Der Code - Fredrik T. Olsson - E-Book

Der Code E-Book

Fredrik T. Olsson

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In Amsterdam fällt die junge Sumerologin Janine Haynes einem Verbrechen zum Opfer. Zur gleichen Zeit ermorden drei als Sanitäter getarnte Unbekannte in Berlin einen Obdachlosen. Und in Stockholm verschwindet der Kryptologe und Software-Experte William Sandberg spurlos aus seinem Klinikbett. Seine Ex-Frau Christiane will nicht an eine eigenmächtige Flucht glauben. Denn in seinem leer geräumten Appartement , entdeckt sie einen Gegenstand, den er nie zurücklassen würde. Sehr schnell gibt es keinen Zweifel mehr, dass William entführt wurde. Und dass es um die Entschlüsselung einer Botschaft geht, die in der DNA des Menschen verborgen liegt ... – »Der Code«, ein so intelligenter wie mitreißender Thriller über das Lüften eines jahrtausendealten Geheimnisses. Ein Thriller, wie es ihn noch nie gegeben hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Slutet på kedjan« im Verlag Wahlström & Widstrand, Stockholm.

Übersetzung aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

2. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96737-2

© Fredrik T. Olsson 2014 Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2014 Published by arrangement with Partners in Stories Stockholm AB, Sweden Covergestaltung und -illustration: Cornelia Niere, München Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Prolog

Als sie den Mann in der Gasse erschossen, war es schon zu spät.

Er war knapp über dreißig, mit Jeans, Hemd und einer Windjacke bekleidet. Für diese Jahreszeit war er viel zu dünn angezogen, aber frisch geduscht und halbwegs satt – das hatten sie ihm versprochen, und sie hatten es auch gehalten. Doch niemand hatte ihm gesagt, was danach passieren würde.

Keuchend blieb er zwischen den Steinfassaden hinter dem alten Postamt stehen. Im Rhythmus seiner Atemzüge stiegen dünne Dampfwolken in der Dunkelheit auf. Er spürte eine leise Panik, weil die Gitterpforte am Ende der kurzen Querstraße verschlossen war. Dieses Risiko war ihm bewusst gewesen, aber er hatte es in Kauf nehmen müssen. Jetzt stand er hier, ohne einen Fluchtweg, während sich von hinten das Rascheln der drei Warnwesten näherte.

Bereits vor einer Viertelstunde hatte die Nachricht die europäischen Tageszeitungen erreicht, versteckt im großen Datenstrom, drei knappe Zeilen über einen Mann, der um kurz nach vier in der Nacht zum Donnerstag mitten in Berlin tot aufgefunden worden sei. Dort stand nicht ausdrücklich, dass es sich um einen Obdachlosen und Drogenabhängigen handelte, aber dieser Eindruck entstand, wenn man die Kurzmeldung las. So war es auch bezweckt. Wer glaubhaft lügen wollte, sollte sich an die Wahrheit halten.

Aus Platzmangel würde die Notiz in den Ausgaben des nächsten Tages in einer Spalte zwischen anderen unbedeutenden Meldungen verschwinden. Die Nachricht war nur eine von vielen Sicherheitsmaßnahmen, und vermutlich war sie nicht einmal notwendig. Lediglich eine Erklärung, falls irgendein Außenstehender beobachten würde, wie man den leblosen Körper in der Dunkelheit barg, ihn zum Rettungswagen trug, die Hintertür mit Schwung zugleiten ließ und durch den feinkörnigen Eisregen mit rotierendem Blaulicht davonfuhr.

Jedoch nicht zu einem Krankenhaus.

Genau genommen würde man im Krankenhaus ohnehin nichts mehr ausrichten können.

In dem Rettungswagen saßen drei schweigende Männer, die hofften, dass sie rechtzeitig gekommen waren.

Aber so war es nicht.

1 – VIERERBASIS

Nichts würde mich je dazu bringen, Tagebuch zu schreiben.

Dinge geschehen. Die Zeit vergeht. Das Leben beginnt und nimmt seinen Lauf und sein Ende, und an dieser Sinnlosigkeit ändert sich gar nichts dadurch, dass man sie aufschreibt und anschließend betrachtet. Eines Tages ist alles vorüber, und eines weiß ich sicher – wenn die Welt zusammenbricht, wird kein Schwein lesen wollen, was ich an einem Montag im März gemacht habe.

Nichts würde mich je dazu bringen, Tagebuch zu schreiben.

Mit einer Ausnahme:

Wenn ich wüsste, dass es bald niemanden mehr geben wird, der es lesen kann.

Dienstag, der 25.November.

In der Luft liegt Schnee.

1   Die Polizisten hatten nur Sekunden gebraucht, um die verzierten Flügeltüren zur Wohnung aufzubrechen, indem sie die bleigefassten Fensterscheiben einschlugen, hindurchgriffen und die Tür von innen öffneten.

Was Zeit in Anspruch nahm, war das dahinterliegende Eisengitter. Es war schwer, mit einem Sicherheitsschloss versperrt und vermutlich irrsinnig teuer gewesen – und das Einzige, was sie jetzt noch daran hinderte, in die Wohnung zu gelangen und dem Mann mittleren Alters zu helfen, der sich den Angaben zufolge darin befand.

Wenn er überhaupt noch am Leben war.

Der Anruf war am frühen Vormittag bei der Polizei in Norrmalm eingegangen, und in der Zentrale hatte man einige Zeit verstreichen lassen, während man sich vergewisserte, ob die Anruferin glaubhaft und nüchtern war und es ernst meinte. Ob sie den Mann kenne? Ja, das tue sie. Ob er sich möglicherweise woanders aufhalte? Nein, das sei undenkbar. Wie lange sie ihn schon vermisse? Noch nicht lange, erst gestern Abend hätten sie miteinander telefoniert, und er sei sehr verschlossen gewesen und habe immer wieder vom Thema abgelenkt. Und das habe sie erschreckt – wenn er jammerte, könne sie das einschätzen, aber diesmal sei er tapfer gewesen und habe sich bemüht, möglichst positiv zu klingen, und sie habe nicht genau feststellen können, woran das lag. Es schien, als hätte er etwas zu verbergen. Und als sie an diesem Vormittag angerufen habe und er nicht ans Telefon gegangen sei, habe die Einsicht sie schlagartig getroffen: Diesmal hatte er es wirklich getan.

Die Frau hatte ihr Anliegen wohlartikuliert und präzise formuliert, und nachdem sie den Mann in der Zentrale endlich überzeugt hatte, alarmierte dieser eine Streife und den Rettungswagen und nahm das nächste Gespräch an.

Schon als die ersten Beamten vor Ort eintrafen, stellten sie fest, dass die Frau vermutlich recht hatte. Die Eingangstür war abgeschlossen. Hinter dem gefärbten Glas zeichnete sich das Gitter wie ein verschwommenes Muster ab. Aus der Wohnung drang leise klassische Musik und mischte sich mit dem Plätschern von Wasser, das vermutlich gerade aus einer Badewanne überlief.

Ein ziemlich schlechtes Zeichen.

Zwei Stufen unter dem Absatz in dem eleganten Treppenhaus stand Christina Sandberg, den Blick starr durch das schwarz lackierte Stahlgitter des Aufzugschachts gerichtet, gebannt von jeder Bewegung dort drüben an der Eingangstür zu jener Wohnung, in der sie einmal gewohnt hatte.

Gelb glühende Metallspäne regneten vom Schneidbrenner des Schlossers hinab, während er das verdammte Eisengitter bearbeitete, gegen das sie sich so lange gewehrt hatte, bis sie nach jenem alles verändernden Abend gezwungen gewesen war, ihm zuzustimmen. Also hatten sie es einbauen lassen – um sich zu schützen. Und heute würde es womöglich seinen Tod bedeuten. Wäre sie nicht so schrecklich besorgt, dann wäre sie schrecklich wütend.

Hinter dem Schlosser standen vier Polizisten, die beherrscht von einem Bein aufs andere traten, weil sie darauf warteten, etwas unternehmen zu können, dahinter zwei ebenso rastlose Rettungssanitäter. Anfangs hatten sie nach ihm gerufen – »William!«, hatten sie gerufen, »William Sandberg!« –, doch es kam keine Antwort, und schließlich hatten sie es aufgegeben und stumm den Schweißbrenner seine Arbeit tun lassen.

Und Christina konnte nur zusehen.

Sie war als Letzte eingetroffen. Hatte zuvor hastig ihre Jeans und ihren Wildledermantel angezogen, ihre diskret blondierten Haare zu einem Zopf zusammengebunden und war ins Auto gesprungen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits mehrfach versucht, ihn zu erreichen, das erste Mal direkt nach dem Aufstehen, das zweite Mal auf dem Weg in die Dusche und dann noch einmal, bevor sie ihre Haare geföhnt hatte. Anschließend hatte sie bei der Polizei angerufen und eine Ewigkeit gebraucht, um den Mann in der Zentrale von dem zu überzeugen, was sie längst wusste. Was ihr tief in ihrem Inneren schon beim Aufwachen klar gewesen war, sie aber genauso zu verdrängen versucht hatte wie das schlechte Gewissen, das sie stets überkam, sobald sie miteinander telefonierten.

