Der Christmas Club - Becca Freeman - E-Book
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Der Christmas Club E-Book

Becca Freeman

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Beschreibung

Vier Freunde und ihre ganz besondere Weihnachtstradition: ein Roman über found family, der sich anfühlt wie eine warmherzige Umarmung.

Hannah und Finn sind die besten Freunde. Seit einem schicksalshaften Heiligabend auf dem College, als sie die einzigen auf dem Campus waren, verbringen sie jede freie Minute miteinander. Zehn Jahre später leben beide in New York City und feiern immer noch jedes Weihnachtsfest gemeinsam. Inzwischen sind auch die lebhafte Priya und der stets etwas zurückhaltende Theo fester Teil der Clique. Ob Karaoke in China Town oder die Parade am Rockefeller Center, ihre Weihnachtstraditionen sind den vier Freunde heilig und sie können sich die schönsten Tage im Jahr nicht mehr ohne ihre Ersatzfamilie vorstellen.

Doch nach einem Jahr, das ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt hat, könnte dieses Fest ihr letztes zusammen sein. Hannah versucht mit aller Macht, die Gruppe zusammenzuhalten, während Finn sich seinen lang verschwiegenen Gefühlen stellen muss. Alle spüren, dass sie vor großen Veränderungen stehen. Und manchmal sind es genau die Veränderungen, vor denen man sich am meisten fürchtet, die man am meisten braucht …

»Ein längst überfälliges Update der klassischen Weihnachtsgeschichten. Danke für diesen unterhaltsamen und einfühlsamen Roman über vier junge Erwachsene in New York, die zu einer Ersatzfamilie füreinander werden – mit all ihren Höhen und Tiefen, Dramen und wundervollen Momenten.« Carley Fortune

Diese Geschichte ist perfekt für dich, wenn du folgende Tropes liebst:

#holiday romance

#friends to lovers

#modern love

#new york city

#friendsmance

#queer love story

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 466

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Becca Freeman

Der Christmas Club

Die schönste Zeit ist mit euch

Roman

Aus dem Amerikanischen von Carolin Müller

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The Christmas Orphans Club bei Penguin, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 der Originalausgabe by Becca Freeman

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Annika Krummacher

Covergestaltung: Favoritbüro, München nach einem Entwurf von Liz Casal

Coverbild: © Liz Casal

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-31702-7V002

www.penguin-verlag.de

An alle, die an Weihnachten schon einmal allein waren: Ich sehe euch, ich hab euch lieb.

Und an meine Mangy Ravens: Danke, dass ihr mir die Art von Freundschaft geschenkt habt, über die es sich lohnt, Bücher zu schreiben.

Prolog

In der Nacht vor dem Christfest, da regte in ganz Manhattan sich niemand und nichts, nicht mal eine Maus.

Von wegen. Manhattan um sechs Uhr an Heiligabend ist eine Vollkatastrophe.

Am Straßenrand wühlen sich die Mäuse – gut, eher Ratten – durch Berge von Mülltüten. Schamlose Viecher, wirklich. Sich regen wäre eine komplette Untertreibung.

Und was die Menschen angeht, ist der Bahnhof Grand Central ein einziges Meer von Leuten, die unbedingt noch einen Zug erwischen wollen, der sie in einen der ausufernden New Yorker Vororte bringt, aus denen sie stammen. Im Citarella, dem noblen Feinkostladen im West Village, wo eine Schale Beeren mindestens zehn Dollar kostet, entflammt vor der Auslage mit den vorgekochten Speisen zum wiederholten Mal ein lautstarker Streit, diesmal über den letzten Behälter mit Kartoffelgratin. Denjenigen, die sich für eine Bestellung nach Hause entschieden haben, ergeht es nicht besser. Die von Han Dynasty geschätzte Lieferzeit beträgt aktuell nahezu drei Stunden.

Ich brauche mich also gar nicht zu wundern, dass ich im Stau stecke und mich im Stop-and-Go-Tempo auf dem Rücksitz eines gelben Taxis den West Side Highway hinaufschiebe. Die Hoffnung, mich während der Fahrt zu schminken, habe ich bereits aufgegeben. Ich kann mich schon glücklich schätzen, wenn mir von dem ganzen Geruckel nicht noch kotzübel wird.

»Sind Sie von hier?«, erkundigt sich mein etwa sechzigjähriger Taxifahrer in starkem New Yorker Akzent.

»Nein, aus Jersey«, antworte ich und versuche, die richtige Balance zu finden zwischen Höflichkeit und der klaren Ansage, dass ich mich nicht unterhalten möchte.

»Aber Sie haben Familie in der Stadt, oder? Tanten? Cousins und Cousinen?«, fragt er unbeirrt weiter. »Ich wette, Sie verbringen Heiligabend mit ihnen.«

»Nö. Keine Familie, nur ich.«

Er sieht mich durch den Rückspiegel an, und ich erkenne Mitleid in den graublauen Augen, die ein Kranz von kleinen Falten umgibt.

Ich tue ihm leid, aber mir tun alle anderen leid, mit ihren langweiligen, konventionellen Weihnachtsfesten. Die Leute denken immer, es wäre traurig, die Feiertage ohne Familie zu verbringen, aber Weihnachten ist mein absoluter Lieblingstag im Jahr. Und dieses Jahr wird das Fest besser als je zuvor. Das muss es auch, nach der Doppelkatastrophe der letzten beiden Jahre. Und der heutige Abend ist bloß der Anfang.

Ich erwäge, die Sache dem Taxifahrer gegenüber klarzustellen, doch dann spüre ich, wie der Burrito von heute Mittag in meinem Magen rebelliert, als der Mann zum dreihundertsten Mal auf die Bremse tritt, und beschließe, stattdessen die Augen zu schließen und mich schlafend zu stellen. Soll er doch denken, was er will.

Als ich in Theos Wohnung stürme, ungeschminkt und mit noch immer leicht flauem Gefühl im Magen, schreit Finn: »Hannah, bist du das? Endlich!«

»Jetzt aber los!«, ruft Theo. »Wenn das Essen kalt wird, schmeckt es echt beschissen.«

»Cooler Schal«, bemerkt Priya, als ich das Esszimmer betrete, wo drei meiner vier Lieblingsmenschen an einem langen Tisch versammelt sind.

»Bestimmt hat Hannah ihn sich nicht selbst ausgesucht. Schließlich ist er weder neutral noch blau«, scherzt Finn. »Also, von wem hast du ihn?«

»Hey!«, protestiere ich. »Aber du hast ja recht. Ist ein Geschenk von David.« Ich streiche über den knallroten Kaschmirschal, den ich um den Hals geschlungen habe.

»Zu Weihnachten?«, erkundigt sich Finn und stupst mich an.

»Nein, Bescherung gibt’s bei uns erst morgen früh. Es war ein Geschenk, einfach so. Er hat ihn in einem Schaufenster gesehen und fand, er würde gut zu meiner Haarfarbe passen.«

»Ich glaube, er maaag dich«, säuselt Finn und dehnt das Wort wie Sandra Bullock in Miss Undercover ihr »Du willst mich knuuutschen«.

Meine Wangen glühen, aber ich muss auch grinsen. David bringt mir immer mal kleine Geschenke mit. Ich weiß, dass er mich mag – ja, sogar liebt. Ich habe nie an seinen Gefühlen gezweifelt, nicht einmal in den ersten Tagen unserer Beziehung. Doch die innigen Gedanken an meinen Freund werden sogleich von leichten Schuldgefühlen verjagt. Einen Moment lang überlege ich, ob ich ihnen erzählen soll, wie schwierig es in letzter Zeit mit uns war und was ich vor ein paar Wochen entdeckt habe … Aber der heutige Abend ist mir heilig. Eine Auszeit vom wirklichen Leben. Keine Arbeit, keine Familie, nur wir. Ich will ihn nicht mit meinen Beziehungsproblemen verderben.

Nachdem ich meine Winterkleidung abgelegt und den Schal über der Stuhllehne drapiert habe, damit er nicht auf dem Boden schleift, fällt mir die Tischdekoration auf, die ich in meiner Eile bisher übersehen hatte. Auf dem Tisch stehen silberne Tabletts, auf denen sich bergeweise Burger in Papierverpackungen stapeln, und Kristallschalen mit Pommes in allen Variationen – dünne, spiralförmige, geriffelte, Süßkartoffel- und Steakhouse-Pommes. Es gibt sogar eine Schale mit frittierten Zwiebelringen und eine weitere mit Kroketten. Zu jedem Gedeck gehören Schälchen mit etwas, das aussieht wie Ketchup, Mayo und eine Spezialsoße.

»Sorry, aber hab ich etwa den Teil des Abends verpasst, an dem ihr euch alle komplett zugekifft habt?«, erkundige ich mich.

»Du hast doch schon mal vom Fest der sieben Fische gehört, oder?«, fragt Theo. »Das hier ist nämlich das Fest der sieben Fast-Food-Burger.«

»Wir werden sie alle probieren und den Gewinner küren. Theo hat sogar Wertungslisten drucken lassen.« Finn zeigt auf eine cremefarbene Karte neben seinem Teller, auf der in geschwungener roter Schrift Burgerschlachtan Heiligabend steht.

