Der Chip - Manfred Theisen - E-Book

Der Chip E-Book

Manfred Theisen

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Beschreibung

Wenn eine Künstliche Intelligenz an der Schule jeden Schritt überwacht ...

Berlin, in naher Zukunft. Die 15-jährige Kim, Tochter einer alleinerziehenden niederländischen Diplomatin, besucht das umstrittene Elite-Internat Galileo. Kameras und implantierte Chips übermitteln die Hirntätigkeit und Körperdaten aller Schüler an eine KI namens Brain. Presse und Politiker, die der Schule aus humanitären und Datenschutzgründen kritisch gegenüberstanden, sind verstummt. Der Erfolg gibt der Betreiberfirma BrainVision Recht. Dank der eingreifenden und regulierenden Funktion von Brain hat Galileo ausnahmslos Musterschüler. Doch dann geschieht das Unfassbare: Ein Schüler verunglückt – und ein anderer Schüler trägt die Schuld daran. Kim beginnt, Brain und dessen Methoden zu hinterfragen und gerät bald in tödliche Gefahr ...

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Seitenzahl: 204

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MANFRED THEISEN

DER CHIP

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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Dezember 2021

© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Regine Teufel

Covergestaltung: © Geviert, Grafik & Typografie,

unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com / Maxx-Studio

he · Herstellung: IH

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27371-2V002

www.cbj-verlag.de

Dienstag, 8. Mai 2032

Sie lag in seinem Arm. Sein Herz schlug sanft wie das eines Walfischs. Alles war federleicht, sie waren zusammen, die Welt eine Oper aus rosafarbenem Licht. Kim schwebte mit Julian in diesem Traumschiff aus Wolken. Unter ihnen hockten Mitschüler auf gut abwaschbaren Stühlen im Big Rest – der Kantine der Galileo-Schule. Münder öffneten und schlossen sich wie Ladeluken. Es wurde gegessen, geredet, gelästert, zerkaut und gelogen. Einer der Roboter servierte Tuna einen grünen Salat mit weißen Bohnen, Cocktailtomaten und Heuschreckendressing. Letzteres wäre Kim zu nussig gewesen.

»Hör dir Tuna an, wie sie redet – jedes Wort ist vergiftet«, flüsterte Kim ihrem Freund ins Ohr.

»Sei nicht so streng mit deiner Freundin. Jeder am Galileo bemüht sich, besser zu werden. Sieh es als Gladiatorenschule. Nur wer besser werden will, ist gut. Und wirklich gut ist nur der Beste. It’s the struggle for life, Kim.« Sie hörte seine Stimme, sein Herz. Ihre Fingernägel waren rot lackiert. Ihre Zimmergenossin Henriette saß ebenfalls dort unten am Tisch, direkt neben Tuna. Sie hatte einen Bowl mit geröstetem Blumenkohl und Mangold, geröstetem Sesam und Cranberrys. Das Wasser lief Kim im Mund zusammen.

Oder war es Schweiß?

Schweiß im Mund?!

Kim hörte eine Stimme, die von ganz weit her an ihr Ohr drang. Nein, diese Stimme gehörte nicht in diesen Traum, sie war zu nervend.

»Go! Keep going! Don’t stop! Don’t dream!«

Kim hatte tatsächlich vor sich hin geträumt. In Wirklichkeit schwebte sie in keinem Wolkenschiff über dem Big Rest, lag nicht bei Julian im Arm, sondern sie ging die graue Linie entlang, die sie immer und immer wieder im Kreis herumführte. Der Blick auf die Watch sagte Kim, dass ihr Puls bei 102 lag und die Atmung erhöht war. Sie musste immer nur der Linie folgen, Runde um Runde wie der Zeiger auf dem Zifferblatt.

»Are you sleeping? Go!«

Ted gab das Tempo vor. Immer im Kreis gehen. Einmal, zweimal, dreimal, viermal … Dieses Gehen war so eintönig gewesen, dass ihre Gedanken abgeschweift waren.

»Don’t sleep! Go run! Start running!«, trieb Ted sie an.

