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Der Gendarm aus dem Lipperland Wir schreiben das Jahr 1899. Jakob Hufnagel, Gendarm in Oerlinghausen, ist kein Kostverächter. Ein gutes Bier oder die Avancen verheirateter Damen lässt er selten unbeachtet. Hinter vorgehaltener Hand nennt man ihn den »Bullen vom Töns« – eine Anspielung auf den nahegelegenen Tönsberg. Als am Waldrand eine tote Frau aufgefunden wird, zweifelt Jakob an einem Selbstmord, und der Dorfarzt bestätigt seinen Verdacht. Wer war die junge Frau, und wer hat sie auf dem Gewissen? Neben dem Mord beschäftigen Jakob auch ein umherziehender Vagabund und ein gestohlener Schützenvogel, ohne den das Volksfest zu scheitern droht. Als er in der alten Försterhütte nur knapp einem Anschlag entgeht, erkennt er schlagartig, wie nah er dem Täter schon gekommen ist. Doch er lässt sich nicht einschüchtern, und der Bulle beginnt, seine Widersacher nacheinander auf die Hörner zu nehmen …
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Seitenzahl: 323
Veröffentlichungsjahr: 2025
Joachim H. Peters
Vom Autor bisher bei KBV erschienen:
On the Road to Dingsbums
Joachim H. Peters. Geboren? Ja, im Jahre 1958 in Gladbeck am Rande des Ruhrgebietes. Ab 1975 Polizeibeamter und dabei auch schon mal real Mörder festgenommen. Fünfundvierzig Jahre lang im Dienste der Gerechtigkeit unterwegs und seit 2008 als Krimiautor für die Gegenseite. Er verfasst Kurzgeschichten, bestreitet Auftritte (u. a. mit Kabarett-Programmen) und steht als Moderator und Schauspieler auf der Bühne oder aber als Leser anderer Texte, u. a. für Bestsellerautor Martin Walker.
www.koslowski-krimis.de
Joachim H. Peters
und die unbekannte Tote
Historischer Krimi aus dem Lipperland
Originalausgabe
© 2025 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH
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Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95441-738-4 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-95441-749-0 (e-Book)
Vorwort
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
Das letzte Kapitel
Epilog – Realität
Anmerkungen des Autors
Danksagung
Für Dirk Becker, der von 2015 bis 2025 als Bürgermeister erfolgreich die Geschicke der Bergstadt Oerlinghausen lenkte.
So stieg ich bergauf, an der Hünenkapelle auf dem Tönsberg vorüber, durch Buchenwald, in dessen Schatten die Bickbeersträucher strotzten vom Segen der Waldfrau, vorüber an Quellsümpfen, mitten durch enkeltiefen Treibsand, bis sie vor mir lag, die herbe Senne.
So beschreibt Hermann Löns den 333,4 Meter hohen Bergrücken im Teutoburger Wald, auf dessen windigstem Punkt ein Windmühlenstumpf steht, welcher den Namen Kumsttonne trägt. Wozu man erklären muss, dass das Wort »Kumst« im Plattdeutschen für Sauerkraut steht. Der Name Töns wiederum leitet sich vom Namen des heiligen Antonius (niederdeutsch: Tönnies oder Tüns) ab, dem Schutzpatron der Einsiedler, zu dessen Ehren man hier oben, inmitten einer ehemaligen Wallanlage, eine Kapelle errichtet hat. In ihrer Nähe kann man noch heute die Ruine der viel später errichteten sogenannten »Hünenkapelle« besichtigen.
Der Berg und die ihn umgebenden Wälder waren schon immer als Naherholungsgebiet und Ausflugsziel beliebt. Eine Legende sagt, dass bereits um 800 Papst Leo III. zusammen mit Karl dem Großen hier oben gewesen sein soll. Feinschmecker werden den Töns aber auch als 56-prozentigen Kräutergeistlikör kennen, und genaue Betrachter finden ihn als den mittleren der Dreiberge im Wappen der Stadt Oerlinghausen wieder.
Doch bekanntlich lauert das Böse immer und überall, und so ist sicherlich auch im Schatten des Töns so manche Untat geschehen. Von einer solchen erzählt dieses Buch.
Wir schreiben das Jahr 1899, in dem Oerlinghausen keine Stadtrechte besitzt, sondern noch Dorfschaft ist.
Alles begann an einem warmen Spätsommertag …
Josefine Freimuth hielt sich krampfhaft an der Tischplatte fest. Ihr Kopftuch war verrutscht, und die hochgeschobenen Röcke ließen sie aussehen, als hätte sie einen Buckel. »Oh, mein Gott!«, stöhnte sie atemlos, aber voller Lust.
»Sag einfach Jakob«, wehrte der Mann hinter ihr den Vergleich ab, den Pfarrer Plassmann sicher nicht gerne gehört hätte. Ebenso wenig wie der Geistliche den soeben stattfindenden Ehebruch gutheißen würde.
Jakob Hufnagel schnaufte wie ein alter Ackergaul, der einen schweren Karren auf den Töns ziehen muss, und gab sich dabei Mühe, den Takt nicht zu verlieren. Was nicht einfach war, denn zusätzlich musste er sich auch noch darauf konzentrieren, nicht an Josefines Mann Johannes Freimuth zu denken, der vermutlich gerade sein Feld bestellte, während er sich hier mit dessen Eheweib vergnügte. Aber warum vernachlässigte Johannes auch seine Frau, die nicht nur jünger war als dieser, sondern auch mehr Verlangen als er besaß? Da war es doch kein Wunder, dass sich dieses Weib ihren Spaß woanders suchte – und auch fand. So wie gerade mit ihm.
Es dauerte noch eine Weile, bis endlich beide befriedigt voneinander abließen und Jakob seine Hosen wieder hochziehen und zuknöpfen konnte. Mit den Daumen zog er die Hosenträger nach vorne und ließ sie dann auf den Oberkörper klatschen, so wie er es ein paar Minuten zuvor auch mit der Hand auf dem Hintern der Bäuerin getan hatte.
