Der Buchliebhaber - Charlie Lovett - E-Book

Der Buchliebhaber E-Book

Charlie Lovett

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Beschreibung

Arthur Prescott ist glücklich mit seinem Leben im beschaulichen Barchester. Er unterrichtet an der Universität und verbringt seine Freizeit am liebsten in der Bibliothek der Kathedrale, deren Geschichte er recherchiert. Doch ausgerechnet seine wichtigste Quelle, das ›Buch der Ewolda‹, gilt als verschollen. Seit Jahren sucht Arthur vergebens nach dieser mittelalterlichen Handschrift, als nun auch noch ein Eindringling seine Arbeit stört: Die junge Amerikanerin Bethany ist nach Barchester gekommen, um die Bestände der Bibliothek zu digitalisieren. Ein Sakrileg in den Augen des bibliophilen Arthur. Doch Bethany erobert schließlich nicht nur Arthurs Herz, sie hilft ihm auch, das Rätsel des verschwundenen Manuskripts zu lösen ...

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Buch

Arthur Prescott ist glücklich mit seinem Leben im beschaulichen Barchester. Er unterrichtet an der Universität und verbringt seine Freizeit am liebsten in der Bibliothek der Kathedrale, deren Geschichte er recherchiert. Doch ausgerechnet seine wichtigste Quelle, das »Buch der Ewolda«, gilt als verschollen. Seit Jahren sucht Arthur vergebens nach dieser mittelalterlichen Handschrift, als nun auch noch ein Eindringling seine Arbeit stört: Die junge Amerikanerin Bethany Davis ist nach Barchester gekommen, um die Bestände der Bibliothek zu digitalisieren. Ein Sakrileg in den Augen des bibliophilen Arthur. Doch Bethany erobert schließlich nicht nur Arthurs Herz, sie hilft ihm auch, das Rätsel des verschwundenen Manuskripts zu lösen …

Autor

Charlie Lovett hat früher als Antiquar gearbeitet, ist ein begeisterter Büchersammler und gehört dem »Grolier Club« an, Amerikas bedeutendstem Club für Bücherliebhaber. Er lebt mit seiner Frau abwechselnd in Winston Salem, North Carolina, und Kingham im englischen Oxfordshire. Nach dem New-York-Times-Bestseller »Das Buch der Fälscher« und »Jane Austens Geheimnis« ist »Der Buchliebhaber« sein dritter Roman.

Mehr zum Autor und seinen Büchern finden Sie unter http://charlielovett.com

Charlie Lovett

Der Buchliebhaber

Roman

Aus dem Englischen vonAndreas Helweg und Heike Reissig

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Lost Book of the Grail« bei VIKING, an imprint of Penguin Random House LLCDie Übersetzung des Auszugs aus Anthony Trollope, Septimus Harding, Spitalvorsteher stammt von Andrea Ott, der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Manesse Verlags, Zürich.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2017

Copyright © der Originalausgabe 2017 by Charles Lovett

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: plainpicture/Narratives/Jan Baldwin

Redaktion: Regine Weisbrod

AB · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-21645-0V002

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für TAPS

Kein Zeitalter existiert ganz für sich allein; jede Zivilisation wird sowohl durch ihre eigenen Errungenschaften als auch durch das Erbe ihrer Vergangenheit geprägt. Wenn diese Dinge zerstört werden, verlieren wir einen Teil unserer Vergangenheit, und das macht uns ärmer.

– MAJOR RONALD BALFOUR

Für mich ist Barset ebenso eine wirkliche Grafschaft, wie Barchester eine wirkliche Stadt ist; die Kirch- und Spitztürme sind mir ebenso vertraut wie die Stimmen der Einheimischen, und mir ist, als sei ich selbst durch die Straßen und Gassen spaziert.

– ANTHONY TROLLOPE

IDie Marienkapelle

*

Die Marienkapelle jenseits des Hochaltars am östlichen Ende der Kathedrale beherbergte einst den Schrein der heiligen Ewolda, Gründerin des angelsächsischen Klosters, auf dem die Kathedrale erbaut wurde. Im Zuge der Reformation wurde der Schrein abgerissen, und mehr als fünf Jahrhunderte lang erinnerte nur ein einfaches, schwarzes Steinkreuz im Boden an seinen Standort. Über Ewolda ist nur wenig bekannt, abgesehen von einer Erwähnung durch Beda Venerabilis: »Am zwölften Oktober wird der heiligen Ewolda gedacht, einer Märtyrerin, die das Königreich Barsyt bekehrte und dort ein Kloster gründete. Sie opferte ihr Leben, damit das Licht Christi dort weiter leuchten konnte.«

BARCHESTER, 7. FEBRUAR 1941

Barchester hatte keine Luftschutzsirenen. Die Stadt lag außerhalb der Reichweite deutscher Kampfflugzeuge und war strategisch unbedeutend. Wenn der Süden Englands jedoch plötzlich unter einer dichten Nebeldecke verschwand, konnte es passieren, dass Bomberschwadronen die Orientierung verloren. Wenn dann eine aus dem Nebel auftauchende Domspitze dem Navigator verriet, dass er für eine sichere Umkehr zu weit vom Kurs abgekommen war, erinnerte sich so mancher Bombenschütze an die Worte seines Kommandanten: »Besser irgendein Ziel als gar keins!« Und so kam es, dass Edward nicht von Sirenengeheul aus dem Schlaf gerissen wurde, sondern von Geschrei, Gehupe und einem immer lauter werdenden Dröhnen.

Das Bett seines Bruders war leer. Edward zog sich rasch etwas über und rannte aus dem Zimmer, doch außer ihm war niemand im Haus. Plötzlich gab es einen Blitz, dann eine Explosion, und im nächsten Moment war Edward von Glasscherben übersät und hatte ein gellendes Pfeifen im Ohr, das alle anderen Geräusche übertönte. Edward war zwar erst neun, aber die Meldungen in der Zeitung und im Radio hatte er trotzdem mitbekommen. Er wusste, was in London passiert war. Seine Eltern hatten ihm gesagt, dass Barchester vor Luftangriffen sicher sei. Doch wie es aussah, hatten sie sich geirrt. Edward stolperte zur Haustür und riss sie auf. Das Haus der Greshams gegenüber lag in Schutt und Asche. Aus allen Richtungen drang entsetzliches Geschrei. Edward wollte gerade miteinstimmen, als er ein vertrautes Gesicht erblickte und eine Hand auf dem Arm spürte.

»Edward, geht es dir gut? Deine Eltern haben mich gebeten, nach dir zu schauen.«

»Ja, Sir«, sagte Edward. Die Anteilnahme seines Nachbarn und Chorleiters half ihm, einen kühlen Kopf zu bewahren und seine Furcht in Entschlossenheit zu verwandeln. »Wie kann ich helfen?«

»Komm mit«, sagte Mr Grantly.

»Wohin gehen wir denn?«

»Zur Bibliothek.«

Auf dem Weg zur Domfreiheit gesellten sich weitere Chormitglieder zu ihnen; zwei ältere Jungs und zwei Männer, die Tenor und Bass sangen. Vor sich erblickten sie den Turm der Kathedrale im orangefarbenen Lichterschein, und als sie auf den Kreuzgang zueilten, erkannten sie, woher das Leuchten kam: Am östlichen Ende wütete ein Feuer. Dichte Rauchschwaden erschwerten Edward die Sicht, doch offenbar war der Brand in der Marienkapelle ausgebrochen, wo ihre Chorproben stattfanden.

Mr Grantly gestattete keine Zeit zum Gaffen und trieb die Sängerschar rasch durch den Kreuzgang und dann die steinerne Wendeltreppe hinauf in die Bibliothek. Durch die Fenster sah man schon die flackernden Flammen.

»Das Feuer kann jede Minute hier sein«, sagte Mr Grantly. »Wir müssen so viel wie möglich retten! Fangt mit diesen Manuskripten an.«

Edward war noch nie zuvor in der Kathedralbibliothek gewesen, aber es blieb keine Zeit, die im Feuerschein schimmernden, alten Buchrücken zu bewundern. Er langte nach oben und zog eine pergamentgebundene Handschrift aus dem Regal. Das Buch war größer als seine Schulbücher, wenn auch nicht so groß wie die Familienbibel. Es fühlte sich schwer und geheimnisvoll an. Als er sich damit umdrehte, rutschte es ihm plötzlich aus den Händen und schwebte gleichsam vor ihm in der Luft. Das muss ein Zauberbuch sein, dachte er, als er verblüfft auf die Seiten starrte, die im Schein der Flammen leuchteten.

Edward war fasziniert von Sprachen. Er hatte schon viel Latein und auch ein wenig Altenglisch gelernt, doch die Worte, die er auf diesen Seiten erblickte, ergaben keinen Sinn. Die Buchstaben sahen nach Mittellatein aus, aber die Buchstabenkombinationen hatten keinerlei Bedeutung. Jedes Wort war gleich lang. Bestanden Zauberformeln nicht aus genau neun Buchstaben?

Da wurde Edward aus seinen Gedanken gerissen.

»Wie kriegen wir sie nur los?«, fragte der Tenor verzweifelt. Erst jetzt dämmerte Edward, dass das Buch, das ihm entglitten war, nicht aufgrund von Zauberei in der Luft schwebte, sondern an einer Kette hing, die am Regal befestigt war. Die übrigen Bücher im Regal waren ebenfalls angekettet.

»Der Bibliothekar bewahrt den Schlüssel bei sich zu Hause auf«, sagte der Bass. »Aber er ist nach Wells gefahren, um seine Mutter zu besuchen.«

Es krachte, und eines der hohen Fenster stürzte ein; Scherben rieselten auf die Lesetische.