Sie lief los wie ein Pferd in der Manege.

»Faaaaster!«

Er schwang einem Zirkusdirektor gleich mit seinen Worten die Peitsche: »Ruuuuun!«

Der Raum war wie ein Würfel, kahl und weiß und klimatisiert. Trotzdem schwitzte sie. Kameras hingen an den Wänden, den Decken und über den Fußbodenleisten, es war ein Raum voller Augen. Sie beobachteten Kim, das Mädchen mit dem leicht pausbackigen Gesicht und dem strohblonden Pferdeschwanz, das so gerne träumte. Kim lief schneller und schneller. Diese Kameraaugen registrierten jeden Punkt an ihrem Körper, jede Bewegung, die Knie, Po, Schultern, Bauch, Brust, Hüften – keine Regung entging diesen Augen, die niemals blinzelten, niemals schliefen, immer wach waren wie ein Raubtier, dessen Beute sich vor seiner Nase im Kreis bewegt.

»Hey, faster! Faaaster!«

Es wurde ihr zu schnell. Sie konnte fast nicht mehr, atmete hektisch. Sie war der Sekundenzeiger auf diesem Zifferblatt. Der befehlsgebende Ted saß hinter der verspiegelten Scheibe in einer Kammer vor dem Bildschirm und hatte sicherlich Kims Datei aufgerufen: Kim van Ter, 15 Jahre, 9. Klasse, 1,66 Meter, grüne Augen, BMI 19,2, 53 Kilogramm, Grundumsatz … in der Ruhephase … Kim wusste, dass ihre Körperdaten nicht optimal waren. Ein BMI von 17,1 war ihr Ziel. Sie sah sich selbst in der Scheibe, sah den weißen Raum, der sich darin dunkel spiegelte. Taille, keine Wespentaille. Nichts bewahrt uns mehr vor der Selbstüberschätzung als ein Blick in den Spiegel.

Ted wurde lauter: »Don’t let up, Kim!«

Nein, sie ließ nicht nach. Sie lief, als laufe sie um ihr Leben. Die KI Brain brauchte ihre Bewegungsabläufe, sowohl die langsamen als auch die schnellen. Brain brauchte Informationen. Früher hatte die KI jeden Schüler an seinen biometrischen Gesichtsdaten erkannt, aber das Tragen von Kappen, Mützen oder Masken konnte Brain ablenken. Die Bewegungsdaten eines jeden Menschen jedoch waren unverwechselbar. So wurden nun die Bodydaten gescannt, deshalb musste Kim im Kreis laufen.

Sicherheit und Selbstoptimierung waren die beiden wichtigsten Prinzipien am Galileo.

Kim stellte sich Teds Gesicht vor. Mitte dreißig, rötlicher Fusselbart, und schlampig sah er aus in seiner zerschlissenen Jeans und dem ausgeblichenen Metallica-T-Shirt. Er war der Leiter der Technik im Galileo. Eine Machtposition, die er auskostete. Denn das Scannen der Bodydaten hätte er auch von einem Assistenten machen lassen können, aber warum? Es machte ihm Spaß, sie zu dirigieren. Da war Kim sich sicher. Sie stellte sich vor, wie er hinter der Scheibe seine Cola Light trank. Sie selbst bekam davon stets einen faden Geschmack im Mund. Das miese Karma kam vom Zuckerersatz.

Sie lief in schwarzen Leggings, schwarzem langärmeligem und eng anliegendem T-Shirt. Genau so war es ihr vorgeschrieben worden. Sie hörte ihre Schritte und spürte ihre Brüste, die sich auf und ab bewegten. Es war ihr peinlich vor Ted, der sich womöglich hinter der Scheibe darüber amüsierte. 18.13 Uhr. Gleich würde sie Julian wiedersehen, mit ihm aufs Zimmer gehen, sie würden sich küssen und …

»Slow down, please!«, sagte Ted. Sein Amerikanisch war breit wie das von einem Texasranger, dabei kam er direkt aus dem BrainVision Headquarter in Silicon Valley, Califonia. Teds Nachname kannte Kim nicht. Die Leute von BrainVision wurden nur mit Vornamen angesprochen, ein Vorname ist anonymer als ein Nachname. Zu oft schon waren die Mitarbeiter des Konzerns hier in Berlin von Aktivisten privat belästigt worden. Das wollte die Firma vermeiden.