Mit diesen Leuten könnte ich mich sogar in einem komplett leeren Raum amüsieren, allein das Zusammensein mit ihnen ist etwas ganz Besonderes. Aber das hier ist wirklich ein extrem witziger Einfall.

»Vorneweg, die ganze Veranstaltung ist absurd, weil der von Shake Shack sowieso gewinnen wird. Was machst du eigentlich?«, wende ich mich an Priya, die Vegetarierin ist.

»Ich bin Schiedsrichterin«, flötet sie. »Aber du solltest wissen, dass Theo auf den von In-N-Out gesetzt hat.«

»Es gibt doch nicht mal ein In-N-Out in New York«, protestiere ich. Aber tatsächlich türmen sich auf einer der Servierplatten Burger mit der typischen rot-weißen Verpackung. »Wie hast du das angestellt?«, frage ich Theo.

»Er hat sie aus Kalifornien einfliegen lassen«, erklärt Finn mit einem Augenrollen.

Ich will gar nicht wissen, wie er das gemacht hat oder wie viel es gekostet hat, aber ich bin mir sicher, dass diese Burger auf keinen Fall gewinnen werden, schon gar nicht aufgewärmt.

»Also, legen wir los?«, fragt Theo voller Ungeduld.

Ich setze mich neben Finn und schüttele meine Serviette aus. Alle greifen zu, nur ich nicht. Stattdessen drücke ich auf den Auslöser meiner mentalen Kamera. Ich will mich an alles erinnern, diesen Abend in meinem Gedächtnis speichern. Denn es soll nicht nur unser bestes Weihnachten werden, sondern wird vielleicht auch das letzte sein, das wir gemeinsam feiern.

Finn drückt meine Hand und fragt leise, ob mit mir alles in Ordnung sei. Die Wahrheit ist, dass es mir alles andere als gut geht. Ich bin am Boden zerstört, dass er bald wegziehen und die Hälfte meines Herzens mitnehmen wird, wie bei einer dieser BFF-Plastik-Halsketten, die Mädchen sich in der vierten Klasse gegenseitig schenken. Es fühlt sich doppelt unfair an, weil ich das Gefühl habe, ihn gerade erst zurückbekommen zu haben. Ein ganzes Jahr ist uns durch unseren dämlichen Streit verloren gegangen. Ich bin nicht bereit für das, was jetzt kommt. Aber ich setze ein Lächeln auf, schaue ihn an und tue so, als wäre ich glücklich. Und das bin ich auch. Ich freue mich für ihn, bin aber zugleich traurig, dass alles zu Ende geht.

Alle anderen haben etwas Neues in Aussicht – Priya ist immer noch ganz beflügelt von ihrem neuen Job, Finn zieht nach L.A., und Theos Leben besteht sowieso nur aus Flugtickets und Partys. Ich hingegen werde in meinem Leben nur ein riesiges Loch haben, das Finn hinterlässt.

»Was ist los?«, fragt Finn und wirft mir einen forschenden Blick zu, weil er mir mein aufgesetztes Lächeln offenbar nicht abkauft.

»Nichts«, sage ich. »Ich bin einfach nur glücklich, heute Abend mit euch allen hier zusammen zu sein.«

Ich verdränge den nächsten Gedanken, der mir durch den Kopf schießt: Ich weiß nicht, wie ich jemals glücklicher sein könnte als jetzt. Diese Menschen sind genau die Familie, die ich brauche.

1 Hannah

Weihnachten #1, 2008

Ich, Hannah Gallangher, bin eine Art Expertin für deprimierende Playlists.

Natürlich ist das eine bescheuerte Superkraft, ich würde auch lieber fliegen können oder Gedankenlesen oder mich in eine Pfütze aus metallischem Glibber verwandeln können wie Alex Mack, aber wir können uns die Karten, die uns zugeteilt werden, eben nicht aussuchen. Und das weiß ich auch.

Ich füge der Playlist, an der ich gerade arbeite, »Brick« von Ben Folds Five hinzu, direkt gefolgt von »Skinny Love« von Bon Iver. Sicherheitshalber lege ich noch »Vindicated« von Dashboard Confessional obendrauf. Ein Problem der Musik heutzutage ist meiner Meinung nach, dass es zu viele Songs übers Verlassenwerden gibt oder darüber, dass man jemanden liebt, der diese Liebe nicht erwidert, und zu wenige über den besorgniserregenden Zustand der ganzen verdammten Welt.

Ich habe die letzten vier Jahre damit verbracht, meine Skills zu verfeinern, und die heutige Playlist wird mein Meisterwerk.

Ich verkleinere ein Browserfenster, um meine LimeWire-Downloads zu checken. Verdammt! Der Ladebalken hat sich kaum bewegt, und der Lüfter meines Laptops brummt, als würde er jeden Moment von meinem Schoß abheben.

Wenn ich »Hide and Seek« wirklich will, könnte ich es kaufen. Aber neunundneunzig Cent sind viel Geld für einen einzigen Song, und es nervt mich immer noch, dass dieser Hit durch Marissa Cooper aus O.C., California den unangenehmen Beigeschmack eines niedlichen und beliebten Mädelssongs bekommen hat. Andererseits ist meine Playlist sonst etwas männerlastig, und seit wann haben Männer das Monopol auf Lebensangst?

Ach, egal! Es ist Weihnachten. Wenigstens das hab ich mir verdient.

Ich hopse von meinem Hochbett und mache mich auf den beschwerlichen Weg – ganze drei Schritte – zum Schreibtischstuhl, über dessen Lehne mein Rucksack hängt. Mein Portemonnaie ist irgendwo ganz unten, zusammen mit einem Haufen eingetrockneter Stifte und halbfertigen Spanisch-Arbeitsblättern vom letzten Semester.

Gerade als ich meinen Geldbeutel zu fassen kriege, klopft es an der Tür.

Das ist seltsam.

Es kann niemand von meinen Freunden sein, denn ich habe hier keine. Und selbst wenn ich welche hätte, wären sie in den Winterferien zu Hause und würden mit ihren glücklichen, intakten Familien Weihnachtsschinken essen.

Als ich die Tür öffne, stehe ich einem gertenschlanken Typen mit hellbrauner Haut gegenüber, der gekleidet ist, als wäre er eben von einem Mittelaltermarkt geflohen. Das Smokinghemd mit Rüschen hat er in eine Hose gesteckt, die so schmal geschnitten ist, dass sie einem Mädchen gehören könnte. Sein Look wird noch durch einen grünen Krawattenschal mit Paisleymuster und einen schwarzen Samtumhang abgerundet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er Eyeliner trägt, was ihm, das muss man fairerweise sagen, wirklich gut steht.

»Wer bist du?« Ich halte mich nicht mit Höflichkeiten auf, weil ich mir sicher bin, dass er sich im Zimmer geirrt hat.

»Ich bin Finn Everett«, verkündet er, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, obwohl ich weiß, dass ich ihn noch nie in meinem Leben gesehen habe. Ich würde mich an ihn erinnern. Um seine Aussage zu unterstreichen, wirft er den Umhang theatralisch über die eine Schulter, wobei ein purpurrotes Seidenfutter aufblitzt, und stemmt eine Hand in die Hüfte. Er starrt mich an, als würde er auf eine Antwort warten, obwohl er derjenige ist, der an meine Tür geklopft hat.

»Okay, Finn Everett, was willst du?«

»Was machst du an Weihnachten auf dem Campus? Du weißt schon, dass du eigentlich nicht hier sein darfst, oder?«

Ich kenne ihn erst seit dreißig Sekunden, und er regt mich jetzt schon auf. Aber ich weiß, wie ich ihn loswerde: »Ich bin Waise.«

Mit Genugtuung sehe ich, dass er bei diesem Wort zusammenzuckt. Normalerweise würde ich mich nicht so bezeichnen, aber ich will wieder meine Ruhe haben, und in den letzten Jahren habe ich gelernt, dass nichts ein Gespräch schneller beendet als das W-Wort. Ich selbst wäre jedenfalls am liebsten davongerannt, als ein Sozialarbeiter mittleren Alters in einem kastigen braunen Blazer mir und meiner Schwester gegenübersaß und das Gespräch mit den Worten eröffnete: »Jetzt, da Hannah eine Waise ist, müssen wir uns überlegen, wie wir ihre Vormundschaft regeln.«

Finn Everett mustert mich von oben bis unten, betrachtet meine karierte Pyjamahose, meinen übergroßen Boston-College-Pulli und mein fettiges Haar, das seit drei Tagen zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden ist.