»Dafür bleibt uns keine Zeit!«, rief Mr Grantly. »Reißt die Buchdeckel ab!«

Der Tenor schnappte sich das herabhängende Buch und riss es los. Jetzt hing nur noch der vordere Buchdeckel an der Kette. Er warf Edward das Manuskript zu, und der Junge fing es auf und rannte damit die Wendeltreppe hinunter zum Ausgang. Mr Grantly hatte bereits damit begonnen, neben der Eibe auf der gegenüberliegenden Seite des Kreuzgangs einen Bücherstapel zu errichten. Edward drückte sich das Manuskript gegen die Brust. Es schien zu kostbar zu sein, um es einfach zu den anderen auf den Stapel zu legen. Also schlich er in eine dunkle Ecke des Kreuzgangs und bettete das Manuskript in eine Nische in der Steinwand. Einen Augenblick lang blieb er stehen, ganz außer Atem. Dann rannte er zurück in die Bibliothek.

Immer mehr Menschen stießen dazu, und bald hatte sich eine Schlange gebildet, die oben bei den Regalen begann und die Treppe hinab bis nach unten in den Kreuzgang reichte. Edward stellte sich ganz oben auf die Treppe und reichte den Händen, die sich ihm aus dem Dunkel entgegenstreckten, ein Buch nach dem anderen. Anfangs waren es Manuskripte, denen der Buchdeckel fehlte, wie bei dem Exemplar, das er im Kreuzgang versteckt hatte. Doch schon bald folgten ledergebundene Bücher in sämtlichen Größen, Kisten voller Briefe und Dokumente mit eindrucksvollen Wachssiegeln. Edward taten langsam die Arme weh, doch er übergab den geheimnisvollen Händen weiterhin alles, was ihm gereicht wurde. Die Hitze des Feuers ließ ein Fenster nach dem anderen zerbersten und den Raum zu einem Backofen werden.

Nach einer guten Stunde rief Mr Grantly: »Alle raus! Das Feuer ist da!« Edward sah hoch. Die Flammen drangen durch die Fenster und züngelten bereits an den leergeräumten Bücherregalen. Einen Moment später wurde er auch schon von der Schlange die Treppe hinuntergedrängt, und er folgte den anderen durch den Kreuzgang Richtung Domfreiheit.

Ein Großteil der Bücher, die Mr Grantly im Kreuzgang gestapelt hatte, war inzwischen von anderen Helfern weggetragen worden. Die ganze Stadt war auf den Beinen, um die Schätze der Kathedrale zu retten. Edward blieb stehen und atmete gierig die kühle Nachtluft ein. Als er sah, wie Mr Grantly die restlichen Bücher wegschaffen ließ, fiel ihm das Manuskript wieder ein. Er rannte zu der Stelle im Kreuzgang, wo er es versteckt hatte, und sah gerade noch, wie ein Mann in einer seltsamen grauen Kutte das Buch aus dem Versteck holte. Er hatte diesen Mann bereits zuvor in der Bibliothek gesehen, wo er damit beschäftigt gewesen war, Möbelstücke fortzuschaffen. Der Mann blickte sich um, dann eilte er davon. Offenbar hatte er Edward nicht gesehen. Edward beschloss, ihm zu folgen.

Auf der Straße bot sich ihm ein Bild des Chaos. Einige Helfer aus der Bibliothek hatten abermals eine Schlange gebildet, um Wassereimer vom Fluss zum Feuer zu transportieren. Andere luden die Bücher, Manuskripte und übrigen Wertgegenstände in Karren und andere Vehikel, die sodann in der Dunkelheit verschwanden. Edward sah, wie der Mann in Grau sich den Weg durch die Menge Richtung St. Martin’s Lane bahnte. Er wollte ihm gerade nachjagen und ihn fragen, warum er das Manuskript mitgenommen hatte, als ihm jemand die Hand auf die Schulter legte.

»Danke für deine Hilfe, Edward«, sagte Mr Grantly. »Aber jetzt bringen wir dich besser heim. Deine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen.«

»Soll ich nicht noch beim Abladen helfen?«

Mr Grantly lächelte. »Du hast schon genug getan, mein Junge. Wir werden die Bücher morgen früh an einen sicheren Ort bringen, bis …« Er warf einen Blick zum Himmel. »Bis dieser ganze Zirkus vorbei ist.«

Als Edward sich in Begleitung von Mr Grantly auf den Heimweg machte, blickte er sich noch einmal um. Doch der seltsame Mann in Grau war verschwunden.

Am nächsten Morgen erfuhr Edward, dass sein Vater und sein älterer Bruder geholfen hatten, das Feuer zu löschen, während seine Mutter mit den anderen Frauen der Blumenschmuckgruppe das Altargerät aus der Kathedrale schaffte. Bis auf ein paar Rauchschäden war der Hauptteil der Kathedrale unversehrt geblieben. Die Marienkapelle war jedoch den Flammen zum Opfer gefallen, und die Gebäude auf der Ostseite des Kreuzgangs, einschließlich der Bibliothek, hatten erheblichen Schaden genommen. In der Zeitung stand, dass über achtzig mittelalterliche Manuskripte und fast dreitausend Bücher aus der Bibliothek gerettet werden konnten. Abgesehen von dieser Bombennacht blieben Edward weitere Kriegseinsätze zum Glück erspart, doch er sollte für den Rest seines Lebens stolz auf seine tatkräftige Unterstützung bei dieser Rettungsaktion sein.

4. APRIL 2016

ZWEITER MONTAG NACH OSTERN

Manchmal hatte Arthur Prescott das Gefühl, in die falsche Zeit hineingeboren worden zu sein. Er hätte nicht unbedingt Ritter der Tafelrunde werden müssen, doch man hätte ihn wenigstens in den Goldenen Zwanzigern leben lassen können, mit einem Kammerdiener wie Jeeves, der ihm in den Morgenmantel half. Oder, noch besser, um 1880 herum, dann hätte er in einem Erster-Klasse-Zugabteil über die Vor- und Nachteile der Verdienste von Gladstone und Disraeli diskutieren können. Diese Tagträumereien endeten allerdings abrupt, sobald Arthur an Dinge wie Hygiene und Medikamente dachte. Gut, vielleicht war er doch nicht in die falsche Zeit hineingeboren worden, aber als Dozent war er auf jeden Fall in der falschen Institution gelandet – wenigstens das hätte die Vorsehung besser regeln können. Arthur war nämlich nicht für die modernen Beton- und Glasgebäude der Universität Barchester geschaffen, sondern für die altehrwürdigen Gemäuer von Oxford. Eigentlich hätte sein Büro im Lazarus College sein sollen, wo er die knarrende Holztreppe hätte hochsteigen können. Ganz zu schweigen davon, dass er dort im holzgetäfelten Lesesalon im Daily Jupiter hätte schmökern und seine Mittagspause im großen Speisesaal mit den Wandporträts früherer Gelehrter hätte verbringen können. Stattdessen war er dazu verdammt, in einem hässlichen Betonklotz zu lehren, der im britischen Uni-Ranking noch nicht einmal in den Top Fünfzig auftauchte.

Doch dann fiel Arthur wieder ein, dass er ja freiwillig nach Barchester gekommen war. Sosehr er die Universität auch hasste, sosehr liebte er die Stadt als solche mit ihren engen Straßen, dem mäandernden Fluss und der mächtigen alten Kathedrale. Arthur hatte die Stelle an der Uni nämlich nur deshalb angenommen, damit er an seinem Lieblingsort leben konnte, dem einzigen Ort, wo er jemals glücklich gewesen war. Als er noch ein Kind gewesen war, hatte sein Vater ständig die Arbeit gewechselt, und seine Eltern hatten sich in einem unaufhörlichen Hin und Her gestritten, getrennt und wieder versöhnt. Doch jeden Sommer hatte er zwei herrliche Wochen in Barchester bei seinem Großvater mütterlicherseits verbringen können. Sein Großvater war mit ihm im Fluss geschwommen und mit ihm gewandert, an Regentagen hatten sie Schach gespielt, und einmal hatten sie zusammen den Turm der Kathedrale erklommen.

Arthurs Großvater war pensionierter Pfarrer und kannte sämtliche Geistlichen der Gegend, vom Bischof von Barchester bis zum Küster. Arthurs Liebe zu ihm hatte sich schließlich zu einer Liebe zu Barchester ausgeweitet. Er liebte es, dass jeder Stein, jede Mauer, jede Ecke der Altstadt eine Geschichte erzählte, und er liebte es, dass sein Großvater all diese Geschichten kannte und gern mit ihm teilte. Arthur war acht Jahre alt gewesen, als er zum ersten Mal nach Barchester kam, und als Teenager schwor er sich, dass er eines Tages in dieser Stadt leben wollte. Leider hatte die Einhaltung dieses Schwurs es mit sich gebracht, dass er nun jeden Morgen mit dem Aufzug in den dritten Stock der Philosophischen Fakultät fahren musste, und er hasste diesen Aufzug.

Die Türen gingen ruckartig auf, und Arthur blickte direkt in die finstere Miene von Francis Slopes, dem Leiter des Instituts für Literatur, wo Arthur sich als Dozent abplagte.

»Sie sind mal wieder spät dran, Prescott«, sagte Slopes.

»Ihnen auch einen guten Morgen, Sir«, sagte Arthur.

»Sie sollten doch um acht an der Besprechung des Ausschusses zur Curriculum-Erweiterung teilnehmen!«

»Der Vorschlag mag verwegen klingen, Sir, aber wäre es nicht sinnvoller, wenn dem Ausschuss zur Curriculum-Erweiterung Mitarbeiter angehörten, die für die Erweiterung des Curriculums sind?«

»Ihre persönlichen Vorlieben spielen bei der Ausschusstätigkeit überhaupt keine Rolle, Prescott.«

»Wenn Sie mich gebeten hätten, beim Ausschuss zur Curriculum-Schrumpfung mitzumachen, wäre ich schon um sieben hier gewesen.« Arthur wandte sich ab und ging den Flur herunter, doch Slopes blieb ihm auf den Fersen.