Erst jetzt, wo Kim langsamer wurde, spürte sie die Anstrengung. Sie hob ihr Stirnband an und wischte sich den Schweiß darunter weg. Ein weiterer Blick auf die Watch zeigte ihr den Puls. Er war zu hoch, genau wie der Blutdruck. Vielleicht irritierte der Schweiß die Datenübermittlung von der Haut auf das Stirnband. Kim hasste diese Ungenauigkeiten. Sie ersehnte den Chip, der ihr bald injiziert werden sollte.

»Stopp!«, hörte sie Teds Stimme. »Du bist fertig. Schick bitte den Nächsten rein. Es müsste Ben sein.«

»Okay«, sagte Kim in Richtung der verspiegelten Scheibe und drehte sich zur Tür. Sie erschrak, denn gerade als sie die Klinke hatte herunterdrücken wollen, senkte sich diese wie von Geisterhand, und die Tür ging auf.

»Buh!«, machte Ted und fand sich witzig.

Kim hatte ihn hinter der Scheibe und nicht hinter der Tür vermutet. Da stand er, sein Gesicht dicht vor ihrem. Milchige Augen, weder blau noch grün noch grau.

»Headset«, sagte er. »Ich kann von überall mit dir reden. Von überall. Headset. Klingt irgendwie rhythmisch. Headset.« Er kam sich extrem cool vor, wie er jetzt rhythmisch mehrmals das Wort »Headset« sagte und dazu mit den Fingern schnippte.

Hinter Ted betrat Ben den Raum, er trug ebenfalls schwarze Leggings, ein schwarzes T-Shirt und sah damit aus wie ein schmallippiger Balletttänzer. Wo war sein Stirnband? Vorgestern hatte Kim ihn noch im Chemielabor damit gesehen.

»Hab mich gestern chippen lassen. Ein Termin war frei geworden«, sagte er im Vorübergehen.

»Und?«, wollte Kim wissen.

»Wehgetan hat es bestimmt nicht«, mischte sich Ted ein. »Ein kurzer Piks in die Schläfe, schon ist das Leben leichter.«

»Ich weiß.«

»Warum fragst du ihn dann?« Ted starrte ihr dreist in die Augen. »Du träumst einfach zu viel. Das kannst du nachts machen, nicht hier bei mir. Oder willst du Daydreamer werden?« Er war belehrend wie ein alter Typ, der seinen Frust an jungen Mädchen auslässt. Vermutlich hatte er sich alles im Leben erarbeiten müssen und beneidete daher Kim und ihre Mitschüler, die einfach reiche Eltern hatten. Sonst wären sie wohl kaum auf dem Galileo.

»Träumen ist schlecht, wach sein ist gut. Das weißt du doch?«

Kim wich Teds fragendem, hartem Blick aus und landete bei einem goldenen Käfer, den er an einer feinen goldenen Kette um den Hals trug.

»Bald wirst du die Letzte mit einem Stirnband sein«, bemerkte Ben hämisch, bevor er hinter Ted in den Kubus marschierte. Irgendwie passten er und Ted gut zusammen. Kim kotzten solche fiesen Kerle an, vor allem jene, die sich dabei auch noch cool vorkamen.

Sie lief über den Flur. Der alte Google-Spruch Don’t be evil! prangte auf dem Sperrbildschirm ihres Handys. Julian hatte noch nicht geschrieben. Der Boden war grau und glatt, Kim dachte an den grauen Strich, auf dem sie eben im Kreis gelaufen war. Es war gut, dass Brain sie jetzt überall identifizieren konnte. Falls etwas schieflief, könnte ihr Brain sofort helfen. Und falls eine fremde Person das Schulgelände betreten sollte, würde sie sofort entdeckt. Sicherheit und Glück waren zwei Seiten einer Medaille. Rechts und links gingen knallrote Türen ab. Vielleicht hatte sich Kim deshalb eben rote Fingernägel geträumt. Denn sie durfte sich die Nägel nicht lackieren. Ihre Mutter hatte es verboten.