»Nein«, sagt er und schüttelt den Kopf, als wäre ich eine Matheaufgabe, die er nicht lösen kann. »Für ein Waisenkind bist du zu hübsch.«

»Wie bitte?«

»All die feinen weißen Damen hätten sich darum gerissen, dich aus dem Waisenhaus zu holen. Du bist süß. Underdressed, aber süß.« Als ich nicht reagiere, fügt er hinzu: »Das war übrigens ein Kompliment!«

Tja, Mist. Offensichtlich gehört er nicht zu den Leuten, denen es die Sprache verschlägt, wenn sie von meinen toten Eltern hören. Ganz im Gegenteil, er interessiert sich für mich. Dabei gibt es nichts Schlimmeres als Leute, die nachfragen. Wie ist es passiert? Zur gleichen Zeit? Wie alt warst du? Wie geht es dir damit?

»Nicht so ein Waisenkind. Ich bin keine von diesen Kohlkopfpuppen mit Adoptionsurkunde, oder was auch immer du denkst. Meine Eltern sind gestorben, als ich fünfzehn war.«

»Oh, okay. Na gut, aber jetzt wartet jedenfalls ein Abenteuer auf uns.«

Mein ganzer Körper entspannt sich, als ich merke, dass er zum nächsten Thema übergeht. »Ach, wirklich?« Ich habe das Studentenwohnheim seit zwei Tagen nicht mehr verlassen, weil der gesamte Campus dicht ist, sogar die Mensa. Ich habe mich von einer Packung Special K Red Fruit ernährt und von Bohnen-Käse-Burritos aus dem nächsten Laden, die ich mir in der Mikrowelle warmgemacht habe. Was für ein Abenteuer könnte uns da schon erwarten?

»Oder hast du was Besseres vor?«, fragt Finn.

Nein, habe ich nicht. Ich werde meine Playlist hören, während ich einen ganzen Becher Ben & Jerry’s Cookies & Cream verputze, und dann werde ich mir vielleicht Stirb langsam ansehen, den am wenigsten kitschigen Weihnachtsfilm, um mir einzureden, dass ich in Weihnachtsstimmung bin. Doch das will ich ihm nicht verraten, weil ich weiß, wie das klingt.

Aber Finn Everett braucht keine weitere Ermutigung. Er schiebt sich an mir vorbei, und sein Blick wandert zwischen den beiden Seiten meines Zimmers hin und her, die jeweils mit einem Bett, einem Schreibtisch und einer Kommode ausgestattet sind. »Welcher Schrank ist deiner?«

Auf der einen Seite liegt eine einfache marineblaue Bettdecke. Jeder Quadratzentimeter der Wand aus Schlackenbetonstein ist mit Bandpostern zugekleistert. Guster, O.A.R., Weezer, Wilco, The Postal Service. Die andere Seite ist mit einer Lilly-Pulitzer-Bettdecke und einem einzigen Poster von Jessica Simpson dekoriert, die in Unterwäsche staubsaugt. Ich denke, es ist offensichtlich, welcher der Schränke mir gehört, aber ich zeige trotzdem auf den rechten. Er fängt an, sich durch die Kleiderbügel zu arbeiten. Ich weiß nicht recht, was er sucht, aber ich bin mir sicher, dass er es nicht finden wird. Ich trage ausschließlich Band-T-Shirts, die ich an den Merch-Tischen im Paradise Rock Club und im Orpheum erstanden habe.

»Das war’s?« Er seufzt so dramatisch, dass ich mir eine Entschuldigung für meinen Mangel an Abendkleidern verkneifen muss.

»Wonach suchst du denn?«

»Etwas Besseres als …«, er deutet auf meinen Pyjama und verzieht das Gesicht, als hätte er verdorbene Milch gerochen, »das hier.«

»Und wo gehen wir hin, wo es so eine strenge Kleiderordnung gibt?«

»Jetzt müssen wir erst noch einen Boxenstopp einlegen. Schnapp dir deinen Mantel. Los geht’s.« Er schnippt zweimal mit den Fingern, um seine Aufforderung zu unterstreichen. Ich bin so verdutzt, dass ich nach meinem Daunenmantel greife und in ein Paar salzbefleckte Ugg-Boots schlüpfe. Anscheinend wartet ein echtes Abenteuer auf uns.

Wir treten aus dem Wohnheim in die kalte Nachtluft hinaus. Schneeflocken tanzen im Wind, doch am bemerkenswertesten ist nicht der Schnee, sondern die Stille. Normalerweise wuseln hier tausende Studierende herum, auf dem Weg zu einem Seminar über Perspektiven auf die westliche Kultur oder zu einem Spinning-Kurs im Plex, oder sie strömen nachts – und seien wir ehrlich, manchmal auch tagsüber – zu Partys außerhalb des Campus, um Flip-Cup zu spielen. Aber heute Abend sind nur wir da.

Wir überqueren die etwas unglücklich als Dustbowl bezeichnete Grünfläche auf dem College-Campus. Sie ist alles andere als staubig und den Großteil des Jahres ein grasbewachsener Platz, umringt von stattlichen Steingebäuden, aber jetzt ist sie mit einer zwei Zentimeter dicken Schneeschicht bedeckt. Als ich den Campus zum ersten Mal besichtigte, war es Frühling, und der Rasen war übersät mit Freundinnenpaaren, die sich auf Strandtüchern sonnten, während um sie herum Gruppen von Jungs Frisbee spielten. Es war genauso, wie es am College sein sollte, zumindest wenn man von der Serie Dawson’s Creek ausging. Und es war das Stückchen Normalität, nach dem ich mich sehnte.

»Wie hast du mich überhaupt ausfindig gemacht?«, erkundige ich mich. Vielleicht hätte ich mehr Fragen stellen sollen, bevor ich mich auf diesen Ausflug eingelassen habe. Nicht, dass ich jemals wirklich zugestimmt hätte.

»Durch deine Musik«, antwortet Finn. »Dabei war deins schon das sechste Wohnheim, wo ich Ausschau gehalten habe! Glaub mir, es war nicht leicht, dich zu finden. Nach einer Woche allein auf dem Campus ist mir langsam die Decke auf den Kopf gefallen.« Er deutet auf sein lächerliches Outfit. »Ich dachte schon, ich wäre der einzige Mensch hier.«

Finn und ich kommen zur O’Neill Plaza und gehen auf den traurigen, unbeleuchteten Weihnachtsbaum in der Mitte zu. Ist das der Ort, wo wir hinwollen? Tolles Abenteuer. Da die Studierenden über die Ferien zu Hause sind, hat die Verwaltung wohl beschlossen, dass es sich nicht lohnt, den Baum zu beleuchten, auch nicht an Weihnachten.

»Warte hier«, weist Finn mich an.

Er lässt mich unter dem Baum stehen und geht auf die Bibliothek an der Ostseite des Platzes zu. Ich bin zu weit entfernt, um zu sehen, was er tut, aber ich höre das Klimpern der Schlüssel, die er unter seinem Umhang hervorholt, und sehe, wie er in das Gebäude schlüpft.

Einige Minuten vergehen, ohne dass er wieder auftaucht. Ich trete von einem Fuß auf den anderen, um mich warm zu halten, und für einen Moment frage ich mich, ob ich zurückgelassen wurde – mal wieder – und ob auf der anderen Seite des Gebäudes möglicherweise eine Flucht-Pferdekutsche auf ihn wartet.

Ich beschließe, ihm noch fünf Minuten zu geben, bevor ich mich in mein warmes Wohnheimzimmer zurückziehen und Stirb langsam schauen werde. Doch gerade als ich auf meine Uhr blicken will, um die Zeit zu stoppen, flackert der Baum vor mir auf. Ich recke den Hals und bestaune die Tausende von Lichtern, die in allen Farben des Regenbogens glitzern. Dabei fällt mir auf, dass ich übers ganze Gesicht grinse. Okay, Finn Everett, kein schlechter Start.

Bei dem Wind, der über den Platz fegt, höre ich ihn nicht zurückkommen, aber als ich mich umdrehe, steht er mit einem selbstzufriedenen Grinsen neben mir, während ich sein Werk bewundere.

»Woher wusstest du, wie das geht?«, frage ich.

Er zuckt gespielt arglos mit den Schultern und ignoriert meine Frage. »So ein Abenteuer erfordert ein wenig Ambiente, oder?« Er zwinkert mir zu. »Los, weiter!«

»Wohin gehen wir jetzt?« Ich folge ihm eine Treppe hinunter.

»Das wirst du schon sehen. Geduld, Schätzchen!«, ruft er mir über die Schulter zu.

»Hannah«, korrigiere ich ihn und merke erst jetzt, dass er mich noch gar nicht nach meinem Namen gefragt hat. Offenbar war das kein entscheidendes Kriterium für eine Abenteuergefährtin. Jetzt komme ich mir noch bescheuerter vor, dass ich mit diesem Spinner im Umhang, der sich nicht einmal für meinen Namen interessiert, über den Campus stapfe und mir auf diesen eisigen Stufen wahrscheinlich noch das Genick brechen werde.

Am Treppenabsatz bleibt er stehen, und ich krache ihm fast in den Rücken. »Hannah«, wiederholt er mit übertriebener Betonung. »Es ist mir ein Vergnügen«, sagt er, begleitet von einer kleinen Verbeugung.