Diese war zur Waschschüssel hinübergegangen, stellte ein Bein auf einen Schemel und säuberte sich. »Warum du noch nicht verheiratet bist, wundert mich«, ließ sie sich von dort vernehmen. »So ein starker Kerl wie du und dazu noch im besten Mannesalter.«
Jakob Hufnagel zuckte nur mit den Schultern, während er sein Hemd in die Hose stopfte.
»Und von Berufs wegen auch noch so eine gute Partie«, fügte sie hinzu. »Auf so einen wie dich müsste es doch jede Frau im Dorf abgesehen haben.«
»Wer weiß, vielleicht bin ich ja noch nicht bereit dazu, mich zu binden«, erwiderte Jakob, nahm den schweren dunkelgrünen Rock vom Stuhl und zupfte verlegen eine Staubflocke vom Revers.
Josefine lachte laut auf. »Das kann ich mir denken, denn ich bin doch ganz sicher nicht die einzige Frau im Dorf, die von dir beglückt wird, oder?« Dabei konnte sie ein schelmisches Grinsen nicht unterdrücken. »Wie viele gehörnte Ehemänner sind es denn, die dich gerne erschlagen würden?«, wollte die Bäuerin wissen.
»Ein Kavalier genießt und schweigt, so sagt man doch, oder?«, wehrte Jakob die Frage ab. Er schlüpfte in seine Jacke und begann, die Knöpfe zu schließen.
Josefine war näher gekommen und schlang von hinten die Arme um seinen Bauch. »Wenn ich nicht schon verheiratet wäre, würde ich jeder anderen, die hinter dir her ist, die Augen auskratzen.«
Jakob musste grinsen. »Dann würde man dich ins Gefängnis sperren«, vermutete er und befreite sich aus ihrem Griff. Gleichzeitig legte er seinen Gürtel um und griff, nachdem er den Rock darunter strammgezogen hatte, nach seinem Säbel, den er wohlweislich nicht weit weggelegt hatte. Er wusste, wie gehörnte Ehemänner reagieren konnten. Kaum hatte er ihn am Gürtel eingehängt und die Pickelhaube aufgesetzt, war aus dem Ehebrecher wieder eine Respektsperson geworden, denn Jakob Hufnagel war einer der beiden Gendarmen der Dorfschaft Oerlinghausen.
»Pass nur auf, dass dich niemand sieht, wenn du das Haus verlässt«, ermahnte die Bauersfrau, immer noch mit einem befriedigten Lächeln im Gesicht.
»Und wenn schon«, erwiderte Jakob, »dann war ich eben zum Zwecke einer Befragung hier. Am Menkhauser Berg soll nämlich eine Ziege verschwunden sein.« Bevor er das kleine Bauernhaus verließ, nahm er Josefine noch einmal in den Arm. »Gnädige Frau, der Herr Gendarm bedankt sich für Ihre aufopferungsvolle Hilfe.« Dann küsste er sie auf die Stirn und machte auf dem Absatz kehrt. Beim Verlassen der Stube musste er sich bücken, denn der niedrige Türstock hätte ihm sonst die Pickelhaube vom Kopf geholt.
Draußen blieb er noch ein paar Sekunden vor dem Bauernhaus stehen, sog begierig die frische Luft in die Lungen und ließ aufmerksam seinen Blick umherschweifen, doch es war niemand zu sehen.
Mit einem tiefen Seufzer marschierte er los. Allerdings nicht in Richtung Menkhauser Berg, wo zwei Tage zuvor tatsächlich eine Ziege verschwunden war, sondern in Richtung des Dorfes, welches unter ihm lag. Auf seinem Weg sah er von hier oben sowohl den Turm der Alexanderkirche als auch den steinernen Stumpf der ehemaligen Windmühle, dessen hölzernes Oberteil fehlte, weil man es nach mehreren Schäden nicht wiederaufgebaut hatte.
Unten aber, von Jakobs Stelle aus noch nicht zu sehen, lagen das Gericht und das Amtshaus, welches unter anderem auch die Amtsstube beherbergte, die er sich mit seinem Kollegen Hermann Tölke teilte. Ein stocksteifer und, wie Jakob fand, auch nicht sonderlich intelligenter Paragrafenreiter, der sicherlich ebenso wenig Verständnis für die intensive und intime Betreuung Josefines gehabt hätte wie ihr Ehemann oder wie Pfarrer Plassmann. Wobei Letzterer sich nicht mehr lange würde echauffieren können, denn seine Zeit als Gottesmann in Oerlinghausen neigte sich ihrem Ende zu. Plassmann würde in wenigen Tagen nicht nur in den Ruhestand, sondern auch rüber ins Preußische nach Bielefeld wechseln, woher er auch stammte. Sein Nachfolger war bereits angekündigt, und Jakob war gespannt, welche schwarze Krähe der anderen folgen würde. Er war noch nie besonders religiös gewesen, und daher interessierte ihn auch weniger die geistliche, sondern mehr die menschliche Seite des neuen Seelsorgers. Bei Plassmanns Predigten mutierte jedes kleine Vergehen zu einer Todsünde. Großspurig hatte er nicht nur von der Kanzel herab immer von »seinem Gotteshaus« gesprochen und streng entschieden, wer in die Alexanderkirche durfte und wer nicht. Jakob war sich sicher, dass selbst der liebe Gott wenig Chancen gehabt hätte, ohne Pfarrer Plassmanns Erlaubnis das Kirchengebäude zu betreten.
Jakob stiefelte gemessenen Schrittes in Richtung Dorf. Dabei hielt er die Arme auf dem Rücken verschränkt. Nach einem kurzen Blick auf seine Taschenuhr, ein Erbstück seines Vaters, entschied er sich, noch einen Rundgang zu machen. Auf diesem Wege konnte er auch gleich bei Schuster Schmidt vorbeischauen und nachfragen, ob der endlich sein Paar Winterstiefel besohlt hatte. Es war zwar erst Oktober, aber Schmidt trug nicht umsonst den Spitznamen Schustermeister Langsamer. Bei dem musste man öfter mal nachhaken.
