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Douglas Preston

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Beschreibung

Drei Brüder. Tausend Gefahren. Ein Wettlauf mit der Zeit.

Die Söhne der Familie Broadbent sind seit Jahren zerstritten. Doch dann verschwindet ihr Vater – mitsamt seinem Vermögen. Nur wenn es den Brüdern gelingt, ihre Differenzen zu überwinden, können sie ihn finden und das Erbe retten. Was die drei nicht wissen: Unter den Schätzen, die Maxwell Broadbent im Lauf seines Lebens aus Königsgräbern geraubt hat, befindet sich auch der ›Codex‹. Pharmakonzerne und andere Verbrecher sind bereit, dafür über Leichen zu gehen ...

Der Codex von Douglas Preston: Spannung pur im eBook!

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Ähnliche


Douglas Preston

Der Codex

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Ronald M. Hahn

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. Kapitel81. Kapitel82. Kapitel83. Kapitel84. Kapitel85. Kapitel86. Kapitel87. Kapitel
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1

Tom Broadbent nahm die letzte Kurve der sich dahinschlängelnden Straße und stellte fest, dass seine beiden Brüder bereits am großen Eisentor des Landsitzes der Broadbents warteten. Philip klopfte an einem Torpfosten gereizt die Tabakskrümel aus seiner Pfeife, und Vernon betätigte mehrmals energisch den Klingelknopf. Das Haus stand in finsterem Schweigen hinter ihnen und ragte wie der Palast eines Paschas auf dem Hügel auf. Reihen von Fenstern, Schornsteine und Türmchen glitzerten im hellen nachmittäglichen Sonnenschein von Santa Fe, New Mexico.

»Vater ist doch sonst immer pünktlich«, sagte Philip. Er steckte sich die Pfeife zwischen die weißen Zähne und biss leise klickend auf das Mundstück. Dann drückte auch er den Klingelknopf, schob seine Manschette hoch und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Tom fand, dass Philip sich kaum verändert hatte: Bruyère-Pfeife, ironischer Blick, glatt rasierte Wangen, Rasierwasser, das Haar aus der hohen Stirn nach hinten gekämmt. An seinem Handgelenk funkelte eine goldene Uhr. Er trug graue Hosen und ein Marinejackett. Sein britischer Akzent klang noch etwas versnobter als sonst. Im Gegensatz zu ihm wirkte Vernon mit seiner Gaucho-Hose, den Sandalen, dem langen Haar und dem Bart wie Jesus.

»Er führt uns schon wieder an der Nase rum.« Vernon drückte abermals den Klingelknopf. Der in den Piñon-Bäumen wispernde Wind brachte den Duft von warmem Harz und Staub mit. In dem großen Haus blieb alles still.

Als Philip sich Tom zuwandte, wehte der Geruch teuren Pfeifentabaks durch die Luft. »Wie ist die Lage bei den Indianern draußen, Tom?«

»Bestens.«

»Freut mich zu hören.«

»Und bei dir?«

»Fantastisch. Könnte nicht besser sein.«

»Vernon?«, fragte Tom.

»Alles im Lot. Keine Probleme.«

Das Gespräch erstarb. Sie schauten sich an. Dann blickten sie verlegen in eine andere Richtung. Tom hatte seinen Brüdern noch nie viel zu sagen gehabt. Über ihnen flog krächzend eine Krähe dahin. Eine unbehagliche Stille senkte sich auf die am Tor versammelte Gruppe herab. Nach einer Weile setzte Philip der Klingel erneut heftig zu. Schließlich warf er einen finsteren Blick durch das Tor und packte das gusseiserne Gestänge. »Sein Wagen steht noch in der Garage. Vielleicht ist ja nur die Klingel kaputt.« Er holte tief Luft. »Hallooo! Vater! Deine anhänglichen Söhne sind da!«

Ein quietschendes Geräusch ertönte, dann öffnete sich das Tor unter dem Druck seiner Hände.

»Es ist gar nicht abgeschlossen«, sagte Philip überrascht. »Aber sonst lässt er es doch nie offen stehen!«

»Er ist drin und wartet auf uns«, meinte Vernon. »Das ist alles.«

Sie drückten das Tor mit den Schultern auf, und es schwang auf quietschenden Scharnieren beiseite. Vernon und Philip schritten zu ihren Autos, um sie auf dem Grundstück zu parken. Tom ging zu Fuß weiter. Kurz darauf stand er vor dem Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Wie viele Jahre waren seit seinem letzten Besuch vergangen? Drei? Es erfüllte ihn mit eigenartigen und widersprüchlichen Gefühlen: Der Erwachsene kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück. Die Größe des Anwesens war selbst für Santa Fe von protzigem Prunk. Die kiesbestreute Zufahrt führte in einem Halbkreis an zwei massiven Türflügeln aus dem 17. Jahrhundert vorbei. Die Tür bestand aus handgeschlagenen Mesquite-Platten. Das Haus war ein Kunstwerk der Bildhauerei für sich – ein mit abgerundeten Mauern versehenes niedriges Gebäude aus Adobeziegeln, verzierten Strebepfeilern, Vigas, Latillas, Nischen, Portalen und echten Schornsteinkappen. Umgeben war es von Pappeln und einer smaragdgrünen Wiese. Da es auf einer Hügelkuppe stand, hatte man eine wunderbare Aussicht auf die Berge, die Hochwüste, die Lichter der Stadt und die über den Jemez-Bergen aufziehenden sommerlichen Kumuluswolken. Es hatte sich zwar nicht verändert, doch wirkte seine Ausstrahlung irgendwie anders. Vielleicht, dachte Tom, habe ich mich ja verändert.