Eigentlich hasste sie sich dafür, dass sie den Kontakt mit ihm noch immer hielt. Ihn hatte es schwerer getroffen als sie, nicht weil sie weniger trauerte, sondern weil er sich der Trauer mehr hingab, und selbst nach zwei Jahren der Grübeleien und Diskussionen und Überlegungen über das »Warum« und das »Was wäre, wenn« ergab sich heute noch das gleiche Bild. Ihr wurde die große Ehre zuteil, ihrer beider Trauer zu verarbeiten plus eine Extraportion Schuldgefühle zu bewältigen, und diese Verteilung fand sie ungerecht.

Aber das Leben war nicht gerecht.

Wenn es das wäre, würde sie jetzt nicht hier stehen.

Schließlich gab das Gitter nach, und die Polizisten und Sanitäter stürmten vor ihr in die Wohnung, und dann geriet die Zeit aus den Fugen. Die Rücken verschwanden den langen Flur hinunter, und nach einer unerträglichen Anzahl von Sekunden oder Minuten oder Jahren hörte sie, wie dort drinnen die Musik ausgestellt wurde, danach das Wasser, und anschließend war es vollkommen still, und so blieb es auch.

Bis sie endlich wieder herauskamen.

Ihrem Blick auswichen, während sie sich um die Ecke schoben, aus dem Flur heraus, über den schmalen Absatz am Aufzug vorbei, um die steile Kurve des runden Treppenaufgangs, ohne gegen die teuren, mit Stuck versehenen Wände zu stoßen, und dann hinuntergingen, schnell, aber vorsichtig, behutsam und doch eilig.

Christina Sandberg presste sich gegen das Stahlgitter des Aufzugs, um die Trage durchzulassen, die zu dem auf dem Bürgersteig wartenden Rettungswagen transportiert wurde.

Darauf lag, mit einer glänzenden Sauerstoffmaske aus Plastik, der Mensch, den sie einmal ihren Mann genannt hatte.

William Sandberg wollte eigentlich nicht sterben.

Oder besser gesagt: Es war nicht seine erste Wahl.

Lieber wollte er leben, es sich gut gehen lassen, ein annehmbares Leben führen, wollte das Vergessen lernen, einen Grund finden, jeden Morgen aufzustehen und sich anzuziehen, und etwas tun, was eine Bedeutung hatte.

Eigentlich brauchte er nicht einmal all das. Ein kleiner Teil davon hätte schon gereicht. Er wünschte sich lediglich einen Anlass, um nicht mehr an das zu denken, was so sehr schmerzte. Den hatte er allerdings nicht bekommen, und die einzige Alternative auf seiner Liste bestand darin, allem ein Ende zu bereiten.

Offenbar war ihm nicht einmal das geglückt.

»Wie geht es Ihrem Körper?«, fragte die junge Krankenschwester, die vor ihm stand.

Er saß bereits halb aufgerichtet unter dem steifen gemangelten Bettzeug, auf altmodische Weise gebettet, mit einem weißen Laken, das um eine gelbe Klinikwolldecke geschlagen war, als würde man in der Krankenpflege noch immer die Erfindung des Bettdeckenbezugs leugnen.

Er sah sie an. Versuchte zu verbergen, wie sehr ihn das diffuse Unbehagen über all die Gifte plagte, die sich noch immer in seinem Körper befanden.

»Schlechter, als Sie es sich wünschen«, sagte er. »Besser, als ich es mir vorgestellt hatte.«

Darüber lächelte sie, was ihn verwunderte. Sie war höchstens fünfundzwanzig, blond und außerdem sehr niedlich. Vielleicht lag das aber auch nur an dem sanften Gegenlicht, in dem sie vor dem Fenster stand.

»Scheint so, als wäre die Zeit diesmal noch nicht reif gewesen«, erwiderte sie. Sie sagte es ungerührt, fast im Plauderton, und auch das erstaunte ihn.

»Es wird nicht die letzte Chance gewesen sein«, meinte er.

»Das ist doch gut«, entgegnete sie. »Man sollte immer optimistisch bleiben.«

Ihr Lächeln war perfekt abgewogen: breit genug, um die Ironie in ihren Antworten zu unterstreichen, aber nicht so breit, dass es den trockenen Humor zwischen ihnen zerstört hätte. Und plötzlich hatte er keine Antwort mehr parat und wurde von dem unangenehmen Gefühl beschlichen, dass das Gespräch nun vorüber war und sie gewonnen hatte.

Einige Minuten lag er schweigend da und beobachtete sie bei der Arbeit. Routinierte Bewegungen, ein vorgegebenes Schema: Der Tropfbeutel musste gewechselt werden, die Menge reguliert, Werte notiert und in der Krankenakte vermerkt werden. Es war eine stille Effektivität, und irgendwann begann er zu überlegen, ob er das Gespräch womöglich missverstanden hatte und sie in Wirklichkeit überhaupt nicht mit ihm gescherzt hatte.

Schließlich hatte sie alle Aufgaben erledigt. Richtete nur noch pflichtschuldig sein Laken, ohne eine Veränderung zu bewirken, und hielt dann inne.

»Machen Sie bloß keine Dummheiten, wenn ich weg bin«, sagte sie. »Solange Sie noch hier sind, bescheren Sie uns damit nur unnötig Arbeit.«

Sie zwinkerte ihm zum Abschied freundschaftlich zu, schlüpfte in den Flur hinaus und ließ den Kugeldruckmechanismus die Tür schließen.

William blieb im Bett zurück und fühlte sich unangenehm berührt. Nicht, weil es einen triftigen Grund dafür gab. Er war lediglich unangenehm berührt. Warum? Weil sie nicht in dem behutsamen Tonfall mit ihm gesprochen hatte, über den er sich gern geärgert hätte? Oder weil ihre trockenen Kommentare so überraschend gekommen waren, dass er es sich für einen Augenblick erlaubt hatte, herausgefordert, ja beinahe amüsiert zu sein?

Nein.

Es dauerte einen Moment, ehe er es wusste.

Er schloss die Augen. Biss die Zähne zusammen.

Es war der Humor. Genau derselbe Humor.

All das hätte sie exakt genauso gesagt.

Plötzlich störte ihn dieses unbestimmte Surren von all den Giften in seinem fünfundfünfzigjährigen Körper überhaupt nicht mehr, genauso wenig wie der brennende Schmerz von der Schnittwunde unter der Gazebinde, mit der man seine Handgelenke verbunden hatte. Stattdessen plagte ihn etwas anderes. Jenes Gefühl, das ständig zurückkehrte und ihn immer, wenn er es verdrängte, mit doppelter Wucht traf, das Gefühl, das ihn gestern dazu veranlasst hatte, ins Badezimmer zu gehen und eine endgültige Entscheidung zu treffen. Zum wievielten Mal, das konnte er selbst nicht mehr sagen.

Denn er hatte damals die Zeichen nicht deuten können.

Anders konnte er es nicht formulieren, so ironisch es auch klingen mochte. Ausgerechnet er. Konnte die Zeichen nicht deuten.

Verflucht.

Er hätte die Schwester um ein Beruhigungsmittel bitten sollen. Oder etwas Schmerzstillendes oder Valium oder noch besser einen Kopfschuss, aber mit Letzterem konnte sie ihm wohl nicht dienen.

Er befand sich an derselben Stelle wie gestern Abend: dieser endlose Fall durch die dunkle Röhre, die kein Ende nehmen wollte, diese destruktive Sehnsucht danach, wenigstens den Boden zu erreichen und sich hoffentlich erfolgreich umzubringen und all die Gedanken loszulassen, die immer wieder die Kontrolle über ihn erlangten. Die ihm kleine Hoffnungsmomente schenkten, nur um ihn anschließend wieder mit voller Kraft zu ohrfeigen und ihm zu zeigen, dass sie die Macht hatten, nicht er.

Er streckte sich nach dem Kabel, das an der Wand hing, und zog den tubenförmigen Knopf zu sich heran, um Hilfe zu rufen. Er hoffte, dass nicht dieselbe Schwester zurückkommen würde, es wäre eine ärgerliche Niederlage, wenn er sich vor ihr von einem bissigen und eloquenten Patienten in einen Jammerlappen verwandeln musste, der sie um ein Schlafmittel anbettelte. Aber wenn er dadurch ein wenig Ruhe fand, war es ihm das trotzdem wert.

So dachte er und drückte auf den Knopf.

Zu seinem Erstaunen ertönte jedoch kein Signal.

Er drückte noch einmal darauf, diesmal länger.

Wieder nichts.

Vielleicht war das logisch, redete er sich ein. Schließlich klingelte er nicht nach sich selbst. Es reichte ja, wenn der Alarm im Schwesternzimmer ertönte, damit jemand nach dem Rechten sah.

Dann fiel sein Blick auf die Alarmleuchte an der Wand, aus der das Kabel mit dem Schalter herauskam. Müsste denn nicht wenigstens sie blinken? Wenn er schon kein Signal hörte, sollte dann nicht die Lampe leuchten, um ihm zu zeigen, dass er richtig gedrückt hatte?

Erneut betätigte er den Ruf. Und noch einmal. Doch nichts passierte.

Er war so sehr von der defekten Alarmfunktion abgelenkt, dass er vor Schreck zusammenzuckte, als die Tür aufging. Blinzelnd schaute er hinüber und versuchte sich zwischen Angriff und Verteidigung zu entscheiden: Sollte er darüber schimpfen, dass die Lampe kaputt war, oder sich entschuldigen, weil er so hysterisch geklingelt hatte?