Jakob maß 1,80 Meter, hatte Hände so groß wie Bratpfannen, und der Schneider hatte gejammert, weil er so viel Stoff für den großen Uniformrock des Dorfgendarmen benötigt hatte. Jakobs glatt rasiertes Kinn erschien so eckig, als ob man es aus einem Steinblock gehauen hätte, und seine dunklen Haare waren immer akkurat kurz geschnitten. Wer ihn nicht ganz so gut kannte, dem konnte der Blick aus seinen dunklen Augen schon mal Respekt einflößen, doch wer ihn besser kennengelernt hatte, der wusste, dass der »Bulle vom Töns«, wie man ihn hinter vorgehaltener Hand nannte, sein Herz am rechten Fleck trug.
Auf der Hauptstraße kamen ihm zwei Jungen entgegen, die ein paar Ziegen vor sich hertrieben. Übermütig schlugen sie mit ihren Haselnussstöcken gegen die Wände der Fachwerkhäuser, doch als sie den Gendarmen auf sich zukommen sahen, ließen sie dieses »üble Treiben« sofort sein und senkten ihre Blicke.
Jakob behielt zwar seinen strengen Amtsblick bei, als er an ihnen vorbeiging, amüsierte sich im Stillen aber köstlich über sie. Was hatte er als Kind nicht alles für Unsinn angestellt und dafür manchmal von seinem Vater den Hosenboden strammgezogen bekommen! Die beiden Schlingel würden noch früh genug den Ernst des Lebens zu spüren bekommen, sollten sie ihre Jugend noch so lange genießen, wie es ging. Leicht war es in diesen Zeiten ohnehin nicht. Die Leute waren arm, und oft plagten Hunger und Krankheiten das Dorf und seine Umgebung. Die kargen Böden der Senne sorgten für geringe Erträge, und Arbeit gab es auch nicht an jeder Ecke. Viele mussten sich das Jahr über als Wanderarbeiter verdingen, um ihre Familien im Winter am Leben zu halten. Ein Los, das diese beiden Ziegenjungen früher oder später ebenfalls ereilen würde.
Noch ganz in Gedanken versunken, bemerkte er gar nicht, dass der Ortsvorsteher Konrad Clüsener die Treppenstufen des Amtshauses herunterkam, direkt auf ihn zuhielt und sich dann vor ihm aufbaute.
»Guten Morgen, Jakob!«, begrüßte er den Vertreter der Ordnungsmacht. »Hast du deinen Streifengang beendet? Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?«
Jakob musste neuerlich grinsen. Zum einen, weil er Clüseners Hang, sich aufzuplustern, schon seit der Schulzeit kannte, zum anderen, weil ihm in den Sinn kam, was der Ortsvorsteher wohl für ein Gesicht machen würde, wenn er ihm von seinen »besonderen Vorkommnissen« im Hause Freimuth erzählte. »Hallo, Ortsvorsteher«, antwortete Jakob stattdessen und tippte gelassen mit der Hand an die Pickelhaube, »das Dorf liegt so still und schweigend am Fuße des Tönsberges, dass weder Justiz noch die Gendarmerie einschreiten mussten.«
»Sehr gut«, lobte Clüsener, »denn Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«, zitierte er den Titel eines Romans von Willibald Alexis. »Was wir in unserem beschaulichen Oerlinghausen nämlich nicht gebrauchen können, sind Unruhe und Aufruhr.«
Ruhe lag Clüsener sehr am Herzen, kämpfte das Dorf doch nun schon seit 1886 darum, endlich die Stadtrechte zu erhalten. Aber auch jetzt, im Jahre 1899, sah es noch nicht danach aus, dass diesem Ansinnen in Bälde stattgegeben würde. Doch Clüsener ließ ebenso wie seine Amtsvorgänger nicht locker. Wie ein Terrier hatte er sich in diese Idee verbissen und griff jeden frontal an, der diesem Ziel schaden konnte.
»Gestern Abend hat es wohl wieder eine Schlägerei im Stern gegeben«, informierte er Jakob und legte dabei seine Stirn in Falten. Mit dem »Stern« war das Gasthaus Zum goldenen Stern gemeint, welches ein Stück weiter die Hauptstraße hinauf lag.
Jakob zuckte mit den Schultern. »Davon habe ich noch keine Kenntnis, gestern Abend hatte Hermann Dienst, und ich war heute noch nicht in der Amtsstube, konnte also noch keinen Blick ins Wachbuch werfen.«
Jakob war allerdings auch ohne diesen Blick sicher, dass er dort nichts über die Schlägerei finden würde. Denn sein Kollege Tölke hatte die erstaunliche Fähigkeit, sich, sobald es irgendwo nach Schwierigkeiten roch, unsichtbar zu machen. Wenn es darum ging, Kinder oder alte Leute zu maßregeln, war er sofort zur Stelle, flogen aber mal die Fäuste, dann bekam Tölkes Uniformrock garantiert keinen Blutspritzer ab.
»Du musst dafür sorgen, dass das aufhört«, forderte Clüsener, »wir sind doch hier nicht mehr bei den alten Germanen.«
»Natürlich! Auch wenn uns das Hermannsdenkmal immer wieder an unsere Herkunft erinnert«, rief Jakob seinem Ortsvorsteher ins Gedächtnis. Und das nicht ohne Grund, denn das Denkmal des Cheruskerfürsten Arminius stand nur 14 Kilometer Luftlinie von Oerlinghausen entfernt auf der Grotenburg in Hiddesen.
Aber Clüsener hatte schon gar nicht mehr zugehört. »Ich muss weiter, die Pflicht ruft!«, verkündete er eilfertig und hatte sich im nächsten Augenblick auch schon abgewandt. Eilig lief er die Hauptstraße hinunter.
Jakob stieg die Stufen hinauf und begab sich in sein Bureau. Ein Raum mit dem spartanischen Charme aller deutschen Amtsstuben. An einer Wand ein Aktenschrank, davor ein Schreibtisch mit einem hölzernen Drehstuhl dahinter und einem einfachen Stuhl davor. Auf der anderen Seite des Raumes an der Wand ein Stehpult mit Schreibzeug, auf dem das Wachbuch lag, in dem alles eingetragen wurde, was in Oerlinghausen aus polizeilicher Sicht Wichtiges geschah.