»Prescott, ich kann nicht zulassen, dass Ihre fortwährende Weigerung, sich an der Arbeit dieses Instituts zu beteiligen, ungestraft bleibt.«

Arthur blieb stehen, drehte sich um und blickte seinem Folterer direkt in die Augen. »Was sagen Sie eigentlich dazu, dass wir in diesem Institut ein Seminar mit dem Titel ›Anagnorisis bei Harry Potter‹ anbieten, aber kein einziges über Shakespeare?«

»Prescott, jetzt …«

»Ich rede von William Shakespeare. Er war Dramatiker und übrigens gar nicht mal so übel. Und Seminare über Charles Dickens oder Jane Austen, die übrigens recht talentierte Schriftsteller waren, sind im Curriculum auch nicht vorgesehen.«

»Die werden doch alle im Kernmodul abgedeckt. Das Harry-Potter-Seminar ist dieses Semester übrigens überbelegt, Prescott.«

»Das glaube ich Ihnen gern. Aber das sollte nicht heißen …«

»Diese Universität muss mit der Zeit gehen, Prescott. Und Sie müssen das auch, sonst sind Sie bald weg vom Fenster. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Es gab Zeiten, da haben Universitäten die Kultur noch entscheidend mitgeprägt, statt sich nach ihr zu richten«, sagte Arthur.

»Es gab auch Zeiten, da hat sich der Ausschuss zur Curriculum-Erweiterung pünktlich um acht getroffen!«, bellte Slopes. »Wenn Sie noch eine Besprechung verpassen, werde ich Sie dem Disziplinarausschuss der Fakultät melden müssen.«

Der bestimmt sofort den Ausschuss zur Ermordung der britischen Kultur über mein Verhalten informieren wird, dachte Arthur, als Slopes davonstapfte.

Ohne Zweifel, in einer früheren Zeit hätte Arthur sich weitaus wohler gefühlt. Doch ein grausamer Schicksalsschlag hatte ihn in ein Jahrhundert katapultiert, wo Universitäten »Kernmodule« hatten und Lehrveranstaltungen über »Anagnorisis« für Studierende anboten, die null Interesse an Büchern zeigten, die sie nicht schon aus ihrer Kindheit kannten. Dabei mochte Arthur die Harry-Potter-Romane durchaus, er hatte sie erst letzten Sommer gelesen. Aber er war definitiv dagegen, sie zum Gegenstand eines Seminars zu machen.

Der Tag ging ebenso schrecklich weiter, wie er begonnen hatte. Arthur quälte sich durch zwei Vorlesungen und ein Tutorium mit drei Studierenden, die er hartnäckig mit Mr Crawley, Miss Stanhope und Miss Robarts anredete, obwohl sie ihn ebenso beharrlich »Arthur« nannten. Das Tutorium war Teil des fürchterlichen Kernmoduls. Eigentlich hatte Arthur sich auf das von ihm vorgesehene Einführungsgespräch über Jane Austen gefreut. Leider hielt Miss Stanhope – unterstützt von Mr Crawley, der sich davon anscheinend spätere sexuelle Gefälligkeiten erhoffte – eine Schmährede und warf Austen vor, nicht »feministisch genug« gewesen zu sein. Arthur hörte eine halbe Stunde lang zu und versuchte, dabei an eine Kurzgeschichte von P. G. Wodehouse zu denken, die er im Bus auf dem Weg zur Arbeit gelesen hatte, doch schließlich hielt er es nicht mehr aus.

»Jane Austen blieb unverheiratet«, sagte er frustriert. »Als Schriftstellerin erschuf sie in einer von Männern beherrschten Domäne starke, unabhängige Heldinnen. Wie sollte eine Feministin in einem englischen Dorf des späten achtzehnten Jahrhunderts denn Ihrer Meinung nach gestrickt sein?«

»Ach, Arthur«, seufzte Miss Stanhope resigniert. »Nur ein Mann wie Sie kann so eine Frage stellen.«

»Ein wenig vorwurfsvoll klingt es schon«, sagte Gwyn, als sie und Arthur am nächsten Morgen wieder einmal am Fluss entlang spazierten.

»Es klang geradezu verächtlich.« Arthur bückte sich, um den vollgesabberten Tennisball aufzuheben, den ihm einer von Gwyns schokobraunen Hunden vor die Füße gelegt hatte. Arthur konnte die beiden Spaniels, Mag und Nunc, nie auseinanderhalten. Er warf den Ball in hohem Bogen weg, und die Hunde jagten ihm sofort hinterher.

Er liebte diese Morgenspaziergänge mit Gwyn. Dank ihnen konnten wenigstens seine Dienstage und Donnerstage zivilisiert beginnen.

Gwyneth Bowen war seit fast sechs Jahren Dekanin der Kathedrale von Barchester. Arthur war ihr kurz nach ihrem Amtsantritt bei der Abendandacht zum ersten Mal begegnet, aber erst einige Wochen später, als sie sich an einem nebligen Morgen zufällig beim Spazierengehen am Fluss über den Weg liefen, ergab sich die Gelegenheit für ein richtiges Gespräch. Sie hatten eine lange und angeregte Diskussion über das Wesen des Glaubens geführt. Gwyn war ihm auf Anhieb sympathisch gewesen.

Ihre Debatte war ungefähr so verlaufen: Die Dekanin verstand nicht, wieso Arthur fast jeden Tag zur Messe kam, obwohl er, wie er sagte, nicht an die Doktrinen der christlichen Kirche glaube. Arthur hielt dagegen, die Dekanin könne sich doch darüber freuen, dass Nichtgläubige in ihre Kathedrale kamen – konnte es einen besseren Ort für Nichtgläubige geben? Arthur hatte vermutet, dass Gwyns Argumentation weniger mit der augenscheinlichen Widersprüchlichkeit seines Glaubens und Handelns zu tun hatte, als vielmehr mit ihrer Überzeugung, dass ein Nichtgläubiger, der die Kirchenbank drückte, ein seltenes Phänomen war. Er selbst war allerdings sicher, dass dies gar nicht so selten vorkam, oder vielleicht wünschte er sich das auch nur. Er hätte jedenfalls gewettet, dass die meisten Kirchgänger die Frage, warum sie regelmäßig zur Messe und insbesondere zum Sonntagsgottesdienst kamen, damit beantworten würden, dass ihnen die Musik, die Predigten, die Gemeinschaft und vielleicht auch die Architektur gefiel, doch kaum einer würde als Grund seinen Glauben angeben.

Seit jenem Morgen trafen sie sich zweimal in der Woche, in den Semesterferien sogar noch öfter, stets direkt nach der Morgenandacht um sieben Uhr zu einem einstündigen Spaziergang über die Wiesen am Fluss entlang und dann zurück zur Domfreiheit. Ganz gleich, wie das Wetter war, wenn sie am äußersten Ende der Wiesen umkehrten und dann irgendwann hinter den Bäumen wieder die Kathedrale erblickten, kam es Arthur immer so vor, als befände er sich in einem Gemälde von Constable. An manchen Tagen setzten sie die Debatte fort, die sie bei ihrem ersten Spaziergang begonnen hatten, aber meistens sprachen sie über ganz unterschiedliche Themen, wobei sie manchmal einer Meinung waren, manchmal auch nicht, was wiederum zu angeregten Kabbeleien führte, die Arthur jedes Mal aufs Neue genoss.

Als Gwyns Mann vor einem Jahr gestorben war, hatte sich eine ernstere Stimmung über ihre Spaziergänge gelegt, doch sie hatten das ganze Semester keinen einzigen Dienstag oder Donnerstag verpasst. Als Arthur eine Pause vorschlug, sagte Gwyn: »Ich brauche diese Spaziergänge. Ich bin zwar nicht die erste Dekanin der anglikanischen Kirche, aber die erste trauernde Witwe mit zwei Kindern, die obendrein noch die Finanzen von Englands ärmster Kathedrale managen muss. Unsere Spaziergänge bewahren mich davor durchzudrehen.« Also hörte Arthur ihr zu, und sie hörte ihm zu, und wenn sie am Fluss ankamen, waren sie jedes Mal so in ihr Gespräch vertieft, dass sie ihre Alltagsprobleme vergessen hatten.

»Im Übrigen sehe ich nicht ein, wieso die Studenten ihre Dozenten beim Vornamen nennen«, fuhr Arthur mit seiner Klage über das Tutorium vom Vortag fort. »Wir sind schließlich nicht ihre Freunde, sondern dafür da, ihnen etwas beizubringen. Ist etwas Respekt zu viel verlangt?«

»Ach, komm schon, Arthur. Du nennst mich doch auch nicht Euer Hochwürden.«

»Wir sind ja auch sozusagen gleichrangig.«

»Wohl kaum. Ich bin Priesterin, und du bist Atheist.«

Sie gingen eine Weile schweigend weiter, was ungewöhnlich war. Als Mag (oder Nunc) mit dem Tennisball zurückkam, warf Arthur ihn wieder in weitem Bogen weg. »Du hast doch irgendwas«, sagte er schließlich.

»Stimmt«, sagte Gwyn. »Heute Morgen gab es leider schlechte Neuigkeiten.«

»Haben sie Daniel aus dem Kindergarten geworfen?«, fragte Arthur. Daniel war Gwyns dreijähriger Sohn, ein sehr aufgewecktes Bürschchen.

