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"Der Chachapoya" erzählt die Geschichte des zwölfjährigen Hannes, dessen Mutter bei der Geburt starb. Sein Vater ist Schmied und tagsüber wächst er bei der Oma in einer kleinen Landwirtschaft auf. Sein Leben ändert sich, als in ihrem Stall aus der Kuh Luisa ein kleiner, drahtiger Mann wird, der "Chachapoya", der Wolkenkrieger Südamerikas, dem ein besonderer Humor zu eigen ist. Mit ihm erlernt Hannes die Fähigkeit in jedes Tier und jede Pflanze zu wandeln. Erste holprige Versuche unternimmt er als Regenwurm, bis er später frei gleitend über die Felder fliegt. In alltäglichen Begegnungen, in der Schule, in der Schreinerei, beim Müller und bei Festen wird seine Welt lebendig. Als Schmetterling lernt er den Duft und die Nähe des anderen Geschlechts kennen und zum ersten Mal findet er den Mut mit dem Vater nach dem frühen Verlust der Mutter über seine Gefühle zu sprechen. Nachdem der Chachapoya Hannes in sein Verhängnis einweiht, die Liebe, die nicht sein durfte, gelingt es ihm nach Südamerika, zur Stadt in den Wolken, zurückzukehren und seine geliebte Geliebte zu bestatten, so dass sie Frieden inmitten ihrer Ahnen finden kann.
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Seitenzahl: 219
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Ein seltenes Vergnügen
Die erste Begegnung
Der Chachapoya
In der Schule
Durch die Nacht
Wandeln lernen
Mit dem Zug in die Stadt
Der Plan
Die Hochzeit
Durch die Felder
Flusskrebse
Mit den Falken fliegen
Hannes erwartet heute Besuch. Das ist nicht oft so, denn meistens muss er dem Vater im Garten oder bei den Tieren helfen. Martin, dessen Eltern einen der großen Höfe im Dorf besitzen, will vorbeikommen. Sie kennen sich aus der Schule, aber eigentlich gehen sie aneinander vorbei. Martin hat viele Freunde und ist eine Klasse weiter. Denn auch wenn alle Schüler in einem Raum sitzen, achten doch besonders die größeren sehr genau darauf, wer in den Reihen an den Bänken wo hingehört. Als Hannes nach Hause kommt, erledigt er schnell und sorgfältig die paar Hausaufgaben, jedenfalls so gut er kann. Der Lehrer ist richtig streng, wie wohl nicht nur Hannes empfindet. Er bemerkt aber auch jede Kleinigkeit und das hat immer schlimme Folgen.
Sein Vater muss den Tag über arbeiten und macht meist erst am späten Nachmittag Feierabend, deshalb isst Hannes mittags bei seiner Oma.
Dort angekommen, verschlingt er viel zu hastig die mit der Gabel zerdrückten Kartoffeln, das Spiegelei und sogar den Rosenkohl. Seine Oma hat extra für ihn Semmelbrösel in guter Butter in der schweren gusseisernen Pfanne gebraten. Doch auf den Nachtisch verzichtet er, nur um endlich wieder gehen zu können.
„Was ist denn los?“, will die Oma wissen, „drüben bei euch ist doch niemand und mir erzählt, wie es in der Schule war, hast du auch noch nicht.“
„Keinen Hunger mehr. Tschüss.“
Hannes, der sonst immer beim Abtrocknen des Geschirrs hilft, verschwindet schnell um die Ecke den ganz kurzen Weg über die Gasse nach Hause. Nun ist er sehr gespannt, ob Martin wirklich kommt. So richtig kann er sich das noch nicht vorstellen.
Ohne es wirklich zu bemerken, geht er in der kleinen Stube immer wieder zum Fenster. Die Gardine schiebt er ganz vorsichtig nur eine Kleinigkeit beiseite. Ab und zu wippt er leicht von einem Fuß auf den anderen. Dann, die große Wohnzimmeruhr, die der Vater jeden Abend nach dem Essen aufklappt und mit dem Flügelschlüssel knackend aufzieht, hat gerade dreimal geschlagen, hält er es nicht mehr aus und geht in den Hof.
