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Den Carabiniere Giovanni Silvestri hat es in das beliebte Urlaubsgebiet Alta Badia mitten in den Dolomiten zu den Ladinern verschlagen. Die verschneiten Berge, die unverständliche Sprache, das deftige Essen empfindet er, der Süditaliener, als eine einzige Zumutung. Als Christa Vella ermordet wird, kommt für ihn die große Chance, sich zu profilieren. Dass er mit der einheimischen Kommissarin Daniela Thaler gemeinsam ermitteln muss, stört ihn gewaltig, auch wenn er sich von der jungen Frau angezogen fühlt. Bei ihren Ermittlungen kommen auch unkonventionelle Methoden zum Einsatz. Giovanni Silvestri nutzt Trojaner, Daniela Thaler befragt das Tarot, um den Mörder zur Strecke zu bringen.
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Seitenzahl: 209
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Helmut Hans Growe, geboren 1952 in Reutlingen, ist Naturwissenschaftler.
Zahlreichen Italienaufenthalte führten ihn immer wieder ins Alta Badia in den Südtiroler Dolomiten, einem der angestammten Siedlungsgebiete der Ladiner. Seine Kenntnis der Ladiner mit ihren besonderen Lebensumständen zwischen Tradition und Moderne haben den Autor zu diesem Roman inspiriert.
Dienstag
Eine Fahrt ins Blaue endet jäh.
Mittwoch
Oberleutnant Silvestri wird mit den Ermittlungen beauftragt und muss sich mit den Ladinern auseinandersetzen.
Donnerstag
Silvestri lernt Commissario Thaler kennen und erfährt mehr über die Ladiner, als ihm lieb ist.
Freitag
Mehrere Verdächtige geraten ins Visier und Silvestri hat eine Beule am Kopf.
Samstag
Die Ermittlungen stocken. Auch Thaler muss eine schmerzhafte Erfahrung machen. Silvestri und die Ladinerin kommen sich näher.
Sonntag
Ein Verdacht erhärtet sich. Silvestri ist verliebt und erfährt mehr über die Ladinerin.
Montag
Ein Verdächtiger wird überführt. Silvestri und Daniela kommen sich sehr nahe.
Dienstag
Commissario Thaler erhellt die Szenerie mit Tarot und wird später bitter enttäuscht.
Mittwoch
Silvestri wird angeschossen und der Fall wird gelöst.
Epilog
Glossar
Anmerkungen
Danksagung
Christa Vella schaute aus dem Fenster. Gerade war sie aufgestanden und war sofort guter Laune. Schon als sie die Augen öffnete, freute sie sich über das helle Morgenlicht, das durch die Gardinen in ihr Schlafzimmer drang. Die letzten Tage hatten hier, in den Dolomiten, Schnee und eiskalter Wind geherrscht. Die bleiernen Wolken verhüllten die zerklüfteten, majestätischen Berge, verwitterte Burgen ausgewanderter Riesen. Die ganze Landschaft ein einziges Grau in Grau. Kein Mensch mochte vor die Tür gehen. Kaum ein Skifahrer war zu sehen oder zu hören gewesen, obwohl Hochsaison herrschte. Sonst schwangen oder rutschten täglich Tausende über die Piste vor Christas Hof hinab nach Colvilla. Selbst ihren Foxterrier Tux zog es, nachdem er kurz draußen war, rasch wieder ins Haus.
Heute endlich war der Himmel aufgerissen und die Februarsonne strahlte auf die mit feierlichem Weiß bedeckte Landschaft. Alle Geräusche waren wie in Watte gedämpft. Christa zog es hinaus. Sie beschloss, ihre Einkäufe im Ort zu erledigen und dann den ganzen Nachmittag mit den Skiern auf die Piste zu gehen. Vielleicht sollte sie die Sella Ronda fahren? Mit Neuschnee und bei solchem Wetter ein Traum. Oder sollte sie doch lieber bei der Üttia Fanes, ihrer Lieblingsskihütte, einkehren und auf der sonnigen Terrasse die Aussicht bei Germknödel und Cappuccino genießen?