Weiter kam er nicht, ehe sich seine Augen an das Gegenlicht gewöhnt hatten und beide Alternativen verpufften.

Der Mann, der jetzt am Fußende des Betts stand, war weder Arzt noch Krankenpfleger. Er trug einen Anzug und ein Hemd, aber keine Krawatte, und ein paar grobe Stiefel, die im Vergleich zu seiner übrigen Kleidung überproportioniert wirkten. Vermutlich war er um die dreißig, obwohl sich das Alter von kahl geschorenen Männern immer schwer schätzen ließ, vor allem, wenn ihre Körperhaltung so eindeutig verriet, wie durchtrainiert sie waren.

»Sind die für mich?«, fragte William, weil ihm nichts Besseres einfiel.

Er deutete mit einem Nicken auf die Blumen, die der Anzugträger in den Händen hielt, und der blickte auf den Strauß hinab, als hätte er sein Präsent noch gar nicht wahrgenommen. Er antwortete nicht und warf die Blumen achtlos ins Waschbecken. Sie waren nur eine Tarnung gewesen, um sich unauffällig durch die Korridore vorzuarbeiten.

»William Sandberg?«, fragte er.

»Um eine Haaresbreite nicht mehr«, antwortete William. »Aber ja.«

Die ganze Situation war äußerst merkwürdig, und William spürte allmählich eine innere Anspannung. Der Mann, der weder Arzt war noch ein Bekannter, blieb schweigend stehen, während sie sich gegenseitig musterten. Sich gegenseitig taxierten, so schien es, obwohl William von seinem Krankenlager aus schwerlich Widerstand hätte leisten können.

»Wir haben versucht, Sie zu erreichen«, sagte der Fremde schließlich.

Ach ja? William versuchte nachzuvollziehen, was der Mann meinte. Er konnte sich nicht entsinnen, dass ihn in letzter Zeit irgendjemand kontaktiert hatte, andererseits war er sich auch nicht sicher, ob er es in diesem Fall überhaupt bemerkt hätte.

»Ich musste über einige Dinge nachdenken.«

»Das haben wir verstanden.«

Wir? Was zum Teufel war das hier?

William richtete sich ein wenig auf und rang sich ein trockenes Lachen ab.

»Ich würde Ihnen ja gern etwas anbieten, aber man ist hier nicht so großzügig mit dem Morphium, wie ich gehofft hatte …«

»Wir werden Ihre Hilfe benötigen.«

Das kam plötzlich, ein wenig zu schnell, und in der Stimme des Mannes schwang etwas mit, das William dazu brachte, seinen Widerstand für einen Moment aufzugeben. Der Jüngere sah ihn mit einem Blick an, der nach wie vor fest wirkte, aber doch mehr offenbarte. Dringlichkeit. Vielleicht sogar Furcht.

»Dann bin ich die falsche Person für Sie, glaube ich«, sagte William und machte eine resignierte Geste. Jedenfalls so gut es ging. Der Tropfschlauch und die Kabel des EKGs schränkten seine Bewegungsfähigkeit ein, und das verstärkte nur umso mehr, was er hatte sagen wollen: William Sandberg war kaum dazu in der Lage, irgendjemandem bei irgendetwas behilflich zu sein.

Aber der durchtrainierte Mann schüttelte den Kopf.

»Wir wissen, wer Sie sind.«

»Und was heißt wir?«

»Das ist nicht wichtig. Wichtig sind Sie. Wichtig ist das, was Sie können.«

Das Gefühl, das sich in Williams Körper ausbreitete, war vertraut und doch unerwartet. Mit einem solchen Gespräch hätte er vor zehn Jahren gerechnet oder eher vor zwanzig. Dann wäre er darauf vorbereitet gewesen. Aber heute?

Der Mann am Fußende des Bettes sprach ausgezeichnet Schwedisch, aber irgendwo im Hintergrund schwang ein leiser Akzent mit. Zu versteckt, um ihn einzuordnen. Aber es war definitiv ein Akzent.

»Von wem kommen Sie?«

Der Jüngling sah ihn an. Mimte Enttäuschung. Als müsste William einsehen, dass er darauf keine Antwort erhalten würde, und als wäre die Frage unter seinem Niveau.

»Von der Sicherheitspolizei? Vom Militär? Von einer fremden Macht?«

»Tut mir leid. Das kann ich nicht sagen.«

»Gut«, meinte William. »Dann richten Sie doch bitte unbekannterweise schöne Grüße und besten Dank für die Blumen aus.«

Er sagte es in einem abschließenden Ton: Das Gespräch war beendet, und um das zu unterstreichen, hob er erneut das Kabel mit dem Signalknopf. Drückte mit dem Daumen darauf, lange, den Blick auf den jungen Mann gerichtet, um zu demonstrieren, für wie außerordentlich beendet er das Gespräch hielt. Doch auch diesmal passierte nichts.

»Wenn es funktionieren würde, hätten Sie es an der Lampe gesehen«, erklärte der Mann.

Unerwartet. William schaute ihn an.

Ein weiterer Augenblick verging damit, dass sie mit Blicken ihre Kräfte maßen, und dann ließ William das Kabel los, sodass es auf seinen Bauch fiel, quer über die gelbe Klinikdecke.

»Ich bin fünfundfünfzig«, sagte er. »Ich habe schon seit mehreren Jahren nicht mehr gearbeitet. Ich bin wie eine alte Festung: Vor langer Zeit war ich einmal wichtig, heutzutage bin ich nutzlos und verfalle.«

»Meine Chefs sind zu einer anderen Einschätzung gekommen.«

»Und wer sind Ihre Chefs?«

Er fragte es mit scharfer Stimme. Inzwischen war er das Gespräch leid, er wollte endlich seine Schlaftabletten haben und für eine Weile abtauchen, anstatt mit diesem muskelbepackten Welpen Kalter Krieg zu spielen.

Doch es war der Jüngling, der das Gespräch schließlich beendete.

»Es tut mir leid«, sagte er noch einmal. Seufzte bedauernd, ehe er sein Gewicht verlagerte und sich umdrehte.

Um zu gehen, dachte William. Das merkwürdige Ende einer merkwürdigen Begegnung.

Als der Mann die Tür zum Korridor öffnete, standen draußen allerdings zwei weitere Männer, die darauf warteten hereinzukommen. In der Hand des einen blitzte ein teurer Füllfederhalter.

Es war zehn Minuten nach eins, als das Ärzteteam durch die hallenden Flure der Intensivstation des Karolinska-Krankenhauses marschierte, um nach den Patienten zu sehen.

Den ersten Teil der Visite hatten sie ohne größere Überraschungen erledigt, und der nächste Patient war ein Mann, der versucht hatte, sich das Leben zu nehmen: eine Tablettenvergiftung und Schnittwunden an den Handgelenken. Kaum ein Grund für einen längeren Aufenthalt. Er hatte eine Bluttransfusion bekommen, um den Blutverlust auszugleichen und die hohe Medikamentenkonzentration in seinem Körper zu verdünnen, aber er war nicht in Lebensgefahr gewesen, als man ihn eingeliefert hatte, sodass er entweder zu wenig Pillen geschluckt oder einen der vielen riskanten Selbstmordversuche unternommen hatte, mit denen Menschen lediglich die Aufmerksamkeit ihrer Angehörigen auf sich ziehen wollen.

Wie auch immer, es bestand jedenfalls kein Zweifel daran, dass er bald nicht mehr in ihre Zuständigkeit fallen würde, und Doktor Erik Törnell blieb vor der Tür stehen, klappte die Akte zu, in der er soeben geblättert hatte, und signalisierte den Kollegen mit einem knappen Nicken: Dies würde ein kurzer Besuch werden.

Das Erste, was sie sahen, als sie das Zimmer betraten, war das leere Bett.

Ein Blumenstrauß lag im Waschbecken, die Vase war vom Nachttisch gefallen und zerbrochen, die Wolldecke war auf den Boden gerissen worden, und der Schlauch des Tropfes baumelte frei vom Gestell.

Das Badezimmer war leer. Aus dem Schrank war das gesamte Hab und Gut des Patienten entfernt worden. Und die Schublade in der kleinen Kommode hatte man herausgezogen und umgedreht.

William Sandberg war weg.

Nach einer einstündigen Suche musste man feststellen, dass er sich überhaupt nicht mehr auf dem Klinikgelände befand – und dass niemand sagen konnte, warum.

2   Der Krankenwagen, der gar keiner war, stand mitten auf einem großen verwilderten Feld. Gräser und Unkraut hatten die Krater, Gruben und Sprenglöcher erobert. In all dieser Lebenskraft lag eine leise Ironie, die jenen, die überhaupt mit diesem Ort Bekanntschaft machten, jedoch zwangsläufig entging.

Die Männer, die zuvor Warnwesten getragen hatten, waren bereits über alle Berge, geduscht, besprüht und abgeschirmt wieder auf dem Weg durch alle Sicherheitsvorkehrungen.

Im Rettungswagen lag nur noch der obdachlose Mann.

Sie hatten ihn getötet, daran bestand kein Zweifel, aber hatten sie ihm zuvor nicht auch ein neues Leben gegeben? Ein besseres? Wer weiß, ob er auf diese Weise nicht sogar länger gelebt hatte – vielleicht hätte ihm das Leben auf der Platte längst den Garaus gemacht? Er aber hatte Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf bekommen. Eine Beschäftigung. Bewegung. Ja, sogar eine Art Ausbildung.

