meister schrie, aber Abraham hörte nicht hin, wollte nichts mehr hören, wollte nur noch eines: die Vernichtung dieses Schweins! Pfeiffer stieß sich vom Schrank ab und einen Augenblick lang schien es, als wolle er zurückschlagen, aber da trafen ihn bereits die nächsten Schläge von Abraham: in die Seite, an den Kopf. Pfeiffer sackte zusammen.

Abraham stand keuchend am Schreibtisch, Pfeiffer lag am Boden, aus seinem Mund flossen Speichel und Blut, daneben lag ein abgebrochenes Stück Zahn. Der Meister kniete neben Pfeiffer und untersuchte dessen Schädel. Er blickte zu Abraham auf. »Ich glaube, der Schädel ist nicht gebrochen. Aber das war ein Fehler, Abraham! Dafür holen sie dich ab!«

Kurz nachdem Abraham seinen Eltern zu Hause erzählt hatte, was vorgefallen war, kamen sie: sechs Uniformierte. Sie verhafteten ihn. Wegen Auflehnung gegen den Führer und Körperverletzung eines NSDAP-Mitglieds.

Einige Wochen verbrachte Abraham Perlstein in Arrestzellen verschiedener Gestapo-Posten von Dresden. Er erfuhr, dass sie seine Eltern ebenfalls verhaftet hatten. Immer wieder misshandelten und demütigten sie ihn, aber niemand schien zu wissen, wie es weitergehen sollte. Dann brachten sie ihn nach München in ein Gefängnis. Niemand wusste, weshalb. Zwei Jahre später war Abraham überzeugt davon, dass man ihn vergessen hatte.

Oft dachte er darüber nach, wie es möglich war, dass Hitler mit den Nazis die Macht hatte ergreifen können. Er kam stets zu demselben simplen Fazit: Hitler konnte die Macht ergreifen, weil man ihn ließ!

Als die Menschen noch in Freiheit gelebt und die NSDAP und Hitler noch um Anerkennung gekämpft hatten, waren sie zu bequem oder zu uninteressiert gewesen, als dass sie sich gegen das immer deutlicher werdende Unrecht gestellt hätten. Viele versprachen sich auch Vorteile.

Und dann war es zu spät.

Das Gefängnis veränderte Abraham. Er wurde vorsichtig und zäh. Er achtete sorgfältig darauf, nicht aufzufallen, und er versuchte, bei Gesundheit und Kräften zu bleiben. Seine Zellengenossen wechselten: Es kamen und gingen Kriminelle, Asoziale, Juden und Politische. Abraham blieb. Im Kontakt mit den Kriminellen kam ihm seine kräftige Statur zugute.

Inzwischen war der Krieg ausgebrochen.