Hinter einer der Türen befand sich der Datenknoten von Brain. Die Daten vom Galileo wurden nach Kalifornien zur Zentrale an BrainVision übermittelt und hierher zurück zu Brain geschickt. Im Silicon Valley gab es noch eine weitere Schule mit Namen Galileo. Demnächst sollten zwei neue Galileos in Südkorea und eines in New York entstehen. Die Firma war an der US-Börse zu einem mächtigen Unternehmen angewachsen. Ihr Gründer und Selfmade-Milliardär Jon Hummer galt als der größte unter den Visionären, größer als die schon in die Jahre gekommenen Musk und Zuckerberg. Die Aktionäre hofften weiterhin auf revolutionäre Fortschritte durch den Chip, den die Schüler sich injizieren ließen. Spektakuläre Updates sollten in den kommenden Tagen folgen.

Am Ende des Flurs trat Kim aus der Glastür in eine nicht klimatisierte Welt. Die hellen Gebäude des Galileo wirkten wie gigantische, gebogene weiße Schachteln, die im Kreis angeordnet waren. Verbunden wurden sie durch überdachte Wege. Sie boten Schutz gegen Regen und Sonne. Insgesamt gab es acht Schulgebäude, darunter den Fitness-, den Sprachen-, den Mathematik- und Informatik- sowie den Office-Trakt. In der Mitte all der Gebäude lag das runde Atrium. Sein Dach war schwarz. Umgeben war das Gelände samt Sportplatz von einer hohen geschwungenen Backsteinmauer. Niemand sollte über die Mauer sehen können. Von oben sah das Galileo-Areal aus wie ein gigantisches Auge, das in den Himmel starrte.

Kim schaute hinauf zur Sonne. Ihre Kontaktlinsen schützten sie vor der UV-Strahlung und dimmten das Licht. Es war Mai, doch das Gras auf dem Campus war augustbraun geworden. Die elektronisch gesteuerte Sprinkleranlage war seit einer Woche defekt. Die Sprüher blieben einfach im Boden. Der trocknete langsam aus und machte keine Geräusche mehr, kaum ein Insekt, das hier leben wollte, keine Wespe, keine Biene.

Kim schwitzte, sie fühlte sich schmutzig.

Schweiß war ein Zeichen von Schwäche.

»Du bist nicht austrainiert.« Das hatte ihr Julian gesagt.

»Nicht austrainiert«, murmelte sie. Genau so kam sie sich jetzt vor: nicht austrainiert! Dabei waren ihre Körperfette nur minimal erhöht.

Sie schritt unter dem Vordach entlang und spürte wieder diesen Kopfschmerz, er entwickelte sich unter dem Stirnband wie ein lästiges Insekt. Am liebsten hätte sie sich das Band weggerissen und nie wieder angezogen. Aber das ging nicht, dann wäre sie nicht mehr mit Brain verbunden.

Beim Mathematiktrakt warf sie einen Blick in den Little Rest. Jeder Lerntrakt hatte seinen eigenen Little Rest. Dort konnten die Schüler zwischen den Lerneinheiten essen und ein wenig entspannen. Entspannung war nötig, um neue Energie für neue Aufgaben zu tanken. Niemand auf dem Galileo ruhte sich nur aus. Jedes Ausruhen diente dazu, sich danach besser konzentrieren zu können. Alles macht einen Sinn, wenn du ihm Sinn gibst. Jeder Atemzug bringt dich weiter voran.

Im Little Rest hingen ältere Schüler ab. Der Bot an der Essensausgabe bediente gerade einen Jungen, der braunes Haar wie Julian hatte, breite Schultern, schmale Hüften, und wie Julian trug er Sneakers. Als er sich jedoch mit dem Tablett umdrehte, war es nicht Julian, sondern irgendwer, den Kim nicht kannte.