Ich gebe ein nervöses Kichern von mir. Es hat sich noch nie jemand vor mir verbeugt. Er ist echt schräg, aber womöglich macht ihn das auch irgendwie sympathisch. Außerdem hat er ja recht. Was habe ich heute Abend schon anderes vor?

»Also los, bevor ich mir noch den Hintern abfriere!«

Nach einem Zwischenstopp in Robsham Hall, wo wir den Fundus des Fachbereichs Theater plündern, und einigen hitzigen Verhandlungen über mein Outfit für den Abend (er plädierte dringend für ein viktorianisches Kleid mit Korsett, aber ich konnte ihn auf ein rotes Kleid mit einem kratzigen Petticoat im Stil der fünfziger Jahre herunterhandeln), stehen wir vor der geschlossenen Lower Dining Hall. Bloß dass mit Finns magischem Schlüsselbund an diesem Abend nichts für uns geschlossen bleibt. Langsam frage ich mich, ob nicht in irgendeiner Besenkammer der Hausmeister sitzt – ohne Schlüsselbund und mit Klebeband an einen Stuhl gefesselt.

Das Cocktailkleid, zu dem mich Finn überredet hat, schwingt raschelnd um meine Knie, als wir in den Cafeteriabereich des Mensagebäudes gehen.

»Und was wünscht die Dame heute Abend zu speisen?«, fragt Finn.

Da die Mensa geschlossen ist, nehme ich an, dass die Auswahl begrenzt ist. Ohne die warmen Speisen oder die Salatbar bleiben wohl nur Chips, Müsliriegel oder Cornflakes. »Die Dame wird sich wohl mit köstlichen Honigpops begnügen müssen, werter Herr.«

»Das können wir besser«, sagt Finn, während er hinter der Essensausgabe verschwindet. »Wenn du die Auswahl hättest aus allen Speisen der Welt – na ja, vielleicht nicht der ganzen Welt, aber dem, was normalerweise am Lower Campus zu haben ist – was wäre das?«

Das Ganze scheint auf eine Art Fantasieparty rauszulaufen, aber ich spiele erstmal mit.

»Also?«, hakt er nach.

»Pancakes!«

»Langweilig. Versuch’s noch mal, aber komm diesmal mit was Besserem.«

»Pancakes mit Schokostücken?«

»Schon besser.«

Er bückt sich, um einen Edelstahlkühlschrank unter der Essensausgabe zu öffnen, und taucht mit Milch und einem Päckchen Butter wieder auf.

»Bin gleich da.« Er verschwindet in der Küche, deren Zutritt, da bin ich mir sicher, für Studierende verboten ist. Als er zurückkommt, hält er eine mit trockenen Zutaten gefüllte Rührschüssel an die Brust gedrückt, in der anderen Hand baumelt eine ungeöffnete Tüte Schokostückchen.

»Hüpf rauf.« Er deutet auf eine leere Arbeitsplatte. »Du hast die wichtigste Aufgabe von allen. Du wirst meinen Umhang halten. Beschütze ihn mit deinem Leben«, sagt er, bevor er hinterherschiebt: »Nein, im Ernst, ich bin tot, wenn ich den bekleckere. Wir führen nächstes Semester Phantom der Oper auf.«

Finn krempelt die Ärmel hoch und macht sich an die Arbeit. Er misst die Milch ab und schlägt die Eier in die Schüssel mit den trockenen Zutaten. Nachdem er alles verrührt hat, kippt er die kompletten Schokoladenstückchen hinterher und zwinkert mir zu.

»Woher wusstest du, wo das ganze Zeug ist?«, frage ich. Mich wundert, wie sicher er beim Kochen ist. Außerdem scheint er sich in dieser Küche auszukennen.

Er schaltet eine Herdplatte ein und fährt mit der Hand darüber, um zu testen, ob sie heiß wird. Zufrieden nickt er und holt eine Schöpfkelle. »Ich arbeite hier. Das ist mein Studijob.«

»Aha, deshalb hast du auch alle Schlüssel.«

»Nein, das liegt an meinem anderen Job. Ich arbeite auch im Büro der Hochschulleitung. Dabei muss ich jede Menge Botengänge machen, daher die Schlüssel.«

Zwei Jobs. Wow! Ich hatte keinen einzigen. Wenn man ein optimistischer Typ ist, der gern das Positive sieht, besteht der Vorteil von toten Eltern darin, dass ich mit dem Geld aus dem Verkauf meines Elternhauses das College bezahlen kann und am Ende meines Studiums schuldenfrei sein dürfte. Die Kehrseite ist natürlich, dass ich keine Eltern mehr habe.

»Bist du deshalb über Weihnachten nicht nach Hause gefahren? Weil es zu teuer wäre?«

Finn stößt einen tiefen Seufzer aus, während er Teig auf die Grillplatte schöpft. »Nicht ganz.«

Ich beschließe, nicht nachzuhaken. Schließlich will ich auf keinen Fall zu den Leuten gehören, die ständig Fragen stellen. Eine Weile beobachten wir schweigend, wie die Pancakes vor sich hin brutzeln.

»Mein Vater ist leider ein Arschloch. Er hat mir den Geldhahn zugedreht, als ich mich letzten Sommer geoutet habe. Anscheinend war seine Heirat mit einer schwarzen Frau die einzige fortschrittliche Tat seines ganzen dämlichen Lebens. Er hat nicht mal versucht, mich zu verstehen.« Die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus, als könne er nicht umhin, es mir zu erzählen.

»Ach, Finn.« Eine blöde Reaktion, aber ich weiß nicht, wie ich ihn aufmuntern soll. Verdammt, schließlich kenne ich ihn erst seit einer Stunde.

»Ich wollte nicht die Uni wechseln, also habe ich mich mit Jobs eingedeckt, um die Studiengebühren bezahlen zu können. Aber jetzt falle ich in allen Kursen durch, weil ich so viel arbeiten muss. Also war der Plan wohl nicht gerade perfekt.«

Er wendet die Pancakes. Der Geruch ist einfach himmlisch. Wenigstens etwas.

»Was hat deine Mutter denn dazu gesagt?«, frage ich.

»Nicht viel. Was echt enttäuschend ist. Sie hasst mich zwar nicht so wie mein Vater, aber sie stellt sich auch nicht gegen ihn. Also scheiß auf die beiden, würde ich sagen.«

Ich nicke bloß energisch, denn es kommt mir unhöflich vor, auch: »Scheiß auf sie«, zu sagen, da es Erwachsene sind, die ich nicht einmal kenne. Stattdessen höre ich mich sagen: »Meine Mutter ist im Frühjahr meines zweiten Highschool-Jahres an Krebs gestorben, und mein Vater drei Monate später bei einem Autounfall. Meine Schwester macht gerade eine Art Weltreise und hat nicht mal angerufen, um mir schöne Weihnachten zu wünschen.« Ich habe keine Ahnung, warum ich ihm das erzähle. Vielleicht haben solche Geständnisse etwas Ansteckendes.

»Jetzt lässt du mich und meine kleine Geschichte aber ziemlich lächerlich aussehen.«

»Ich denke nicht, dass sie lächerlich ist. Ich find sie echt scheiße.«

»Ich deine auch.«

Finn holt zwei Teller heraus und serviert die Pancakes in großen Stapeln, fünf für jeden von uns. Er bückt sich zum Kühlschrank und hält dann triumphierend eine Dose Sprühsahne hoch, wobei er mir einen fragenden Blick zuwirft.

»Aber hallo!« Ich bin fast beleidigt, dass er die Frage überhaupt stellt. Ganz offensichtlich kennt er mich nicht besonders gut. Noch nicht, denke ich.

Auf dem Weg zu den Tischen schnappen wir uns Besteck und stopfen uns Sirup-Päckchen in die Taschen. »Wo möchtest du sitzen?«, fragt er. Wir stehen am Kopfende der Mensa und sehen uns die leeren Tischreihen an.

»Da drüben.« Ich zeige auf einen runden Tisch in der hintersten Ecke, der normalerweise ständig besetzt ist, mit Gruppen von Freunden, die bei einem Kaffee lernen oder einfach nur zusammensitzen. Ausnahmsweise möchte ich das Gefühl haben, dazuzugehören. Auch wenn niemand sonst hier ist, der es sieht.

2 Finn

Weihnachten #6, 2013

Mein Handy vibriert auf dem Nachttisch.

Wer ruft so früh am Morgen an? Dabei weiß ich gar nicht, ob es wirklich früh ist, aber es fühlt sich so an, und ich habe nicht die Kraft, die Augen zu öffnen und nachzusehen. Also warte ich, bis die Mailbox angeht. Doch das Telefon fängt wieder an zu klingeln. Ich stöhne gequält. Ich bin so unfassbar verkatert, und mein Mund fühlt sich an, als hätte ich letzte Nacht eine ordentliche Portion Saharasand verputzt.

»Willst du nicht rangehen?«, fragt jemand mit vornehmem britischem Akzent hinter mir.