Sie befreite die Scheiben ihres geliebten roten Fiat 500 vom Schnee, packte Tux auf die Rückbank und fuhr los, hinab nach Colvilla - wie meistens flott, obwohl die Straße noch nicht geräumt war. Sie hörte die Musik von Ganes, der ladinischen Frauenband: „Cun tè me stai saurì…“. Sie genoss die Musik und den Anblick der herrlichen Schneelandschaft. Es glitzerte, als läge überall Brillantenstaub. Berge, Bäume, Häuser - alles trug Schneekappen. Hinein ging´s in die linke Kurve und steil bergab in die rechte. Lauthals sang sie mit: „Incö te diji no! Incö te diji no!“ Dabei wanderten ihre Gedanken zu Franco: Nein, mein Liebster, zu dir sage ich nicht nein! Vor der nächsten Haarnadelkurve langsam fahren! Was ist los? Hilfe! Die Bremsen! Mein Gott, die Felsen, der Zaun, der Abgrund!
Christa versuchte um die Kurve zu lenken. Das Bremspedal ging ins Leere. Alles geschah viel zu schnell. Der Wagen rutschte in die Kurve, kam von der Straße ab, durchbrach den Zaun, stürzte den Abgrund hinab und landete krachend auf der großen, gelben Skikanone am Rande der Piste. Der Airbag blähte sich explosionsartig auf. Knochen splitterten. Ein kurzer gewaltiger Schmerz durchzog ihre Brust. Christa fühlte nichts mehr, sah nichts mehr, hörte nichts mehr. Nie wieder.
Eine Schar Krähen kreiste, flog auf und ab und schrie Zeter und Mordio. Eine vertraute Stimme rief: „Giovanni, Giovanni!“ Er wollte hineilen. Nur quälend langsam kam er voran. Je mehr er sich mühte, umso langsamer wurde er. Aus seinem Mund drangen nur lautlose Rufe. Schwer atmend wachte Oberleutnant Giovanni Silvestri in der Frühe auf. Während er langsam zu sich kam, schaute er sich um und erblickte zwei Stühle und einen Kleiderschrank mit angeschlagenem Eichenfurnier. Erleichtert seufzte er auf, nicht etwa, weil ihm die Möbel seiner Dienstwohnung gefallen hätten, sondern weil er diesem Albtraum entkommen war.
Er grübelte darüber nach, welche Dämonen ihn immer wieder im Schlaf verfolgten. Dabei musste er an seinen Vater und seinen Onkel denken. Beide waren ermordet worden, weil sie sich geweigert hatten, das Schutzgeld an die Le Spate, die Mafiafamilie des Nachbarortes, zu zahlen. Am hellen Tag waren die beiden in ihrem Laden erschossen worden.
Die Brüder hatten das alteingesessene Lebensmittelgeschäft, das sich mitten im Dorf befand, von ihrem Vater geerbt und erfolgreich weitergeführt. In den lindgrün gestrichenen Holzregalen stapelten sich alle erdenklichen Lebensmittel bis unter die Decke. Der Geruch von Olivenöl, Kräutern, Salami, Schinken und Käse erfüllte den ganzen Raum. Nachdem tagsüber vor allem die Frauen eingekauft und ihr Schwätzchen gehalten hatten, kamen gegen Abend die Männer und debattierten über die Olivenernte, den Fischfang, die Aufstiegschancen ihres Fußballvereins US Lecce und was sonst noch das Dorf bewegte.
Die Pistolenschüsse zerstörten diese Idylle unwiederbringlich. Ein Großaufgebot an Polizisten untersuchte den Mord. Männer in Uniform und in Zivil nahmen Spuren auf und befragten die verstörten Dorfbewohner. Den Witwen versicherten sie, alles zu tun, um die Täter zu fassen. Die Zeit verging, ohne dass die Polizei die Mörder fasste. Letztlich war das wenig überraschend. Allen saß die Angst im Nacken. Kein Staatsanwalt, kein Polizist und kein Zeuge ging das Risiko ein, wie die beiden Brüder Silvestri zu enden.
Das war vor achtzehn Jahren mehr als tausend Kilometer südlich in dem kleinen Dorf am Meer in Apulien geschehen. So endete Giovannis Kindheit völlig abrupt. Seine Mutter wusste damals vor Schmerz, Trauer und Wut kaum, wie sie weiterleben sollte. Ihrem zehnjährigen Sohn zuliebe hatte sie sich zusammengerissen und alle möglichen Gelegenheitsjobs angenommen, um über die Runden zu kommen. Den Laden musste sie letztlich unter Wert verkaufen.