Sie schrieb Julian an: »Wolltest du dich nicht melden?« Doch bevor sie die Nachricht schickte, betrachtete sie noch einmal kurz die Worte. Nein, das konnte sie nicht schreiben, es klang zu fordernd. Sie schrieb: »Vermisse dich. Wo bist du?« Das wiederum klang extrem jämmerlich. Sie löschte auch diese beiden Sätze, tippte und löschte, tippte und löschte. Es war schwierig, jemanden, den man liebte und niemals verlieren wollte, darauf hinzuweisen, dass er gerade ein Date mit einem verpasste.

Ausgerechnet Nai kam auf sie zu. Die Schönheit der Welt auf einem Meter einundsiebzig. Es gab kein hübscheres Mädchen auf dem Galileo. Zierlich wie ein asiatischer Vogel, Handgelenke wie Zweige. Sie mochte Kim, ihr aber war Nai ein wenig unheimlich, sie war einfach zu perfekt. Selbst das Muttermal saß genau an jener Stelle schräg über dem Mundwinkel, wo es sitzen sollte, um aus einem makellosen Gesicht ein schönes Gesicht zu machen. Nai kümmerte sich nicht um die Jungs auf dem Galileo, denn sie interessierte sich nur für Jungs von MeGo. Auf dem Sozialen Netzwerk wurde die Influencerin Nai in China von jungen Männern verehrt, die ihr digitale Geschenke machten. So reich wie sie war, hätte Nai die Schule auch bequem selbst zahlen können. Sie begrüßte Kim, umarmte und drückte sie. Kim schämte sich, weil sie so verschwitzt war.

»Wo ist Julian?«, fragte Nai.

»Weiß nicht.« Warum wollte sie wissen, wo Julian war? Kim schaute auf Nais pinkfarbene Handtasche. Da passte schon mehr rein als nur Lippenstift und Nagelfeile. »Wo willst du denn hin?«

»Ich bekomme heute Abend meine Injektion an der Klinik in Spreenhagen. Morgen früh bin ich wieder raus und spätestens zum Mittagessen zurück im Galileo. Das hab ich dir doch gestern schon erzählt.«

Kim nickte, aber sie wusste es nicht mehr. Ihr Kopf war übervoll mit Julian. Das ständige Streiten und Vertragen, Hassen und Lieben, es machte sie fertig. Erst gestern Abend hatte sie sich wieder mit Julian gestritten, weil er so kalt geworden war, so gnadenlos in seinem Urteil gegenüber anderen Schülern. Vielleicht hatte sie sich deshalb mit ihm in ein Traumschiff geträumt?

»Ich freue mich jedenfalls schon«, sagte Nai. »Morgen bin ich eine neue Nai. A new Nai. Das klingt gut.«

Kim fragte sich, was an dieser New Nai noch besser sein könnte.

»Zudem bekomme ich vom Datenband Kopfschmerzen.« Dabei strich sie sich kurz über das Band auf der Stirn und verzog das Gesicht.

»Geht mir genauso«, sagte Kim.

Ein paar Jungen, die gegenüber am Sprachentrakt unterwegs waren, schauten zu den beiden Mädchen herüber. »Hey, Nai!«, rief einer. Er mochte in der sechsten Klasse sein und versuchte sich vor seinen Mitschülern großzutun. Nai winkte zu ihm hinüber, was dazu führte, dass die Jungen ihren mutigen Mitschüler abklatschten.

»Kinder«, sagte Nai. »Wann ist denn dein Termin?«

»Meine Mutter sagt, dass ich weit oben auf der Liste stehe, falls jemand ausfällt.«

Als Nai sie nun zum Abschied wieder umarmen wollte, zuckte Kim zurück. »Ich bin im Scan gewesen, muss mich duschen.«

»Und ich bin in Hongkong aufgewachsen«, konterte Kim. »Da gibt es keine Sekunde ohne Schweiß. Das Wasser und die Luft verbinden uns. Die Leute in Hongkong atmen Schweiß.« Mit diesen Worten nahm Nai sie in den Arm und wieder fühlte sich Kim unwohl. Als sie sich trennten, schaute sie ihr hinterher. Was für eine Schönheit. Sie war ein federleichter Engel mit schwarzem Haar, der in einem weißen knöchellangen Kleid davonschwebte.