Oh, Shit. Ich habe gestern Abend wohl jemanden aus der Bar mit nach Hause genommen.

Das mache ich sonst nie.

Ich spule in meinem Gedächtnis zurück, um zu sehen, ob ich auch nur die leiseste Ahnung habe, wer der Mann in meinem Bett ist, wie er heißt oder ob irgendetwas zwischen uns gelaufen ist. Nö. Keinerlei Erinnerung.

Ich hebe das Laken an und spähe darunter, um zu sehen, ob ich bekleidet bin. Auch nö.

»Keine Sorge, ich war ein perfekter Gentleman. Wir haben bloß ein bisschen rumgeknutscht«, versichert mir der Typ in meinem Bett. »Na ja, ziemlich viel, wenn ich ehrlich bin.«

Ich bin nur für ein paar Sekunden erleichtert, dann bin ich beleidigt. Moment mal, ich bin ein echt guter Fang und nehme nicht jeden mit nach Hause. Warum würde er nicht mit mir schlafen wollen? Außerdem, warum bin ich splitternackt, wenn wir nur geknutscht haben?

»Du bist eingeschlafen«, fährt der Mann fort.

Na ja, das ist wiederum nicht so wahnsinnig attraktiv. Aber wenn ich eingepennt bin, warum ist er dann überhaupt geblieben? Das ist doch irgendwie auch creepy, oder nicht?

»Auf meinem Arm«, fügt er noch hinzu.

Okay … doch kein so guter Fang.

Bevor ich mich umdrehe, um einen Blick auf den geheimnisvollen Fremden zu werfen, schicke ich ein stilles Stoßgebet an den Schutzpatron der One-Night-Stands: Bitte sei nicht hässlich, bitte sei nicht hässlich.

Er ist alles andere als hässlich. Der geheimnisvolle Fremde liegt auf der Seite und hat beide Hände unter die Wange geklemmt. Seine Lippen umspielt ein verschmitztes Lächeln, als ob er das Ganze hier genießt. Eine widerspenstige dunkle Locke fällt ihm in die Stirn, und er streicht sie sich aus dem Auge. Dabei bemerke ich seinen ausgeprägten Bizeps.

Bei dem Gedanken, dass er mich auf ein Bett drückt, wird mir ganz heiß. Ist das passiert? Oder wünsche ich mir das nur?

Das nächste Problem ist, dass ich keine Ahnung habe, wie der Typ heißt, und meine beiden Mitbewohner sind über Weihnachten verreist, sodass ich niemanden habe, den ich ihm vorstellen könnte, um ihn dazu zu bringen, sich ebenfalls vorzustellen. Aber vielleicht ist das ja auch gut so. Evan und Bryce haben im Prinzip kein Problem damit, mit einem schwulen Mann zusammenzuwohnen, aber ich bin mir nicht sicher, wie cool sie es finden würden, einen halbnackten Übernachtungsgast in unserer Küche anzutreffen.

Mein Telefon beginnt wieder zu summen.

»Wenn jemand dreimal hintereinander anruft, bedeutet das meiner Erfahrung nach entweder, dass er sehr wütend ist oder dass jemand gestorben ist.« Der geheimnisvolle Fremde stützt sich jetzt auf seinem Ellbogen ab. Es scheint ihn brennend zu interessieren, was von beiden in diesem Fall zutrifft.

Ich drehe mich auf den Rücken und strecke mich, um das Handy vom Nachttisch zu fischen. Hannah. Ich habe gesagt, dass ich um zehn bei ihr sein würde. Wahrscheinlich bin ich schon zu spät dran.

»Hallo«, krächze ich ins Handy.

»Bist du unterwegs?«

»Was denkst du denn?«

»Los, steh auf und komm her. Es ist Weihnachten!« Offensichtlich hat Hannah die letzte Nacht nicht damit verbracht, in der Toolbox Wodka Sodas zu kippen. Sie klingt putzmunter. Ich brauche auf jeden Fall erst literweise Kaffee, um mit ihrem Enthusiasmus mithalten zu können.

»Okay, okay. Ich steh ja schon auf. Gib mir eine Stunde.« Das ist eine eklatante Lüge. Ich habe diese Strecke schon Dutzende, vielleicht Hunderte Male zurückgelegt – erst vier Blocks zu Fuß bis zur Linie sechs an der Hundertsechzehnten, dann fünfzehn Haltestellen bis Bleecker, an der Station Broadway-Lafayette umsteigen in die Linie F, zwei Haltestellen bis Essex und dann noch mal vier Minuten Fußweg bis zu Hannah. An einem guten Tag dauert das schon fünfundvierzig Minuten, aber nur wenn alle Züge planmäßig fahren, was am ersten Weihnachtsfeiertag nicht der Fall sein wird. Also bleiben mir nur fünfzehn Minuten, um zu duschen, mich anzuziehen und mich um den Fremden in meinem Bett zu kümmern.

»Eine Stunde in Finn-Zeitrechnung bedeutet drei normale Stunden«, motzt sie. Sie kennt mich einfach zu gut.

»Wenn du mich jetzt nicht duschen lässt, wird es noch länger dauern. Ich schick dir eine Nachricht, wenn ich unterwegs bin«, sage ich und beende das Gespräch.

»War das deine Mum?«, fragt der geheimnisvolle Fremde und blickt noch immer in Seitenlage auf mich herab. Ich traue mich nicht, den Kopf zu heben und das volle Ausmaß meines Katers zu spüren.

»Meine beste Freundin.«

»Aha«, meint er.

Der Kerl hat es offenbar überhaupt nicht eilig zu gehen, also werde ich deutlicher. »Du wirst doch bestimmt auch irgendwo erwartet. Schließlich ist Weihnachten.«

»Nö. Keine Pläne.«

Verdammt. Aber vermutlich sagt er die Wahrheit. Schließlich würde man sich an Heiligabend wohl nicht in einer Schwulenbar abschießen, wenn man eine liebevolle Familie hätte, die einen in aller Frühe zum Geschenkeauspacken erwartet. Oder vielleicht doch, was weiß ich?

»Verbringst du den Tag nicht mit deiner Familie?«, hake ich nach.

»Die ist im Ausland.«

»Dann eben mit deinen Freunden?«

»Die sind alle bei ihren Familien.« Er hat ein schelmisches Funkeln in den Augen, das mir nicht gefällt. Dieser Typ versteht nicht einmal den Wink mit dem Zaunpfahl. Dabei will ich einfach nur, dass er verschwindet, damit ich das Wasser direkt aus dem Wasserhahn im Bad trinken und mich unter die brühend heiße Dusche stellen kann.

Du kannst ihn an Weihnachten doch nicht allein lassen, sagt eine Stimme in meinem Hinterkopf. Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt für Gewissensbisse. Aber ich weiß, dass die Stimme recht hat. Ich weiß, wie schwer es ist, an Weihnachten ohne Familienanschluss zu sein, und ich kann selbst nicht glauben, was ich gleich tun werde …

»Du kannst mit mir und meinen Freunden feiern, wenn du willst.«

»Wunderbar, sehr gerne!« Er strahlt mich mit einem Lächeln an, das sich für eine Zahnpasta-Werbung eignen würde. Eindeutig Veneers. »Du hast mich eigentlich schon gestern Abend eingeladen, aber ich fand es unhöflich, anzunehmen, dass die Einladung noch steht, da du dich anscheinend nicht mehr an das Gespräch erinnern kannst.«

Ich stöhne und ziehe mir die Decke über den Kopf. Ist es möglich, vor Verlegenheit zu sterben? Denn jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt dafür. Ich warte eine Minute auf den Tod, für den Fall, dass das Universum mir diesen Gefallen erweist, aber es passiert nichts. Also setze ich mich auf und lehne mich mit dem Rücken an die Wand, die mir als Kopfteil dient.

Der Fremde macht es mir nach und richtet sich ebenfalls auf. Aus diesem neuen Blickwinkel fällt mir auf, dass er ein richtiges Sixpack hat. Aber ich starre nicht so lange hin, dass ich die einzelnen Bauchmuskeln zählen kann – das wäre sehr plump –, also könnte es auch ein Eightpack sein.

Der Mann wendet sich mir zu und streckt seine rechte Hand nach mir aus. Wird jetzt doch noch etwas zwischen uns laufen? Es ist ja nicht so, als würde Hannah wirklich glauben, dass ich in einer Stunde bei ihr sein werde. Vielleicht würde mich der morgendliche Sex auch von meinen Kopfschmerzen ablenken, die mittlerweile mit voller Wucht zugeschlagen haben. Solange er keinen Blowjob erwartet, denn das würde mein Würgereflex gerade nicht verkraften.

»Ich bin übrigens Theo. Falls du dich nicht mehr erinnern solltest.«

Oh, der einzige Körperkontakt, den der Unbekannte – der offenbar Theo heißt – mir anträgt, ist ein Händedruck. Verlegen ergreife ich seine Hand und schüttle sie.