Nur hatte niemand mit dem Horror gerechnet, den er würde durchstehen müssen.

Den Symptomen.

Wer hätte wissen können, dass es so weit ging?

»Es ist, wie es ist«, sagte der junge Pilot mit den kurz geschnittenen Haaren, als wären Connors’ Gedanken soeben in Klartext auf einem Telexstreifen aus seinem Kopf gerattert. Er saß auf dem Sitz vor ihm, das obligatorische Headset auf dem Kopf, das ihm nicht nur zur Verständigung diente, sondern auch, um das ewige Rotorengeknatter über sich nicht ganz so laut zu hören.

Connors vernahm die Stimme des anderen. Nickte. Als Feststellung gab es dagegen nicht viel zu sagen.

»Wollen wir?«, fragte der Pilot.

Er trommelte mit dem Finger auf das Armaturenbrett.

Diesmal zögerte Connors, ehe er nickte, aber sie wussten beide, dass das Signal kommen würde. Ohne Fernglas war der Rettungswagen nur als ein glänzender Punkt in der frühen Dämmerung zu sehen, aber Connors ließ ihn dennoch nicht aus den Augen.

Schließlich gab er sein Einverständnis mit einer so diskreten Kopfbewegung, dass sie genauso gut durch die Erschütterung bei einem Luftloch hätte verursacht worden sein können. Aber der junge Pilot mit den kurzen Haaren registrierte sie und reagierte wie gewünscht. Er hielt den Schalter bereits in der Hand und musste nur noch auf den Knopf drücken.

Als der Krankenwagen in einer gelben Wolke explodierte, war der Auftrag beendet. Und eine frische Generation Wildgras und Wiesenblumen konnte einen neuen Krater erobern.

3   Als William Sandberg an jenem Tag, an dem er eigentlich geplant hatte, nie wieder aufzuwachen, zum zweiten Mal die Augen aufschlug, befand er sich mehrere Tausend Meter über dem Erdboden.

Diese Einsicht machte ihn mit einem Schlag hellwach.

Er saß auf einem bequemen Ledersessel, und durch das fleckige Plexiglasfenster leuchtete ihm quer über eine weiße Baumwolllandschaft aus dichten Wolken hinweg die tief stehende Sonne entgegen.

Er war in einem Flugzeug. Und er hatte geträumt.

Wie üblich ließ ihn der Traum nicht los, er war zwar konturlos, verursachte ihm aber trotzdem ein leichtes Unbehagen. Für einen Moment überlegte William, auf sein altbewährtes Mittel zurückzugreifen und das Gehirn auf Entdeckungsreise zu schicken, um das Gefühl zurückzuverfolgen und nach seinem Auslöser zu suchen. Oft war es derselbe. Und meistens war es nur noch schmerzlicher, zurückzukehren und die Bilder erneut lebendig werden zu lassen. Gleichzeitig wusste er, dass es die wirksamste Methode war, um sie abzuschütteln.

Doch diesmal ließ er es sein. Zwang seine Gedanken, an dem Ort zu verharren, wo er war, und blieb regungslos sitzen. Als könnte ihnen die kleinste Bewegung verraten, dass er aufgewacht war, sodass sie zu ihm kommen würden, um ihn unschädlich zu machen.

Sie? Wer eigentlich?

Das wusste er nicht.

Er wusste nur, dass seine letzte Erinnerung die an drei Anzugträger in einem Krankenhauszimmer war und dass er sich bei Menschen aufhielt, die Geld zu haben schienen.

Er saß keineswegs zum ersten Mal in einem Privatjet. Aber was die Innenausstattung betraf, war dieser hier von der nobelsten Sorte. William saß in einem Raum, der durch eine stabile Zwischenwand vom übrigen Flugzeug abgetrennt war. Ihm gegenüber stand ein weiterer Ledersessel, und dazwischen hing ein Wandtisch als Arbeitsplatz. Die Tür aus hochwertigem Holzimitat führte auf einen Gang an der Backbordseite des Flugzeugs. Bestimmt war sie nicht schwer aufzustemmen, wenn man Kraft einsetzte, aber sie war sicherlich abgeschlossen.

Andererseits, fragte er sich, warum sollte das so sicher sein?

Nichts deutete darauf hin, dass er ein Gefangener war. Der locker über seinen Bauch gespannte Gurt war lediglich der übliche Sicherheitsgurt, und wenn er den Verschluss aufschnappen ließ, öffnete er sich wie vorgesehen, und nichts außer ihm selbst hielt ihn länger auf diesem Sessel zurück.

Ein frischer Luftstrom kam aus der Lüftung in der Decke über ihm. Eine sanfte Wärme von der Sonne draußen. Gestern hatte er sich mit Tabletten vollgestopft, heute saß er hier. Mit dem weißen Hemd und den unförmigen Hosen des Krankenhauses bekleidet, in einen Sessel versunken, der vermutlich ein durchschnittliches Jahresgehalt gekostet hatte. Wenn das der Tod war, hatte der Tod einen merkwürdigen Humor.

William war darüber verwundert, hier zu sitzen. Und in gewisser Weise ärgerte ihn das. Schließlich war er über einen langen Zeitraum seines Lebens in ständiger Alarmbereitschaft gewesen und hatte genau das befürchtet, wenn nicht Schlimmeres.

Ende der Achtzigerjahre, als William Mitte dreißig gewesen war und die Welt noch in zwei sich feindlich gegenüberstehende Großmächte aufgeteilt war, hatte man ihn mehrmals quer durch Stockholm verfolgt. Er hatte sein Auto geparkt, war gemäß den Anweisungen, komplizierten Mustern folgend, durch Einkaufszentren und Warenhäuser spaziert und hatte seine Verfolger jedes Mal abgehängt. Anschließend hatte er ein Taxi nach Hause nehmen müssen und einen Kollegen gebeten, seinen Wagen einige Tage später abzuholen, genau wie es das Protokoll vorsah. In seinem Haus hatte man Überwachungskameras und eine Alarmanlage installiert, nahezu unsichtbar und auf dem höchsten technischen Stand der damaligen Zeit, aber das hatte nicht verhindert, dass er in regelmäßigen Abständen ein Klicken in der Leitung hörte oder seine Nachbarn auffällig oft von Vertretern besucht wurden, die nach ihren angeblichen Verkaufsrunden in ihren Autos ausharrten, mit direkter Aussicht auf Williams Haus. Er war ein hochinteressantes Beobachtungsobjekt gewesen, was ein Nebeneffekt seiner Arbeit gewesen war.

Aber das war damals. Damals, als er noch aktiv, jung und aussichtsreich gewesen war, in einer Zeit, als sein Wissen noch exzeptionell und gefragt war. Mittlerweile hatte er abgedankt, er war ein Übriggebliebener. Heute konnte ein Großteil seiner Arbeit vermutlich mittels ein paar Codes von einem billigen Computer aus dem Elektrogroßhandel erledigt werden.

Er schüttelte die Gedanken ab. Der technische Fortschritt allein war wohl kaum der Grund dafür gewesen, dass er versetzt worden war. Und es waren auch keine äußeren Kräfte gewesen, die dafür gesorgt hatten, dass er am Ende so untragbar für die Organisation war, dass man ihm die Möglichkeit gab, schon mit knapp fünfzig in den Ruhestand zu gehen. Er hatte sich selbst eine Grube gegraben, war hineingesprungen und hörte nicht auf zu buddeln. Dessen war er sich bewusst, und er verspürte die ganze Zeit über eine unerklärliche Genugtuung dabei, alles zerfallen zu sehen, was er einmal aufgebaut hatte.

Und jetzt saß er hier. Mit steifen Muskeln und einer pelzigen Zunge und einem Schnitt in jedem Handgelenk. An Bord eines hypermodernen Jets. Allem Anschein nach entführt von einer Militärmacht.

Das entbehrte jeder Logik. Dennoch war er, William Sandberg, offenbar wirklich entführt worden.

Allerdings mindestens zehn Jahre zu spät.

Der junge Praktikant widmete sich den Nachrichten an diesem Vormittag genauso unaufmerksam wie alle anderen in der Redaktion. Er hockte vor dem großen Bildschirm und merkte, wie seine trägen Gedanken von der Recherche für den Artikel abschweiften, den er eigentlich hätte schreiben müssen, und wie so oft überflog er stattdessen den Nachrichtenticker. Er tat so, als würde er sich informieren, obwohl er sich eigentlich nur eine Weile unauffällig vor der Arbeit drücken wollte.

Er verfolgte den ununterbrochenen Strom der sachlichen Schilderungen von Nachrichtenagenturen auf der ganzen Welt, kurze Notizen in englischer Sprache über alles, das nicht groß genug war, um als Eilmeldung verschickt zu werden. Es war unglaublich langweilig. Aber es war ein Fitzelchen weniger langweilig als der Versuch, zum fünftausendsten Mal die Debatte über den Umbau von Slussen zusammenzufassen. Und auch wenn sich zehn von zehn Telegrammen mit einem Tastenklick aussortieren ließen, weil die Nachrichten zu unbedeutend waren oder rein geografisch nicht zu der Zeitung passten, ließ es sich doch als richtige Arbeit verkaufen. Wenn jemand fragte, was er machte, konnte er antworten, dass er Meldungen las. Das klang besser, als wenn er zugäbe, zu verkatert zu sein, um etwas Vernünftiges zu Papier zu bringen.