Zurück in ihrem Zimmer besah Kim sich kurz im Schrankspiegel und betrachtete das Foto von Julian, zog es größer. Er war süß, und sofort hatte sie wieder Magenkribbeln, als hätte sie Brausepulver in den Adern. Enge Jeans, Daunenjacke, Mütze. Auf dem Foto war er vor dem Haus seiner Eltern in Tirol zu sehen. Seit einem halben Jahr waren sie zusammen, sie aus den Niederlanden und er aus Tirol. Flachland – Berge. Deich – Alm. Bis auf die Kühe waren ihre Heimaten so grundverschieden wie Hunde und Katzen.

Kims Kopfschmerzen wurden stärker – als würden die sieben Zwerge und Schneewittchen mit Spitzhacken von innen gegen ihren Schädel hämmern. Sie zog sich das Datenband über Kopf und Pferdeschwanz und legte es auf den Schreibtisch. Es war aus elastischem Kunststoff und mit winzigen Härchen besetzt. Kein Schweißtropfen blieb daran kleben.

Im Bad stellte sie sich unter die Dusche. Das Wasser war kalt, sie hatte eine Gänsehaut, und dann war es eine einzige Wohltat. Kim atmete tief ein. Die Kopfschmerzen ließen nach, während das Wasser wärmer wurde. Länger als fünf Minuten durfte niemand duschen. Schließlich war Wasser kostbar, einige der Nebenarme der Spree waren schon ausgetrocknet, und Berlin hatte Angst zu verdursten.

Gerade wollte sie sich einseifen, da klopfte es.

»Hallo?« Julians Stimme.

Sie hatte vergessen die Wohnungstür abzuschließen.

»Bist du da drin?«, fragte er.

»Jaha!«, antwortete sie.

»Ich muss mit dir reden!«

»Gleich! Warte!«

Julian trat trotzdem sofort ein. Kim sah ihn durch den halbdurchsichtigen Duschvorhang. Sie schob ihn ein wenig zur Seite und sagte: »Was möchtest du?« Sie hatte nun Sätze wie »Ich hab dich vermisst« oder »Ich wollte dich sehen« oder einen blöden Spruch wie »Lass uns Sex haben« erwartet.

Julian sagte schlicht: »Jojoe ist tot.«

Das Wasser lief Kim am Rücken entlang, der Duschvorhang klebte wie eine zweite Haut auf ihrer Schulter. Hatte sie Julian falsch verstanden? Er reichte ihr das Handtuch in die Dusche. »Hab ihn die Treppe hinuntergestoßen. Ich warte im Zimmer auf dich.«

Sie rubbelte sich das Haar trocken, wickelte sich in das feuchte Handtuch und knotete es über der Brust zusammen. Zu ihrer Verwunderung saß Julian entspannt auf dem Bett.

»Schließ ab«, befahl er und deutete auf die Wohnungstür. Was sollte dieser Befehlston? Erst jetzt schob er ein »Bitte« und die Erklärung hinterher. »Oder willst du, dass Henriette einfach hereinplatzt?« Das wollte sie natürlich nicht. Während sie noch den Schlüssel im Schloss herumdrehte, sagte er: »Jojoe ist auf den Hinterkopf gefallen. Da konnte ich nichts für. Stein ist härter als ein Schädel.«

Langsam erst ließ Kim den Gedanken zu, dass wirklich etwas Schreckliches passiert sein konnte. Sie setzte sich neben ihn und schaute ihm in die Augen. Sie waren blau wie immer, doch gerade schienen sie ihr kalt wie ein Bergsee. Sie strich ihm liebevoll mit zwei Fingern die Haare aus der Stirn.

»Er liegt einfach nur da«, fuhr Julian fort.