Giovanni vermisste seinen starken, optimistischen Vater, der ihn, wann immer es ging, auf das Meer mitgenommen hatte. Ebenso vermisste er den Gesang seiner Mutter, die früher stets trällernd ihre Arbeit verrichtet und oft mit ihm zusammen gesungen hatte, fröhliche Melodien aus Apulien oder Ohrwürmer von Gianna Nannini. Seit damals waren ihre Lieder verstummt. Selbst seine Spielkameraden schauten immer seltener bei ihm vorbei und gingen auf Distanz, als würde das Unglück, das seine Familie getroffen hatte, an ihm haften. Wie hatte er in seiner Kindheit an Einsamkeit, bitterer Armut und ohnmächtiger Wut auf die Mörderbande gelitten!
Trotz der widrigen Umstände war er ein guter Schüler geworden. Er wollte sich möglichst viel aneignen, um es den Le Spate einmal heimzahlen zu können. Sein Abitur hatte er mit Auszeichnung bestanden. Für ein Studium an der Universität war kein Geld da. Er wollte jedoch unbedingt einen Beruf ergreifen, der ihn herausforderte. So war für ihn letztlich nur die Wahl zwischen Priester und Carabiniere geblieben. Die Entscheidung war ihm damals leichtgefallen. Zu den Klerikern, die zu feige waren, sich entschieden gegen die Mafia zu stellen, hatte er auf keinen Fall gehören wollen.
Nach seiner Offiziersausbildung wurde er vor zwei Jahren zum Oberleutnant der Carabinieri ernannt und sogleich zu seiner ersten Dienststelle nach Colvilla im Gadertal, mitten in den Dolomiten Südtirols, abkommandiert. Alles hier, die schroffen, steilen Berge, die Kälte, der Schnee, die Ladiner, das deftige Essen, die unpersönliche möblierte Dienstwohnung gingen ihm aufs Gemüt. Wann immer er an die Kindheit zurückdachte, vermisste er - trotz der schrecklichen Geschehnisse - seine Heimat mit ihrer Wärme, ihrer hügeligen Landschaft und dem Meer.
Bevor ihn das Selbstmitleid übermannte, stand er mit einem Ruck auf. Durchs Fenster sah er, dass es wieder heftig schneite. Fröstelnd bewegte er sich unter die Dusche. Gerade als er eingeseift war, klingelte das Telefon. Fluchend ging er zu seinem Diensthandy in den Flur und hinterließ eine nasse Spur auf dem abgeschabten Linoleum.
„Pronto!“, meldete er sich in ziemlich ungnädigem Tonfall.
„Buon giorno Oberleutnant Silvestri! Es ist extrem dringend.“
„Brigadiere Carbone, kann das nicht warten, bis mein Dienst beginnt?“
„Scusi, aber am Apparat ist Dottore Gruber aus Bozen. Er besteht darauf, sofort mit Ihnen zu sprechen. Moment, ich stelle durch!“
Auch das noch! Der Staatsanwalt hatte ihm gerade noch gefehlt! Durchdrungen von der eigenen Bedeutung, ließ er grundsätzlich nie ein kritisches Wort oder gar Widerspruch gegen seine Anweisungen zu. Dieser Mann trug sein Ego wie seine Leibesfülle vor sich her. Es war ein offenes Geheimnis, dass er mit allen wichtigen Politikern der stockkonservativen Südtiroler Partei per Du stand und umso weniger begriff, warum er noch nicht befördert worden war, noch nicht einmal zum Oberstaatsanwalt. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte man sich zu, Dottore Grubers Geltungsdrang würde lediglich durch die Ineffizienz seiner Amtsführung übertroffen.
Nach knapper Begrüßung kam Dottore Gruber direkt zur Sache. „Sie haben sicher schon von dem schweren Autounfall gestern bei Ihnen in Colvilla gehört, bei dem die Witwe Signora Vella tödlich verunglückt ist. Halten Sie sich fest, es war Mord! Die Bremsleitungen ihres Fiats waren angesägt. Kein Wunder, dass sie aus der Kurve geschleudert wurde. Unsere Sachverständigen haben sehr schnell gearbeitet.