Eines der Garagentore stand offen. Tom sah, dass der grüne Mercedes-Geländewagen seines Vaters in der Nische abgestellt war. Dann hörte er die Fahrzeuge seiner Brüder über den Kies der Zufahrt knirschen. Sie parkten vor dem Haupteingang. Türen wurden zugeschlagen, dann gesellten sich die beiden zu Tom, der bereits vor dem Haus stand.

Gleichzeitig machte sich in Toms Magen ein mulmiges Gefühl breit.

»Worauf warten wir?« Philip ging zum Haupteingang hinauf und betätigte mehrmals die Klingel. Vernon und Tom folgten ihm.

Es herrschte absolute Stille.

Philip, wie immer ungeduldig, drückte zum letzten Mal auf den Knopf. Tom hörte das dumpfe Läuten drinnen im Haus. Die Töne erinnerten ihn an die ersten Akkorde des Liedes »Mame«. Seiner Meinung nach wäre dies für den bizarren Humor ihres Vaters typisch gewesen.

Philip legte die Hände an den Mund und rief: »Hallooo!«

Noch immer tat sich nichts.

»Glaubt ihr, er ist krank?«, fragte Tom. Das unbehagliche Gefühl in seinem Innern wurde stärker.

»Ach was«, sagte Philip ärgerlich. »Das ist nur wieder eins von seinen Spielchen.« Er schlug so fest mit der geballten Faust auf die massive mexikanische Tür ein, dass es laut krachte.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Als Tom sich umschaute, fiel ihm auf, dass der Hof leicht heruntergekommen wirkte: Der Rasen war nicht gemäht. In den Tulpenbeeten wucherte Unkraut.

»Ich schau mal durch ein Fenster«, sagte er.

Er bahnte sich seinen Weg durch eine gestutzte Chamisa-Hecke, durchquerte auf Zehenspitzen ein Blumenbeet und lugte durch das Wohnzimmerfenster. Irgendetwas war eindeutig anders, aber er brauchte eine Weile, bis es ihm dämmerte. Der Raum wirkte normal: Er sah die gleichen Ledersofas und Ohrensessel wie immer und auch den gleichen Steinkamin und den gleichen Kaffeetisch. Aber über dem Kamin hatte ein großes Gemälde gehangen, das nun fehlte. Welches, wusste er nicht mehr genau. Tom dachte angestrengt nach. Der Braque? Oder der Monet? Dann fiel ihm auf, dass die altrömische Bronzestatue, die einen Knaben darstellte, ebenfalls fehlte. Sie hatte bisher auf der linken Kaminhälfte Hof gehalten. Das Bücherregal wies Lücken auf. Bücher waren herausgenommen worden. Der Raum wirkte unordentlich. Hinter dem Türrahmen, der in den Korridor führte, lag Müll auf dem Boden: zerknülltes Papier, ein Blisterverpackungsstreifen, eine herrenlose Rolle Klebeband.

»Wie stehen die Aktien, Alter?«, rief Philip um die Ecke.

»Schau’s dir lieber selbst mal an!«

Philips spitze Ferragamo-Schuhe bahnten sich ihren Weg durch die Büsche. Seine Miene zeigte Verärgerung. Vernon kam hinter ihm her.

Philip lugte durch das Fenster und schnappte nach Luft. »Der Lippi«, keuchte er, »über dem Sofa. Er ist weg. Und der Braque über dem Kamin auch! Er hat alle Bilder abgehängt! Er hat sie verkauft!«

»Reg dich nicht auf, Philip«, sagte Vernon. »Vermutlich hat er das Zeug nur weggepackt. Vielleicht will er umziehen. Du liegst ihm doch seit Jahren in den Ohren, dass das Haus zu groß für ihn und zu abgelegen ist.«

Philips Miene entspannte sich augenblicklich. »Ja, stimmt. Hast Recht.«

»Wahrscheinlich ist das auch der Grund für diese mysteriöse Zusammenkunft«, meinte Vernon.

Philip nickte und tupfte sich mit einem Seidentaschentuch die Stirn ab. »Der Flug hat mich wahrscheinlich ermüdet. Du hast Recht, Vernon. Natürlich sind sie beim Packen. Aber welche Unordnung die hinterlassen haben! Wenn Vater das sieht, kriegt er einen Anfall.«

Als die drei Brüder da so zwischen den Büschen standen und sich anschauten, brach Schweigen aus. Toms Unbehagen hatte den Höhepunkt erreicht. Wenn ihr Vater umzog, geschah es unter eigenartigen Umständen.

Philip nahm die Pfeife aus dem Mund. »Was meint ihr? Glaubt ihr, er stellt uns wieder mal auf die Probe? Gibt uns ein kleines Rätsel auf?«

»Ich breche ein«, erklärte Tom.

»Und die Alarmanlage?«

»Die kann mich mal.«

 

Tom umrundete das Haus. Seine Brüder folgten ihm. Er stieg über eine Mauer in einen kleinen umzäunten Garten mit einem Springbrunnen. Ein Schlafzimmerfenster befand sich in Augenhöhe. Tom zog einen Stein aus der Beetumrandung. Er nahm ihn mit zum Fenster, ging in Stellung, hob ihn hoch.

»Willst du wirklich die Scheibe einschlagen?«, fragte Philip. »Wie sportlich.«

Tom holte mit dem Stein aus und warf ihn durch die Scheibe. Als das Klirren des Glases verklungen war, blieben alle abwartend stehen und lauschten.

Stille.

»Kein Alarm«, konstatierte Philip.