Abgeteilt wurde der Raum in der Mitte durch eine Barriere mit eingelassener Schwingtür, welche für einen angemessenen Abstand zwischen Bürgern und Amtspersonen sorgen sollte. Neben der Tür, an der Wand, eine hölzerne Bank, im Volksmund auch »Arme-Sünder-Bank« genannt, und an der Wand das obligatorische Bild mit dem lippischen Fürsten.
Jakob durchschritt die Barriere, schnallte sein Koppel ab und hängte es an einen Garderobenhaken neben dem Aktenschrank. Die Pickelhaube landete am Kinnriemen auf dem Haken daneben. Dann knöpfte er den Uniformrock auf und ließ sich auf den Drehstuhl fallen.
Der Schreibtisch sah wie immer ordentlich aus. Schreibfeder und Tintenfass waren an Ort und Stelle, rechts lagen einige Papiere, die noch zu bearbeiten waren. So bat zum Beispiel die fürstliche Verwaltung in Detmold um ein polizeiliches Führungszeugnis für einen jungen Oerlinghauser, der in den Forstdienst des Fürsten treten wollte. Das war eine Sache, die Jakob gerne seinem Kollegen überließ, dem ging in der Bearbeitung solcher Anfragen das Herz auf.
Jakob zog eine der Schubladen auf, weil er nach einem Bleistift suchte. Seinen hatte er zum wiederholten Mal verloren, heute womöglich im Hause Freimuth. Er musste nicht lange suchen, denn auch die Stifte lagen ordnungsgemäß in Reih und Glied an ihrem Platz. Wenn Hermann mal zu Hause für so viel Ordnung sorgen würde wie hier in der Amtsstube, dachte Jakob, weil ihm die beiden missratenen Söhne seines Kollegen in den Sinn kamen. Einer dem Trinken zugeneigt, der andere mit einem unwiderstehlichen Hang zur Eigentumsverschiebung, doch so schlau, dass man ihm bisher nichts nachzuweisen vermochte. Beide tanzten ihrem Vater nicht nur auf der Nase herum, sondern schienen auch zu glauben, dass sie durch dessen Amt besonders geschützt wären. Aber wie sagte schon das alte Sprichwort? Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.
Jakob angelte sich einen der Bleistifte aus der Schublade und wischte die anderen mit der Hand durcheinander. Da hat Heinrich morgen wieder was zu tun, dachte er und grinste.
Dann ging er zum Stehpult hinüber und klappte das Wachbuch auf. Genau wie erwartet fand er keine Eintragung über die Schlägerei im Stern. Dafür aber einen Vermerk über einen lärmenden Zecher, den Tölke zur Ordnung gerufen hatte. Der Sängerknabe war ihm allerdings weit weg vom Stern in die Arme gelaufen.
Jakob tauchte die Feder ins Tintenfass und wollte gerade beginnen, einen Eintrag vorzunehmen, als er an Josefine denken musste. Was sollte er denn ins Wachbuch schreiben?
Ehebruch mit der Frau von Bauer Freimuth begangen? Angelegenheit zur Zufriedenheit fast aller Beteiligten erledigt? Eine verlockende Aussicht, wenn er sich die Gesichter von Hermann oder seinen Vorgesetzten beim Lesen dieses Eintrages vorstellte. Sie würden ihm alles Mögliche vorwerfen können, aber keineswegs mangelnde Bürgernähe.
Er lachte noch einmal trocken auf, schüttelte sich und notierte dann: Streifengang durchgeführt, k.b.V. Keine besonderen Vorkommnisse.
Als die Tinte getrocknet war, klappte er, zufrieden mit sich und der Welt, das Wachbuch zu, kehrte zum Schreibtisch zurück und ließ sich wieder in den Drehstuhl fallen. Eine Sekunde später hatte er seine Beine auf dem Tisch liegen und eine Zigarre aus der Hemdtasche geangelt. Genüsslich setzte er sie in Brand und ließ blaue Rauchkringel aufsteigen. Natürlich wusste Jakob, dass das Rauchen in Amtsstuben verboten war. Leck mich doch, dachte Jakob und genoss die gute Zigarre, die aus der kleinen Tabakfabrik an der Detmolder Straße stammte. Leinen und Zigarren waren die bekanntesten Produkte, die in Oerlinghausen hergestellt wurden. Wobei Jakob sich mehr für Zigarren als für Leinen interessierte.
Er streifte gerade die Asche über dem Papierkorb ab, als heftig an die Tür geklopft wurde. Schnell nahm er die Füße vom Schreibtisch, setzte sich gerade hin und legte die Zigarre an den Rand der Schreibtischplatte. Noch während er die Knöpfe seines Uniformrocks schloss, rief er bereits »Herein«. Die Tür flog mit einem derartigen Schwung auf, dass sie gegen die Wand krachte, und herein stolperte ein Junge in Holzschuhen.
»Herr Gendarm, Herr Gendarm, Sie sollen sofort kommen. Der Herr Pfarrer verlangt nach Ihnen.«
»Nun mal ganz langsam«, versuchte Jakob seinen atemlosen Besucher zu beruhigen. »Hol erst mal Luft, und dann sag mir in aller Ruhe, was vorgefallen ist.«
»Tot!« Der Junge war kreidebleich im Gesicht.
»Wer ist tot, doch nicht Pfarrer Plassmann?«
»Ein Mädchen ist tot, und der Pfarrer hat es gefunden, und nun sollen Sie sofort kommen.«
»Und wohin?«, wollte Jakob wissen. »Wo hat man das Mädchen gefunden?«
Der Junge beschrieb ihm die Stelle am Waldrand, und Jakob wusste sofort, wo das war. Er griff nach seinem Koppel, schnallte es um, stülpte sich seine Pickelhaube auf den Kopf, und kaum, dass er die Barriere hinter sich gebracht hatte, schob er den Jungen auch schon vor sich her aus dem Raum.
Als die beiden vor dem Rathaus standen, wollte Jakob den Jungen schon nach Hause schicken, als ihm plötzlich zwei Dinge einfielen. »Warte mal kurz!« Schnell eilte er in die Amtsstube zurück und schnappte sich seine Zigarre vom Schreibtisch. Das hätte noch gefehlt, dass das Rathaus seinetwegen abgebrannt wäre. Draußen warf er die Zigarre mit einem bedauernden Blick ins nächste Gebüsch. »Du kommst mit!«, forderte er den Jungen auf. »Kann sein, dass du noch ein paar anderen Leuten Bescheid sagen musst.«
»Oh, mein Gott!«
Jakob Hufnagel musste innerlich schmunzeln, denn den Spruch hatte er heute schon mal gehört, allerdings in einem schöneren Zusammenhang. Außerdem kam er diesmal aus dem Mund von Pfarrer Plassmann, der schnaufend am Rand eines Waldweges stand und sich mit einem großen, weißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte.