Können Sie sich das vorstellen, Oberleutnant Silvestri, so etwas im beschaulichen Colvilla? In dieser Idylle? Mord gab es da noch nie! Vielleicht zu Ötzis Zeiten. Wenn überhaupt, dann bringen sich die Männer aus dem Alta Badia selbst um, beim Bergsteigen, auf Skitouren, beim Paragliding oder wie auch immer“, ereiferte sich der Staatsanwalt.
Silvestri kannte Signora Vella. Im vergangenen Jahr erschien sie auf der Dienststelle der Carabinieri und meldete den Diebstahl ihrer Skier, die sie vor der beliebten Fanes-Hütte abgestellt hatte. Der Verlust schmerzte sie besonders, da die Skier ein Geschenk ihres verstorbenen Ehemanns waren. Silvestri, der die Anzeige entgegennahm, hörte den recht umständlichen Erklärungen der kompakten Mitvierzigerin geduldig und aufmerksam zu. Er wies sie darauf hin, wie niedrig die Aufklärungsquote bei diesen Delikten war. Das sei ihr bewusst, entgegnete die Signora, sie wollte jedoch nichts unversucht lassen. Seither grüßten sie sich, wenn sie sich begegneten.
Bereits gestern Mittag hatte Silvestri auf seiner Dienststelle von dem Unfall gehört. Wie hier in Colvilla üblich, kümmerte sich die hiesige Polizia Locale um solche Verkehrsunfälle. Deswegen schien die Angelegenheit die Carabinieri nichts anzugehen. Der Unfall war gestern der Gesprächsstoff in der Roma Bar, Silvestris Stammlokal, gewesen. Die Einheimischen waren sich darin einig, dass das Unglück wegen des waghalsigen Fahrstils der Signora nicht verwunderlich sei. Bereits vorletzten Winter hatte sie einen schweren Unfall verursacht und ihren Wagen schrottreif gefahren, als sie vom Grödner Joch kommend viel zu schnell in eine Kurve fuhr und gegen einen Felsen prallte. Schon deshalb kam niemand auf die Idee, dass diesmal jemand nachgeholfen hatte.
Bevor Silvestri zu Wort kommen konnte, fuhr der Staatsanwalt sogleich fort: „Hiermit beauftrage ich Sie mit den Ermittlungen. Die Sache muss schnell und diskret vom Tisch! Negative Schlagzeilen können wir nicht gebrauchen. Die Unterlagen sind unterwegs zu Ihnen. Heute um zehn Uhr findet die Autopsie in der Pathologie in Bozen statt. Seien Sie also spätestens um elf Uhr dort, damit Sie so schnell wie möglich die Ergebnisse erfahren!“
Der Oberleutnant war nicht allzu zart besaitet, doch der Anblick einer Frauen- oder Kinderleiche setzte ihm jedes Mal zu. Die Aussicht, die obduzierte Signora Vella auf dem Seziertisch anschauen zu müssen, verursachte ihm ein flaues Gefühl - erst recht auf nüchternen Magen. Wenn er sich die Autopsie vorstellte, rebellierte alles in ihm. Das Aufschneiden des Schädels, dann des Oberkörpers, das Geräusch der Knochensäge, das Knacken der Knochenschere, wenn der Brustkorb aufgeschnitten wird, furchtbar! Und dann noch die Gerüche.
Silvestri versuchte es mit Diplomatie: „Dottore Gruber, es ist mir eine Ehre, dass Sie mir die Ermittlungen übertragen. Aber, so leid es mir tut, ich weiß nicht, ob ich bei den Straßenverhältnissen pünktlich sein kann. Die Pässe und Straßen sind verschneit. Ich würde gerne Oberleutnant Salvo in Bozen bitten, mich bei dem Pathologen zu vertreten.“
„Haha! Guter Versuch! Wird Ihnen mulmig? Keine Sorge, Dottore Täschner wird auf Sie warten, auch wenn Sie etwas länger brauchen. Aber beeilen Sie sich!