Nachdem ich geduscht habe, fühle ich mich etwas menschlicher. Ich schätze das Risiko, mich zu übergeben, auf etwa fünfzig Prozent ein, was nicht super ist, aber nichts, was ein Frühstückssandwich nicht lösen könnte.

»¿Que lo que, jefe?«, begrüßt uns Ramón und blickt von seinem Sudoku auf, als wir die Bodega an der nächsten Straßenecke betreten. Aus den Lautsprechern dröhnt »Feliz Navidad«, und ich hätte bei der Lautstärke beinahe auf dem Absatz kehrtgemacht, aber mein Bedürfnis nach Kohlenhydraten und Fett überwiegt.

»Kann ich ein Sandwich mit Speck, Ei und Käse bekommen?«

»Und für deinen Freund?«

»Was möchtest du?«, frage ich Theo.

Er sieht verwirrt aus. »Gibt es eine Speisekarte?«

»Nein, das hier ist eine Bodega. Die haben so was wie Speck, Ei und Käse oder Ei und Käse, und ich weiß nicht … Bodega-Zeug eben.« Welcher New Yorker hat seine Bodega-Bestellung nicht wie aus der Pistole geschossen parat? Vielleicht ist er nur zu Besuch aus England.

»Ich nehm einfach das Gleiche«, verkündet Theo.

Ramón singt zur Musik mit, während er in einer kleinen Metallschüssel Rührei schlägt. Theo schaut ihm zu, und ich nutze die Gelegenheit, um ihn genauer zu betrachten, auch wenn er jetzt leider vollständig bekleidet ist. Seine Schuhe sind braun und ein wenig abgewetzt, aber aufgrund der Horsebit-Schnalle bin ich mir ziemlich sicher, dass sie von Gucci sind und kein Imitat aus der Canal Street, wie ich es trage. Mein Blick wandert an seinem Körper hinauf. Die Jeans ist dunkel und ohne Abnutzungserscheinungen. Ich versuche, die Marke seines ebenfalls braunen Gürtels festzustellen, aber die Schnalle ist schlicht und ohne Details, die auf den Designer schließen ließen.

»Starrst du … starrst du etwa auf meinen Schwanz?«, flüstert Theo kokett und unterbricht damit meine gedankliche Bestandsaufnahme seines Outfits.

»Nein! Ich hab nur … äh …«, stammle ich in Richtung der Zigarettenauslage hinter dem Tresen, die ich plötzlich sehr interessant finde. Zum Glück rettet mich Ramón, der gerade mit unseren Sandwiches zurückkommt. Er packt sie zusammen mit ein paar Servietten in eine Plastiktüte.

Draußen wartet ein schwarzer SUV auf uns. Ich habe die U-Bahn vorgeschlagen, aber Theo hat darauf bestanden, uns einen Wagen zu besorgen. Nachdem ich seine Schuhe gesehen habe, überrascht es mich nicht, dass er ein schickes schwarzes Auto springen lässt.

»Gib mir dein Handy, dann kann ich Hannahs Adresse eingeben«, schlage ich vor.

»Wir müssen vorher noch kurz bei mir vorbei, damit ich mich umziehen kann«, sagt er. »Ich kann keine neuen Leute in den Klamotten von gestern kennenlernen.«

Ich habe keine Energie für eine Diskussion. »Gut.«

Ich achte nicht darauf, wohin wir fahren. Stattdessen konzentriere ich mich ganz auf mein Sandwich, das meinen Kater mit jedem Bissen lindert. Als ich die Folie zerknülle und die Krümel von meinem Pullover wische, halten wir vor einem Backsteinhochhaus am Central Park West.

»Willst du schnell mit hochkommen?«, bietet er an.

Das ist auf jeden Fall besser, als hier mit dem Fahrer rumzusitzen. Noch bevor wir die Tür des Gebäudes erreicht haben, beginnt mein Handy in der Tasche zu vibrieren. Ich fische es heraus und sehe den Namen meiner Schwester auf dem Display.

»Ich komme gleich nach«, sage ich zu Theo.

Dann lehne ich mich an die Fassade des Gebäudes und ignoriere den bösen Blick, den mir der Portier zuwirft.

»Mandy!«, rufe ich mit dem ganzen Enthusiasmus aus, den ich in meinem verkaterten Zustand aufbringen kann.

»Ew! Ich bin nicht mehr Mandy, sondern Amanda.«

Mandy war elf, als ich das letzte Mal zu Hause war. Sie hatte eine Zahnspange mit lila Gummibändern (immer lila, das war ihr Ding) und war geradezu besessen von den Jonas Brothers. Genau genommen von Nick Jonas. Jetzt ist sie sechzehn und nennt sich offenbar Amanda. Ich habe zwar keine Ahnung, in wen sie aktuell verknallt ist, aber ich kann mich darauf verlassen, dass sie immer zu Weihnachten und an meinem Geburtstag anruft.

»Na dann, frohe Weihnachten, Amanda!«

»Dir auch. Erzähl mir, was du heute vorhast!«

Sie liebt es, von den Weihnachtsabenteuern zu hören, die Hannah und ich erleben. »Dieses Jahr haben wir keine großen Pläne. Wahrscheinlich schauen wir uns Filme an und gehen später noch was essen.«

Ich brauche nicht zu fragen, was sie vorhat. Ich bin mir sicher, dass sie sich wie immer um genau drei Uhr nachmittags zu einem formellen Familienessen einfinden wird. Truthahn (nie Schinken), Kohlgemüse, das berühmte Maisbrot meiner Mutter und Käsemakkaroni.

»Das klingt auf jeden Fall besser als hier. Onkel Owen bringt seine neue Freundin mit, und Mama behauptet, sie sei ordinär. Das ist ein Riesending.«

»Moment, Onkel Owen und Tante Carolyn haben sich getrennt?«

»Ja, schon vor einer Weile. Mom ist auf Tante Carolyns Seite, also hat sie sie auch eingeladen. Das wird super schräg.« Ein Kloß bildet sich in meinem Hals bei der Vorstellung, dass meine Mutter, die sich seinerzeit nicht für mich eingesetzt hat, nun meinem Vater die Stirn bietet und die Ex-Frau seines Bruders, die nicht einmal eine Blutsverwandte ist, zu Weihnachten einlädt. Mehr noch, ich kann nicht glauben, dass er ihr das erlaubt hat.

»Ist Mom da? Kann ich mit ihr sprechen?« Meine Mutter ruft mich zwar nie an, aber manchmal reicht Amanda ihr das Telefon weiter, und wir tauschen ein paar Minuten lang Belanglosigkeiten aus. Sie fragt nach meinen letzten Auditions und meiner Wohnung, aber nie nach meinem Liebesleben, und im Gegenzug informiert sie mich über den Klatsch und Tratsch aus der Nachbarschaft oder – in letzter Zeit verstärkt – über die Verlobungen und Hochzeiten meiner ehemaligen Mitschüler aus Highschool-Zeiten.

»Mom ist unten. Sie backt dieses Jahr drei verschiedene Maisbrote und ist total angespannt, weil Grandma Everett letztes Jahr eine Bemerkung darüber gemacht hat, dass das Maisbrot trocken sei.«

»Oh«, sage ich und achte darauf, meine Enttäuschung zu verbergen. »Dann sag ihr frohe Weihnachten von mir.«

»Mach ich. Aber jetzt muss ich Schluss machen, sie ruft mich zum Tischdecken. Hab dich lieb, Finny! Bye!«

Sie legt auf, ohne meine Verabschiedung abzuwarten.

Bevor ich ins Haus gehe, atme ich tief durch und versuche, die Gefühle, die der Anruf in mir ausgelöst hat, abzuschütteln. Ich weiß Amandas Anrufe wirklich zu schätzen, aber manchmal wäre es einfacher, so zu tun, als hätte ich gar keine Familie. Besonders an Tagen wie heute. Mit ihr zu reden, fühlt sich an, als würde man am Schorf einer Wunde herumzupfen, die nie ganz verheilt.

Der Portier in einer makellosen grauen Uniform öffnet mir die Tür, und ich betrete das holzgetäfelte Foyer des Gebäudes. Das einzige weihnachtliche Zugeständnis sind zwei imposante Säulen, die mit Tannengirlanden umwickelt und mit weißen Lichtern geschmückt sind. Nirgendwo auch nur eine einzige rote Glitzerkugel in Sicht, die die Dekoration etwas auflockern würde. Ich zucke zusammen, als ich das Quietschen meiner Stiefel auf dem Marmorfußboden höre, welches die sonst so unberührte Stille stört.

Hinter einem Empfangstisch sitzt ein weiterer uniformierter Portier, allerdings mit Weihnachtsmannmütze. Man sollte meinen, er wäre ein spaßiger Typ, aber mich hat wahrscheinlich noch nie jemand so finster angesehen wie er, als könnte er selbst nach meiner heißen Dusche den Wodka riechen, der aus meinen Poren dringt.