„Na!“
Hannes fährt herum. - Hinter ihm steht grinsend Martin.
„Kommst du endlich!“, entfährt es Hannes.
„Zeig mir alles“, fordert Martin und zieht den verdutzenden Hannes Richtung Stalltür, „ich will sehen, was in eurer Scheune ist.“
Martin schiebt den Holzriegel zur Seite. An der Tür muss er kräftig ziehen, weil sie mit zwei oder drei Latten über das Kopfsteinpflaster des Hofes schleift. Der Vater wollte schon lange die Angeln ein wenig heben, doch sie haben sich längst daran gewöhnt.
Drinnen grunzen die Schweine und eines schnüffelt knabbernd an den Eisenstangen über dem Futtertrog, der schon seit dem späten Morgen restlos leer gefressen ist.
Die beiden gehen an der ersten Box vorbei.
„Habt ihr nur das eine?“, will Martin wissen. Doch in seine Worte hinein, hebt das andere die vorderen Haxen auf die Mauer und mit nach vorn gerichteten Ohren schaut es raunzend Martin an. Der weicht mit einem kleinen Satz und einer leichten Drehung zur Wand aus und macht sich so an der gekalkten Wand den Ärmel seines blaugrau gestreiften Hemdes weiß.
Hannes war schon vorher an der Seite in der Nähe der Wand geblieben und kann jetzt kaum sein Grinsen verbergen.
„Papas ganzer Stolz, unheimlich gefräßig. Sie wiegt jetzt schon drei Zentner und hat mich auch öfter mal überrascht.“, schwärmt er.
„Wo habt ihr euer Stroh?“, fragt Martin, kaum vom Schreck erholt, nach einer kleinen Pause. Hannes zeigt auf die Luke in der Decke. „Direkt über uns.“
Nachdem sie den Stall verlassen haben, gehen sie durch das große Tor in die Scheune. „Da hinten in der Ecke ist der Pferdestall, zwei hatten Platz, wir haben aber keine mehr. Und dort stehen unsere Kühe, Lotte und Luisa.“ Die beiden schauen mit großen dunklen Augen wiederkäuend und auf dem Bauch liegend gelangweilt zu den Jungs rüber. Eine dreht ihnen ein Ohr zu, als wollte sie hören, was die zwei reden. Als sie den Schwanz auf den Bauch fallen lässt und er wieder zurück ins Stroh gleitet, steigen hastig surrend zahlreich die Fliegen auf, nur um sich kurz darauf wieder niederzulassen.
Der Boden der Scheune ist gestampfter Lehm und entsprechend holprig. Mitten im Gang führt eine Leiter hinauf. Die abgegriffenen Sprossen liegen weit auseinander, doch Martin ist schon auf dem Weg und Hannes folgt ihm. Oben sind neben den Brettern, zu der einen Seite hin, in größeren Abständen recht dünne Balken zur Wand hin angebracht, auf denen das Heu aufgetürmt lagert. So kann man es schnell neben den Kühen runterfallen lassen. Martin beginnt entschlossen auf dem ersten freien Balken zur Mitte hin zu balancieren. Die Arme vom Körper weg leicht angehoben, setzt er vorsichtig einen Fuß vor den anderen. In der Mitte angekommen, schiebt er einen Batzen Heu durch den Spalt. Der rieselt staubend auf den Haufen, der schon unten aufgetürmt liegt. Ein kurzer Blick, ein Satz, schon ist er darin gelandet.
„Los komm“, fordert er Hannes auf, indem er sich aus dem Grasgewirr befreit und wieder auf den Weg nach oben macht. Hannes zögert und der Sprung kostet ihn reichlich Überwindung. Sein Vater hatte ihn eindringlich gewarnt und die Springerei verboten. Nur langsam klettert er die Stufen wieder hoch. Hinter ihm ist schon Martin angekommen, der ihn antreibt: „Mach vorwärts, los!“
So kommen sie fast gleichzeitig wieder oben an. Das geht gut, weil die breite Leiter weiter über den Boden bis hinauf zu den Dachpfannen reicht. Beide treten seitlich auf die Holzdielen, die zur anderen Seite angebracht sind. Durch ihre dünnen Ritzen kann man unten ein bisschen von den Kühen und dem Stallboden sehen.