»Nein«, sagte Gwyn lachend. »Wobei es mich nicht überraschen würde. Seit neuestem bekommt er wohl nicht genug davon, alle Mädchen abzuknutschen.«

»Wie herrlich, drei Jahre alt und schon verliebt!«

»Der Kulturerbe-Fonds hat sich gemeldet. Unser Förderantrag wurde abgelehnt.«

»Das darf ja wohl nicht wahr sein«, sagte Arthur kopfschüttelnd. »Die finden es wohl wichtiger, ein Töpfereimuseum oder ein Zentrum für traditionelle Backkunst zu bauen.«

»Ich hatte so gehofft, etwas Gutes zu erreichen.«

»Du erreichst jeden Tag etwas Gutes.«

»Aber das wäre ein echter Meilenstein gewesen.«

Gwyn bemühte sich seit Jahren um Fördermittel für den Wiederaufbau der Marienkapelle, die 1941 bei einem Bombenangriff der Nazis zerstört worden war. Unter Gwyns Federführung hatte das Domkapitel zusammen mit einem örtlichen Architekturbüro drei Jahre Arbeit in das Konzept einer modernen Kapelle gesteckt, die aus heimischer Eiche und Stahl erbaut werden sollte, mit großen Glasfenstern an drei Seiten, die von der Decke bis zum Boden reichen und den Blick auf den Garten freigeben sollten. Auf der Suche nach Inspiration hatte Gwyn gemeinsam mit den Architekten verschiedene Kirchen besichtigt. Die moderne Kathedrale von Coventry hatte bei Gwyn den größten Eindruck hinterlassen; sie war direkt neben den Ruinen der mittelalterlichen Kathedrale errichtet worden, die ebenfalls einem deutschen Luftangriff zum Opfer gefallen war.

»Was soll’s«, sagte Gwyn. »Die eine Hälfte der Gemeinde fand den Plan klasse, die andere Hälfte fand ihn furchtbar.«

»Ich bin wirklich kein Freund moderner Architektur«, sagte Arthur. »Du weißt ja, wie abgrundtief ich den Uni-Klotz hasse. Aber deine Kapelle finde ich wundervoll. Sie ist ein Paradebeispiel für zeitgenössische Architektur.«

»Der Kantor meinte, sie sähe wie ein heruntergekommenes Gewächshaus aus.«

»Der Kantor ist eben ein Stinkekäse.«

»Danke, P. G. Wodehouse.«

»Gern geschehen«, sagte Arthur.

»Ich dachte, du magst den Kantor.«

»Das habe ich nie gesagt. Mir gefällt lediglich sein Stil beim Gottesdienst.«

»Ich finde all den Weihrauch und Gesang so …« Gwyn schien nach Worten zu suchen.

»Katholisch?«, half Arthur nach.

»Eigentlich wollte ich altertümlich sagen.«

»Gibt es einen besseren Ort als Barchester, um altertümliche Traditionen am Leben zu erhalten? Immerhin wird der christliche Glaube hier schon seit zwölf Jahrhunderten praktiziert.«

»Ach ja?«, sagte Gwyn. »Das konnte ich natürlich nicht wissen. Der Autor, der den Kirchenführer schreibt, hat nämlich schon wieder den Abgabetermin verpasst, weißt du.«

»Bei einer Kathedrale mit einer mehr als zwölf Jahrhunderte alten Geschichte kommt es ja wohl kaum auf ein paar Monate mehr an.«

»Wie lange arbeitest du eigentlich schon an diesem Kirchenführer, Arthur? Es kommt mir allmählich wie ein Jahrtausend vor.«

»Haben wir nicht gerade über Stinkekäse geredet?«, sagte Arthur gereizt.

»Sie sind wohl ein Stinkekäse-Gourmet, was, Mr Prescott?«, fragte Gwyn, und dann verbrachten sie den Rest ihres Spaziergangs damit, über die Vor- und Nachteile englischer, französischer und italienischer Käsesorten zu sinnieren.

»Es tut mir wirklich leid wegen der Kapelle«, nahm Arthur das Thema schließlich wieder auf, als sie mit Mag und Nunc vor dem Dekanat standen. »Gibt es denn keine andere Möglichkeit, an Geld zu kommen?«

»Wenn wir die Vorschriften zur Restaurierung alter Gebäude einhalten wollen, mit richtiger archäologischer Begleitung und so weiter, brauchen wir rund zweieinhalb Millionen Pfund. Dank der Großzügigkeit der Gemeinde von Barchester und der kärglichen Tourismuseinnahmen kommen wir aktuell auf rund hunderttausend.«

»Hat man dir mitgeteilt, warum der Antrag abgelehnt wurde?«

»Mir wurde mitgeteilt, dass Förderanträge für Bildungs- oder Mehrzweckeinrichtungen bevorzugt werden. Für einen überflüssigen Gottesdienstraum in einer Kathedrale, die ihre Kirchenbänke sowieso kaum füllen könne, sei kein Geld da.«

»Von wegen überflüssig!«, rief Arthur. »Wenn die erst mal bei Vollmond eine Komplet in deiner Glaskapelle erleben, werden die schon merken, wie falsch sie liegen.«

»Was würde ich bloß ohne dich machen«, sagte Gwyn und drückte Arthurs Hand.

»Ohne mich hättest du bestimmt schon längst den neuen Kirchenführer und könntest weiterhin ungestört dem Glauben frönen, dass Brie, Romano und Chèvre besser sind als der gute alte Cheddar.«

Am Nachmittag bekam Arthur die unverhoffte Gelegenheit, früh Feierabend zu machen, weil die für zwei Uhr angesetzte Besprechung des Ausschusses für Campus-Nachhaltigkeit ausfiel; sämtliche Ausschussmitglieder außer Arthur wollten nämlich zur Konferenz für grüne Bautechnologie nach Manchester fahren. Arthur nahm lieber den Bus Nummer 42 ins Stadtzentrum und ging von dort aus direkt zur Kathedrale. Er legte auch keinen Zwischenstopp bei sich zu Hause ein, weil er möglichst schnell an seinen erklärten Lieblingsort gelangen wollte.

Als Student hatte Arthur sich oft in der Bodleian oder den anderen Bibliotheken der Universität Oxford aufgehalten. Und einmal hatte er sogar die gesamten Osterferien in einem Leseraum der British Library verbracht. Er hatte Privatbibliotheken besichtigt und die Besitztümer anderer Büchersammler bewundert. Doch nichts kam dem Anblick gleich, der ihn in der Kathedrale von Barchester erwartete, wenn er den Kreuzgang hinter sich ließ und die steinerne Wendeltreppe hochstieg. Von den wenigen Touristen, die sich nach Barchester verirrten, bemerkte kaum einer die schmale Holztür neben dem weitaus größeren Eingang zum Kapitelhaus; sie hatten nicht die leiseste Ahnung, welche Schätze sich dahinter verbargen.

Arthur schloss die unscheinbare Tür auf und trat hindurch. Dann schaltete er das Licht an, zog die Tür hinter sich zu und ging die Treppe hinauf.

Als er etwas atemlos oben ankam, erstreckte sich ein großer Saal vor ihm, der parallel zur Ostseite des Kreuzgangs verlief und fast ebenso lang war: die Bibliothek der Kathedrale von Barchester. Die Dekanin hatte Arthur erlaubt, sie zu benutzen, wann immer er wollte. Die Bibliothek wurde von Oscar Dimsdale geleitet, einem Lehrer, der sich ehrenamtlich für die Kathedrale engagierte. Arthur hatte ihn als Zwölfjähriger während der Sommerferien bei seinem Großvater kennengelernt, und seither waren sie beste Freunde. Wegen seiner Arbeit kam Oscar allerdings nur unregelmäßig in die Bibliothek. Er war kein offizieller Bibliothekar, doch er sorgte dafür, dass die Bücher hin und wieder abgestaubt wurden, und ermöglichte interessierten Gemeindemitgliedern den Zugang zu der Sammlung. Das Interesse hielt sich allerdings in Grenzen.

Als Arthur vor einigen Jahren mit der Arbeit an seinem Kirchenführer begann, hatte Oscar ihm mit Gwyns Erlaubnis einen eigenen Schlüssel gegeben. Die Bibliothek jederzeit betreten zu können, empfand Arthur als eine besonders glückliche Fügung des Schicksals.

Abgesehen von einer kleinen Sammlung moderner Referenzwerke auf dem Regal hinter Oscars Schreibtisch war alles in diesem Saal mindestens hundert Jahre alt; der Großteil der Bücher, Manuskripte und des Mobiliars war sogar wesentlich älter. Die Holzregale und Deckenbalken stammten aus dem siebzehnten Jahrhundert und gingen auf Bischof Atwater zurück, einen der wenigen Bücherfreunde unter Barchesters Klerikern, der der Kathedrale überdies eine umfangreiche Sammlung geschenkt hatte.

Die Wand zu Arthurs Linken war mit Eichenholzregalen gesäumt, die bis zur Decke reichten. Bei vielen waren die verzierten Bekrönungen noch intakt, doch diejenigen im hinteren Saalbereich waren durch den Bombenangriff stark beschädigt worden. An der rechten Wand gingen ein paar schmale Fenster zum Kreuzgang hinaus. Die Wandvertäfelung trug unzählige Initialen von Bibliotheksnutzern, die sich im Laufe der Jahrhunderte dort verewigt hatten. An der Wandmitte stand ein Regal, das mit aufwendigen Schnitzereien verziert war und eine Sammlung mit rund achtzig mittelalterlichen Handschriften barg, die beim Brand von 1941 gerettet werden konnten, dabei allerdings ihre Buchdeckel eingebüßt hatten.