Tom schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht.«

Philip lugte durch die zerbrochene Scheibe. Tom sah ihm schon am Gesicht an, dass ihm eine Idee kam. Philip fluchte, dann sprang er wie der Blitz durch die eingeschlagene Fensterscheibe – die Pfeife zwischen den Zähnen, ohne an seine teuren Schuhe zu denken.

Vernon schaute Tom an. »Was hat er denn?«

Tom stieg, ohne zu antworten, ebenfalls durch das Fenster. Vernon folgte ihm.

Das Schlafzimmer sah aus wie der Rest des Hauses – bar aller Kunstwerke. Es war ein Chaos: schmutzige Fußabdrücke auf dem Teppich, Müll, Klebestreifen, Blisterverpackung, Holzwolle, Nägel und abgesägte Bauholzreste. Tom ging in den Korridor. Dort fand er weitere kahle Wände vor. Er erinnerte sich an Werke von Picasso, Braque und an zwei Maya-Säulen. Alles war weg.

Mit einem zunehmenden Gefühl der Panik durchquerte er den Korridor und machte dann am Wohnzimmereingang Halt. Philip stand mitten im Raum und schaute sich mit bleicher Miene um. »Ich habe ihm pausenlos prophezeit, dass es einmal passieren würde. Er war verdammt sorglos, diesen ganzen Krempel einfach hier aufzubewahren. So gottverdammt sorglos.«

»Was?«, rief Vernon erschrocken. »Was ist denn, Philip? Was ist passiert?«

»Man hat uns ausgeraubt«, sagte Philip. Seine Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war, klang, als habe er Schmerzen.

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2

Detective Lieutenant Hutch Barnaby von der Polizei in Santa Fe legte eine Hand auf seinen knochigen Brustkorb und kippte den Stuhl nach hinten. Er hob eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffee an die Lippen. Die zehnte an diesem Tag. Als er aus dem Fenster auf die einsame Pappel blickte, stieg ihm das bittere Aroma in seine Hakennase. Ein wunderschöner Frühlingstag in Santa Fe, New Mexico, Vereinigte Staaten von Amerika, dachte er und schmiegte seine langen Gliedmaßen stärker in den Stuhl. 15. April. Die Iden des April. Die Steuerrückzahlung ist fällig. Alle hingen zu Hause rum und zählten die Kohle, ernüchtert aufgrund ihrer Sterblichkeit und ihrer knauserigen Gedanken. Sogar die Verbrecher hatten sich einen Tag freigenommen.

Barnaby nippte an seinem Kaffee. Ihn erfüllte eine große Zufriedenheit. Wenn man ignorierte, dass irgendwo außerhalb seines Büros leise ein Telefon klingelte, war das Leben doch schön.

Am Rand seines Bewusstseins erklang die fachkundige Stimme Doreens, die den Anruf annahm. Ihre forschen Vokale wehten durch die offene Tür herein. »Moment mal. Entschuldigen Sie, könnten Sie etwas langsamer sprechen? Ich gebe Ihnen den Sergeant vom Dienst …«

Barnaby übertönte das Gespräch mit lautem Kaffeeschlürfen, schob ein Bein in Richtung Bürotür und schloss sie mit einem leichten Tritt. Ah, die herrliche Stille kehrte zurück. Barnaby wartete ab. Dann kam es auch schon: das Klopfen.

Verfluchter Anruf.

Barnaby stellte die Kaffeetasse auf den Schreibtisch und richtete sich ein Stück aus seiner hingefläzten Haltung auf. »Ja?«

Sergeant Harry Fenton öffnete die Tür. Seine Miene wirkte so dienstgeil wie nur was. Fenton gehörte nicht zu denen, die eine ruhige Kugel schieben wollten. Schon sein Gesicht reichte, um Barnaby zu sagen, dass eine Riesenkacke im Anmarsch war.

»Hutch?«

»Hmmm?«

»Die Broadbents sind beraubt worden«, sagte Fenton außer Atem. »Ich hatte gerade einen der Söhne am Telefon.«

Hutch Barnaby rührte keinen Muskel. »Was wurde geraubt?«

»Alles.« Fentons schwarze Augen funkelten erfreut.

Barnaby nippte an seinem Kaffee. Dann trank er noch ein Schlückchen. Schließlich ließ er die vorderen Stuhlbeine mit einem leisen Klacken auf den Boden sinken. Verdammt.

 

Als sie über den alten Santa-Fe-Trail fuhren, sprach Fenton über den Raub. Die Sammlung, hatte er gehört, war eine halbe Milliarde wert. Falls die Wahrheit auch nur in die Nähe der Summe kam, würde die Sache seiner Meinung nach bald auf der Titelseite der »New York Times« stehen. Und sein Name auch. Kann sich einer das vorstellen?

Barnaby konnte es sich nicht vorstellen. Aber er sagte nichts. Er war Fentons Enthusiasmus gewöhnt. Er hielt am Ende der gewundenen Straße an, die zum klotzigen Palast der Broadbents führte. Fenton stieg an der anderen Seite des Wagens aus. Sein Gesicht strahlte erwartungsvoll. Er schob das Kinn vor, sein riesiger Zinken wies ihnen die Richtung. Als sie den Weg hinaufgingen, suchte Hutch das Grundstück mit Blicken ab und erspähte die verwischten Reifenspuren eines Semitrailers, der hier rein- und rausgefahren war. Die Banditen waren absolut kaltblütig vorgegangen. Also war Broadbent entweder nicht daheim gewesen, oder man hatte ihn umgebracht. Letzteres war wahrscheinlicher. Vermutlich würden sie seine starre Leiche irgendwo im Haus drinnen finden.