Martin überholt gleich Hannes und bewegt sich immer geschickter in die Mitte des Balkens und mit dem nächsten Satz ist er auch schon wieder unten gelandet. Weiter geht es rutschend runter über die halbhohe Mauer der Box neben dem Leiterwagen im Gang und zurück Richtung Leiter. Währenddessen schaut Hannes ihm nach.
„Traust dich wohl nicht, Angsthase! Mach schon!“, ruft er ihm zu, „ich komme.“
Nun begibt sich auch Hannes zögerlich auf den schmalen Weg. Nur nicht nach runter gucken. Dann lässt auch er sich geschickt in den Berg Heu fallen. Einen Augenblick später wirbelt Staub auf und schon sitzt Martin lachend neben ihm. Kaum angekommen, gleitet er vorbei und Hannes gleich hinter her. Schnell sind sie auf der Leiter und springend wieder unten.
In den Hemden und Hosen sammelt sich immer mehr Heu und ihre Gesichter werden immer dunkler. Als Hannes, der einiges schmächtiger ist, während einer kleine Pause zum Luft holen, nach unten blickt, entdeckt er Martin, der sich gekrümmt am Boden wälzt. Mit einigen Sätzen klettert Hannes die Leiter wieder runter und ist bei ihm. Der ringt röchelnd nach Luft und hält sich den Bauch. Durch das staubige Gesicht bahnen sich lautlose Tränen den Weg.
„Was hast du?“, Hannes bekommt keine Antwort. „Sag schon, was ist los?“
Martin fehlt die Luft, er kann nicht reden. Schnell rennt Hannes über den kleinen Hof ins Haus zur Küche und holt ein Glas Wasser. Als er zurückkommt, hat Martin sich aufgerichtet und pustet schwer. Schnell greift er nach dem Glas und trinkt es in einem Zug fast leer. Hastig atmend bleibt er erst mal sitzen.
„Der blöde Wagen!“
„Was, ich verstehe nicht!“
„Ach, Mann“, und nach einer kleinen Pause, immer noch nach Luft schnappend, „ich bin beim Rüber rutschen an der misst Stange vom Wagen hängen geblieben. - Sie hat sich direkt unter den Rippen in meinen Bauch gebohrt.“
„Hier, trink noch einen Schluck.“ Hannes reicht ihm noch mal das kalte Wasser. „Geht es wieder besser?“
„Ja, ja“, kommt die Antwort, „lass sehen, wie es bei euch sonst so aussieht.“
„Was soll ich dir zeigen?“
„Hat dein Vater Werkzeug?“
„Klar, der kann alles reparieren.“
Martin folgt noch nicht in voller Geschwindigkeit Hannes ins Haus. Die Treppe rauf nehmen sie aber schon wieder zwei Stufen auf einmal, so dass die ausgetretenen Dielen jedes Mal knarrend nachgeben. Hannes öffnet die einfache Brettertür mit der schwarz brünierten eisernen abgegriffenen runden Klinke des Schlosses, das kastenförmig auf dem Holz angebracht ist. Die nächste Treppe führt hoch zum Speicher, doch sie gehen den kurzen schmalen Gang an der Räucherkammer vorbei, deren brandiger Geruch ihnen in die Nasen schlägt. Verschlossen ist sie mit einer pechschwarz ölig gerußten Klappe. Eine weitere Tür dahinter führt in eine kleine Kammer. Das Fenster ist mit einer Gardine verhangen, die alles grünlich schimmern lässt.
Martin zieht heftig eine Schublade der gefurchten Werkbank auf. Schraubenzieher und Stechbeitel rollen mit Getöse durcheinander. Er bückt sich und öffnet erst die eine, dann die andere Seitentür, Hammer und Nägel, Zangen und Feilen, Raspeln, alles wirbelt unter seinen Händen umher.
Seine Augen bleiben auf der Suche, bis sie an den Handbohrmaschinen verweilen.