Jetzt tauchte eine weitere uninteressante Nachricht auf dem Schirm auf, und sein rechter Ringfinger lag auf der Taste bereit. Ein obdachloser Mann war in der Nacht tot in einer Gasse in Berlin aufgefunden worden, und auch wenn es nicht ausdrücklich dabeistand, hatte er wohl eine Überdosis genommen oder zu viel getrunken und war daraufhin in der Kälte eingeschlafen und erfroren. Es war lediglich eine Lokalnachricht und nur eine von Hunderten Notizen, die er überflog, ohne darauf zu reagieren.

Er versuchte sich ein Gähnen zu verkneifen, doch es misslang ihm.

»War’s spät gestern?«

Das war eine Frauenstimme. Aus nächster Nähe. Und sein Mund stand noch immer sperrangelweit offen.

Verdammter Mist.

Er hatte seine Kappe absichtlich nicht abgenommen, als er hereingekommen war, aber so gut sie auch war, um ihn vor den Blicken der anderen abzuschirmen, so effektiv sorgte sie gleichzeitig dafür, dass er nicht mitbekam, was oberhalb des Monitors vor sich ging, außer er legte den Kopf in den Nacken.

Und jetzt stand sie dort – wie lange schon? Lange genug jedenfalls, um zu sehen, wie er vor der gesamten Redaktion seinen Rachen lüftete.

»Nein. Sondern, wie sagt man noch mal, nein«, antwortete er, während er gleichzeitig die Mütze absetzte und so zu tun versuchte, als hätte er es sowieso vorgehabt.

Wie er es geahnt hatte, kommentierte die Frau es nicht, und das verunsicherte ihn noch mehr, was er ebenfalls geahnt hatte. Christina Sandberg war bestimmt zwanzig Jahre älter als er, aber auf eine natürliche Weise attraktiv und irritierend freundlich. Irritierend nicht deshalb, weil ihre Freundlichkeit aufgesetzt oder anstrengend gewesen wäre, sondern weil er es lieber gesehen hätte, wenn sie irgendeinen unverzeihlichen Fehler gehabt hätte, der verhindern würde, dass er ständig zu ihr hinüberschielen musste und obendrein unfähig war, ihr gegenüber ganze Sätze zu bilden.

»Du hast, also, ich habe was geschickt, an deine …«, sagte er und hoffte, dass ein schwaches Nicken das vervollständigte, was auszudrücken er nicht in der Lage war.

Zu seinen unausgesprochenen Pflichten gehörte es, Nachrichten entgegenzunehmen, wenn Christina Sandberg nicht erreichbar war. Sie nickte ebenfalls und setzte ihren Weg zu ihrem Büro fort, wobei sie die anderen Mitarbeiter im Vorbeigehen begrüßte.

Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie irgendwie niedergeschlagen aussah. Aber er verdrängte ihn wieder, schließlich kannte er sie nicht, und seine Selbsteinschätzung ließ ihn ahnen, dass ihm eine unerwiderte Liebe zu einer zwanzig Jahre älteren, extrem erfolgreichen Redaktionsleiterin das Leben nicht unbedingt leichter machen würde.

Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Der Text über den toten Obdachlosen in Berlin. Mit einem schnellen Tastendruck beförderte er die drei Zeilen in den elektronischen Papierkorb und ließ seine müden Augen über die nächste uninteressante Nachricht wandern.

In ihrem Büro angekommen, zog Christina die Tür zu, hängte den Wildledermantel an den Haken hinter der Glaswand und erlaubte es sich, für einige Sekunden die Augen zu schließen. Möglicherweise konnte jemand sie sehen, aber dann war es eben so. In ein paar Minuten wäre sie wieder in Topform, schlagfertig und motiviert, und am Ende des Tages würde sich niemand mehr an ihre geschlossenen Augen erinnern.

Es war ein harter Morgen gewesen – der auf eine harte Nacht gefolgt war. Sie hatte mitansehen müssen, wie ihr Exmann auf einer Trage aus dem Haus befördert wurde und im Rettungswagen verschwand, und vielleicht wäre es menschlicher gewesen, ins Auto zu springen und hinterherzufahren. Vielleicht wäre es menschlicher gewesen, den Vormittag über auf einem Plastikstuhl neben seinem Bett zu sitzen und alles durchzukauen und ihn nach dem Warum zu fragen.

Aber Christina war lange Zeit menschlich gewesen. Sie war so lange menschlich gewesen, bis sie es nicht mehr geschafft hatte, und anschließend war sie trotzdem noch eine Zeit lang menschlich gewesen, und dann war es genug. William war wie ein Auto, das man längst hätte loswerden sollen – das waren seine eigenen Worte. Ein Auto, in das man eine Menge Geld und Liebe investierte, das seinen Zenit aber längst überschritten hatte und mit jeder Reparatur, die man vornehmen ließ, an drei anderen Stellen kaputtging. Er konnte nicht wieder gesund werden, weil er es gar nicht wollte. Er hatte den Glauben verloren oder die Lust oder was auch immer die Leute dazu bewegt, etwas aus ihrem Leben zu machen, und im Fallen hätte er Christina fast mit in den Abgrund gerissen. Dann konnte sie nicht mehr und hatte an jenem Tag vor nun über zwei Jahren einfach die Wohnung verlassen und war gegangen.

Bis auf den heutigen Tag war sie nie wieder dort gewesen. Natürlich rief er weiterhin an, und natürlich war es jedes Mal belastend, wenn sie ans Telefon ging, aber es gelang ihr, ihn auf Distanz zu halten, und langsam, ganz langsam, wurde sie wieder sie selbst. Nicht weil die Trauer verschwunden wäre, sondern weil diese das Recht bekam, parallel neben anderen Gefühlen zu existieren.

So wollte sie es auch weiterhin halten. Sie konnte es sich nicht leisten, dass er sie wieder mit hinabzog. Und statt den ganzen Tag im Krankenhaus zu verbringen, hatte sie bei der Zeitung angerufen und erklärt, dass sie nicht vor dem frühen Nachmittag in die Redaktion käme.

Sie blieb fast vier Stunden in der Stadt. Versuchte sich auf dieselbe Weise zu beruhigen, wie sie es immer tat: Sie stellte ihr Handy aus, ging zu der großen Buchhandlung in der Mäster Samuelsgatan und suchte sich in der Abteilung mit den ausländischen Zeitschriften einen hohen Stapel Zeitungen und Magazine zusammen, obwohl sie die meisten auch kostenlos in der Redaktion lesen konnte. Dann setzte sie sich in die Bar des Grand Hotel, bestellte sich ein unglaublich teures Frühstück, obwohl sie schon gegessen hatte, und las so lange, bis all die großen Ereignisse auf der Welt ihre eigenen Probleme wie winzige, unwichtige Bagatellen erscheinen ließen. Anschließend spazierte sie in der Novemberkälte durch die ganze Stadt bis in die Redaktion auf Kungsholmen.

Die Strafe würde nicht auf sich warten lassen, das wusste sie. Tausende Fragen von allen Mitarbeitern, Anrufe, die sie hätte tätigen müssen, Texte, die längst geschrieben sein sollten. Aber jetzt war sie bereit, all das zu bewältigen.

Sie stellte ihr Handy wieder an. Begann ihre eingegangenen E-Mails durchzugehen, während das Mobiltelefon eine Verbindung aufbaute, mit dem nächsten Mast verhandelte, sich schließlich in das Netz einwählte und den unterschiedlichen Servern mitteilte, dass es wieder auf Empfang war.

Für Christina kam die Nachricht wie ein Schlag ins Gesicht.

Im selben Moment, als das Telefon piepte, um sie darüber zu informieren, dass ihr dreißig Anrufe entgangen waren, sah sie die vier E-Mails des Praktikanten, der ihr mitteilte, dass das Krankenhaus versucht hatte, sie zu erreichen, und sie zurückrufen sollte.

Auch wenn ihre Kollegen möglicherweise bald vergaßen, dass Christina Sandberg ihren Arbeitstag damit begonnen hatte, die Augen zu schließen, würde wohl niemand vergessen, dass sie ihn schon vier Minuten später wieder beendete und atemlos mit ihrem Handy in der Hand aus dem Büro stürzte.

William verharrte mindestens zehn Minuten in seinem Flugzeugsessel, ehe er sich das erste Mal regte. Er horchte, ob er Geräusche vernehmen konnte, Stimmen, das kleinste Zeichen, das ihm verraten würde, wo er war und in wessen Gesellschaft.

Doch es war still. Das Einzige, was er hörte, war das leise Surren der Jetmotoren und hin und wieder ein Ächzen des Flugzeugkörpers, wenn die Maschine in einem Luftloch durchgeschüttelt wurde. Aber keine Stimmen, keine Schritte, nichts, was davon zeugte, dass sich an Bord noch andere Personen befanden. Was aber natürlich der Fall sein musste.

Ihm fiel auf, dass er hungrig war. Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte, doch es gelang ihm nicht. Zum einen wusste er nicht, wie lange er ohnmächtig gewesen war. Zum anderen hatte man ihn im Krankenhaus an den Tropf gehängt, was vermutlich dafür gesorgt hatte, dass die Hungergefühle später auftraten als gewöhnlich.