Der Weg machte einen Knick und verlief gerade weiter. Ein offenes Tor kam ins Blickfeld. Es bewachte ein weitläufiges Adobehaus, das zwischen Pappeln auf einer Wiese stand. Barnaby hielt kurz an, um es zu untersuchen. Eine mechanische Konstruktion, von zwei Motoren bewegt. Nichts wies darauf hin, dass es gewaltsam geöffnet worden war, doch stand der Stromkasten offen, und in seinem Innern war ein Schlüssel zu sehen. Barnaby ging in die Hocke und schaute ihn sich an. Der Schlüssel steckte im Schloss und war gedreht worden, um das Tor zu öffnen.

Er wandte sich zu Fenton um. »Was hältst du davon?«

»Sie sind mit ’nem Semi hier raufgefahren und hatten einen Torschlüssel. Die Typen waren vom Fach. Schätze, wir werden Broadbents Leiche im Haus finden.«

»Genau deswegen mag ich dich, Fenton. Du bist mein zweites Gehirn.«

Barnaby hörte einen Schrei. Als er aufschaute, sah er drei Männer, die sich ihnen über den Rasen hinweg näherten. Die Junioren latschten einfach übers Gras.

Barnaby stand wütend auf. »Herrgott! Wollen Sie alle Spuren zertrampeln?«

Die Männer blieben stehen, doch der Anführer, ein großer Bursche im Anzug, ging weiter. »Wer sind Sie überhaupt?« Seine Stimme klang lässig und hochnäsig.

»Ich bin Detective Lieutenant Hutchinson Barnaby«, erwiderte Barnaby. »Und das ist Sergeant Harry Fenton. Wir sind von der Polizei von Santa Fe.«

Fenton warf den Männern ein kurzes Lächeln zu. Es war aber kaum mehr als ein Zähnefletschen.

»Sind Sie die Söhne?«

»Ja, genau«, sagte der Anzug.

Fentons Lippen zuckten erneut.

Barnaby brauchte einen Moment, um die Söhne als mögliche Verdächtige abzuschätzen. Der Hanf-Hippie hatte ein ehrliches, offenes Gesicht. Er war vielleicht nicht die hellste Leuchte im Laden, aber sicher kein Räuber. Barnaby registrierte respektvoll, dass die Pferdekacke an den Stiefeln des Cowboy-Typs echt war. Dann war da noch der Laffe im Anzug, der aussah wie ein New Yorker. Laut Hutch Barnabys Einstellung war jeder New Yorker ein potentieller Mörder. Selbst die New Yorker Omas. Er musterte die Männer erneut: Drei unterschiedlichere Brüder konnte man sich nicht vorstellen. Komisch, dass so was in einer Familie vorkam.

»Dies hier ist ein Tatort, meine Herren, deswegen muss ich Sie bitten, das Gelände zu verlassen. Gehen Sie durchs Tor nach draußen, stellen Sie sich unter einen Baum und warten Sie auf uns. In Ordnung? Laufen Sie bitte nicht hier herum; fassen Sie nichts an und reden Sie nicht miteinander über das Verbrechen oder über das, was Sie beobachtet haben.«

Barnaby drehte sich um, dann fiel ihm noch etwas ein: »Die ganze Sammlung ist weg?«

»Das hab ich doch schon am Telefon gesagt«, sagte der Anzug.

»Wie viel – über’n Daumen – war sie wert?«

»Ungefähr fünfhundert Millionen.«

Barnaby griff an seine Hutkrempe und schaute Fenton an. Der Ausdruck unverhüllter Freude auf dem Gesicht seines Kollegen reichte aus, um einem Zuhälter Angst einzujagen.

Als Barnaby zum Haus ging, fiel ihm ein, dass er lieber vorsichtig sein sollte, denn dieser Fall würde zu jeder Menge Nachfragen führen. Das FBI, Interpol und Gott weiß wer würden sich einmischen. Aber es war wohl in Ordnung, wenn sie sich kurz umsahen, bevor die Spurensicherung aufkreuzte. Er klemmte die Daumen hinter den Gürtel und schaute sich das Haus an. Ob die Sammlung wohl versichert gewesen war? Auch das musste eruiert werden. Wenn ja, war Maxwell Broadbent vielleicht nicht ganz tot. Vielleicht schlürfte er in diesem Moment in Begleitung eines scharfen Hasen am Strand von Phuket Margaritas.

»War Broadbent versichert?«, fragte Fenton.

Barnaby grinste seinen Partner an, dann richtete er den Blick wieder auf das Haus. Er begutachtete die eingeschlagene Scheibe, das Durcheinander der Fußabdrücke auf dem Kies, das zertrampelte Buschwerk. Die frischen Spuren hatten die Söhne hinterlassen, aber es gab hier auch noch eine ganze Reihe älterer Fußabdrücke. Barnaby sah, wo der Umzugslaster geparkt hatte, wo er schwerfällig hin und her manövriert worden war. Offenbar waren seit dem Raub ein bis zwei Wochen vergangen.

Das Wichtigste war das Aufspüren der Leiche – falls es eine gab. Barnaby betrat das Haus. Er begutachtete die Klebebänder, das Blisterverpackungsmaterial, die Nägel und liegen gebliebenen Holzstückchen. Auf dem Läufer fanden sich Sägespäne. Außerdem bemerkte er schwache Vertiefungen. Die Leute hatten tatsächlich eine Tischsäge mitgebracht. Man hatte außergewöhnlich professionelle Arbeit geleistet, die nicht ohne Lärm abgegangen war. Die Diebe hatten nicht nur genau gewusst, was sie taten, sie hatten sich auch Zeit gelassen, um das Ding richtig zu drehen. Barnaby hob die Nase witternd in die Luft. Es roch nicht nach dem süßsauren Gestank einer Leiche.