Ach noch etwas, bevor ich es vergesse, Commissario Thaler von der Brunecker Polizei wird Sie unterstützen. Commissario Thaler ist im Gadertal aufgewachsen und kennt sich mit den Ladinern aus.“
Der Oberleutnant war alarmiert. Die Carabinieri unterstanden dem Verteidigungsministerium und die Polizia di Stato dem Ministerium für Inneres. Beide Polizeiorganisationen sollten nicht nur auf ihre Mitbürger, sondern auch aufeinander aufpassen und waren in heftiger Konkurrenz miteinander verbunden. Silvestri entrüstete sich: „Dottore Gruber, seit wann arbeiten Carabinieri und die Polizia di Stato zusammen? Ich dachte, das ist in unserem Staat zu viel geballte Macht.“
„Mein lieber Silvestri, im Prinzip haben Sie recht. Unsere Republik leistet sich den Luxus zweier getrennter Polizeiapparate, weil wir keinen mächtigen Staat im Staat haben wollen. Aber das mit der Zusammenarbeit ist kein unverbindliches Angebot, sondern eine Anordnung. Ich bin überzeugt davon, dass Sie jemanden brauchen, der ladinisch spricht und sich mit den hiesigen Strukturen auskennt. Sie werden bitteschön konstruktiv mit Commissario Thaler zusammenarbeiten! Sehen Sie das Ganze als Experiment einer ungewöhnlichen Kooperation.“
Als erstes lenkte Silvestri seinen Dienst-Subaru zur Unfallstelle. Sein Weg führte ihn die enge gewundene Straße quer durch Colvilla den Berg hinauf. Als er an einem der wenigen verbliebenen alten Bauernhöfe vorbeifuhr, dachte er daran, wie klein und ärmlich Colvilla noch vor drei Generationen war. Dies zeigten ältere Fotografien, die im Rathaus und in manchem Schaufenster des Ortes ausgestellt waren. Aus dem einstigen Bauerndorf hatte sich inzwischen ein kaum wiederzuerkennendes Tourismuszentrum entwickelt, das von Hotels, Sportgeschäften, Supermärkten und Optikern bis hin zu Seilbahnen alles bot, was ein Urlauber in den Bergen nur begehren konnte.
Wenn sich in der Saison, im Winter wie im Sommer, die Betten der Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen füllten, gerieten die Einwohner des Ortes deutlich in die Minderheit. Die Sträßchen des Ortes waren von Gästen, vor allem aus Italien, Deutschland und den Niederlanden bevölkert. Im Winter sausten die Skifahrer in Massen kreuz und quer den Hang hinab. Wer im Sommer beim Wandern Ruhe und einsame Wege suchte, musste weit vom Ort entfernt in die Berge gehen.
Silvestri, der weder gerne wanderte, noch Ski fuhr, gestand sich insgeheim ein, dass der Tourismus auch annehmbare Seiten mit sich brachte. Nur wegen der Touristen existierten in Colvilla mehrere Bars und einige Restaurants mit guter Küche, die er gerne aufsuchte. Und von Zeit zu Zeit ergab sich die Gelegenheit zum Flirt mit einer Touristin.
Außerhalb der Saison kam das geschäftige Treiben im Ort zum Stillstand. Ohne die Gäste waren fast alle Übernachtungsbetriebe, Seilbahnen und die meisten Geschäfte geschlossen. Nur ein Supermarkt und eine Apotheke versorgten die im Ort Verbliebenen mit dem Nötigsten. Viele Häuser waren verlassen. Das Leben wirkte wie eingefroren. Silvestri ging es mittlerweile wie den Einheimischen. Je länger die öde Zeit zwischen den Saisonen dauerte, umso mehr sehnte er sich danach, dass die Urlauber wieder den Ort belebten.
An der Unfallstelle angekommen, stieg er vor der scharfen Kurve aus. In dem Neuschnee wirkte alles friedlich. Selbst bei diesem Schneetreiben fuhren einige unermüdliche Skifahrer auf der nahen Piste zur Talstation nach Colvilla hinab. Mehrere Meter abseits der Straße entdeckte der Oberleutnant die verbeulte Schneekanone. Ihr Anblick erinnerte ihn an ein beschädigtes Triebwerk nach einem Flugzeugabsturz. Ihn schauderte, als er sich vorstellte, mit welcher Wucht Christa Vella aus der Kurve getragen worden sein musste.
Während er über die kurvigen, schneebedeckten Straßen Richtung Bozen im dichten Schneegestöber fuhr, tobte der Kampf zweier Seelen in seiner Brust. Jetzt soll ich in diesem Mistwetter bei Eis und Schnee nach Bozen fahren und genauso wie Signora Vella aus der Kurve fliegen, nur um bei dieser Leichen-schinderei anwesend zu sein. Schönen Dank, dachte er. Und dann noch Staatsanwalt Gruber vor der Nase, den größten Fan dieser reaktionären Partei, die uns Süditaliener am liebsten aus ihrem Norden rausschmeißen würde. Aber irgendwie freut es mich ja, dass er jetzt auf mich, den Mann aus dem Süden, angewiesen ist.