In der Mitte des Saals befand sich eine Reihe langer Holztische. Auf einem davon – Oscars Schreibtisch – stapelten sich Bücher, die anderen waren leer. Als einst in Barchester das Kloster gegründet worden war – lange bevor die Bibliothek existierte –, hatten Mönche in diesen Büchern geblättert, um sich über Ackerbau, Baukunst oder Heilbehandlungen kundig zu machen. Als später die Kathedrale errichtet wurde, zogen die Bücher um und wurden regelmäßig von Geistlichen und Gelehrten konsultiert. Die Bibliothek der Kathedrale war viele Jahrhunderte lang der einzige Ort, wo historische und theologische Schriften aufbewahrt wurden. Bis ins neunzehnte Jahrhundert wurde die Sammlung von Theologiestudenten aus Barchester genutzt, die Oxford oder Cambridge in den Semesterferien verließen, um den Sommer in ihrer Heimatstadt zu verbringen. 1890 wurden Teile der Sammlung als Wanderbücherei für die Einwohner von Barchester verfügbar gemacht, bis die Stadt einige Jahre später schließlich die öffentliche Bücherei ins Leben rief.

Inzwischen wurde die Kathedralbibliothek von Akademikern so gut wie gar nicht mehr genutzt, denn es gab hier kaum noch Werke, die nicht auch in den Büchersammlungen der Universitäten von Oxford, Cambridge oder London zu finden waren, und eigentlich auch keine Werke, die für die Einwohner der Stadt interessant gewesen wären. Was Arthur allerdings nicht im Geringsten störte, denn so hatte er diesen herrlichen Ort meist ganz für sich allein.

Er blieb stehen, schloss die Augen und atmete den Geruch der Jahrhunderte ein. Er nahm einen Hauch von verkohltem Holz und getrocknetem Schimmel wahr. Der Duft der Bibliothek war gehaltvoll, sie duftete nach Leben und nach Tod. Die Luft stand still, und Arthur spürte, wie die Atmosphäre dieses Raums ihn förmlich umhüllte. Hier war er zu Hause.

Obwohl die Tische in der Saalmitte geräumiger waren, arbeitete Arthur am liebsten an einem kleinen Tisch unter einem der Fenster. Die Beine waren im neunzehnten Jahrhundert gefertigt worden, doch die Tischplatte zählte zu den ältesten Möbelstücken der Kathedrale. Niemand wusste genau, wie alt sie war; man nahm an, dass sie zu einem Altar gehört hatte, denn an der Vorderseite waren in gotischer Schrift die Worte Mensa Christi, »Tisch Christi«, eingeschnitzt. Die Oberfläche war uneben und stark abgenutzt. Der Tisch war viel zu klein, um Arbeitspapiere darauf auszubreiten, und als Schreibtisch völlig ungeeignet. Arthur liebte ihn.

Er lauschte. Ab und zu knackten die Deckenbalken, doch ansonsten herrschte Stille – kein Geräusch drang von unten herauf, kein Knarren der Tür, keine Schritte auf der Treppe. Schließlich öffnete er die Augen wieder, schritt langsam zu seinem bevorzugten Regal im hinteren Bereich des Saals, stellte sich auf die Zehenspitzen und zog ein unscheinbares Buch hervor. Der Ledereinband war an den Ecken und Kanten stark abgenutzt, ein Teil des unteren Rückens fehlte ganz. Das Buch trug keine Markierungen, und niemand hätte ahnen können, dass es Arthurs Lieblingsbuch war. Er genoss es jedes Mal, dieses Exemplar aus dem Regal zu nehmen, vorsichtig über den Einband zu streichen, die Abbildung auf dem Frontispiz zu bewundern und es schließlich aufzuschlagen und darin zu blättern.

Dieses Buch war Le Morte Darthur von Sir Thomas Malory in der Ausgabe von William Stansby aus dem Jahre 1634, und auf dem Titelblatt stand Die berühmte Geschichte des legendären Prinz Artus König von Britannien. Malorys Werk war die erste englischsprachige Zusammenstellung von Erzählungen der Artussage, die zum Teil auf mündliche Überlieferungen aus der Bretagne zurückgingen. Die Erstausgabe von Malory war 1485 von William Caxton, Englands erstem Buchdrucker, veröffentlicht worden; nur noch zwei Exemplare existierten davon. Im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert waren vier weitere Auflagen gefolgt, alle fast ebenso selten wie die Caxton-Edition. Die Stansby-Ausgabe von 1634 war mit Sicherheit die älteste, die Arthur jemals in den Händen halten würde. Zudem war sie die erste, die nach Arthurs Dafürhalten in der Sprache von Shakespeare verfasst worden war; viele spätere Ausgaben basierten auf ihr.

Arthur hatte die Stansby-Ausgabe zum ersten Mal im Alter von neun Jahren gesehen, als sein Großvater ihm die Bibliothek der Kathedrale zeigte. Schon damals, als er noch nichts von der Geschichte des Buchdrucks gewusst hatte, geschweige denn von den Unterschieden zwischen Papier, Pergament, Kalbsleder und Maroquin, hatte er die Geschichte dieses Ortes spüren können, eine geradezu elektrisierende Verbindung zur Vergangenheit. Der Moment, als er die Bibliothek betrat – er war seinem flinken Großvater die Treppe hinauf gefolgt –, war rückblickend eine fast schon spirituelle Erfahrung gewesen. Gott hatte er dort damals zwar nicht gespürt, aber auf jeden Fall etwas, das über seine eigene menschliche Existenz hinausging.

Sein Großvater hatte ihn allerdings nicht mit in die Bibliothek genommen, um ihm die Bedeutung von Geschichte nahezubringen, sondern weil er ihm ein besonderes Buch zeigen wollte: die Stansby-Ausgabe von Le Morte Darthur.

»Das ist ein Buch über deinen Namenspatron«, hatte sein Großvater erklärt.

»Meinen Namenspatron?«

»Die Person, nach der du benannt worden bist. Ich habe den Namen Arthur selbst vorgeschlagen, nur dieses Buches wegen. Und da ich dein Patenonkel werden sollte, waren deine Eltern mit diesem Namen einverstanden. Das Buch handelt von einem König namens Arthur; er ist auch als Artus bekannt.«

»Und was macht dieser König?«, hatte Arthur gefragt.

»Er erlebt Abenteuer.«

»Können wir das Buch mitnehmen?«

»Nein, dieses Exemplar nicht«, hatte sein Großvater lächelnd gesagt und das Buch wieder ins Regal gestellt. »Aber zu Hause habe ich eine andere Ausgabe, die wir lesen können.«

Arthur schlug das Titelblatt auf und drehte das Buch seitwärts, damit er das Frontispiz besser betrachten konnte. Er hatte es schon unzählige Male bewundert, kannte jedes Detail des Holzschnitts in- und auswendig, aber an Tagen wie diesen, wenn die moderne Welt ihm besonders auf die Nerven ging, gab es nichts Wohltuenderes, als das Buch zu nehmen und sich dieses Bild anzuschauen. Es zeigte König Artus und die Ritter der Tafelrunde. Artus stand in der Mitte der Tafel in einem großen runden Loch, eine Lanze in der einen und ein Schwert in der anderen Hand. Er hatte eine große Nase und einen Schnurrbart, und er trug eine Rüstung, die eher jakobinisch als arthurianisch aussah. Auf der mit Leinen bedeckten Bank um die Tafel herum saßen dreizehn Ritter des Königs; auch sie trugen Bärte und Rüstungen. Die Stimmung wirkte kameradschaftlich; die Ritter unterhielten sich angeregt, einer hatte seinem Sitznachbarn sogar die Hand auf die Schulter gelegt. Arthur stellte sich vor, einer von ihnen zu sein. In der Bildlegende waren die Namen von dreißig Rittern angegeben, wobei offenblieb, welche davon an der Tafel saßen. Jedes Mal, wenn Arthur das Bild betrachtete, ordnete er die Namen anderen Rittern zu. Heute hatte der Ritter, der unten in der Mitte des Bildes saß und dem Betrachter als Einziger den Rücken zukehrte, mehr von Lancelot als von Keie. Bors und Gawain waren diejenigen, die oben rechts plauderten. Am schwierigsten war es immer, dem Ritter oben links, dessen Gesicht fast zur Gänze hinter der Feder von König Artus’ Helm verschwand, einen Namen zu geben. Arthur beschloss, dass er heute Galahad sein sollte, der Gralsfinder auf dem Gefährlichen Sitz.

Arthur blätterte die abgegriffenen Seiten um und atmete den Geruch der Geschichte ein. Das Papier war längst vergilbt, doch die dunkle Schrift war noch genauso gut zu erkennen wie vor fast vierhundert Jahren. Da Arthur heute etwas tun musste, las er nur einen kurzen Abschnitt des Kapitels mit dem Titel »Wie Galahad und seine Gefährten vom Heiligen Gral gespeist wurden, wie ihnen der Herr erschien und von anderen Dingen«.

Dann gingen König Pelles und sein Sohn fort. Nun schien ihnen, als schwebte ein Mann mit vier Engeln vom Himmel herab, gekleidet wie ein Bischof und mit einem Kreuz in der Hand, und die vier Engel trugen ihn in einem Stuhl und setzten ihn an der silbernen Tafel nieder, auf der der Heilige Gral stand.

Der Heilige Gral. Arthur schloss die Augen und stellte sich die Szene vor. Malory hatte auf detaillierte Beschreibungen verzichtet, auch was das Aussehen des Heiligen Grals betraf, doch das war Arthur nur recht, denn so konnte er seiner Phantasie freien Lauf lassen. Heute war der Heilige Gral ein Anker, ein festes Bindeglied zu einer bedeutungsvollen Vergangenheit, die Arthur mindestens ebenso lebendig erschien wie die Gegenwart.