Im Haus wirkte der Raub ebenso lang her wie draußen. Es musste vor einer Woche passiert sein. Vielleicht auch vor zweien. Barnaby bückte sich und schnüffelte am Ende eines abgesägten Holzstücks. Es roch nicht wie frisch abgesägt. Er hob einen Grashalm auf, den jemand ins Haus geschleppt hatte, und zerbröselte ihn zwischen den Fingern. Trocken. Auch die von einem schlurfenden Stiefel ins Haus getragenen Erdklümpchen waren absolut dröge. Barnaby erinnerte sich: Heute vor zwei Wochen hatte es zum letzten Mal geregnet. An diesem Tag war es passiert; höchstens vierundzwanzig Stunden nach dem Regen, als der Boden noch nass gewesen war.

Er schlenderte durch einen riesigen gewölbten Mittelgang. Sein Blick fiel auf die mit Bronzeplatten versehenen Sockel, auf denen einst Statuen gestanden hatten. Die gekalkten Wände zeigten schwach erkennbare Rechtecke. Dort hatten Gemälde gehangen. Auf Eisengestellen waren blassgelbe Kreise zu sehen, auf denen einst antike Behältnisse gestanden hatten. In den leeren Regalen gab es verstaubte Lücken. Auch dort hatten vermutlich Schätze geruht. Dunkle Stellen in den Bücherregalen zeigten an, wo man Bücher entfernt hatte.

Barnaby kam an die Schlafzimmertür und begutachtete eine Reihe schmutziger hinein- und hinausführender Fußabdrücke. Noch mehr getrocknete Erde. Herrgott, es waren mindestens ein halbes Dutzend Leute gewesen. Sie hatten sich heftig abgeplackt und waren mindestens einen, wenn nicht gar zwei Tage hier gewesen.

Im Schlafzimmer stand ein Apparat. Barnaby erkannte in ihm einen jener Schaumstoffautomaten, wie man sie bei UPS einsetzte. In einem anderen Raum fand er einen Einschweißer für größere Gegenstände. Er stieß auf Holzstapel, Filzrollen, Metallverschlussband, Schrauben, Muttern und mehrere Handsägen. Liegen gebliebene Gerätschaften, ein paar tausend Dollar wert. Die Diebe hatten sich nicht die Mühe gemacht, irgendetwas anderes mitzunehmen: Im Wohnzimmer standen ein Fernseher im Wert von tausend Dollar, ein Videorekorder, ein DVD-Player und zwei Computer. Barnaby dachte an seinen eigenen Schrottfernseher und an seinen Videorekorder und an die Raten, die er für die Geräte noch abzahlte, mit denen seine Frau und ihr neuer Freund sich zweifellos jeden Abend Pornofilme reinzogen.

Er stieg vorsichtig über eine am Boden liegende Videokassette hinweg. »Drei zu fünf, dass der Typ tot ist. Zwei zu fünf, dass es sich um Versicherungsbetrug handelt.«

»Du lässt wahrhaftig kein Vergnügen aus, das das Leben einem bietet, Fenton.«

Irgendjemand musste diese ganzen Aktivitäten hier oben doch gesehen haben. Das Haus stand auf einem Hügel und war von Santa Fe aus überall sichtbar. Hätte er sich vor zwei Wochen die Mühe gemacht, einen Blick aus dem Fenster seiner Hütte im Tal zu werfen, hätte er den Raub vielleicht sogar selbst beobachtet: Hier waren in der Nacht bestimmt alle Lichter an gewesen, und die Lasterscheinwerfer hatten den Hügel hinab geleuchtet. Er wunderte sich erneut über die Dreistigkeit der Diebe. Wieso waren sie so rotzfrech vorgegangen? Das war doch nicht normal.

Barnaby warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Der Wagen der Spurensicherung würde jeden Moment hier sein.

Er durchquerte rasch und methodisch die Räume und schaute sich um. Notizen machte er sich allerdings keine. Denn Notizen, das hatte er gelernt, kehrten immer wieder zurück, um einen zu piesacken. Alle Räume waren geplündert. Die Leute hatten wirklich perfekt gearbeitet. In einem Zimmer hatten sie einen Haufen Schachteln ausgepackt. Überall lag Papier auf dem Boden verstreut. Barnaby hob ein Blatt auf. Es war irgendein Lieferschein. Er war vor einem Monat ausgestellt worden und bezog sich auf französische Kochtöpfe und Pfannen im Wert von vierundzwanzigtausend Dollar sowie deutsche und japanische Messer. Wollte der Typ ein Restaurant aufmachen?

Im hinteren Teil des Schlafzimmers stieß er auf einen Schrank, der so groß war, dass man in ihn hineingehen konnte – und auf eine riesige Stahltür, die einen Spalt offen stand.

»Fort Knox«, meinte Fenton.

Barnaby nickte. Irgendwie war es verwunderlich, dass es in einem Haus voller Millionen-Dollar-Gemälden etwas gab, das so wertvoll war, dass man es in einen Safe legte.