»Und das in meiner letzten Woche als Pfarrer.« Plassmann schüttelte den gesenkten Kopf, dann hob er ihn und sah Jakob traurig an. »Sie liegt da drüben. Der Strick muss wohl gerissen sein.«
Jakob verstand zunächst nicht, wovon der Geistliche gesprochen hatte, bis er die Leiche sah. Sie lag unter einem Baum mit dem Rest eines kleinfingerdicken Hanfstrickes um den Hals. Sollte es sich um eine Selbstmörderin handeln, die sich hier erhängt hatte? Bei dem Gedanken ging sein Blick nach oben und tatsächlich, an einem starken Ast einer Buche bemerkte er den Rest des Strickes. Der Pfarrer schien mit seiner Annahme recht zu haben. Anscheinend hatte das Seil so lange dem Gewicht standgehalten, bis der Tod eingetreten war, und dann erst nachgegeben. Jakob zückte sein ledernes Notizbuch und begann aufzuschreiben, was er sah.
Ein junges Mädchen, schätzungsweise achtzehn bis zwanzig Jahre alt, dunkelbraune, schulterlange Haare, bekleidet mit einem hellen Leinenkittel, so wie ihn die Frauen bei der Arbeit trugen. Ihr hübsches Gesicht war im wahrsten Sinne des Wortes leichenblass, die Augen geschlossen. An einer Kette befestigt, lag ein Amulett auf ihrer Brust. Ein silbernes Kreuz, welches mit einer dreidimensionalen Darstellung des Gekreuzigten versehen war.
Neben dem Baum entdeckte Jakob ein Paar Holzschuhe. Sorgfältig nebeneinandergestellt. Vorsichtig nahm er der Toten das Kreuz ab und steckte es in seine Tasche. Er wollte nicht, dass es beim Transport der Leiche verloren ging. Sicher gab es irgendwo Angehörige, die froh sein würden, es als Erinnerungsstück behalten zu können. Irgendwo – aber vermutlich nicht in Oerlinghausen, denn das Mädchen war ihm gänzlich unbekannt. Woher sie wohl kam?
Jakob seufzte und sah sich genauer um. Gab es einen Abschiedsbrief? Er sah kein Stück Papier oder gar einen Briefumschlag in der Nähe oder etwa direkt am Baum. Seltsam, er bückte sich, um die Leiche noch einmal genauer zu begutachten. Dabei fiel ihm etwas auf, das ihn stutzen ließ. Sein Blick war auf den Strick gefallen. Er betrachtete ihn genauer. Es war ein gebrauchter Strick, wie man ihn auch für das Führen von Vieh verwendete. Jakob fielen ein paar helle Fasern auf, die sich in dem groben Material verfangen hatten. Sorgsam zupfte er einige davon ab und legte sie zwischen die beiden hinteren Seiten seines Notizbuches. Dann sah er sich die Stelle an, an welcher der Strick gerissen war. Mit einem Stöhnen kam er wieder in die Senkrechte und rief den Jungen zu sich, der ein paar Meter entfernt wartete und dabei seine Mütze nervös in den Händen drehte.
»Lauf zum Haus von Dr. Schmelzer und bitte ihn, sofort hierherzukommen!«
Noch bevor Jakob den Auftrag komplett ausgesprochen hatte, sauste der Junge auch schon los, anscheinend froh darüber, sich endlich von diesem unheimlichen Ort entfernen zu dürfen.
Der Bulle vom Töns wandte sich an Pfarrer Plassmann. »Wann haben Sie die Tote gefunden?«
Der Priester legte zunächst seine Stirn in Falten, dann zog er seine Taschenuhr aus der Weste und klappte sie auf. »Ich bin um zehn Uhr losgegangen, wollte noch einen letzten Spaziergang durch die Gemeinde machen und kam hier eine halbe Stunde später an. Also halb elf, schätze ich mal.«
Plassmann war dafür bekannt, dass er immer wieder ausgiebige Spaziergänge in »Gottes schöner Natur« machte, wie er zu sagen pflegte.
»Ich wollte noch mal zum Mausoleum, bevor ich mich aus Oerlinghausen verabschiede«, erklärte der Geistliche. »Zum Glück kam der Junge vorbei, sonst hätte ich die ganze Strecke zurücklaufen und sie«, er deutete auf die Tote, »hier alleine lassen müssen.« Plassmann seufzte. »So ein junges Leben …«
Das hier war tatsächlich jenes Waldstück, in dem sich das Mausoleum Tenge befand, aber es waren sicherlich noch ein paar Hundert Meter bis dorthin. Der Bulle vom Töns notierte sich die Angaben des Pfarrers und schaute dann auf seine eigene Uhr. Halb elf. Der Junge brauchte von hier bis zum Amtshaus garantiert nur zehn Minuten, denn er war noch jung und trotz seiner Holzpantinen sicher schnell gelaufen. Am Grütebach entlang, hinauf ins Dorf bis zum Haus des Arztes. Wenn der mit seiner Kutsche kam, würde er schon bald hier sein.
»Und sie lag hier schon, als Sie ankamen?«
Pfarrer Plassmann nickte eifrig. »Ja, ich dachte erst, sie schläft, aber als ich ihr wächsernes Gesicht sah …« Er bekreuzigte sich.
Jakob nahm die Pickelhaube ab und legte sie ins Gras. »Und Sie haben sie ganz bestimmt nicht abgeschnitten?«, hakte Jakob zur Sicherheit noch einmal nach.