Er hatte ja nicht einmal eine Ahnung, wie viel Uhr es war. Noch lieber hätte er allerdings gewusst, wo sie ihn hinbrachten.

Sie. Wer auch immer das war.

Er schielte zu der Vertäfelung über sich. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte er, ob er den Knopf mit der stilisierten Stewardess drücken sollte, beschloss dann aber, dass es eine dumme Idee wäre, und ließ es bleiben. Stattdessen erhob er sich und war mit zwei schlurfenden Schritten an der Tür.

Er zögerte. Überdachte seine Möglichkeiten.

Auch wenn der hohe Schallschutzkomfort den Maschinenlärm bedeutend mehr dämpfte als in jedem normalen Passagierflugzeug, war er immer noch laut genug, um Williams Bewegungen zu übertönen. Falls jemand vor der Tür Wache hielt, würde er wohl kaum gehört haben, dass William aufgestanden und dort hingegangen war. Wenn er nun einfach aus der Tür träte, wäre das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Was ihm in einem Flugzeug hoch über den Wolken und mit all den Chemikalien im Körper jedoch wenig nutzen würde.

Aber hier stehen bleiben konnte er auch nicht. Er beschloss hinauszugehen. Was auch immer ihn dort erwartete.

Vorsichtig umfasste er den runden Türknauf. Spürte das kalte Metall an der Handfläche. Drehte vorsichtig. Kein Widerstand. Nach einer Viertelumdrehung schob sich der Riegel des Schlosses zurück, und die Tür glitt auf.

Zu seinem Erstaunen stand niemand vor der Tür. Kein mürrisches Gesicht erwartete ihn, keine Waffe, keiner, der ihm sagte, dass er im Zimmer bleiben solle, bis man ihn hole. Also trat er einen Schritt hinaus, blieb stehen und sah sich um. Vor der Tür verlief tatsächlich ein schmaler Gang entlang der Backbordseite des Flugzeugs. Auf dem Boden lag ein teurer dicker Teppich, und die Wände waren mit Kunstleder gepolstert. Nur wenige Meter weiter vorn verbreiterte sich der Flur zu einer gewöhnlicheren Flugzeugkabine mit mindestens zwanzig Sitzen, ebenso luxuriös wie der Sessel, in dem er selbst gesessen hatte, jedoch paarweise rechts und links des Mittelgangs angeordnet.

Falls William sich große Reaktionen auf sein Erscheinen erwartet hatte, wurde er enttäuscht.

Ganz vorn neben der verschlossenen Cockpittür war eine Sitzgruppe installiert. Zwei Männer saßen einander gegenüber. Der eine hatte William den Rücken zugewandt, der andere blickte lediglich kurz auf und registrierte William.

William erkannte ihn sofort wieder. Anzug, kurz geschnittenes Haar, militärischer Ernst auf jungenhaften Gesichtszügen. Er war einer der beiden Männer, die vor dem Krankenhauszimmer gewartet hatten, derjenige, der den glänzenden teuren Füller in der Hand gehalten und ihn William kurz darauf mit einem hörbaren mechanischen Klicken in den Nacken gerammt hatte. Erst in diesem Moment hatte William begriffen, dass das kein Füllfederhalter war. Und das war sein letzter Gedanke gewesen, ehe er dort aufwachte, wo er sich jetzt befand.

Der Mann zwinkerte William bekräftigend zu und blickte dann ein Stück nach links an ihm vorbei. William lugte um die Ecke der vertäfelten Wand des Zimmers, in dem er erwacht war. Das Trio war komplett. In der letzten Reihe saß derselbe Jüngling, mit dem er im Krankenhaus gesprochen hatte. Er rollte seine Tageszeitung zusammen – deutschsprachig, wie William gerade noch registrierte, ehe sie in der Tasche des Vordersitzes verstaut wurde – und stand auf. Nicht drohend, aber auch nicht freundlich. Ein Lächeln, das eher mechanisch wirkte denn wie ein Zeichen menschlichen Gefühls.

»Wach?«, fragte er.

William begnügte sich mit einem abschätzigen Blick, da seine Anwesenheit die Frage offensichtlich überflüssig machte. Wenn er ihnen schon nicht körperlich gewachsen war, konnte er wenigstens versuchen, sie mit Sarkasmus zu bekämpfen.

Der Mann zwängte sich auf den Gang hinaus, den durchtrainierten Körper leicht gebeugt – er war mindestens zwei Meter groß und hatte einen imposanten Stiernacken, der aus dem aufgeknöpften Hemdkragen herausragte. William blieb stehen und wartete auf das, was kommen würde. Er war auf zwei Alternativen vorbereitet: Entweder luden sie ihn ein, sich zu ihnen zu gesellen, oder sie würden ihn wieder in das Zimmer zurückbeordern.

Nichts davon geschah.

»Im Wandschrank Ihres Abteils gibt es Toilettenartikel«, sagte der Stiernacken. »Falls Sie sich frisch machen wollen.«

»Wofür?«, fragte William.

Der andere ignorierte seine Frage.

»Das Badezimmer liegt ganz hinten.«

So, so. William nickte zum Dank. Die Situation wirkte noch immer nicht bedrohlich, aber auch nicht einladend.

»Ich nehme an, dass Sie mir auch nicht antworten werden, wenn ich Sie frage, wohin wir unterwegs sind?«, sagte William.

»Bedaure.«

»Wenn Sie das wirklich bedauern, sollten Sie vielleicht einmal mit einer Person Ihres Vertrauens reden.«

Das entgegnete er mit einem trockenen Lachen, aber der Mann schien nicht amüsiert zu sein. Oder wütend. Und er schien auch nichts zu bedauern. Sein Blick war unausweichlich, nachdrücklich und im Übrigen ziemlich ausdruckslos.

»Ganz hinten?«, wiederholte William. Der Stiernacken nickte.

Christina hatte weniger als eine halbe Stunde gebraucht, um von Kungsholmen zurück in die Kaptensgatan zu gelangen, obwohl der Nachmittagsverkehr dicht war. Zweimal hatte sie den armen Taxifahrer genötigt, über Rot zu fahren, einmal hatte er auf eigene Initiative eine Abkürzung über den Bürgersteig genommen, und jetzt stand sie zum zweiten Mal an diesem Tag vor ihrer ehemaligen Wohnung.

Das Handy hielt sie in der Hand. Es war noch immer ganz warm, nachdem sie es die ganze Fahrt über ans Ohr gepresst hatte. Mal hatte sie geschrien, mal in erklärendem Tonfall gesprochen, als wären ihre Gesprächspartner Kinder und sie eine Mutter, der bald die Geduld ausging.

»Wie um alles in der Welt kann ein erwachsener Mensch verloren gehen!«, hatte sie einmal gerufen, und der Taxifahrer hatte sie im Rückspiegel angesehen. »Gegenstände können verloren gehen! Unterlagen! Meinetwegen auch Kinder! Aber ein Patient, der versucht hat, sich umzubringen, darf verdammt noch mal nicht verloren gehen!«

Doch genau das war geschehen.

Man hatte das Krankenhaus durchsucht, das Personal zusammengerufen, Zeugen befragt. Aber niemand hatte eine Ahnung, wie, warum, ja nicht einmal wann William Sandberg aus dem Karolinska verschwunden war. Noch immer war man dabei, die Bilder der wenigen Überwachungskameras durchzusehen, die im Krankenhaus installiert gewesen waren, aber bisher war auf den Harddiscs genauso wenig von William zu entdecken wie in der übrigen Gegenwart.

Christina hatte einen glutroten Kopf, als sie das Gespräch beendete, und diesmal lag es nicht an dem warmen Akku. Sie war außer sich. Die Welt war voll mit Idioten. Der Taxifahrer war einer davon, aber sie rundete den Rechnungsbetrag dennoch auf, denn irgendetwas sollte er schließlich davon haben, dass er seinen Führerschein riskiert hatte. Dann stürmte sie die Treppen zur Wohnung hinauf, überzeugt davon, dass William es erneut versucht hatte. Und genauso überzeugt davon, dass es ihm diesmal gelungen war.

Das Erste, was sie bemerkte, als sie den Flur ihrer ehemaligen Wohnung betrat, war der Gesichtsausdruck des Polizisten mittleren Alters, der sie hereingelassen hatte. Sein Gesicht war von einem ungepflegten Dreitagebart bedeckt, und inmitten all der Stoppeln öffnete sich ein Mund, der nach Luft schnappte oder nach Worten suchte oder beides. Doch während der Mund noch immer darauf wartete, etwas sagen zu können, verrieten die Augen umso mehr. Es tut uns sehr leid, sagten sie. Aber wir haben schlechte Nachrichten.

»Ist er tot?«, fragte sie.

Das kam so plötzlich, dass es sie selbst überraschte. Wäre es nicht angemessener gewesen zu fragen: »Wie geht es ihm?« Oder wenigstens: »Lebt er noch?« Aber tief in ihrem Inneren war sie bereits vom Gegenteil überzeugt.

Umso mehr verwunderte es sie, dass der Polizist, als er schließlich redete, entgegnete: »Wir wissen es nicht.«

»Sie wissen es nicht?«, fragte sie.

Keine Antwort.