Barnaby schlüpfte hinein, ohne die Tür anzufassen. Der Safe war leer, wenn man von dem am Boden verstreuten Abfall und einigen Landkartenfutteralen aus Holz absah. Barnaby zog sein Taschentuch hervor und verwendete es, um eine Schublade zu öffnen. Das Schubladeninnere war mit Samt ausgeschlagen, der Vertiefungen aufwies; was wiederum besagte, dass dort einst Gegenstände gelegen hatten. Barnaby schob die Schublade wieder zu, drehte sich zur Tür um und untersuchte kurz das Schloss. Es wies keinerlei Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens auf. Auch war keiner der verschlossenen Behälter aufgebrochen worden, die er in den einzelnen Räumen gesehen hatte.

»Die müssen jeden Kode und alle Schlüssel gehabt haben«, konstatierte Fenton.

Barnaby nickte. Dies hier war kein Raub.

Er ging hinaus und drehte eine rasche Runde durch den Garten. Das Grundstück wirkte vernachlässigt. Überall wucherte Unkraut. Niemand hatte es gerupft. Das Gras war seit ein paar Wochen nicht mehr gemäht worden. Die gesamte Umgebung wirkte irgendwie heruntergekommen. Barnaby hatte den Eindruck, dass die Vernachlässigung schon vor dem vermeintlichen, vor zwei Wochen stattgefundenen Raub angefangen hatte. Es sah so aus, als habe der Niedergang des Grundstücks schon vor ein, zwei Monaten begonnen.

Falls dies ein Versicherungsfall war, hingen die Söhne auch mit drin. Vermutlich.

[home]

3

Als Barnaby sie fand, standen sie schweigend und bedrückt, mit vor der Brust verschränkten Armen, im Schatten einer Pappel. Während der Lieutenant herankam, fragte der Anzugtyp: »Haben Sie was gefunden?«

»Zum Beispiel?«

Der Mann setzte eine finstere Miene auf. »Haben Sie eine Vorstellung von dem, was gestohlen wurde? Es geht um mehrere hundert Millionen. Herrgott, wer kann da glauben, dass er bei dieser Sache straflos davonkommt? Einige der Kunstwerke sind weltberühmt! Zu der Beute gehört ein Filippo Lippi. Der allein ist schon vierzig Millionen wert. Wahrscheinlich ist das Zeug schon in den Mittleren Osten oder nach Japan unterwegs. Sie müssen das FBI und Interpol benachrichtigen und die Flughäfen sperren lassen …«

Er hielt inne, um Luft zu holen.

»Lieutenant Barnaby hat ein paar Fragen«, sagte Fenton. Er übernahm die Rolle, die er stets so gut spielte. Seine Stimme klang zwar eigenartig hoch und sanft, doch sie hatte einen bedrohlichen Unterton. »Nennen Sie uns bitte Ihre Namen.«

Der mit den Cowboy-Stiefeln trat vor. »Ich bin Tom Broadbent, und das sind meine Brüder Vernon und Philip.«

»Hören Sie, Officer«, sagte der namens Philip. »Die Kunstwerke sind offensichtlich ins Schlafzimmer irgendeines Scheichs unterwegs. Kein Mensch könnte den Krempel auf dem freien Markt verkaufen – dazu sind die Werke zu bekannt. Nehmen Sie’s nicht persönlich, aber ich glaube wirklich, dass die Polizei von Sana Fe mit diesem Fall überfordert ist.«

Barnaby zückte sein Notizbuch und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sie hatten noch fast eine halbe Stunde, bevor der Wagen der Spurensicherung aus Albuquerque eintraf.

»Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Philip? Hat jemand was dagegen, dass ich ihn mit dem Vornamen anspreche?«

»Nein, nein, machen Sie nur.«

»Wie alt sind Sie?«

»Ich bin einunddreißig«, antwortete Tom.

»Fünfunddreißig«, sagte Vernon.

»Siebenunddreißig«, gab Philip an.

»Dann sagen Sie mir mal, wieso Sie alle gleichzeitig hier sind?« Barnabys Blick fiel auf den New-Age-Typen – Vernon, der so aussah, als sei er als Lügner absolut inkompetent.

»Unser Vater hat uns einen Brief geschickt.«

»Um was ging’s darin?«

»Tja …« Vernon schaute seine Brüder nervös an. »Das hat er nicht geschrieben.«

»Haben Sie irgendeine Vermutung?«

»Eigentlich nicht.«

Barnabys Blick wanderte weiter. »Philip?«

»Ich hab keinen Schimmer.«

Barnaby nahm Tom ins Visier. Irgendwie gefiel ihm sein Gesicht. Er gehörte offenbar nicht zu denen, die lange herumlaberten. »Können Sie mir vielleicht helfen, Tom?«

»Ich glaube, er wollte mit uns über unser Erbe reden.«

»Erbe? Wie alt war Ihr Vater?«

»Sechzig.«

Fenton beugte sich vor und wandte mit heiserer Stimme ein: »War er krank?«

»Ja.«

»Wie krank?«

»Er hatte Krebs«, erwiderte Tom kühl.

»Tut mir Leid«, sagte Barnaby. Er legte die Hand auf Fentons Arm, als wolle er ihn daran hindern, weitere taktlose Fragen zu stellen. »Hat jemand den bewussten Brief dabei?«

Die Brüder zückten das gleiche Schreiben. Es war mit der Hand auf Chamois-Papier geschrieben. Interessant, dachte Barnaby, dass alle den Brief dabeihaben. Dies deutete an, dass sie die Zusammenkunft wichtig nahmen. Er nahm eines der Schreiben an sich und las.

Lieber Tom,

ich möchte, dass du am 15. April, pünktlich um 13.00 Uhr, nach Santa Fe in mein Haus kommst. Es geht um eine sehr wichtige Angelegenheit, die deine Zukunft betrifft. Ich habe Philip und Vernon ebenfalls hergebeten und Geld für die Reisekosten beigelegt. Sei bitte pünktlich: Punkt 13.00 Uhr. Erweise deinem alten Herrn diese letzte Höflichkeit.