So schwankten seine Gefühle hin und her. Zuletzt siegte die Vernunft, und er gelangte zu der Einsicht, dass dieser Mord ihm die einmalige Gelegenheit bot, auf sich aufmerksam zu machen. Für einen ehrgeizigen Polizisten gab es hier im Alta Badia, einem Bergtal irgendwo in den Dolomiten, nichts zu holen. Wie sollte man sich mit den wenigen Skidiebstählen, Wohnungseinbrüchen oder Dorfraufereien profilieren können? Er hoffte darauf, in den Süden versetzt zu werden, wenn er den Fall erfolgreich lösen würde. Er wollte weg von diesen Bergen und auch weg von den Leuten mit ihrer bäuerlichen Rückständigkeit und ihrer unverständlichen Sprache! Endlich in die Heimat, und die Mörder seines Vaters hinter Schloss und Riegel bringen!
Es waren nicht die widrigen Straßenverhältnisse oder die wenig erbauliche Aussicht auf die obduzierte Leiche Christa Vellas, die ihm die Laune verdarben. Er empörte sich, dass er einen Typen von der Polizei, auch noch einen Ladiner, im Schlepptau hatte, mit dem er sich dann die Lorbeeren teilen musste! Wozu einen Commissario? Brauche ich einen Aufpasser? Na, der kann sich auf was gefasst machen! Experiment einer ungewöhnlichen Kooperation, ha!
„Zahlreiche Rippenfrakturen. Zwei Rippenfragmente durchschlugen die Aorta. Dies bewirkte eine Aortenruptur, also das Aufplatzen der Hauptschlagader. Der plötzliche Blutverlust führte zum Tod. Einziger Trost, es war ein rascher Tod.“
Der Pathologe zeigte Silvestri mit leicht sardonischem Lächeln die gruseligen Details, darunter auch die durchbohrte mehr als fingerdicke Hauptschlagader, an Signora Vellas geöffnetem Brustkorb. Alles war grell vom gleißenden Licht der OP-Lampe ausgeleuchtet.
Sowohl der Anblick des aufgeschnittenen Oberkörpers der Verstorbenen als auch die Luft in der Pathologie setzten dem Oberleutnant zu. Es roch nach Desinfektionsmittel und Verwesung. Obwohl es ihn so rasch wie möglich an die frische Luft zog, wandte er sich an den Pathologen. „Danke, Dottore Täschner, sehr anschaulich und einleuchtend! Eine Frage noch: Konnten Sie herausfinden, ob Signora Vella unter irgendwelchen Erkrankungen litt? Vielleicht Epilepsie oder etwas Ähnliches? Hatte sie womöglich Drogen genommen?“
„Oberleutnant, wir arbeiten gründlich wie immer! Aber ich kann Ihnen mitteilen, dass die Obduktion keinerlei Anhaltspunkte für eine Vorerkrankung ergeben hat. Ob Signora Vella ein Anfallsleiden hatte, können wir mit unseren Mitteln nicht mehr herausfinden. Messen Sie mal bei einer Toten die Hirnströme! Wir werden uns bei ihrem Hausarzt erkundigen. Der müsste ihre Krankheiten ja kennen. Zu Drogen oder Medikamenten können wir erst nach der chemisch-toxikologischen Untersuchung etwas sagen. Da müssen Sie sich noch etwas gedulden.“
Silvestri, blass im Gesicht, verabschiedete sich und verließ raschen Schrittes die Pathologie. Zurück in Colvilla, machte er bei Da Alfredo Rast und gönnte sich eine Saltimbocca alla Romana mit hausgemachten Gnocchi, dazu ein Glas Vernaccia di San Gimignano. Zusehends entspannte sich Silvestri. Die Saltimbocca mit dem milden würzigen Parmaschinken und dem frischen, zart bitteren Salbei war ein Gedicht. Noch ein Espresso, und er fühlte sich körperlich und moralisch wiederhergestellt.