„Hat dein Vater auch Bohrer dazu?“
Hannes überlegt, dann greift er zu einer Schachtel und nimmt einen recht dicken Holzbohrer heraus. Der ist nicht durchgehend gewunden, sondern hat eine kleine Spitze und wird gleich dick und sofort wieder dünner mit nur zwei angedrehten Windungen. Die geraden Schneiden vorne sind scharf wie Rasierklingen.
Martin nimmt Hannes den Bohrer aus der Hand, wendet ihn ein wenig hin und her.
„Wie geht das?“
Schnell dreht Hannes vorne am Futter der Maschine, damit die drei Spannbacken weit genug auseinandergehen. Dann steckt er den Bohrer hinein und wendet das Futter in Gegenrichtung wieder stramm zurück. Jetzt ist er fest eingespannt.
Als Martin das sieht, zieht er Hannes am Ärmel und schon sind beide auf dem Weg nach unten. Im gefliesten Flur klappern ihre Holzschuhe. An der Scheunentür machen sie halt. Daneben setzt Martin den Bohrer auf einer Latte an und versucht ihn zu bewegen.
„Du musst den Holzballen hier am Ende gegen die Schulter drücken und mit einer Hand in der Mitte am Griff drehen.“, erklärt ihm Hannes.
Einen Moment später fallen die ersten Späne. Nachdem der Bohrer durch das Brett ist, ruckt Martin nach vorne. Erst das Bohrfutter, das gegen die Wand kommt, stoppt ihn. Doch gleich zieht er ihn wieder zurück, etwas hakelig, aber direkt daneben setzt er erneut an.
So entstehen vier Löcher. Beide legen ihre Köpfe gegen das Holz und werfen einäugig einen kreisenden Blick durch die Scheune. In den Lichtstrahlen, die durch kleine Ritzen zwischen den Dachpfannen dringen, tanzt der aufgewirbelte Staub. Die Bohrmaschine lassen sie dann achtlos liegen, denn Martin zieht es weiter.
„Wo ist denn euer Garten, habt ihr Obstbäume?“, will er wissen.
„Klar, da hinten können wir raus.“
Hannes hebt den Verriegelungshaken des Tores aus seiner Öse. Er baumelt in der Halterung noch eine Weile über das von ihm gefurchte Holz hin und her. Gleichzeitig zieht Hannes mit aller Kraft am Griff. Trotzdem setzen sich die Rollen oben in der Schiene nur ganz langsam in Bewegung. Seine Füße verlieren vor Anstrengung rutschend fast den Halt, bis das Tor sich endlich öffnet. Doch ein Spalt reicht und Martin quetscht sich hindurch. Gleich läuft er weiter bis hinten an den alten Zaun. Einige Latten sind unten oder oben abgegangen und hängen schief. Die flache Mauer bröckelt auch an vielen Stellen, Gräser und kleine Sträucher wachsen fast überall über sie hinweg. Dahinter ist ein Graben, in dem der Jordan dümpelt.
Martin dreht sich um und lässt den Blick durch den Garten schweifen. Links neben der Scheune scharren und gackern die Hühner.
„Wer bearbeitet denn den Gemüsegarten?“, fragt forschend Martin.
„Mein Vater und ich, wer denn sonst.“, antwortet Hannes, der Unkraut ziehen, harken, wässern, umgraben, pflanzen und Sträucher leer pflücken nicht gut leiden mag. Er drückt sich, wenn er kann.
„Pflaumen, Äpfel und Birnen, damit kenne ich mich aus. Ihr habt ja nicht mal einen Kirschbaum. Ah, der da drüben sieht doch ganz gut aus.“ Martin läuft durch die aufgehäuften Kartoffelreihen und springt dabei über die Büsche, der welkenden Pflanzen, bis er an einem Birnbaum anhält, dessen unterster Ast noch erreichbar scheint. Mit einem kleinen Satz hängt er daran, doch alle Versuche sich weiter hochzuziehen scheitern.
„Los, mach Räuberleiter!“, verlangt er von Hannes, der inzwischen dazugekommen ist. Also lehnt Hannes sich mit dem Rücken gegen den Stamm, geht ein bisschen in die Knie und faltet die Hände, sodass Martin mit dem Fuß in die Kühle steigen kann. Dessen Hände finden Halt in der rauen Rinde. Langsam zieht er sich hoch, bis er den anderen Fuß auf die Schulter von Hannes stellen kann. Das Ganze wackelt gewaltig und beinahe verliert Hannes den Stand, aber Martin ist jetzt oben auf dem Ast.