Vater

»Bestand irgendeine Chance, ihn vom Krebs zu heilen, oder saß er dem Tod schon auf der Schaufel?«, fragte Fenton.

Philip schaute ihn an, dann wandte er sich Barnaby zu. »Wer ist dieser Mann?«

Barnaby warf Fenton, der gelegentlich übers Ziel hinausschoss, einen warnenden Blick zu. »Wir sind alle auf der gleichen Seite und versuchen ein Verbrechen aufzuklären.«

»Soweit ich weiß«, sagte Philip grollend, »bestand keine Chance auf Heilung. Unser Vater hatte Bestrahlungen und Chemotherapien, aber der Krebs hat Metastasen gebildet, die man nicht entfernen kann. Er hat jede weitere Behandlung abgelehnt.«

»Tut mir Leid«, sagte Barnaby. Er versuchte erfolglos, ein wenig Mitleid vorzutäuschen. »Kommen wir noch mal auf den Brief zurück. Hier steht was über Reisespesen. Wie viel Geld war den Briefen beigelegt?«

»Zwölfhundert Dollar in bar«, sagte Tom.

»In bar? In welcher Form?«

»Zwölf Hundert-Dollar-Scheine. Es war typisch für unseren Vater, Bargeld zu verschicken.«

Fenton mischte sich erneut ein. »Wie lange hatte er noch zu leben?« Er schob das Kinn vor und richtete die Frage an Philip. Fentons Kopf war hässlich, sehr schmal und eckig. Er hatte dicke Augenwülste, tief liegende Augen, eine große Nase, in der schwarze Haare wucherten, schiefe braune Zähne und ein fliehendes Kinn. Seine Haut war olivfarben, denn er war trotz seines angelsächsischen Namens ein Hispano aus der tief in den Sangre-de-Criso-Bergen liegenden Stadt Truchas. Wenn man nicht wusste, dass er eine Seele von Mensch war, konnte er einem wirklich Angst einjagen.

»Ungefähr ein halbes Jahr.«

»Weswegen hat er Sie herbestellt? Um mit seinem Zeug ein bisschen ›Ene mene muh und raus bist du‹ zu spielen?«

Wenn Fenton die Sau rauslassen wollte, konnte er gemein sein. Aber er hatte Erfolg damit.

»Was für eine entzückende Ausdrucksweise«, sagte Philip eisig. »Ich schätze aber, es wäre möglich.«

»Hätte er bei einer derartigen Sammlung«, wandte Barnaby sanft ein, »keine Vorbereitungen getroffen, um sie einem Museum zu hinterlassen?«

»Maxwell Broadbent konnte Museen nicht ausstehen.«

»Warum nicht?«

»Weil sie, was die unorthodoxen Sammlerpraktiken unseres Vaters anbetrifft, seine heftigsten Kritiker waren.«

»Und wie sahen seine Praktiken aus?«

»Er hat Kunstwerke dubioser Herkunft gekauft, mit Grabräubern und Plünderern Geschäfte gemacht und Antiquitäten eingeschmuggelt. Er hat sogar selbst Gräber ausgeraubt. Ich habe Verständnis für seine Antipathie. Museen sind Bastionen der Heuchelei und Habgier. Sie kritisieren jeden, der, um seine Sammlung zu vervollständigen, die gleichen Methoden anwendet wie sie.«

»Hätte er die Sammlung nicht einer Universität hinterlassen können?«

»Er hat Akademiker gehasst. Er hat sie Pappnasen genannt. Die akademische Welt, speziell die Archäologen, haben ihm vorgeworfen, dass er in Mittelamerika Tempel geplündert hat. Ich verrate hier keine Familiengeheimnisse: Die Geschichte ist allgemein bekannt. Sie brauchen nur irgendeine Ausgabe des Archeology Magazine aufzuschlagen, dann können Sie lesen, dass unser Vater laut den Aussagen der Akademiker eine Reinkarnation des Teufels war.«

»Hatte er vor, die Sammlung zu verkaufen?«, drängte Barnaby weiter.

Philip kräuselte geringschätzig die Lippen. »Verkaufen? Er musste sich sein Leben lang mit Auktionshäusern und Kunsthändlern abgeben. Er hätte sich lieber zu Tode foltern lassen, bevor er denen den Auftrag erteilt hätte, auch nur einen mittelmäßigen Druck zu verhökern.«

»Dann wollte er das ganze Zeug also Ihnen hinterlassen?«

Eine unbehagliche Stille breitete sich aus. »Davon«, sagte Philip schließlich, »sind wir ausgegangen.«

»Kirche?«, mischte Fenton sich ein. »Ehefrau? Freundin?«

Philip nahm die Pfeife aus dem Mund und erwiderte in einer perfekten Imitation von Fentons Telegrammstil: »Atheist. Geschieden. Frauenhasser.«

Seine Brüder fingen an zu lachen. Hutch Barnaby stellte fest, dass er angesichts von Fentons Verdruss eine gewisse Schadenfreude empfand. Es kam nur selten vor, dass jemand seinem Kollegen beim Verhör eins überbriet. Dieser Philip war trotz seines anmaßenden Charakters ein zäher Knochen. Doch auf seinem langen intelligenten Gesicht war eine Spur von Trauer zu erkennen – als hätte er einen Verlust erfahren.