»Wo?« Die Frage war überflüssig, denn es gab nur eine einzige Treppe im Galileo, eben jene im Atrium. Alle anderen Gebäude waren eingeschossig.

»Er hat mich geschlagen.« Julian zog den kurzen Ärmel seines T-Shirts noch ein wenig höher und wollte ihr den blauen Fleck zeigen. Doch da war nicht einmal eine Rötung auf seinem Oberarm. »Du musst bezeugen, dass er mich geschlagen hat.«

»Was redest du da?«

»Es ist wichtig. Notwehr war das. Verstehst du?«

»Wir müssen zu Mrs. Smith und den Vorfall melden.«

»Nein«, sagte er. »Im Atrium war niemand außer Jojoe und mir. Wenn keiner fragt, sagen wir einfach gar nichts. Falls doch, bezeugst du, dass es Notwehr war.«

»Und Brain?«

Julian schien jetzt erst zu dämmern, dass Brain mit ihren Kameras im Atrium alles gesehen haben musste. Er fluchte: »Wegen dem Loser gehe ich nicht vom Galileo.«

»Rede nicht so über Jojoe. Er ist tot.« Kim zögerte und fragte noch einmal: »Ist er wirklich tot?«

»So viel Blut, der muss tot sein.« Julian sagte es kalt.

Was war los mit ihm? War das der Schock?

Kim wollte ihn in den Arm nehmen, aber er wehrte sie ab.

»Jojoe hat mich provoziert. Mord können sie mir nicht anhängen.«

»Hör auf. Du hast es nicht absichtlich gemacht. Wir müssen zu Mrs. Smith.«

»Das würde dir so passen. Ich soll zu Mrs. Smith, weil du sonst auch Ärger bekommst, wenn sie mich erwischen.«

»Don’t be evil«, sagte sie. »Please.«

»Ich hab keine erfolgreiche Mutter wie du. Du bist nicht auf ein Stipendium angewiesen. Du kannst dich gar nicht in meine Lage versetzen.«

Das stimmte. Schließlich war ihre Mutter Janne in der niederländischen Botschaft in Berlin beschäftigt. Julian hingegen stammte von einem Bauernhof, die Eltern hatten drei Pferde, zwei Ponys, ein paar Ziegen, Hühner und vermieteten Zimmer an Gäste mit Kindern. Hätte Julian nicht das BrainVision-Stipendium erhalten, wäre er garantiert nicht hier. Er war hochbegabt, doch jetzt war da nur noch Wut in seinen Augen, es war die Wut auf die Welt und die Wut auf Kim.

Sie streckte ihm die Hand entgegen: »Mrs. Smith wird dir nicht gleich den Kopf abreißen, sie wird dich unterstützen. Immerhin kann das Galileo keine negativen Schlagzeilen gebrauchen.«

Julian lehnte auf dem Bett und überlegte. Dann nahm er ihre Hand. »Du hast recht. Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen.«

»Schon okay«, sagte sie und küsste ihn.

Hand in Hand verließen sie Kims Zimmer. Sie waren ein hübsches Paar, wie sie nun über den Flur gingen. Beide fast gleich groß. Sie hatte gelocktes, schulterlanges Haar und ihm waren die Stunden im Fitnesstrakt anzusehen. Kim schaute ihn an, er lächelte, jedenfalls waren beide Mundwinkel nach oben gebogen, aber seine Augen lächelten nicht mit.

Im Chat kursierte schon die Nachricht von Jojoes Tod. Es wurde spekuliert, was passiert sein konnte. Keiner wusste etwas Genaues. Miro aus der Sieben hatte die Leiche im Atrium gefunden – blutüberströmt.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte Kim.

Vor dem Eingang zum Atrium pulsierte eine aufgeregte Traube Schüler. Zwei Security-Leute in den blauweißen Uniformen von BrainVision hatten Position bezogen und ließen keinen rein. Schweiß brannte in Kims Augen. Sie hatte das Stirnband vergessen.