„Pass bloß auf! Die Äste brechen leicht.“
„Was glaubst du in wie vielen Bäumen ich schon geklettert bin?“
Prüfend sieht er sich um und dann steigt er weiter. Es knackt manchmal heftig, wenn das ganze Gewicht seines Körpers auf den nächsten Ast drückt.
„Prima Ausblick von hier“, tönt Martin, doch in seine Worte hinein kracht krächzend knarrend der Ast, gegen den er sich mit beiden Händen stützt, ganz langsam nach vorne weg. Nicht wirklich schnell, aber Martins Gleichgewicht schwindet und so fängt er mit den Armen an zu rudern, die Beine werden wackelig, verzweifelnd suchend nach einem möglichen Griff. Nachdem für den Moment die Zeit still zu stehen schien, kippt er immer noch ganz gemütlich vorn über und rauscht durch den Blätterwald abwärts. Das alles verschlägt ihm die Sprache.
Zum Glück richtet ihn ein Ast, an dem er beim Fallen entlang schleift, wieder gerade und einen Moment später steht er kurz vor Hannes. Aber sofort zwingt ihn die Fahrt erst seitlich in die Knie, danach rollt er über die Schulter endgültig auf dem Boden, die Hände und Ellbogen als Bremse, es folgt das Gesicht. Ein paar Birnen tun es ihm gleich und landen neben und auf ihm.
Als der Sturz im Acker sein Ende findet, ist es kurz still. Dann aber muss Hannes lauthals auflachen und er kann nicht aufhören. Das sah einfach zu komisch aus. Er zeigt, sich den Bauch haltend, mit einem Arm nach oben und ringt nach Luft.
Martin setzt sich auf und streckt Hannes die Hand hin, dass der ihn hochzieht. Als er diese gegriffen hat, tut er einen kurzen Ruck und der lachende Hannes liegt neben ihm.
Noch eine ganze Weile wälzen sich die beiden am Boden und glucksen abwechselnd kichernd und wieder lauter lachend.
„Habt ihr irgendwo kleine Steine liegen?“, fragt Martin.
„Was willst du denn damit?“
„Wirst du schon sehen“, kommt es prompt zurück. Hannes überlegt.
„Ich glaube hinten hinter dem Zaun im Wasser liegen welche. Es gibt ein zwei lose Latten, da klettre ich durch, wenn ich über den Bach will. Ein Stück weiter hoch liegt auch ein starker Ast als Brücke über den Graben.“
Martin läuft neben Hannes bis sie am Ziel sind. Der zieht die Stäbe vorsichtig ein wenig weg und schiebt sie dann zur Seite, so dass Martin mit einem Fuß voran seitlich sich durch die Lücke zwängen kann. Nur der Po schabt am Holz. Als er auf der anderen Seite steht, hilft er Hannes, der ihm genauso folgt. Sie blicken ins hohe Gras am Ufer, das den Graben hinab bis ins Wasser reicht, aber da ist nichts zu finden.
„Siehst du, unten am Rand im Wasser liegen ein paar.“
Zum Glück ragen auch etwas größere Steine aus dem Jordan.
„Da kannst du den Fuß drauf stellen, gib mir eine Hand“, fordert Martin Hannes auf und mit einem vorsichtig weiten Schritt steht der breitbeinig über dem dümpelnden Wasser.
Das Ganze ist nicht recht sicher, denn unter dem Schuh kippelt die kleine Insel hin und wieder zurück, je nachdem wie sie gerade das Gewicht von Hannes Fuß abbekommt.
Mit der freien Hand und nach vorn übergebeugt greift er ins Wasser. Schnell ist die Hand so voll gesammelt, dass keine weiteren hineinpassen. Als er sich aufrichten will, löst Martin den Griff nur ein bisschen, aber es reicht. Hannes Fuß rutscht weg und um nicht ganz abzugleiten, muss er endgültig loslassen. Da er noch nicht ganz aufgerichtet steht, schlenkert sein Oberkörper mit rudernden Armen vor und zurück. Die Anstrengungen jedoch sind vergebens, schon rutscht sein Fuß ab und versinkt kurz platschend knöcheltief im Wasser.