»Ist er hier?«

Auch darauf antwortete er nicht. Stattdessen wippte er einen Moment lang bekümmert auf und ab. Christina sah, wie sich hinter ihm seine Kollegen durch die Wohnung bewegten, außerdem vereinzelte Kamerablitze aus Zimmern, die sie nicht im Blick hatte.

Der Polizist zögerte. Seine nächste Frage war unbequem, aber er war gezwungen, sie zu stellen: »Hatten Sie in Ihrer Beziehung Probleme?«

»Wir haben uns vor zwei Jahren scheiden lassen. Ich nehme an, das zählt dazu?«

Der Mund in dem Bart wusste nicht, ob er über den Sarkasmus lachen oder sein Bedauern ausdrücken sollte, also machte er weiter das, was er am besten konnte, und schnappte nach Luft.

»Wo ist er?«, fragte sie erneut.

Er trat einen Schritt zur Seite und sagte mit einer Geste ins Innere der Wohnung: »Wir glauben, dass er abgehauen ist.«

Sie brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was er sagte. Abgehauen?

Mit ein paar schnellen Schritten trat sie ein und ging an dem langen Personalgang, dem Wohnzimmer und der Bibliothek vorbei, genau dieselbe Strecke, die sie in ihrem früheren Leben unzählige Male im Bademantel oder mit einem Handtuch und manchmal auch ohne eine Faser am Leib zurückgelegt hatte. Glücklich unwissend darüber, dass sie am heutigen Tag denselben Weg entlangeilen würde, um den Polizisten dort drüben in Williams Arbeitszimmer zu erklären, dass er kein Mann war, der sich damit zufriedengab, einfach »abzuhauen«.

Als sie in das Zimmer kam, blieb sie allerdings abrupt stehen. Sie begegnete den Blicken der beiden Kriminaltechniker, die dort neben Williams Schreibtisch standen. Dann sah sie sich um. Seit der Scheidung war sie nicht mehr hier gewesen, aber genau wie die Polizei wusste sie sofort, dass etwas fehlte. Oder besser gesagt: alles.

Entlang der Wand rechts von der Tür war vor den tiefen Fenstern mit Aussicht auf die Dächer von Östermalm eine Schreibtischplatte montiert. Rechts neben dem Schreibtisch stand ein tiefer Schrank, in dem sich ein Haltesystem für Festplatten und Rechenwerke befand, die mit einem Kabel in der Mitte zu einem zentralen Netzwerk verbunden waren.

Oder besser gesagt: All das hätte sich dort befinden sollen.

Jetzt stand der Schrank offen, die Haltevorrichtung war leer, genau wie der Schreibtisch. Hellere Flächen zeigten, wo die Füße der beiden großen flachen Monitore kürzlich noch gestanden hatten. Auf beiden Seiten der Fenster hingen die Wandregale, in denen normalerweise Williams Ordner und dicke Bücher über Statistik und Codes und Chaos und andere Sachen standen, mit denen er sich schon lange nicht mehr beschäftigt hatte. Jetzt waren die Regale entsetzlich leer. Von allem befreit.

Sie schüttelte den Kopf. Ein entschiedenes Kopfschütteln. Ein Nein.

Und die Polizisten sahen sie an und warteten auf ihre Erklärung.

»Einbruch«, sagte sie.

Die beiden Kriminaltechniker sahen einander an, als wüssten sie mehr als sie.

»Er ist nicht abgehauen«, sagte sie. In ihrer Stimme schwang eine leise Verzweiflung mit, und sie hörte es selbst. Unfassbar, dass die Polizei nicht selbst darauf gekommen war. »Es gibt keinen Ort, an den er gehen könnte, es gibt nichts, das ihn irgendwo hintreiben würde, ich habe gestern den ganzen Abend mit ihm telefoniert! Warum sollte ein solcher Mensch abhauen?«

Die Männer schwiegen noch immer, sahen sie nur mit bedauernder Miene an, ehe sich ihr Blick auf etwas hinter ihr richtete. Es war das Bartgesicht. Sie hatte nicht einmal gehört, wie er ihr nachgekommen war, und jetzt stand er auf der Türschwelle und bewegte seinen Mund wie ein gestrandeter Fisch, während alle darauf warteten, dass er sprach.

»Warum,wissen wir nicht«, sagte er, als wäre die Tatsache an sich unbestreitbar. Er beendete seine Ausführung mit einem Nicken, das wohl »Kommen Sie« bedeuten sollte.

Sie ließ sich von ihm durch die Wohnung führen, die sie besser kannte als er, bis in ihr ehemaliges Schlafzimmer. Alles war wie immer, dieselben Gerüche, dieselben Möbel, und noch bevor sie sich wehren konnte, wurde sie von Erinnerungen überwältigt, die sie längst verdrängt hatte: wie sie das Haus verkauft hatten. Wie sie in die Stadt gezogen waren, weil es ihnen dort so gut gefiel. Wie sie das Leben endlich wieder nur für sich haben wollten, nur sie beide.

Wenn sie es bloß geahnt hätten.

Das Bett war gemacht, das Zimmer ordentlich und sauber, der Polizist ging hinein und warf einen Blick zurück, um zu sehen, ob sie ihm folgte. Dann blieb er vor dem Schrank stehen. Schob die Türen auf und sah Christina an, als würde dies alles erklären.

Und so war es auch.

Der Schrank war leer.

Alle Sakkos und Anzüge, die William besaß, die gebügelten Hemden, alles war weg. Die Fächer mit der Unterwäsche, die Fächer mit den Schuhen. Leer. Es sah tatsächlich so aus, als hätte der Beamte recht. Christina aber wusste, dass es nicht so war.

»Vor weniger als vierundzwanzig Stunden hat mein Exmann versucht, sich das Leben zu nehmen«, sagte sie. »Und jetzt glauben Sie im Ernst, dass er all seine Sachen gepackt hat und von hier verschwunden ist?«

»Nach Aussage des Nachbarn waren gegen zwölf Uhr zwei Männer von dem Umzugsunternehmen Stockholms Stadsbud hier und haben Kisten herausgetragen.«

»Waren sie wirklich von Stockholms Stadsbud, oder hatten sie nur Pullover an, auf denen Stockholms Stadsbud stand?«

»Wie meinen Sie das?«

Sie ließ die Frage in der Luft schweben. Er sollte selbst auf die Antwort kommen, und es war immer besser, die Menschen zum Nachdenken zu zwingen, als ihnen fertige Lösungen vorzusetzen. Insbesondere, wenn man selbst eigentlich auch keine hatte.

Sie verließ das Schlafzimmer und drehte eine Runde durch die ganze Wohnung. Küche, Esszimmer, Gästezimmer, dieses verdammte Gästezimmer, an dem sie zielstrebig vorbeiging und weiter ins Wohnzimmer. Die Wohnung war aufgeräumt, fast pedantisch ordentlich, noch immer von dem teuren Geschmack geprägt, den zu entwickeln sie sich beide erlaubt hatten. Nach ihrem Auszug hatte er nicht viel verändert, und hätte sie ihn nicht so gut gekannt, wäre sie darüber erstaunt gewesen, wie er die Wohnung so proper gehalten hatte, anstatt sie im selben Takt verfallen zu lassen wie sich selbst.

Aber sie wusste, dass er ganz einfach so war. Ordnung im Chaos bewahren. Muster und Logik erkennen. Nur so konnte er leben, und selbst wenn alles um ihn herum zusammenbräche, würde er sich daran orientieren. Man hörte nicht auf, ein Pedant zu sein, weil alles kaputtging. Ganz im Gegenteil.

Am Ende war sie wieder im Arbeitszimmer. Die Männer von der Spurensicherung leisteten dem Bartgesicht in einem anderen Teil der Wohnung Gesellschaft. Jetzt stand sie allein hier und sah sich um, was fehlte.

Die Rechner.

Die Fachbücher.

Das teure Notizbuch, das er liebte und hasste und das zu benutzen er nie über sich gebracht hatte, erst, weil es mit einer schönen Erinnerung verbunden war, später aus genau demselben Grund, jedoch mit anderen Vorzeichen.

Als wäre das Buch daran schuld, dass es die Erinnerungen gab. Als könnte er das Positive konservieren, indem er es unberührt ließ, als hätte alles, was danach gekommen war, nie stattgefunden, wenn er nur nicht an die Erinnerung rührte.

Sie musste den Kopf schütteln und ließ ihren Blick aus dem Fenster schweifen, um die Gedanken loszuwerden. Doch sie lauerten hinter der nächsten Ecke, und sie wusste, dass es so war. All die Gedanken und Gefühle und die Lähmung, die einen überkamen, wenn man sie zuließ. So wie sie es sich erlaubt und anschließend wieder abgewöhnt hatte.

Sie nahm sich zusammen und konzentrierte sich jetzt auf die Situation.

Es war vollkommen unwahrscheinlich. Vollkommen unwahrscheinlich, dass er sich einfach aus dem Staub gemacht hatte.

Sie kannte ihn. Sie wusste, dass es nichts gab, wohin es ihn zog, und noch weniger Gründe, den einzigen Ort zu verlassen, an dem er sich noch bis heute sicher fühlte. Und die Rechner? Warum sollte er sie mitnehmen? Hatte er sie überhaupt ein einziges Mal benutzt, nachdem all das geschehen war?

Sie stutzte. Da war noch etwas. Das hatte sie schon vorhin gespürt, als sie das Büro betreten hatte.