Als Arthur in jenem Sommer, als sein Großvater ihn mit den Erzählungen der Tafelrunde vertraut machte, wieder nach Hause zurückgekehrt war, hatte er sich sofort zur Bücherei aufgemacht, um sich noch mehr Lektüre über König Artus zu besorgen. Er fand jedoch nur ein einziges Buch von 1911 mit dem Titel Geschichten von den Rittern der Tafelrunde, neu erzählt für Jungen und Mädchen. Auf dem Titelblatt stand, dass der Band »16 Illustrationen in Farbe von Walter Crane« enthielt, doch irgendein respektloser Mensch hatte sie herausgerissen. Aber das hatte Arthur nicht so schlimm gefunden, denn er ließ sich sowieso viel lieber von den Erzählungen in den Bann ziehen.

Geschichten von den Rittern der Tafelrunde war das erste Buch, das Arthur spätabends mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke las, als er längst hätte schlafen sollen. Es war das erste Buch, das ihn komplett in eine andere Welt entführte, weg aus der Gegenwart, aus seinem Zuhause, an einen Ort, der mythisch und doch real war, wo Magie zum Alltag gehörte und es von Helden nur so wimmelte. Es war das erste Buch, das ihm begreiflich machte, worum es beim Lesen wirklich ging.

Anfangs hatten ihm die Abenteuer am meisten gefallen, die Ritterkämpfe und die Turniere von König Artus in Camelot. Als Teenager begann er sich für die tragischen Liebesgeschichten von Lancelot und Guinevere und von Tristan und Isolde zu interessieren. Doch was ihn bis heute am meisten faszinierte, waren die Gralsgeschichten. In Malorys Version, die Arthur als Junge gelesen hatte, blieb die Gralsgeschichte wunderbar vage, es wurde nie genau erklärt, was der Gral war oder warum Artus und seine Ritter so entschlossen waren, ihn zu finden. Es blieb unklar, wer den Gral besaß oder warum und was mit dem Gral gemacht wurde, ja sogar, ob er real war oder nur eine Vision. Arthur liebte die geheimnisvolle Natur des Grals, doch als Kind hatte sie ihn auch frustriert.

»Was ist eigentlich der Gral?«, hatte er seinen Großvater am Abend nach ihrem ersten Bibliotheksbesuch gefragt; sein Großvater hatte ihm gerade aus einer gekürzten Malory-Version vorgelesen.

Damals erzählte ihm sein Großvater von der bekanntesten Version der Gralslegende. Ihr zufolge war der Gral der Kelch, den Jesus Christus beim Letzten Abendmahl mit seinen Jüngern benutzt hatte. Später brachte Josef von Arimathäa den Gral nach England. Als er in der Nähe des heutigen Glastonbury ankam, steckte Josef seinen Wanderstab in die Erde, und es erwuchs ein Dornbusch daraus, der Glastonbury Thorn. Als Josef den Gral später am Fuße eines Hügels namens Glastonbury Tor vergrub, begann eine Quelle zu sprudeln, die bis heute existiert. Mehrere Jahrhunderte später machten sich die Ritter von König Artus’ Tafelrunde auf die Suche nach dem Gral, der als Symbol für Reinheit und Perfektion galt. In einigen Versionen der Gralslegende trat die Insel Avalon, König Artus’ sagenumwobene letzte Ruhestätte, an die Stelle des Glastonbury Tor. Ende des zwölften Jahrhunderts behaupteten Mönche aus Glastonbury, die Gräber von König Artus und Königin Guinevere entdeckt zu haben. Der Gral jedoch wurde bis heute nicht gefunden.

Arthur dachte damals zunächst, dass die Gralslegende einfach nur die geheimnisvolle Geschichte eines Zauberkelchs war, eine faszinierende Fiktion wie Tolkiens Ring. Doch nachdem sein Großvater ihm von der Legende erzählt hatte, blickte er Arthur tief in die Augen.

»König Artus, Merlin, Lancelot und all die anderen Figuren sind wahrscheinlich tatsächlich nur erfunden. Aber den Gral hat es wirklich gegeben, Arthur. Und er existiert bis heute. Ich werde dir jetzt ein Geheimnis anvertrauen. Aber du musst schwören, es niemandem zu verraten.«

»Ich schwöre es«, hatte Arthur mit stockendem Atem gesagt.

»Ich glaube, der Gral ist hier in Barchester.«

Arthur, der seinen Großvater mehr liebte als irgendjemanden sonst, hatte diesen stets vergnügt wirkenden Mann noch nie mit solcher Ernsthaftigkeit reden hören.

»Ich werde langsam zu alt für Abenteuer«, sagte sein Großvater. »Aber du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Du bist derjenige, der den Gral finden muss. Und du musst das Geheimnis bewahren.«

»Aber warum muss es ein Geheimnis bleiben?«, fragte Arthur.

»Vertraust du mir?«

»Ja.«

»Dann musst du mir glauben. Eines Tages wirst du es begreifen. Du wirst begreifen, was der Gral ist und wo er sich befindet und warum er ein Geheimnis bleiben muss. Aber jetzt ist wichtig, dass du einfach an ihn glaubst. Glaubst du an ihn, Arthur? Glaubst du an den Gral?«

Arthurs Antwort war rein intuitiv gewesen. Er hatte in die tiefblauen Augen seines Großvaters geschaut und ohne den geringsten Schatten eines Zweifels geantwortet.

»Ja.«

Arthur öffnete die Augen und sah wieder auf den Text. Am Rand stand in bräunlich verfärbter Tinte eine Notiz:

Libro huic nullus locus melior praeter Baronum Castrum

Baronum Castrum war der Name der römischen Siedlung, aus der später Barchester wurde. Die Übersetzung der Randnotiz lautete: »Für dieses Buch gibt es keinen besseren Ort als Barchester.« Sein Großvater hatte ihm die geheimnisvolle Marginalie bei einem ihrer Bibliotheksbesuche gezeigt und sie ihm ohne weitere Erklärung übersetzt. Arthur glitt mit dem Finger vorsichtig über die Inschrift, und wieder einmal fragte er sich, wer diese Worte wohl geschrieben hatte und – noch wichtiger – warum. Irgendein Mönch, Priester oder Gelehrter hatte in Barchester den perfekten Ort für ein Buch über König Artus gesehen und sich ausgerechnet diese Textstelle über den Heiligen Gral ausgesucht, um seinen Gedanken zu notieren. Wie gern hätte Arthur in die Vergangenheit geblickt, um den Grund zu erfahren.

Schließlich stellte er das Buch zurück an seinen Platz und achtete sorgfältig darauf, dass es sich nahtlos an die anderen reihte, damit keiner sehen konnte, dass jemand es herausgenommen hatte. So gern er dem Aufruf seines Großvaters auch gefolgt wäre und so gern er den Heiligen Gral in Barchester gesucht hätte – diese Mission musste er wieder einmal auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Er ging zu seinem gewohnten Tisch und setzte sich auf den gotischen Stuhl mit dem abgewetzten Samtbezug, der im neunzehnten Jahrhundert noch im Kapitelhaus gestanden hatte. Vor ihm auf dem Tisch lag das Brevier von Barchester, das einzige mittelalterliche Manuskript, das den Bibliotheksbrand von 1941 unbeschädigt überstanden hatte, weil es gelegentlich als Messbuch verwendet worden war und deshalb nicht in der Bibliothek, sondern auf einem Pult am Eingang der Sakristei gestanden hatte. Bei dem nächtlichen Bombenangriff hatte es deshalb zu den ersten Büchern gehört, die fortgeschafft wurden.

Dieses Stundenbuch aus dem dreizehnten Jahrhundert enthielt Psalmen, Lesungen und Gebete für die sieben täglichen Gebetszeiten, die die Mönche des Klosters damals einhalten mussten. Das Brevier von Barchester umfasste außerdem mittelalterliche Vertonungen einiger Psalmen und Lobgesänge. Viele Stundenbücher waren während des Englischen Bürgerkriegs von Parlamentariern vernichtet worden, denen der Gesang zu römisch-katholisch war. Doch das Brevier von Barchester hatte überlebt und als wichtige Quelle für eine der wenigen Schriften gedient, die im neunzehnten Jahrhundert in der Bibliothek der Kathedrale entstanden waren: Hardings Kirchenmusik von Septimus Harding, dem damaligen Kantor der Kathedrale.

Das Brevier enthielt zudem spezielle Gebete und Gottesdienste, die es nur in Barchester gab. Am interessantesten fand Arthur den Gottesdienst zum Gedenktag der heiligen Ewolda, die das Kloster gegründet hatte, aus dem später die Kathedrale von Barchester hervorging. Auf der Suche nach Anhaltspunkten über das Leben dieser Heiligen hatte Arthur bereits unzählige Male über den vier lateinischen Seiten des Breviers gebrütet.

Das größte Hindernis bei Arthurs Bemühungen, einen neuen Kirchenführer für die Kathedrale von Barchester zu schreiben, bestand darin, dass es so gut wie keine Informationen über Ewolda gab. Arthur wusste nur, dass sie den Märtyrertod gestorben war; Beda Venerabilis hatte sie in seinem Martyrologium erwähnt. Doch über ihr Leben und ihren Tod hatte er kein Wort verloren.

»Die Touristen interessieren sich nicht für irgendeine Heilige aus dem siebten Jahrhundert«, hatte Gwyn gemeint, als Arthur ihr sagte, dass er mehr über Ewolda in Erfahrung bringen müsse, um den Kirchenführer vollenden zu können. »Sie wollen nur wissen, wann das Kirchenschiff erbaut wurde, wer die Glasmalereien gestaltet hat und wann das Café zumacht.« Doch Arthur war sicher: Wenn er nur lange genug auf diese vier Seiten starrte, würden sie ihm etwas über Ewoldas Leben verraten.