„Mann!“, mehr kriegt er nicht raus.
Breit grinsend öffnet Martin die freigewordene Hand, „reich sie rüber. Wir können ein paar mehr gebrauchen, wo du schon mal da drinstehst.“
Also beugt sich Hannes noch einmal vor und erledigt den Auftrag.
Kurz darauf ist er fertig und steigt zurück an Land.
Nachdem die beiden wieder durch den Zaun in den Garten geklettert sind, laufen sie zur Scheune. Der nasse Strumpf im Schuh quatscht bei jedem Schritt.
„Schau, die habe ich mitgebracht.“
Martin hebt die Zwille auf, die er bei seiner Ankunft dicht an einen der etwa kniehohen Findlinge, die an jedem Torfosten stehen, gelehnt hat.
„Lass mal sehen“, Hannes streckt die Hand aus, doch Martin, der die Steine in seinen Hosentaschen verteilt hat, greift einen raus, legt ihn in die Lasche und schon surrt das Geschoss Richtung Birnbaum ab. Allerdings streift der Stein nur ein paar Blätter. Sofort lädt Martin nach. Er zieht mit der rechten Hand die Lasche knapp neben sein Gesicht, so dass das Gummi fast zu reißen beginnt und hebt den Griff in der linken Hand mit ausgestrecktem Arm auf Augenhöhe. Mit einem zugekniffenen Auge zielt er auf den Stamm. Die Astgabel, von der Martin die Rinde geschält hat und an deren beiden oberen Enden er Rillen zum Halt für das Gummi einritzte, zittert ein wenig in seinem Arm. Dann löst er noch einmal Daumen und Zeigefinger. Das Ergebnis ist diesmal auch nicht viel besser.
„Lass mich mal“, bittet Hannes.
Aber schon saust der dritte Schuss los und mit einem lauten Klack landet er am Stamm.
„Geht doch, hier probier mal.“
Hannes setzt an und der Stein fliegt in hohem Bogen über den Baum.
„Versuch noch mal. Du musst besser zielen und den Arm durchstrecken. Hast doch gerade gesehen, wie das geht“, kommentiert Martin und reicht ihm den nächsten Stein. Diesmal fliegt er weit rechts vorbei. Hannes hat keine Übung im Umgang mit einer Zwille, das ist deutlich und Martin lässt es ihn vernehmlich spüren, „vielleicht solltest du auf die Scheune schießen?“
Auch der nächste Versuch endet kläglich zu früh auf dem Boden.
„Ach, das wird schon, reich rüber, wir suchen mal nach anderen Zielen, mir ist gerade ein klasse Einfall gekommen!“
Er macht sich auf seitlich Richtung Gemüsegarten und Hühnergehege.
„Das sollte genügen.“
„Du willst doch nicht auf die Hühner schießen?“
„Die merken das doch gar nicht.“
Schon saust wieder ein Stein los. Zu weit allerdings. An der Mauer zur Straße platzt ein kleines Stück von dem ohnehin löchrigen Putz der Ziegelsteinwand ab. Sie ist zum Glück hoch genug, dass niemand vom Weg das Treiben der Jungs beobachten kann.
„Ein paar haben wir ja noch, also auf ein Neues.“
Das Geschoss bleibt im Geflecht des Drahtzaunes hängen und die Hühner scharren unbeeindruckt weiter.
„Ich muss mal in einem hohen Bogen schießen, so könnte das gehen.“
Leicht zurückgelehnt als wollte er eine der vereinzelten Schäfchenwolken an dem warmen Herbsttag vom Himmel schießen, lässt er das Gummi zwischen den Fingern erneut los. Lange ist der Stein unterwegs.
„Mensch, der geht über die Mauer!“
„Ach, was, warte ab.“
Kaum sind die Worte gesagt, gackern die Hühner wild auf und flügelschlagend rennen sie durcheinander, wohin ist ihnen egal.