In seinem Büro in der Carabinieri-Kaserne fand Silvestri die Unterlagen der Staatsanwaltschaft vor. Er verschaffte sich rasch einen Überblick, betrachtete die Fotos des auf der Seite liegenden, zerknautschten Fiats. Andere Aufnahmen zeigten die aus der Verankerung gerissene Schneekanone. Eine Notiz der kommunalen Polizei besagte, dass Zeugen Christa Vellas Wagen noch am späten Montagnachmittag, am Tag bevor sie tödlich verunglückte, im Ort gesehen hatten.
Er rief Carabiniere Incoronato und Brigadiere Carbone in sein Büro. Umgehend erschienen seine beiden Untergebenen. Die zwei bildeten ein Paar der Gegensätze: Während der im Dienst ergraute, recht untersetzte Carbone gerade so die Mindestgröße für einen Carabiniere erreichte, überragte ihn der junge, durchtrainierte Incoronato um fast zwei Haupteslängen. Beide gingen Silvestri immer mal wieder auf die Nerven. Der bedächtige Brigadiere konnte quälend umständlich sein, der ehrgeizige Carabiniere dagegen neigte zu vorschnellem Aktionismus. Andererseits schätzte er die beiden. Er konnte sich auf sie verlassen. Sie erwiesen sich bislang als zuverlässig und loyal. Er machte seine Mitarbeiter mit den bisherigen Erkenntnissen über den Fall „Vella“ vertraut und erteilte erste Anweisungen.
„Ihr befragt als erstes die Nachbarn von Signora Vella. Der Täter muss die Bremsen des Fiats vorgestern abends oder in der Nacht durchgesägt haben. Findet heraus, ob jemand etwas mitbekommen hat. Lasst euch zeigen, wo der Wagen unseres Opfers abgestellt war und sucht dann dort nach Spuren.“
„Si, va bene, wir machen uns gleich daran“, sagte Brigadiere Carbone mit langem Gesicht.
„Habt ihr Probleme damit? “, hakte Silvestri nach.
„Nein, nein, aber Sie wissen ja, wie hier die Leute reagieren, wenn sie nur unsere Uniform sehen.“
„So schlimm wird das nicht. Die werden alle ein Interesse daran haben, dass der Mord an ihrer Nachbarin aufgeklärt wird“, versicherte Silvestri.
Er selbst nahm Signora Vellas Haustürschlüssel aus den Unterlagen und fuhr von der Kaserne die enge gewundene Straße in wenigen Minuten zum Haus der Verstorbenen hinauf. Inzwischen war die Abenddämmerung hereingebrochen. Nur noch einzelne Wölkchen zeigten sich am Himmel. Erste Sterne glitzerten. Für die mit Neuschnee bedeckte Winterlandschaft hatte Silvestri keine Augen. Er empfand die Gegend als unwirtlich, öde und abweisend. In der Luft lag der Geruch von Kaminfeuer. Ihm war bewusst, dass die Touristen dies anheimelnd fanden. Er konnte damit nichts anfangen. Kaum etwas fand er authentisch in diesem Ort. Von dem ursprünglichen Bauerndorf waren nur noch wenige alte Häuser erhalten geblieben. Die anderen Gebäude waren für den Tourismus im Neoalpin-Stil mit viel sichtbarem Holz gebaut worden. Am misslungensten fand Silvestri die vielen Hotels mit den überladenen Schnitzereien. Bei einigen Häusern erkannte er immerhin eine Hinwendung zu moderner Architektur.
Oben angekommen, sah er sich um. Der Sonnenhof gehörte zu einer Handvoll alter Höfe mit Schindel-dächern und Fassaden aus dunklem Holz. Sie lagen wie aufgereiht an einer schmalen Straße auf der Anhöhe. Die Idylle wurde lediglich durch ein großes modernes Hotel gestört, das sich am Rande der kleinen Siedlung befand. Nur wenige Geräusche drangen aus der Ferne gedämpft hierher. Er blickte auf die Lichter Colvillas hinab und schaute weit ins Tal hinein. Ein überwältigend friedlicher Anblick. Er pfiff durch die Zähne. Wer solche Landschaften mag, dachte er, der muss es hier grandios finden: Südlage, die Piste vor der Tür, die Aussicht auf die Dolomiten mit weiten Tälern und Bergen, die in den Himmel ragen.