Wie schon viele Male zuvor beugte er sich über das Manuskript, in der Hoffnung auf eine neue Erkenntnis. Nach der Reformation war das Buch neu gebunden worden, und der aktuelle Einband aus braunem Kalbsleder war durch die jahrhundertelange Abnutzung so weich wie Wildleder geworden. Außen wies er keine Markierungen auf, jedenfalls keine, die bis heute überlebt hatten, doch Arthur inspizierte ihn trotzdem sorgfältig, bevor er das Manuskript schließlich aufschlug. Der Umgang mit diesem Buch hatte für ihn etwas von einem liturgischen Ritual; es gab ungeschriebene Regeln, denen er jedes Mal folgte.

Das rund achtundzwanzig Zentimeter hohe und achtzehn Zentimeter breite Manuskript umfasste hundertsechzig Pergamentseiten, die auf der Vorder- und Rückseite mit enger lateinischer Schrift bedeckt waren. Es gab weder ein Titelblatt noch ein Inhaltsverzeichnis. Arthur blätterte zur ersten Seite, die mit der Vigil begann.

Pergament fühlte sich einzigartig an, erst recht, wenn es schon achthundert Jahre alt war wie bei diesem Manuskript. Arthur schwelgte in der Textur der Seiten, als er sie langsam umblätterte. Sie waren unterschiedlich dick und schwer, aber alle besaßen die typischen Eigenschaften von Pergament: den Glanz, die glatte, fast schon glitschige Oberfläche, die Geschmeidigkeit und die gleichzeitige Festigkeit. Beim Umblättern von Pergamentseiten ließ Arthur immer besondere Vorsicht walten, obwohl das eigentlich gar nicht notwendig war, denn im Gegensatz zu Papier war Pergament sehr reißfest.

Jedes Detail des Manuskripts versetzte Arthur in die Vergangenheit zurück: die schwache rote Linierung, die dem Skriptor das Schreiben erleichtert hatte, die Stelle am unteren Seitenrand, die durch das viele Umblättern dunkel geworden war, und nicht zuletzt das Pergament, kostbares Vellum, dessen Herstellung besonders aufwendig war.

Schließlich gelangte Arthur zur Ordnung für die Vesper am Gedenktag der heiligen Ewolda. Sie unterschied sich kaum vom Abendgebet anderer Tage, und bisher war ihm an der Auswahl der Psalmen und Schriftlesungen nichts Besonderes aufgefallen. Nur das letzte Gebet nahm direkt auf Ewolda Bezug:

Herr, wir flehen dich an, erhöre uns! Segne deine Dienerin Ewolda, deren Opfer in deinem Namen wir am heutigen Tage und an allen anderen Tagen gedenken, mit deiner Gnade. Du hast deine gesegnete Jungfrau Ewolda durch den Palmzweig des Martyriums in den Himmel geholt. Gewähre, dass wir, indem wir ihrem Beispiel folgen, ebenfalls das Recht erwerben mögen, dir nah zu sein.

Auch diesmal kam Arthur sich nach der Lektüre des Gebets keinen Deut schlauer vor. Ewolda war Jungfrau und Märtyrerin gewesen; nichts Ungewöhnliches bei weiblichen Heiligen. Aber worin hatte ihr Opfer bestanden? Was hatte »Palmzweig des Martyriums« zu bedeuten? Worin bestand ihr Beispiel, dem die Betenden folgen wollten?

Neben dem Gebet war eine geschmacklose Zeichnung zu sehen, die wohl Ewolda darstellen sollte: eine schwebende Frau in einem blauen Gewand. Der Künstler hatte ihr den typischen Heiligenschein verpasst, aber auch etwas Zotiges, wie es bei manchen dieser Zeichnungen Tradition zu sein schien: vom Saum ihres Gewands lief ein Rinnsal herunter. Arthur konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum ein mittelalterlicher Künstler die heilige Ewolda neben dem ihr gewidmeten Gebet ausgerechnet beim Wasserlassen zeigte.

Arthur seufzte und las das Gebet noch einmal durch. Dann gab er auf und schlug das Buch vorsichtig zu. Gwyn hatte vermutlich recht. Am besten schrieb er einfach weiter und bereicherte den Kirchenführer mit historischen Fakten, die ihm bereits bekannt waren, statt sich den Kopf über Informationen zu zerbrechen, die nicht aufzutreiben waren. Er holte seinen Füllfederhalter, ein paar cremefarbene Blätter und die lederne Schreibunterlage hervor, die er auf dem alten Tisch immer benutzte. In der eleganten Schrift, die er sich mithilfe eines Kalligraphie-Lehrbuchs des neunzehnten Jahrhunderts angeeignet hatte, schrieb er: Kirchenführer für die Kathedrale von Barchester. Aber was sollte er als Nächstes schreiben?

Als er auf das leere Blatt starrte, kam ihm eine Erkenntnis: Wenn er den Kirchenführer wirklich so schreiben wollte, dass er seinen eigenen Ansprüchen gerecht wurde, musste er nicht den Heiligen Gral aufspüren, sondern einen ganz anderen Schatz: das verschollene Buch der Ewolda.

IIDas Kirchenschiff

*

Mit seinen stattlichen Steinsäulen, dem Tonnengewölbe und den imposanten normannischen Bögen zählt das Kirchenschiff zu den ältesten Gebäudeteilen der Kathedrale. An den Wänden finden sich Gedenktafeln, die verschiedenen De Courcys, Greshams und Ullathornes gewidmet sind, und das Seitenschiff beherbergt das Grab des Zweiten Duke of Omnium. Ein noch viel älterer Gedenkstein befindet sich im Boden des Westeingangs. Er ist vermutlich angelsächsischen Ursprungs und trägt nur ein einziges Wort: Wigbert. Über diesen schlichten grauen Gedenkstein ist kaum etwas bekannt. Möglicherweise markiert er die Ruhestätte eines Abts des angelsächsischen Klosters, oder aber er wurde von den Normannen an seinen jetzigen Standort verlegt. Wahrscheinlich ist er das älteste, aber mit Sicherheit das geheimnisvollste Monument von Barchester.

KLOSTER SANKT EWOLDA, BARONUM CASTRUM, 560 N. CHR.

Wigberts Kammer war fast dunkel. Das Feuer in der Mitte des Raums war niedergebrannt, und die Ecke, in welcher der alte Abt lag, war so finster, dass seine Stimme aus dem Nichts zu kommen schien. Doch Martin hatte scharfe Augen, und das Licht einer einzigen Wachskerze reichte ihm, um niederzuschreiben, was der Abt diktierte.

Martin der Schreiber war nach Martin von Tours benannt worden, hatte das Licht der Welt allerdings im Jahre 536 n. Chr. in der Bretagne erblickt. Als junger Mann war er Schäfer gewesen, bis er eines Tages einige seiner Schafe an einen Pergamentmacher verkaufte. Martin, der zuvor noch nie etwas von Pergament gehört hatte, kehrte danach Tag für Tag zurück, um dem Mann dabei zuzuschauen, wie er die Schafe schlachtete, häutete, die Haut in eine Kalklösung legte, das Haar abschabte und die dünne, durchsichtige Haut dann zum Trocknen auf einen Rahmen spannte. Martin war erst recht fasziniert gewesen, als der Mann ihm erzählte, dass das Pergament den Mönchen des nahe gelegenen Klosters von Saint-Brieuc als Beschreibstoff dienen sollte.

»Die Skriptoren stellen ein Evangeliar her«, sagte der Mann, »und für die Seiten wollen sie einhundert Häute.«

Und so wie Martin seinen Schafen zum Pergamentmacher gefolgt war, folgte er nun dem Pergament zum Kloster, legte das Mönchsgelübde ab und ging bei einem der Skriptoren in die Lehre. Er besaß ein bemerkenswertes Sprachtalent und erlernte rasch die Schreibtechniken, wobei er großes Geschick im Umgang mit dem Federkiel bewies und kaum Fehler machte, wenn er mit seiner akkuraten und geradlinigen Schrift Zeile um Zeile füllte. Seine Kollegen stimmten darin überein, dass keiner sich besser darauf verstand, mit Pergament umzugehen, als der einstige Schäfer. Ein guter Skriptor erkannte auf Anhieb die Unterschiede zwischen Fleisch- und Haarseite oder der Haut von Schafen, Ziegen und Kälbern.

Martins Technik, sein Arbeitsethos und seine Vertrautheit mit dem Beschreibstoff hätten vermutlich dazu geführt, dass er Hauptschreiber von Saint-Brieuc geworden wäre, wenn der Abt nicht eines Tages die Bittschrift eines abgelegenen Klosters im Königreich Barsyt in Britannien, auf der anderen Seite des Wassers, erhalten hätte. Es war ein armes Kloster, das keine Schreiber und nur wenige Brüder hatte, von denen zudem kaum einer lesen konnte; die meisten hatten die Psalmen durch Zuhören auswendig gelernt. Der Abt, Wigbert, hatte von seinem Sterbebett aus die Bitte an Saint-Brieuc gerichtet, einen Skriptor zu entsenden, der die Geschichte der Klostergründung niederschreiben sollte. Da Martin der einzige Schreiber war, der das Angelsächsische beherrschte – er hatte es einige Jahre zuvor von einem Besucher gelernt –, hatte er die Aufgabe angenommen und war über die raue See nach Britannien gesegelt, wo er, als er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, erleichtert auf die Knie fiel und ein Dankgebet anstimmte. Sodann hatte er sich zu Fuß zur einstigen römischen Siedlung Baronum Castrum begeben und dort schließlich Wigbert angetroffen, der zwar körperlich sehr geschwächt war, jedoch über einen erstaunlich starken Willen verfügte und es kaum erwarten konnte, endlich seine Geschichte zu erzählen. Wobei es gar nicht seine eigene Geschichte war, sondern diejenige seiner Zwillingsschwester Ewolda.