„Ja! So habe ich mir das vorgestellt. Lass uns in den Hof gehen, die Hühner sind mir zu doof, ich weiß noch was Besseres.“
„Was hast du denn jetzt schon wieder vor?“, fragt Hannes auf dem Weg durch die Scheune.
Unterwegs über den Hof hält Martin kurz und blickt zurück.
„Da zwischen der Tür und dem großen Tor, die Klappe für die Kühe, sie steht auf und wenn du genau hinschaust, was siehst du?“
„Martin, du willst doch nicht auch noch auf unsere Kühe schießen?“
„Du bist aber ein Angsthase!“ Die Kühe sind inzwischen aufgestanden und es guckt die Hälfte vom Rücken bis zum Bauch aus der Luke. „Wir gehen noch am Mist vorbei bis zur Hauswand. Das sind bald fünfzehn, zwanzig Meter und Kühe haben ein dickes Fell, daraus werden schließlich Schuhe gemacht, sagt mein Vater.“
Martin fängt bei den letzten Schritten an in seinen Taschen zu kramen und legt die Steine auf die Handfläche, die ihm nicht gefallen lässt er achtlos klackernd auf das Kopfsteinpflaster gleiten. Dann legt er die kleine Schleuder an. Das erste Geschoss verschwindet geräuschlos durch den Spalt des Tores, den sie offengelassen haben, als sie aus dem Garten kamen.
„Na ja, langsam sollte ich aber in Form gekommen sein. Der sitzt, pass auf.“
Mit dem dumpfen Hall vom Holz der Scheune landet der nächste jäh gebremst im Hof.
Der dritte fliegt genau richtig, ist aber zu hoch.
Doch noch einen Moment später wirft Luisa die Hinterbeine in die Luft. Sehen kann sie ja nicht, was da auf dem Hof vor sich geht, aber der Schmerz fährt ihr durch den Bauch, so dass sie heftig muhen muss.
„Ha, habe ich es nicht gesagt! Hier, jetzt bist du dran!“
„Nee, das mach ich nicht, hast du es nicht gesehen und gehört!“
„War doch klasse, du Memme, stell dich nicht so an“, fordert Martin Hannes heraus.
„Auf keinen Fall und hör damit auf!“
„Mann, oh Mann, der kleine Schups am Hintern. Ist doch nichts passiert. Also gleich noch mal.“
„Hör auf.“
„Und wenn nicht?“
„Lass es einfach bleiben, sonst hole ich meinen Vater.“
„Der ist gar nicht da.“
Hannes weiß nicht weiter und indem er verstummt rasen auch schon wieder weitere Steine. Zum Glück ist Martin ein schlechter Schütze, einer trifft noch, die anderen enden mit einem dumpfen Plock am Holz der Scheune, dann sind endlich alle verbraucht.
In das Ende hinein läutet die Kirchturmglocke. Hannes zählt mit, vier, fünf, sechs.
„Martin, du gehst jetzt besser. Gleich kommt mein Vater und ich muss noch den Abwasch vom Frühstück machen und das Abendbrot vorbereiten.“
„Was?“
„Das mache ich immer, Vater hat nicht so viel Zeit, er muss sich auch noch um den Garten und die Tiere kümmern, hab ich dir doch schon erklärt.“
„Ich wollte sowieso gerade gehen, hier ist ja eh nichts los.“
Ohne weitere Worte verschwindet er seitlich durch die Tür neben dem Tor der überdachten Torfahrt zur Gasse hin.
„Tschüss“, murmelt Hannes noch und blickt ihm nur kurz hinterher.
Dann dreht er sich um und kommt durch die Diele ins Haus zur Küche hinein. Als Hannes die Klinke drückt und noch ganz in Gedanken hineingeht, bekommt er einen großen Schreck bis in den Bauch. Sein Vater steht an der Abwaschschüssel und taucht gerade die letzten Reste des Bestecks ins Wasser.
„Hallo Papa“, mehr kriegt Hannes nicht raus.
Wie lange er wohl schon zu Haus ist, fragt er sich und ob er wohl was gesehen hat. So ein Mist, ihm ist immer noch ganz flau im Bauch, das Abendessen steht auch schon bereit.