»Nein, Gott bewahre, außerdem habe ich auch gar kein Messer bei mir.«
Jakob nickte. »Kennen Sie sie?«
Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe sie noch nie gesehen.« Er wischte sich erneut den Schweiß ab. »Ich habe eigentlich ein gutes Gedächtnis, was die Besucher meiner Gottesdienste angeht, aber an diese junge Frau kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht ist sie Katholikin.«
Die meisten Einwohner Oerlinghausens gehörten der evangelisch-reformierten Kirche an, abgesehen von etwa fünfzig jüdischen Mitbürgern, einer sehr kleinen Gruppe von Katholiken und ein paar Gottlosen.
Jakob schaute wieder zu der toten Frau hinüber. Vielleicht sprach das silberne Kreuz für Plassmanns Vermutung. Konnte sie eine Magd von einem der umliegenden Bauernhöfe oder Gutshöfe sein? Die waren nicht oft im Dorf, höchstens mal zum Schützenfest oder wenn sie auf den Markt zum Einkaufen geschickt wurden. Wobei das die Bäuerinnen auch gerne selbst erledigten.
Was ist hier genau geschehen, überlegte Jakob. Denn von der ersten Sekunde an hatte ihn ein seltsames Gefühl beschlichen, das er auch jetzt nicht loswurde. Irgendetwas störte ihn, vielleicht konnte Dr. Schmelzer Licht ins Dunkel bringen.
Bereits ein paar Minuten später kam der Arzt mit seinem zweisitzigen Landauer, der von seiner alten Stute Blümchen gezogen wurde, am Fundort an. Kaum, dass er die Kutsche angehalten hatte, sprang er vom Bock und griff dabei automatisch nach seiner Tasche. »Den Jungen habe ich nach Hause geschickt«, erklärte der Arzt, noch bevor er die beiden Männer begrüßte. »Dem saß der Schreck ja gewaltig in den Knochen.«
»Hallo, Herr Doktor«, begrüßte Jakob ihn. »Gut, dass Sie so schnell kommen konnten. Ich habe Sie herrufen lassen, weil ich möchte, dass Sie sich die Leiche ansehen, bevor ich sie abtransportieren lasse. Mir ist vor allem wichtig, was Sie mir zu ihrem Zustand sagen können.«
Doktor Schmelzer gab Pfarrer Plassmann die Hand, dann folgte er Jakob zu der Toten.
»Der Herr Pfarrer hat sie hier liegend aufgefunden, da war sie schon tot.«
Der Arzt blieb ein paar Sekunden neben der Leiche stehen, und Jakob sah, dass sich die Lippen des Arztes kaum merklich bewegten. Vermutlich sprach der Mediziner ein stilles Gebet, bevor er sich neben der Toten niederkniete. Aufmerksam sah er sich den Hals der jungen Frau an, dann nahm er den Strick in die Hand und schaute ebenso wie Jakob zuvor nach oben. Dann trafen sich die Blicke der beiden Männer.
Doktor Schmelzer nickte. »Gut, dass Sie mich gerufen haben, Hufnagel. Ich vermute mal, Sie haben ein paar Bedenken, was diesen Fall angeht, oder?«
Jakob nickte. »Ja, mir ist der Strick aufgefallen. Er sieht nicht so aus, als ob er gerissen wäre, sondern eher, als wenn man ihn durchgeschnitten hätte.«
Der Arzt nahm der Toten den Strick ab und hielt dessen Ende in Jakobs Richtung.
»Warum macht jemand das? Wer eine aufgehängte Leiche findet, der informiert doch wohl die Gendarmen? Man schneidet sie doch nicht einfach ab und lässt sie dann liegen, oder?«
Jakob kratzte sich am Kinn. »Eine gute Frage, Herr Doktor.«
Der so Gelobte beugte sich näher über die Tote und betrachtete ihren Hals noch etwas genauer. Dann schüttelte der Mediziner den Kopf. »Schauen Sie sich das an! Hier fehlt was«, erklärte er und winkte den Gendarmen näher zu sich heran. Dabei deutete er auf den Hals der Toten. »Sehen Sie eine Spur vom Strick? Eine tiefe Einschnürung oder Hautabschürfungen?«
Jakob beugte sich ebenfalls tiefer. »Nein. Sie haben recht, die dunklen Flecken an ihrem Hals sind viel größer als solche, die ein Strick verursacht hätte.«
»Genau.« Der Mediziner reichte Jakob die Hand. »Helfen Sie mir bitte mal hoch, meine Knie wollen seit dem letzten Winter nicht mehr so recht.« Stöhnend richtete sich der Doktor mit Jakobs Hilfe auf. »Also, wenn Sie mich fragen, dann wurde sie erwürgt.«
»Sie mögen recht haben, Herr Doktor, denn ich glaube auch nicht, dass jemand sie abgeschnitten und dann einfach so liegen gelassen hätte.« Er zog das silberne Kreuz aus der Tasche und zeigte es dem Doktor. »Sonst hätte es derjenige doch sicher mitgehen lassen, oder? Mir scheint, es ist aus echtem Silber und sicher eine Menge wert.«
»Da könnten Sie recht haben, Hufnagel.« Kaum, dass er wieder sicher auf den Beinen stand, verteilte der Doktor auch schon die nächsten Aufgaben. »Ich fahre ins Dorf und schicke den Leichenbestatter her, der soll die Tote mitnehmen und in seinen Keller bringen. Sie«, dabei deutete er auf Jakob, »sollten sicherheitshalber hierbleiben, damit nichts mehr verändert werden kann.« Dann wandte er sich an Pfarrer Plassmann, der etwas abseitsstand. »Wenn Sie wollen, kann ich Sie mit ins Dorf nehmen.«
Der Pfarrer wirkte erleichtert. »Ja, ich fahre gerne mit Ihnen. Ich muss sofort ins Pfarrhaus, einen Bericht schreiben, es wird sicher Nachfragen geben.«
Der Doktor wies ihn an, schon mal einzusteigen, während er eine Pferdedecke unter dem Kutschbock hervorzog. »Ich denke mal, es wäre pietätvoller, die junge Frau damit zu bedecken, auch wenn die Chance gering ist, dass hier jemand vorbeikommt. Außer Gendarmen, Ärzten und Priestern.« Er ließ ein gequältes Lächeln folgen.