Aber sie kam beim besten Willen nicht darauf, was sie irritierte. Sie blieb lange stehen und überlegte, ob es nur daran lag, dass sie im letzten Jahr nicht in der Wohnung gewesen war, oder ob ihr Unterbewusstsein tatsächlich etwas entdeckt hatte, das sie selbst noch nicht fassen konnte.

Sie schloss die Augen, versuchte sich das Zimmer ins Gedächtnis zu rufen, wie es damals ausgesehen hatte. Die eng bestückten, aber pedantisch geordneten Regale. Die Aktenordner, die Papiere, die Stifte, die er liebte – er war der Einzige, den sie kannte, der Stunden vor den Stiftregalen im Schreibwarenladen zubringen konnte –, alle in Reih und Glied und genau sortiert. Und jetzt war alles weg. Alles. Was noch? Was sollte noch da sein, das ihr entfallen war?

Sie ging zum Schreibtisch. Blickte hinaus. Drehte sich um. Ließ den Raum von der anderen Seite auf sich wirken.

Und dann hielt sie inne.

Genau.

Es war nichts, was fehlte.

Sondern etwas, das eigentlich fehlen müsste.

Die Toilettenartikel in dem schmalen Schrank verwunderten William. Nicht, weil sie besonders aufsehenerregend gewesen wären – sondern weil es seine eigenen waren.

Es war der schwarze Kulturbeutel aus Nylon, der ihn auf allen Reisen begleitete, jedenfalls war das früher so gewesen, als er noch gereist war, und der gesamte Inhalt stammte aus seinem eigenen Badezimmer, vom Rasierapparat über die Zahnbürste bis hin zum Aftershave.

Obendrein hing an einem dünnen Kleiderbügel eines seiner eigenen Jacketts über einem seiner Hemden, darunter seine Jeans. Auf dem Boden standen seine braunen Schuhe – nicht die, die er selbst gewählt hätte, aber dennoch seine eigenen –, und daneben lagen ein Paar seiner zusammengerollten Socken und ein Set seiner ordentlich zusammengelegten Unterwäsche.

Sie waren in seiner Wohnung gewesen.

Statt ihm ein Standardset mit Körperpflegeartikeln vorzusetzen, unterwegs ein paar Kleider aus dem Kaufhaus zu holen und ihn damit abzuspeisen, waren sie in seine Wohnung eingedrungen und hatten seine eigenen Sachen geholt.

Das sagte einiges aus.

Zum einen bedeutete es, dass er, wohin auch immer er unterwegs war, lange dort bleiben würde. Aber es bedeutete auch, dass sie ihm den Aufenthalt so bequem wie möglich gestalten wollten. Das war ihnen offenbar wichtig. Ganz gleich, aus welchem Grund sie ihn entführt hatten – sie wollten, dass er sich wie zu Hause fühlte, ja sogar das Gefühl hatte, er wäre ihr Gast.

Damit konnte er leben, dachte er.

Nicht zuletzt deshalb, weil er keine andere Wahl hatte.

Er betrachtete seine Garderobe dort auf dem Kleiderbügel. Dann schlüpfte er aus dem Krankenhaushemd, zog sich um und spazierte barfuß zum Heck des Flugzeugs.

Das Badezimmer war hell und sauber und erstaunlich geräumig dafür, dass es sich an Bord eines Flugzeugs befand. Im Vergleich zu einem normalen Badezimmer war es aber trotzdem schrecklich klein, und die Körperpflege erforderte eine gewisse Anstrengung.

William Sandberg nahm sich Zeit. Rasierte sich, wusch seinen Oberkörper, beugte sich sogar über das weiße Waschbecken, das vorgab, aus Marmor zu sein, aber niemanden täuschen konnte, und schamponierte sein Haar zweimal hintereinander, nur um zu spüren, wie das Wasser in kalten Strahlen über seinen Kopf rann.

Es war ein schönes Gefühl, und das überraschte ihn.

Er erlaubte es sich, den Moment zu genießen, und er wusste, dass er geistesgegenwärtig und wach sein musste, was auch immer ihn bald erwartete.

So stand er da, als er plötzlich einen Druck auf den Ohren verspürte.

Sanken sie?

Er hielt sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu und schnaubte, um den Druck auszugleichen. Jetzt hörte er es auch am veränderten Motorengeräusch. Er wartete. Es konnte auch eine Änderung des Kurses oder der Flughöhe gewesen sein, und in diesem Fall würden sie bald nivellieren, die Ohren würden sich an den neuen Druck gewöhnen und bald wieder dasselbe monotone gedämpfte Geräusch wie zuvor vernehmen.

Aber das Flugzeug verlor weiter an Höhe. Drehte eine Kurve, korrigierte die Richtung. Blieb eine Weile auf demselben Niveau, um dann jedoch weiterzusinken. Das diskrete Ziehen im Magen, es bestand kein Zweifel. Sie bereiteten sich auf den Landeanflug vor.

Aber wo würden sie landen?

Da er weder wusste, wie lange er bewusstlos gewesen war, noch, wo sie gestartet waren, konzentrierte er sich auf die Möglichkeiten. Seiner Meinung nach gab es zwei. Entweder befanden sie sich irgendwo über Südeuropa oder über Russland. Vielleicht auch in der Mitte.

Seine Überlegungen verharrten bei einer der Alternativen.

Russland?

Das wäre damals die naheliegende Antwort gewesen. Aber heute?

Allerdings, daran musste er sich selbst erinnern, lag in dem, was ihm gerade widerfuhr, ohnehin nur wenig Logik. Warum er? Warum jetzt? Was für einen Wert sollte er haben und für wen? Er schüttelte die Gedanken ab. Zog den Reißverschluss seines Kulturbeutels zu. Er würde die Antwort früh genug erfahren.

Ein letzter Blick in den Spiegel.

Im Grunde sah er ziemlich munter aus für jemanden, der eigentlich tot sein sollte.

Anschließend öffnete er die Badezimmertür.

Die Anzugträger warteten bereits auf ihn.

Sie standen auf dem Gang direkt neben der Tür. Vor dem Fenster sausten rauchfarbene Wolkenfetzen vorbei, kleine Kondenswassertropfen rannen waagerecht über die Plexiglasscheiben.

»Vermutlich sollte ich mich lieber hinsetzen und anschnallen?«, fragte William. Er lächelte höflich, aber ohne die geringste Hoffnung, dass das kleine Komitee aus diesem Grund an der Badezimmertür stand. Und tatsächlich wich der Stiernacken ein Stück zur Seite, als wollte er seinen beiden Kollegen den Weg freimachen.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er. »Wir hätten alle gern darauf verzichtet.«

William begriff.

Und sah den Kurzgeschorenen zum zweiten Mal mit dem Füllfederhalter in der Hand auf ihn zutreten. Schon in der nächsten Sekunde rauschte das synthetische Kribbeln durch seinen Körper, setzte ihn außer Gefecht, schaltete ihn aus, ließ das Geräusch des Luxusjets um William Sandberg herum in einem schwarzen Tunnel verhallen.

Christina Sandberg fasste sich kurz. Sie gab den Polizisten ihre Visitenkarte und erklärte ihnen ohne einen Anflug von Zweifel in der Stimme, was sie wusste. Und noch bevor ihr jemand widersprechen oder Fragen stellen konnte, war sie aus der Wohnung geeilt, nachdem sie Anzeige gegen Unbekannt erstattet hatte.

William Sandberg war entführt worden, und wenn man sich seine Geschichte vor Augen hielt, war es mehr als wahrscheinlich, dass er in Lebensgefahr schwebte.

Als das Echo ihrer Absätze in der nächsten Minute auf der großen Steintreppe verhallte und sie das Eingangsfoyer und die schwere Eingangstür passierte, hatte sie die Wohnung in der Kaptensgatan zum letzten Mal verlassen.

4   Janine Charlotta Haynes presste sich an die Steinwand, während ihr Herz so laut klopfte, dass sie Angst hatte, man könnte es hören.

Sie schloss die Augen. Achtete darauf, so verhalten wie möglich zu atmen, nicht mit den Füßen auf dem Boden zu scharren und zu verhindern, dass der dicke Umschlag, den sie in ihren Hosenbund gesteckt hatte, gegen ihre Kleidung stieß und ein verräterisches Knistern erzeugte.

Die beiden Männer waren nicht mehr zu hören, aber sie wusste, dass sie nur wenige Meter entfernt sein konnten.

Vielleicht waren sie auch zu dritt, sie war sich nicht sicher. Im selben Moment, als die Stimmen aus dem runden Treppenhaus gedrungen waren, war sie abrupt stehen geblieben, hatte sich nach einem Fluchtweg umgesehen und sich in den kleinen Gang gerettet, von dem sie nicht wusste, wo er hinführte. Er war nicht beleuchtet, und sie drückte sich gegen die Wand, während sie hörte, wie die Männer dasselbe Stockwerk erreichten und direkt neben ihr stehen blieben, allerdings außerhalb der schmalen gemauerten Öffnung.

Jetzt standen sie dort, genauso regungslos und still wie sie selbst. Und sie konnte nur hoffen, dass man sie nicht gehört hatte. Wenn man sie entdeckte, würde sie unmöglich erklären können, was sie dort zu suchen hatte. Zumal mitten in der Nacht.