Im Sekretariat saß Frau Peters. Sie war eine der wenigen Deutschen im Galileo. Und sie war die Einzige, die mit Frau angesprochen wurde. Frau Peters war sehr rundlich und ihre Stimme sehr dominant. Sie trug weite Kleider, in denen sie ihr Übergewicht verbergen konnte. In einem harten Englisch sagte sie: »Mrs. Smith ist zurzeit nicht zu sprechen.«

»Wegen Jojoe?«, fragte Kim.

Frau Peters schaute wortlos von ihrem Bildschirm auf.

Am liebsten hätte Kim gefragt, ob es schon einen Verdächtigen gab. Doch sie sagte nur: »Wir kommen später wieder.«

Julian aber ließ Kims Hand los und sagte: »Ich warte hier.«

»Es kann länger dauern«, entgegnete ihm Frau Peters sachlich.

Doch Julian blieb bei seinem Entschluss. So saßen Kim und Julian in der gelben Sitzecke auf dem Flur vor Mrs. Smiths Büro und warteten. In jedem Trakt waren die Wände weiß und die Böden grau, nur die Türen, Bänke, Stühle und Tische waren farbig – hier im Office-Trakt dominierte das Gelb, im Jungentrakt ein helles Grün, Blau im Naturwissenschafts-, Grau im Philosophietrakt und so weiter. So wusste jeder jederzeit, in welchem Trakt er sich gerade befand. Schließlich ähnelte sich das Innenleben der Schuhschachteln sonst zu sehr.

»Sollen wir mal zum Atrium gehen?«

»Nein«, sagte Julian. »Ich bleibe.«

Kim wollte ihn küssen, er wich zurück.

»Warum bist du plötzlich wieder so?«

»Wie meinst du das?«

»Ja, warum darf ich dich nicht anfassen und nicht …«

»Die Frage kannst du dir selbst beantworten.«

»Hab ich was falsch gemacht?«

»Du denkst immer, dass alles an dir liegt.«

»Und warum bist du dann so zu mir?«

Er drückte mit dem Zeigefinger zweimal auf die Tischplatte. Eine DIN-A4-große Fläche wurde weiß in all dem Gelb des Tisches. Julian zog das Weiß größer und klickte sich auf seinen Arbeitsscreen. Sämtliche Arbeitsblätter und Daten waren in der BrainCloud gespeichert, sodass jeder überall arbeiten konnte. Er sagte nichts, Arbeit war seine Antwort. Arbeiten, lernen, arbeiten, lernen, sich optimieren … Das war es, was er wollte. Sonst nichts. Kim wurde schwer zumute. Schweigen ist die schwerste aller Strafen. Und wofür bestrafte er sie? Sie hatte ihm nichts getan.

Julian löste eine Textaufgabe. Es ging um den Brennwert von Holz. Buchstaben und Zahlen. Nicht stetig differenzierbare Funktionen. In Ökologie hatte sie gelernt, wie viel Kohlendioxid in einer ausgewachsenen Birke oder einer Buche gebunden ist. Alles war messbar, kalkulierbar, jeder Baum und jeder Mensch, alles hatte seinen Wert und seinen Sinn. Die Kamera über Mrs. Smiths Türrahmen hatte Kim im Blick.

Sie schaute in das glänzende Auge. Wer Sicherheit der Freiheit vorzieht, ist zu Recht ein Sklave. Ihr Großvater Steven hatte ihr heute den Spruch geschickt, er war absolut gegen jede Form von Überwachung. Und strikt gegen den neuen Chip, den sich Lehrer und Schüler zur weiteren Optimierung einsetzen lassen konnten. Dabei war Steven van Zandt selbst Nanotechnologe. »Dieser sogenannte Chip ist in Wirklichkeit ein Clump of Nanobots, der dir in die Schläfe gespritzt wird. Sobald der Klumpen Roboter eingeführt ist, werden sich die winzigen Maschinen voneinander lösen und an zentralen Stellen in deinem Körper andocken, sich im Nerven- und Blutsystem verteilen, miteinander kommunizieren und Befehle geben. Und über allem schwebt die KI Brain