Martin hatte nun schon viele Tage damit verbracht, Wigbert zuzuhören. Jeden Morgen erzählte der alte Mann ihm eine Stunde lang eine neue Episode, und Martin stellte ihm Fragen dazu. Nachmittags wiederholte der Abt seine Erzählung langsam, und Martin schrieb die Worte auf Pergament nieder. Dabei nahm er sich die Freiheit, zwar nicht die Fakten, aber die Worte ein wenig zu verschönen, denn Wigberts Erzählstil war von geradezu schmerzhafter Nüchternheit. Der Abt hatte kein Gespür für die Schönheit von Sprache und dafür, wie Worte eine Geschichte wirkungsvoll untermalen konnten. Wigbert erzählte eine Geschichte, doch Martin schuf Dichtkunst daraus.

»Für heute soll es genügen«, sagte der Abt schließlich nach längerem Schweigen. »Ihr könnt die Feder beiseitelegen und mich allein lassen.«

»Hochehrwürdiger Abt«, sagte Martin. »Darf ich frei zu Euch sprechen?«

»Natürlich, Bruder Martin. Es spendet mir Trost, in Gesellschaft zu sein, und auch wenn es mich nun, da mein Ende naht, viel Kraft kostet, die Erinnerungen an längst vergangene Tage heraufzubeschwören, ist Eure Gesellschaft mir dennoch ein großes Vergnügen.«

»Sagt, hochehrwürdiger Abt – sind die Geschichten, die Ihr von Eurer Schwester erzählt, wahr? Oder erfindet Ihr sie, um künftige Brüder und Schwestern dieses Klosters zu inspirieren?«

»Was ist Wahrheit?«, antwortete der Abt. »Ist das, was in der Heiligen Schrift steht, wahr?«

»Natürlich«, sagte Martin.

»Ist unser Herrgott dann ein Gott des Friedens oder ein Gott des Krieges?«

»Er ist natürlich ein Gott des Friedens«, sagte Martin. »Denn er sandte seinen Sohn, um den Völkern Frieden zu bringen.«

»In der Tat«, erwiderte Wigbert. »Und doch lehrt uns das Zweite Buch Mose, dass der Allmächtige ein Krieger ist. Was also ist wahr?«

Über diese Frage hatte Martin noch nie nachgedacht. »Die Wahrheit ist wohl doch nicht so einfach, wie ich vermutet habe«, sagte er schließlich.

»Und so verhält es sich auch mit dem Buch, das Ihr für mich schreibt. Es ist die beste Wahrheit, die mir im Gedächtnis geblieben ist – doch was ist Erinnerung und was ist Übertreibung, die sich mit der Erinnerung vermischt hat? Was ist meine eigene Erinnerung, und was ist den Erinnerungen anderer zuzuschreiben? Wie genau ist mein Gedächtnis, und wie genau ist dasjenige all derer, denen ich diese Geschichten erzählt habe? Diese Fragen vermag ich nicht zu beantworten, ebenso wenig, wie Ihr zu sagen vermögt, ob der Allmächtige ein Gott des Krieges oder des Friedens ist. Jedoch glaube ich, dass diese Geschichten Wahrheit enthalten.«

»Und glaubt Ihr, dass Eure Schwester eine Heilige ist?«

»Daran hege ich keinen Zweifel, denn auch wenn mein Gedächtnis mich beizeiten im Stich lassen mag, so geschehen noch immer Wunder an ihrem Schrein. Erst letztes Jahr kam eine gelähmte Frau an das Grab, das Ewoldas heilige Überreste birgt, um dort zu beten. Am nächsten Tag war sie von ihrem Siechtum geheilt. Ich sah es mit eigenen Augen, und viele meiner Brüder sahen es ebenfalls. Auch wenn das, was ich vom Leben und Tod meiner gesegneten Schwester berichte, in manchen Einzelheiten ungenau sein mag, spiegelt es dennoch wider, wer sie wahrhaftig war und ist.«

»Ihr seid wahrlich gesegnet, diese Heilige zur Schwester zu haben«, sagte Martin.

»Ja, das bin ich wohl«, sagte Wigbert leise. »Und doch quält mich jeden Tag die Erinnerung an ihren Tod.«

»Wie ist sie denn gestorben? Welches Martyrium hat sie erlitten?«

»Das, mein Bruder«, antwortete Wigbert, »werde ich Euch morgen erzählen.«

6. APRIL 2016

ZWEITER MITTWOCH NACH OSTERN

Am folgenden Nachmittag war es Arthur leider nicht vergönnt, die Universität rechtzeitig genug verlassen zu können, um noch in der Bibliothek zu arbeiten. Als er von der Bushaltestelle zur Kathedrale ging, kam er immerhin noch früh genug zum Evensong, dem gesungenen Abendgebet. Er eilte durch den Westeingang und rauschte durch das südliche Querhaus, am Kantor vorbei, dem er höflich zunickte und sich dessen Kopf dabei insgeheim als gigantischen Stinkekäse vorstellte. Obwohl – eigentlich hatte er mehr Ähnlichkeit mit einem frisch geangelten Lachs. Die hohe Stirn des Kantors, die durch Geheimratsecken unvorteilhaft betont wurde, glänzte schweißnass, und die dünnen Lippen waren zu einem makellosen O geformt. Er wirkte nervös, was seiner Hochnäsigkeit allerdings keinen Abbruch tat. Es war unfair von Arthur, aber der Mann strahlte eine Arroganz aus, die einem Lachs einfach nicht zustand.

Arthur nahm auf einer Kirchenbank gegenüber der Stelle Platz, wo später der Chor stehen würde. Die Abendandacht begann erst in zwanzig Minuten, und er war der erste Besucher. Nach und nach kamen weitere dazu: zwei regelmäßige Kirchgänger, eine Handvoll Touristen sowie ein paar Kauflustige, die noch ein halbes Stündchen länger im Stadtzentrum verweilen wollten, um die Abendandacht zu hören. Arthur bekam davon allerdings kaum etwas mit. Andere dachten an Gott, Jesus, Architektur oder Musik, wenn sie in die Kathedrale kamen, doch Arthur half die wunderbare Stille dieses Ortes, an gar nichts mehr zu denken und seinen Arbeits- und Kirchenführerfrust zu vergessen; ja, sogar seine irrationale Abneigung gegenüber dem Kantor löste sich mit einem Mal in Luft auf. Als der Kantor mit der Abendandacht begann und »O Herr, öffne unsere Lippen« sang, hörte Arthur nur den reinen Klang der Tenorstimme, und als der Chor antwortete, gab er sich ganz der Musik hin.

Die Schönheit des Evensong mit dem herrlichen Chorgesang, der durch die Kathedrale hallte, brachte Arthur zwar nicht dazu, an Gott zu glauben, aber er wünschte sich, es zu können. In Barchester existierte diese Form des Abendgebets schon seit fünf Jahrhunderten; eine Kontinuität, die sehr beruhigend auf Arthur wirkte, während er auf seinem üblichen Platz saß und dem Gesang lauschte.

Das Magnificat und das Nunc Dimittis wurden heute in einer gregorianischen Vertonung präsentiert, die etwas ganz Besonderes war, denn sie stammte aus dem Brevier von Barchester. Diese Musik war schon vor achthundert Jahren an diesem Ort erklungen, und als sie nun erneut durch das Domgewölbe hallte, katapultierte sie Arthur zurück in die Zeit vor der Reformation, als es noch keinen Evensong gegeben hatte und nur der Gesang der Mönche in diesen Mauern erschollen war.

Nach dem Abendgebet eilte Arthur davon in der Hoffnung, dem Kantor zu entkommen, doch kaum war er im Kirchenschiff, stand der Lachs auch schon parat, um die spärlichen Besucher persönlich zu begrüßen. Arthur blieb keine andere Wahl, als zu lächeln und ihm die Hand zu reichen.

»Guten Abend, Arthur«, sagte der Kantor. »Es ist immer wieder eine Freude, Sie zu sehen.« Es klang, als meinte er das Gegenteil. Der Handschlag des Kantors war kalt und feucht, und als Arthur davoneilte, wischte er sich die Hand verstohlen an der Hose ab.

Der Kantor hatte eine Art, überall dort zu sein, wo Arthur auch gerade war. Wenn Arthur bei einem Empfang den Raum durchquerte, um die Dekanin oder den Chorleiter oder die französische Frau des Organisten zu begrüßen, tauchte der Kantor plötzlich aus dem Nichts auf, um sich vorzudrängen und das Gespräch an sich zu reißen. Auf dem Markt stand er unversehens vor Arthur in der Schlange, um ihm das letzte Stück Cheddar wegzuschnappen. Es war sogar schon vorgekommen, dass Arthur in die Bibliothek kam und feststellen musste, dass der Kantor seinen Lieblingstisch in Beschlag genommen hatte. Natürlich hatte der Kantor das Recht, sich dort hinzusetzen, aber es ärgerte Arthur, dass er selbst sich mit einem der moderneren Tische begnügen musste, während der Kantor sich an Arthurs angestammtem Platz breitmachte und irgendeinen Schundroman las.

Arthur war gelinde gesagt nicht gerade entzückt darüber, wegen des Kantors etwas zu spät dran zu sein. Er erwartete nämlich Besuch und musste regelrecht nach Hause sprinten, um dort noch schnell aufzuräumen.