Als er die Tür von Signora Vellas Haus öffnen wollte, trat ihm zu seiner Überraschung Bruno Moreda aus dem Haus der Witwe entgegen. Bruno besaß die Skihütte Ütia La Stria oben bei der Bergstation des Panorama-Lifts und dazu noch das Viersternehotel Dolomit hier auf der Anhöhe. Er gehörte zu den Dorfgranden, saß im Gemeinderat und hatte überall seine Finger im Spiel, wo Geld oder Publicity lockten. Mit seinen 68 Jahren wirkte Bruno immer noch drahtig und agil. Er war stets sportlich gekleidet, als wollte er jederzeit die Berge erklimmen, hatte einen blonden Haarschopf und auffallend grüne Augen.
Ohne Gruß ging ihn Silvestri direkt an: „Was zum Teufel haben Sie in Signora Vellas Haus zu suchen?“
„Vorhin war hier ein Fremder im Haus. Signora Vella ist meine Nachbarin, wissen Sie.“
„Sie wissen schon, dass sie gestern gestorben ist.“
„Ja, das ist schlimm! Aber glauben Sie mir, ich wollte hier nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Nicht dass sich hier Gesindel herumtreibt.“
Silvestri glaubte ein höhnisches Funkeln in Brunos Augen wahrzunehmen.
„Sehr witzig, das haben Sie sich schlau ausgedacht. Sie selbst sind der Einbrecher!“
„Nein, wirklich, da war einer. Der kam aus dem Haus und fuhr schnell mit einem dunklen großen Wagen weg.“
„So, dann erzählen Sie mal: Wie sah er aus? Was hatte er an? Und was für einen Wagen hatte er?“
„Ich konnte ihn nur von Weitem sehen. Außerdem war es schon dämmrig. Der Kerl war mittelgroß, hatte dunkle Haare und trug einen dunklen Mantel, entweder schwarz oder dunkelblau. Und er fuhr einen dunklen SUV. Ich glaube einen Mercedes oder BMW.“
„Und sein Alter?“, setzte Silvestri nach.
„Wie gesagt, ich konnte ihn nicht genau erkennen. Ganz jung war er nicht, vielleicht so vierzig, fünfzig Jahre alt.“
„Ich muss Ihnen ja wohl kaum sagen, dass Sie uns hätten rufen müssen. Wie sind Sie überhaupt hineingekommen?“
„Na mit dem Schlüssel, der liegt hinter dem Blumenkasten hier vor dem Wohnzimmerfenster. Ich habe nichts aufgebrochen und nichts entwendet“, verteidigte sich Bruno.
„Und wer hat Ihnen das Versteck verraten?“
„Ach, das kennen doch alle!“
„Selbst wenn das mit dem Schlüssel stimmen sollte, sind Sie nun mal eingebrochen. Ich werde Sie jetzt sicherheitshalber einer Leibesvisitation unterziehen.“
Dies ließ Bruno Moreda nur murrend über sich ergehen. Der Carabiniere fand nichts, was auf einen Diebstahl aus dem Haus hinwies. Allerdings erregte ein Jagdmesser seine Aufmerksamkeit.
„Ich bin Jäger und deshalb berechtigt, das Messer zu tragen. Ich habe vergessen, es zu Hause zu lassen“, erklärte Bruno Moreda.
„Das Messer werde ich einbehalten, als mögliches Beweismittel. Wegen des Einbruchs müssen Sie mit einer Anzeige rechnen. Außerdem möchte ich wissen, wo Sie sich im Zeitraum von Montagabend bis Dienstagvormittag aufhielten.“
Brunos Augen flackerten nun. „Warum interessiert Sie das?“
„Bitte beantworten Sie meine Frage.“
„Montagabend haben wir die Hütte um acht Uhr zugemacht. Sie wissen ja, dass mir die Ütia La Stria gehört. Mit dem Motorschlitten bin ich direkt zu meinem Hotel, hier nebenan, gefahren. Ich hatte ein paar wichtige Gäste zu einer Weinprobe eingeladen. Das ging bis spät in die Nacht. Ich bin dann gleich ins Bett und war in der Früh ab fünf Uhr wieder auf den Beinen. Den ganzen Dienstagvormittag habe ich mich um den Betrieb und unsere Gäste gekümmert“, antwortete Bruno Moreda erkennbar sauer.
„Wann genau waren Sie in Ihrem Hotel?“, hakte Silvestri nach.
„Ich habe nicht auf die Uhr geschaut, das muss zwischen halb neun und neun gewesen sein.“