„Setz dich Hannes, aber wasch dir die Hände und das Gesicht und klopf draußen den Staub aus dem Pullover und der Hose. Das war ein wilder Nachmittag, was. Hattest du Besuch?“
„Martin ist hier gewesen, hast du ihn nicht mehr gesehen?“ tastet Hannes vorsichtig.
„Nein. Möchtest du Milch?“
„Lieber Wasser, ich hab einen riesen Durst“, antwortet Hannes.
„Wenn ihr das nächste Mal an mein Werkzeug geht, räumt es wieder weg, sonst schließe ich die Tür ab, haben wir uns verstanden. Was habt ihr überhaupt damit gemacht?“, will der Vater wissen.
„Martin wollte ihn nur ausprobieren, er kannte noch keinen Holzbohrer.“ Hoffentlich fragt er jetzt nicht noch, wo wir reingebohrt haben, denkt Hannes, als er antwortet.
„Nach dem Essen müssen wir noch ein bisschen Gartenarbeit erledigen, die Birnen sollten reif sein. Komm nach, wenn du alles zurück in die Speisekammer gebracht hast.“
Der Rest des Abendbrotes geht schweigend vorüber. Als der Vater endlich gegangen ist, macht sich Hannes ans Werk. Auweia, durchfährt es ihn. Unter dem Baum liegen ja noch der Ast und einiges an Birnen. Das bringt das Fass sicher zum Überlaufen. Jetzt geht die Arbeit nur noch ganz langsam weiter. Bloß nicht zu schnell in den Garten.
Nach einigem hin und her, steht Hannes dann doch in der Nähe des Baumes.
„Komm die Leiter hoch und nimm mir den Eimer ab. Den schaffst du in die Küche, die Birnen kommen auf den Tisch.“
Hannes legt los. Bald ist der Küchentisch bis zum Bersten mit Obst beladen. Nachdem die Leiter wieder an ihrem Platz hängt, sortieren die beiden schweigend das Obst. Das meiste wird in einer Kiste eingelagert, die angedrückten und leicht matschigen Früchte landen im Eimer für die Schweine.
„Schaff die Kiste morgen nach der Schule zur Oma, sie will die Birnen schälen und dann einkochen.“ „Na klar. Ich geh schlafen, gute Nacht!“ Schon ist Hannes nach oben verschwunden, obwohl es eigentlich recht früh am Abend ist.
Nachdem er schon eine ganze Weile versucht hat einzuschlafen und sich von rechts nach links wälzt, hört Hannes seinen Vater auf der Treppe. Viele Momente schwirren ihm noch durch den Kopf, als die Tür aufgeht.
„Na, Hannes. Besser du erzählst gleich, was los war. Sonst klemmt es die ganze Zeit zwischen uns.“
Indem der Vater spricht, setzt er sich auf die Bettkante und gibt Hannes seinen Gutenachtkuss. „Und es ist leichter, als wenn ich alles so nach und nach entdecke. Schlaf gut!“
„Du auch!“, antwortet Hannes erleichtert.
Aber so einfach ist das nicht. Später traut er sich endlich auf die Toilette. Draußen angekommen, schiebt er den Riegel der Holztür zu, legt den Deckel beiseite und als er sich gesetzt hat, hält Ausschau nach seiner Stelle. Auf der rechten Seite, etwa in Brusthöhe schaut ein Splint aus der Bretterwand. Schon oft hat sich Hannes ausgemalt, wie neben ihm eine Tür aufginge, wenn er den kleinen Stift zurück in die Wand schöbe.
Ein langer Tunnel hinter dieser Tür führt ihn dann auf freies Feld. Dort steht sein Pferd. Aufgessen spürt er einen kurzen Augenblick später die Abfolge der Hufe. Schnell wie immer, finden sie, Max und er, ihren Rhythmus im Trommeln der Hufe. Eine vertraut fließende Bewegung, die im Takt wiederkehrende Momente von Schwerelosigkeit schenkt.
Sein blondes Haar zerteilt der Wind. Den leicht geöffneten Mund füllt die frische Luft und die Morgensonne sieht den verströmenden Atem beider.