Jakob nahm ihm die Decke ab und legte sie so behutsam über die Tote, als wollte er ein schlafendes Kind zudecken. Dann wandte er sich noch mal an den Arzt. »Wenn Fritze kommt, soll er eine Leiter mitbringen.« Als er sah, dass der Doktor nicht sofort verstand, warum, deutete er zu dem Ast hinauf, an dem noch das andere Ende des Strickes baumelte. »Das könnte ein wichtiges Beweisstück werden«, vermutete der Bulle vom Töns, und der Mediziner nickte.
»Wer bist du?« Immer wieder stellte sich Jakob diese Frage mit Blick auf die zugedeckte Tote. Das Dorf war nicht so groß, jeder kannte jeden, aber diese Frau war ihm noch nie über den Weg gelaufen.
Er sah den Leiterwagen, der von einem alten Klepper gezogen wurde, den Weg entlanggerollt kommen. Auf dem Kutschbock der rot- und pausbäckige Fritz Appelkamp, seines Zeichens Zimmermann, Tischler, Sargschreiner und Bestatter in einer Person. Doch vom Aussehen her hätte man Leichen-Fritze, wie man ihn im Dorf nannte, eher für einen Gastwirt oder einen Metzger gehalten. Ganz im Gegensatz zu seinen Kunden sah er immer frisch und quietschfidel aus. Noch nie hatte ihn jemand böse oder ärgerlich erlebt.
»Das liegt daran, dass seine Kunden sich nicht mehr beschweren können«, hatte Döhrmanns Helmut mal vermutet.
»Und daran, dass er bei seinem Beruf nie Probleme bekommen wird, denn gestorben wird immer«, hatte Strates Waldemar noch hinzugefügt.
Fritz Appelkamp stoppte das Gespann direkt neben Jakob und zog die Bremse an. »Der Doktor sagte mir, dass es hier eine Fuhre für mich gäbe, und dir soll ich eine Leiter bringen. Warum auch immer.« Er sprang vom Kutschbock und löste auf der anderen Seite des Wagens zwei Seile, mit denen er eine lange Holzleiter festgebunden hatte. »Was willst du denn damit?«, wollte Leichen-Fritze wissen.
»Das zeige ich dir gleich«, klärte Jakob ihn auf, »aber erst mal musst du deines Amtes walten.« Dabei deutete er auf die abgedeckte Tote.
»Ich habe schon gehört, ein junges Ding, nicht wahr? Der Doktor hat mir alles erzählt.«
Zusammen gingen sie zu der Toten, und Jakob schlug die Decke zurück. »Kennst du sie?«, wollte er von Appelkamp wissen.
»Nee, noch nie gesehen«, erwiderte der, »wenn die mir mal über den Weg gelaufen wäre, würde ich mich sicher an sie erinnern. An so ein hübsches Ding.«
Jakob schlug die Decke komplett zurück und Fritz stapfte los, um den einfachen, aus rohen Brettern zusammengezimmerten Holzsarg aus dem Wagen zu ziehen. Der Gendarm ging ihm sowohl dabei zur Hand als auch beim Einsargen der Toten. Er war nicht zartbesaitet, aber trotzdem froh, als Fritz den Deckel auf die Kiste legte und sie den Sarg wieder auf den Wagen geladen hatten.
»Ich nehme sie mit zu mir. Der Doktor möchte sie heute Abend noch mal eingehender untersuchen. Er sagte, dass du um acht vorbeikommen sollst.«
Da hatte er zwar schon Dienstschluss, aber besondere Lagen erforderten eben besondere Anstrengungen.
»Ich werde da sein. Außerdem benötige ich für die Akten auch noch den Totenschein.« Jakob legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Und jetzt zeige ich dir, wozu ich die Leiter brauche. Komm mal mit!«
Jakob schleppte die Leiter zum Baum und forderte den Bestatter auf, sie festzuhalten, während er hinaufstieg und den Strick vom Ast löste. Fritz wartete, bis der Ordnungshüter wieder auf dem Boden stand, dann schulterte er die Leiter und schleppte sie zum Wagen zurück.
Nachdem er sie festgebunden hatte, kletterte er wieder auf den Bock und löste die Bremse. »Soll ich dich mitnehmen?«
»Nein, danke«, wehrte Jakob ab. »Ich werde zurücklaufen. Die frische Luft wird mir und meinem Kopf sicher guttun, denn da schwirren etliche Gedanken drin herum.«
»Wie du meinst.« Fritz schnalzte mit der Zunge, und der alte schwarze Gaul zog an. Nachdem er auf dem Feld gewendet hatte, kam er wieder an Jakob vorbei, der immer noch mit dem Rest des Stricks in der Hand gedankenverloren dastand. »Was guckste denn so belämmert?«, wollte Appelkamp wissen. »Ist doch ein Selbstmord, damit hast du als Gendarm doch keine Arbeit.«
Jakob sah zu ihm hinauf. »Wenn es denn ein Selbstmord ist«, murmelte er leise und bückte sich dabei nach seiner Pickelhaube und stellte fest, dass sich das schlechte Gefühl, welches er bereits beim ersten Anblick der Toten im Magen verspürt hatte, immer mehr verfestigte.
Wer ist sie?
Diese Frage ging Jakob auch auf dem ganzen Rückweg ins Dorf nicht aus dem Sinn. Er überlegte angestrengt, wer ihm bei der Ermittlung ihrer Identität weiterhelfen könnte. Das silberne Kreuz und die Tatsache, dass Pfarrer Plassmann sie nicht kannte, deuteten darauf hin, dass sie nicht zur evangelisch-reformierten Gemeinde des Dorfes gehörte, sondern vermutlich eher zu den Katholiken.
Sein Gedanke an die Religionszugehörigkeit brachte Jakob auf eine Idee. Wenn jemand alle Menschen im Dorfe und seiner Umgebung kannte, so war das Berta Flörke, die Frau von Balduin Flörke, dem Küster der Alexanderkirche. Wobei böse Zungen behaupteten, dass sie schon lange nicht mehr in der Kirche gewesen sei, was aber nicht an mangelndem Glauben, sondern an ihrer Leibesfülle liege. Hätte der liebe Gott Fragen zu einem seiner Schäfchen gehabt, so wäre Berta die richtige Auskunftsperson. Für Jakob hatte sie sich schon des Öfteren als gute Informationsquelle erwiesen. Berta hatte damals gewusst, wer die Scheibe im Hause der Gebrüder Blume eingeschlagen hatte, und auch, welche beiden Lausbuben unten im Schopketal mit Drahtschlingen Fallen gestellt hatten. Mit Bertas Informationen hatte Jakob nicht nur die beiden Untaten aufklären, sondern die Übeltäter auch gleich dingfest machen können. Die Blume-Brüder bekamen daraufhin eine neue Scheibe und die wildernden Jungen eine Woche verschärften Arrest – und schon war die kleine Oerlinghauser Welt wieder in Ordnung gewesen.