»Ich bin mit … ähm … Theo hier«, erkläre ich und hoffe inständig, dass er uns zusammen hat ankommen sehen, denn ich kenne Theos Nachnamen nicht und will nicht, dass er denkt, ich sei ein nach Wodka stinkender Penner, der bloß versucht, sich hier einzuschleichen. Er gestikuliert in Richtung der Aufzüge, ohne ein einziges Wort zu sagen.

Einen Moment lang bin ich erleichtert, bis mir klar wird, dass mir niemand gesagt hat, in welches Stockwerk ich fahren soll, geschweige denn in welche Wohnung ich muss. Ich will mich gerade wieder umdrehen, als sich die Fahrstuhltüren öffnen und ein dritter Portier (oder ist das ein Fahrstuhlführer?) darauf wartet, mich zu Theo hochzubringen. Er drückt auf einen Knopf, und wir stehen schweigend da, während der Aufzug hochsaust.

Oben angekommen öffnen sich die Aufzugstüren zum Eingangsbereich der schönsten Wohnung, die ich je gesehen habe. Die Wände sind mit roten Tapeten bedeckt, auf der Zebras durch die Luft hüpfen, was eigentlich eher aufdringlich oder kitschig wirken müsste, doch in Kombination mit dem klassischen schwarz-weißen Schachbrettboden wirkt der Raum freundlich und modern. An der Seite steht ein schwarzlackiertes Büfett mit zwei goldenen Lampen, die ein riesiges Arrangement aus weißen Pfingstrosen in Szene setzen. Haben Pfingstrosen überhaupt gerade Saison?

Ich war nicht auf eine Multimillionen-Dollar-Immobilie gefasst. Erst die Bauchmuskeln, dann die Schuhe und jetzt das? Mein Instinkt sagt mir, dass ich besser abhauen sollte. Ich kann genauso gut die Reißleine ziehen, bevor ich mich noch mehr blamiere. Theo ist ganz klar eine Nummer zu groß für mich.

Aber irgendwie kann ich mich nicht überwinden, kehrtzumachen und den Knopf zu drücken, um den Aufzug wieder zurückzurufen.

»Hallo?«, ruft Theo von irgendwo in der Wohnung.

»Hi! Ich bin’s«, antworte ich und schiebe dann noch »Finn« hinterher, weil er den Klang meiner Stimme wohl kaum kennt und ich nicht möchte, dass er mich für einen Einbrecher hält, der es auf seine Kunstwerke und Antiquitäten abgesehen hat. Ich will mir gar nicht erst ausmalen, wie der Wachdienst in diesem Gebäude so drauf ist. Aber ich schätze, jetzt gibt es kein Zurück mehr.

»Ich bin hier!«, ruft er.

Der Flur vor mir führt in ein Wohnzimmer. Als ich eintrete, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Der Raum hat eine Fensterfront mit einem atemberaubenden Blick auf den Central Park. Ich mache mir eine geistige Notiz, dass ich mir auf dem Weg nach draußen die Adresse merken muss, denn ich werde diese Wohnung auf der Immobilienplattform Zillow suchen müssen. Schwebende Regale bedecken eine der Wände vom Boden bis zur Decke. Sie sind mit kunstvoll arrangiertem Schnickschnack bestückt, der aussieht, als gehöre er zur Ausstattung der Wohnung. Kein einziges Buch oder gerahmtes Foto gibt Hinweise auf den Mann, der hier lebt.

Was muss Theo wohl von der Bruchbude gehalten haben, die ich meine Wohnung nenne?

Ich stehe in der Mitte des Raums, starre nach draußen und versuche mich fieberhaft daran zu erinnern, ob schmutziges Geschirr in meiner Spüle gestanden hat und in welchem Zustand mein Badezimmer war. In diesem Moment betritt Theo frisch angezogen den Raum. Er trägt eine neue Dark-Wash-Jeans und einen weich aussehenden waldgrünen Pullover. Die Farbe hebt seine Augen hervor, die, wie ich nun feststelle, ebenfalls grün sind. Der Pullover ist bestimmt aus Kaschmir, und ich verspüre den plötzlichen Drang, die Hand auszustrecken und ihn zu befühlen, aber das wäre echt strange. Also stecke ich meine Hände lieber in die Taschen und versuche, lässig zu wirken.

»Wie findest du’s?«, fragt Theo.

»Gut. Sehr gut. Yap!«, sage ich, als hätte ich Wortsuppe zum Frühstück gegessen, die mir nicht gut bekommen ist. »Kann ich kurz dein Bad benutzen?« Ich brauche ein bisschen, um mich wieder zu sammeln.

»Zweite Tür rechts.« Er deutet auf einen Flur am anderen Ende des Wohnzimmers.

Als ich mir ziemlich sicher bin, dass er mich nicht sehen kann, verlangsame ich meine Schritte, damit ich mich etwas umsehen kann. Der erste Raum auf der linken Seite ist ein Büro mit einem imposanten Mahagonischreibtisch in der Mitte. Über dem Schreibtisch ist ein Schwarm von Modellflugzeugen mit Angelschnur so an der Decke befestigt, dass es aussieht, als würden sie schweben.

Auch der Schreibtisch spricht Bände. Theo muss sowieso wichtig sein, um sich dieses Apartment leisten zu können. Ich fürchte mich vor dem Moment, in dem er mich fragen wird, was ich beruflich mache, und ich gestehen muss, dass ich ein arbeitsloser Schauspieler mit zwei ebenso wenig beeindruckenden Nebenjobs bin. Im ersten falte ich Hosen bei Banana Republic, und im zweiten beantworte ich Telefonanrufe bei der Actors’ Equity Association. Ich dachte, ein Job bei der Gewerkschaft der Theaterschauspieler würde mir einen Vorteil bei künftigen Auditions verschaffen, aber bis jetzt hat er mir nur ein enzyklopädisches Wissen über die Voraussetzungen für die Krankenversicherung der Gewerkschaft eingebracht. Meine einzige Hoffnung ist, dass wir dieses Thema bereits gestern Abend abgehakt haben und ich nur so klug war, es zu verdrängen, um meinem zukünftigen Ich die Peinlichkeit zu ersparen.

Gegenüber vom Büro befindet sich, dem neutralen Dekor nach zu urteilen, ein Gästezimmer. Die einzige weitere Tür im Flur führt ins Bad. Ich schlüpfe hinein und schließe hinter mir ab, bevor ich mich erschöpft auf den Marmorwaschtisch stütze.

Komm schon, Finn, reiß dich zusammen.

Ich bin viel zu dehydriert, um pinkeln zu müssen, also betrachte ich mich im Spiegel. Ich sehe müde aus.

Dann öffne ich den Hängeschrank in der Hoffnung auf eine magische Augencreme, die mich ganz wundersam taufrisch und ausgeruht erscheinen lassen wird – und dem heißen Monopoly-Typen im Nebenzimmer würdig. Seit Kurzem benutze ich die Augencreme von Mario Badescu und frage mich, welche Sorte Theo wohl benutzt – wahrscheinlich La Mer, so wie es hier aussieht. Doch der Medizinschrank ist bis auf Schmerztabletten leer. Ich nehme zwei davon mit einer Handvoll Wasser aus dem Hahn und beschließe, dass nun genug Zeit vergangen ist. Das Letzte, was ich will, ist, dass noch der Verdacht aufkommt, ich würde hier einen riesigen Haufen absetzen. Um den Schein zu wahren, betätige ich die Toilettenspülung und halte meine Hände unter den Wasserhahn.

Als wir um zwölf Uhr fünfundzwanzig vor Hannahs Haus in der Orchard Street halten und ihre Schätzung von drei Stunden damit um fünfundvierzig Minuten schlagen, bin ich ziemlich zufrieden mit mir.

Ich schließe die Haustür mit meinem Ersatzschlüssel auf, ein Überbleibsel aus der Zeit, als Hannah und ich hier zusammenwohnten. Wir hielten zwei Monate durch, bevor wir feststellen mussten, dass beste Freunde manchmal die schlechtesten Mitbewohner sind.

Theo keucht, als wir die mit grauem Linoleum ausgelegte Treppe zu Wohnung siebenundzwanzig hinaufsteigen, und ich bin froh, einen Beweis dafür zu haben, dass er wohl doch nicht ganz so perfekt ist. Als wir den fünften Stock erreicht haben, zögere ich. Soll ich klopfen oder meinen Schlüssel benutzen? Klopfen ist höflicher, da ich nicht allein bin.

Priya öffnet die Tür in einem pinken Sweatshirt, auf dem in glitzernden Buchstaben Sleigh the Patriarchy steht – ein weihnachtliches Wortspiel mit Niederschlagen und Schlittenfahren.

»Ach, du bist es! Warum hast du denn nicht deinen Schlüssel benutzt?« Sie wirft sich eine glänzend schwarze Haarsträhne über die Schulter und beugt sich vor, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. »Ach ja, und frohe Weihnachten, nebenbei!«

»Wer ist an der Tür?«, ruft Hannah aus der Küche.

»Ach, nur Finn«, antwortet Priya.

»Es ist immer schön, von meinen besten Freunden so herzlich empfangen zu werden.«

»Hast du deinen Schlüssel verloren?« Hannah kommt aus der Küche und wischt sich die Hände an ihrer ollen karierten Pyjamahose ab, die sie schon an dem Abend anhatte, an dem wir uns kennengelernt haben. Seitdem ist der Zustand der Hose nicht besser geworden, aber sie zieht sie trotzdem jedes Jahr zu Weihnachten an und besteht darauf, dass sie Teil der Tradition ist.

Hannah schaut an mir vorbei und bemerkt Theo.

Sie setzt ein seltsam demonstratives Lächeln auf und nimmt Haltung an, als wäre sie eine Marionette, deren Puppenspieler die Fäden plötzlich straffzieht. »Oh, du hast jemanden mitgebracht!«

»Theo, das sind meine sehr unhöflichen Freundinnen Priya und Hannah.«

»Freut mich, euch kennenzulernen. Danke, dass ich in eure heutigen Pläne hineinplatzen darf. Als kleine Entschädigung habe ich das hier mitgebracht.« Theo zieht eine gelbe Geschenkverpackung von Veuve Clicquot aus einer Stofftasche, die mir bis jetzt noch gar nicht aufgefallen war, und überreicht sie Priya.

»Wie nett von dir.« Hannah nimmt Priya den Karton mit dem Champagner ab, damit sie ihn ebenfalls begutachten kann. Ich bin mir sicher, dass dies die beste Flasche Alkohol ist, die es je in dieser Wohnung gegeben hat. Wir machen Mimosas normalerweise mit Sekt von André, manchmal sogar mit Cook’s, aber nur, wenn jemand Geburtstag hat.

»Die stellen wir für später in den Kühlschrank«, sagt Hannah. »Finn, kommst du kurz mit in die Küche? Ich brauche deine Hilfe, um heiße Schokolade zu machen.«

Hannah ist eine schreckliche Köchin, aber selbst sie braucht keine Hilfe, um heiße Schokolade aus einer Fertigpackung zu machen. Offensichtlich ist sie ziemlich angepisst. Priya führt Theo durch den Flur, der mit Hannahs Sammlung von Tourplakaten gesäumt ist, ins Wohnzimmer und löchert ihn mit Fragen darüber, wie wir uns kennengelernt haben und woher aus England er kommt.

»Wer ist das?«, flüstert Hannah, als wir allein in ihrer Küche stehen, die die Größe einer Polly-Pocket-Schatulle hat. Ihre Frage klingt nicht kokett (Oh, wer ist denn der neue Mann an deiner Seite?), sondern eher nach: Wer ist dieser Fremde, und was hat er in meinem Haus verloren?

»Das ist eine lange Geschichte.« Ich nehme den Wasserkessel vom Herd und fülle ihn an der Spüle auf.

»Na, dann lass mal hören. Du hast jemanden zu Weihnachten mitgebracht! Seid ihr zusammen?«

»Nein.«

»Ihr habt die gleichen Pullis an. Ihr seht aus, als wärt ihr einem verdammten J.Crew-Katalog entsprungen.« Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Und wir tragen nicht die gleichen Pullover, sie sind bloß farblich aufeinander abgestimmt. Meiner ist rot und Theos grün. Aber mir ist klar, dass es nichts besser machen würde, wenn ich sie korrigiere.

Stattdessen platze ich heraus: »Du hast letztes Jahr doch auch Priya mitgebracht!«

»Sie wohnt hier!«

Ich weiß, ich hätte vorher fragen sollen, aber Hannah bauscht die Sache unnötig auf. Außerdem versperrt sie mir den Weg zum Herd, also flüsterschreie ich: »Tja, ich kann ja wohl auch mal jemanden mitbringen«, während ich einen sonnengelben Teekessel mit Gänseblümchen in der Hand halte, der eindeutig Priya gehört, was, wie ich fürchte, meine Ernsthaftigkeit untergräbt.

»Du kannst keine einseitigen Entscheidungen über Weihnachten treffen. Weihnachten ist unser Ding. Und wir haben vorher besprochen, dass wir Priya einladen!« Hannah holt tief Luft und fasst sich wieder. »Ich hab ja nicht gesagt, dass du niemanden mitbringen darfst. Ich habe bloß gefragt, wer das ist«, sagt sie in einem gemäßigteren Ton.

»Ich habe ihn gestern Abend aus einer Bar mit nach Hause genommen, und er hatte heute noch nichts vor, also habe ich ihn eingeladen. Zufrieden?«

Sie zuckt zurück, als hätte man ihr eine Ohrfeige verpasst. »Also kennst du ihn gar nicht. Ist er ein Streuner? Hat er kein Zuhause, oder wie?«

»Euch ist schon klar, dass wir euch hören können, oder?«, ruft Priya aus dem Wohnzimmer.

Hannah schlägt die Hände vor den Mund, und wir tauschen einen entsetzten Blick aus, bevor sie aus der Küche stürmt und so schnell um die Ecke biegt, dass ihre Socken über den Parkettboden rutschen.

»Es tut mir so leid«, sagt sie an Theo gewandt. »Wirklich, ich hab es nicht böse gemeint. Wir sind alle Streuner. Ich bin eine Streunerin, Finn ist ein Streuner. Ich schätze, Priya ist nicht wirklich eine Streunerin, aber sie ignoriert die meisten Anrufe ihrer Mutter.«

»Hey, lasst mich aus dem Spiel!«, protestiert Priya.

»Es tut mir so, so, so leid«, beteuert Hannah erneut.

»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich verstehe vollkommen, dass du überrumpelt bist, wenn ein Fremder unangekündigt in deiner Wohnung auftaucht, und das auch noch an Weihnachten. Vielleicht sollte ich besser gehen …«

»Nein!«, schreien Hannah und ich gleichzeitig.

»Bitte geh nicht«, schiebt Hannah hinterher.

»Ich würde vorschlagen, ich drehe eine Runde um den Block, und ihr besprecht das erst mal in Ruhe.«

Das ist wahrscheinlich seine Art, einen höflichen Abgang zu machen. Er wird auf keinen Fall zurückkommen. Für ihn wird das Ganze nichts weiter als eine Anekdote sein, die er bei Cocktails und Canapés seinen reichen Freunden erzählen kann: »Nicht zu glauben, wie unhöflich diese Normalos waren!« Ich stelle mir vor, wie er das sagt, während jemand namens Mitzi oder Bitsy vor sich hin kichert.

Theo steht von der beigen Ikea-Couch auf, und mir rutscht das Herz in die Hose. Ich fische meinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und drücke ihn Theo in die Hand. Vielleicht bringt ihn ja ein kleines Pfand dazu, wiederzukommen. »Hier, nimm meine Schlüssel«, platze ich heraus, »damit du wieder ins Gebäude kommst. Es sind die beiden silbernen.«

»Okay.« Theo schlüpft in seinen Mantel.

Gedrücktes Schweigen senkt sich über den Raum, während wir seinen Schritten lauschen. Als die Wohnungstür hinter ihm zufällt, fragt Priya: »Glaubst du, er kommt zurück?«, und Hannah fragt gleichzeitig: »Hast du mit ihm geschlafen?«

»Nein«, antworte ich.

»Nein, was?«, hakt Hannah nach.

»Beides. Wahrscheinlich sitzt er schon in einem Taxi nach Uptown. Wie konnte ich nur so bescheuert sein, ihm meine Schlüssel zu geben? Jetzt muss ich hier schlafen, bis Evan aus Maryland zurückkommt, und ich habe nicht mal Wechselklamotten dabei.« Ich stütze meinen Kopf in die Hände und stoße ein langgezogenes »Fuuuck« aus.

Ich stehe in der Küche und bereite drei Tassen heiße Schokolade mit Pfefferminzschnaps zu. Mein Kopf pocht wieder nach der kurzen Atempause, die die Schmerztabletten mir verschafft hatten, und mit Theo habe ich es total vermasselt. Das kann ja ein tolles Weihnachten werden. Ich bin gerade dabei, die drei Tassen ins Wohnzimmer zu tragen, als ich höre, wie sich ein Schlüssel im Schloss umdreht.

Ich eile in die Diele, um ihn abzufangen.

»Du bist zurückgekommen«, flüstere ich staunend. So muss sich Noodle, der Schnauzer aus meiner Kindheit, gefühlt haben, wenn wir sonntags aus der Kirche nach Hause kamen, nachdem er überzeugt gewesen war, dass wir ihn endgültig verlassen hatten. Aber im Gegensatz zu Noodle habe ich niemandem in den Schrank gepinkelt, um meinem Unmut darüber Luft zu machen.

»Natürlich bin ich zurückgekommen. Ich habe doch deinen Schlüssel«, sagt Theo.

»Aber wir haben uns ganz furchtbar verhalten.«

»Ach was, ich kenne furchtbares Verhalten. Ihr wart höchstens etwas unhöflich.«

»Willst du gleich wieder los?«, erkundige ich mich.

»Willst du denn, dass ich gehe?«

»Nein.«

»Dann bleibe ich«, sagt Theo.