Jakob ging mit Bertas Informationen allerdings immer sehr vorsichtig um und schützte seine Quelle. »Hab' ich irgendwo gehört … hat man rumerzählt … ist mir zu Ohren gekommen.« Nie nannte er ihren Namen, und er tauchte auch in keinem Bericht auf.
Leider war sein Kollege Tölke da weniger sensibel und umsichtig. Als Berta ihm mal einen Tipp gab, posaunte Hermann sofort heraus, woher er wusste, wer das Wort Verbrecher an das Amtshaus gepinselt hatte. Der Täter wurde zwar umgehend zur Rechenschaft gezogen, doch Berta stellte eines Abends fest, dass man mit einem Sack über dem Kopf nicht erkennen kann, wer einen da mit einem Eichenknüppel verprügelt. Seitdem hielt sie sich von Hermann fern, der allerdings nicht verstand, warum. Es hatte lange gedauert, bis Bertas Vertrauen zu Jakob wieder den Stand vor der Tracht Prügel erreichte.
Mittlerweile hatte Jakob den Dorfrand erreicht und setzte sich erst mal auf einen umgestürzten Baumstamm. Er nahm die Pickelhaube vom Kopf und wischte sich die schweißnasse Stirn. Wie sollte er jetzt weiter vorgehen? Ins Amtshaus und einen Bericht für die Staatsanwaltschaft in Detmold schreiben oder gleich zur Kirche und Berta befragen? Er holte das silberne Kreuz aus der Tasche und betrachtete es nachdenklich. Das hatte doch sicher einen nicht unerheblichen Wert, die junge Frau machte aber nicht den Eindruck, dass sie höheren Standes war. War es ein Erbstück? Hatte sie es geschenkt bekommen, oder hatte sie es gestohlen?
»Denk nicht immer so negativ!«, rief er sich selber zur Ordnung und war froh, dass ihn niemand hören konnte. Er ärgerte sich darüber, dass der Gendarm in ihm manchmal die Oberhand gewann, denn früher hatte er grundsätzlich an das Gute im Menschen geglaubt. Heute betrachtete er jeden skeptisch und misstrauisch. Was aber sicher auch daran lag, dass die Leute der Ordnungsmacht gegenüber nicht sehr freundlich eingestellt waren und er immer wieder mal belogen wurde. Doch er wollte seine positive Einstellung nicht einfach aufgeben, und so musste er sich manchmal ins Gedächtnis rufen, dass nicht alles und jeder schlecht war.
Ganz im Gegenteil. Hier auf dem Baumstamm sitzend, die Sonne über sich an einem wolkenlosen, blauen Himmel, grünes Gras unter seinen Stiefeln und gesund. Was wollte man mehr? Vielleicht irgendwann mal eine Familie? Nein, er war lieber ungebunden. Es gab zwar einige schöne Weiber hier im Dorf und der Umgebung, aber ein Zuhause mit Kindern, deren Zukunft in diesen Zeiten ungewiss war? Warum sollte er sich durch eine Heirat Sorgen an den Hals holen, die er alleine nicht hatte?
Nein, es gab niemanden, der ihm sagte, was er zu tun und zu lassen hatte, niemand, für den er Verantwortung übernehmen musste. Allerdings würde es auch niemanden geben, der ihn im Falle einer Erkrankung oder im Alter pflegen konnte. Aber bis er alt war, würde es ja noch eine Weile dauern.
Fast zärtlich ließ er das Kreuz wieder in die Tasche gleiten und erhob sich ächzend. Wer rastet, der rostet. Jakob musste zur Kenntnis nehmen, dass an manchen Sprüchen doch etwas Wahres dran war. Gleichzeitig kam ihm der Gedanke in den Sinn, dass es vielleicht doch nicht ganz so weit bis ins Alter war. Entschlossen stand er auf und marschierte wieder los.
Eine Viertelstunde später hatte er das Haus neben der Kirche erreicht, in der sich nicht nur die Küsterschule befand, sondern in dem auch das Küsterehepaar wohnte. Jakob war die Treppen hinaufgestiegen und hatte geklopft, aber es öffnete niemand. Also wieder runter und rüber in die Kirche. Er nahm die Pickelhaube ab und betrat die altehrwürdige Hallenkirche, von der behauptet wurde, dass die ältesten Teile ihrer Grundmauern aus dem Jahre 1200 stammten und die Überreste einer romanischen Basilika seien.
In ihrem Inneren war es angenehm kühl, und obwohl Jakob kein sehr gläubiger Mensch war, überkam ihn doch jedes Mal, wenn er die Kirche betrat, eine gewisse Ehrfurcht. Er sah sich um und ließ seinen Blick hinauf zur Orgel schweifen, doch er entdeckte weder Balduin Flörke noch dessen Weib. Was ihm jedoch auffiel, war, dass die Tür unter dem Chor- und Orgelpodest offen stand. Jakob marschierte darauf zu und hörte beim Näherkommen bereits die Geräusche, die ein Besen verursacht, wenn er mit Kraft eingesetzt wird. Er stieg die hölzerne Treppe in den Glockenturm hinunter. Unten stand er auf einer alten Grabplatte, die man als Teil des Fußbodens verwendet hatte.
Balduin Flörke arbeitete mit dem Rücken zu ihm und fuhr erschrocken herum, als Jakob sich laut und vernehmlich räusperte. Der Küster war noch einen halben Kopf größer als Jakob samt Pickelhaube, und der maß immerhin schon einen Meter achtzig. Dazu kamen ein breites Kreuz, kräftige Oberarme und Hände wie Kohlenschaufeln.