Barnaby hielt den Männern den Lieferschein für den Versand der Küchengeräte hin. »Haben Sie irgendeine Ahnung, was das hier zu bedeuten hat oder an wen das Zeug gegangen ist?«

Sie untersuchten den Schein, schüttelten den Kopf und gaben ihn Barnaby zurück. »Er hat überhaupt nicht gern gekocht«, sagte Tom.

Barnaby schob das Dokument in die Tasche. »Erzählen Sie mir etwas über Ihren Vater. Wie er aussieht; was er für ’ne Persönlichkeit ist; was er für Geschäfte gemacht hat und so weiter.«

Tom meldete sich wieder zu Wort. »Er ist … ein einmaliger Typ.«

»Inwiefern?«

»Körperlich betrachtet ist er ein Riese. Er ist fast eins neunzig groß. Er ist fit, sieht gut aus, hat breite Schultern und kein Gramm Fett zu viel am Leib. Er hat weißes Haar, einen weißen Bart und ist stark wie ein Löwe. Seine Stimme ist auch fast so laut. Die Leute sagen, dass er wie Hemingway aussieht.«

»Und seine Persönlichkeit?«

»Er gehört zu denen, denen nie ein Fehler unterläuft; die rücksichtslos alles und jeden platt machen, um zu kriegen, was sie haben wollen. Er lebt nach seinen eigenen Regeln. Er hat zwar keine höhere Schule besucht, aber er weiß mehr über Kunst und Archäologie als die meisten Studierten. Seine Religion heißt Sammeln. Für die Religionen der Menschen hat er nur Verachtung übrig. Dies ist auch ein Grund, weshalb er es als vergnüglich empfindet, Sachen zu kaufen und zu verkaufen, die aus ausgeraubten Gräbern stammen. Deswegen raubt er auch selbst Gräber aus.«

»Erzählen Sie mir mehr über diese Grabräuberei.«

Diesmal meldete sich Philip zu Wort. »Maxwell Broadbent entstammt einer Familie der Arbeiterklasse. Er ging als junger Mann nach Mittelamerika und verschwand für zwei Jahre im Dschungel. Er hat eine große Entdeckung gemacht, irgendeinen Maya-Tempel geplündert und den ganzen Krempel nach Hause geschmuggelt. So hat er angefangen. Er hat mit Kunst und Antiquitäten aus fragwürdigen Quellen gehandelt – angefangen bei griechischen und römischen Statuen, die aus Europa hergeschafft wurden, über Khmer-Reliefs, die man aus kambodschanischen Bestattungstempeln herausschlug, bis hin zu Renaissance-Gemälden, die im Krieg in Italien verschwanden. Er hat aber nicht mit dem Zeug gehandelt, um Geld zu verdienen, sondern um seine eigene Sammlung zu finanzieren.«

»Interessant.«

»Seine Methode«, sagte Philip, »war eigentlich die einzige Möglichkeit, die ein Mensch heutzutage hat, wenn er wirklich große Kunst erwerben will. Seine Sammlung enthielt vermutlich kein einziges Stück, das wirklich sauber war.«

»Einmal hat er ein Grab geplündert, auf dem ein Fluch lag«, berichtete Vernon. »Er hat ihn auf Cocktailpartys zitiert.«

»Ein Fluch? Wie lautet er?«

»Ungefähr so: Demjenigen, der die Ruhe dieser Gebeine stört, soll bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen werden, bevor man ihn tollwütigen Hyänen zum Fraße vorwirft. Anschließend soll eine Eselsherde mit seiner Mutter kopulieren. Na ja, so was in der Art eben.«

Fenton musste lachen.

Barnaby warf ihm einen warnenden Blick zu. Da er Philip schon einmal zum Reden gebracht hatte, richtete er auch die nächste Frage an ihn. Komisch, wie gern die Menschen ihre Eltern schlecht machten. »Was war sein Antrieb?«

Philip runzelte die Stirn. »Es war ungefähr so: Maxwell Broadbent liebte seine Lippi-Madonna mehr als jede echte Frau. Er liebte sein Bronzino-Porträt der kleinen Bia de Medici mehr als seine eigenen Kinder. Er liebte seine beiden Braques, seinen Monet und seine Maya-Jadeschädel mehr als alle realen Menschen in seinem Leben. Er betete seine Sammlung französischer Reliquienschreine aus dem 13. Jahrhundert, die angeblich die Gebeine von Heiligen enthielten, öfter an als jeden wahren Heiligen. Seine Sammlungen waren seine Geliebten, Kinder und seine Religion. Schöne Dinge waren sein Antrieb.«

»Das stimmt doch alles gar nicht«, sagte Vernon. »Er hat uns geliebt.«

Philip stieß ein geringschätziges Schnauben aus.

»Hat er sich nicht von deiner Mutter scheiden lassen?«

»Du meinst wohl von unseren Müttern! Er hat sich von zwei Frauen scheiden lassen. Die dritte ist gestorben. Er hatte auch zwei Frauen, die keine Kinder von ihm haben – und jede Menge Freundinnen.«

»Gab’s irgendwelche Unterhaltsstreitigkeiten?«, fragte Fenton.

»Natürlich«, erwiderte Philip. »Das ging endlos.«

»Aber er hat Sie und Ihre Brüder allein aufgezogen?«

Philip hielt inne. »Ja, auf die für ihn typische Art«, sagte er dann.

Die Worte hingen in der Luft. Barnaby fragte sich, was für ein Vater er gewesen sein mochte. Aber es war wohl besser, bei der Sache zu bleiben: Die Zeit wurde knapp. Die Jungs von der Spurensicherung konnten jeden Moment eintreffen. Danach durfte er sich glücklich schätzen, den Fuß überhaupt auf dieses Grundstück gesetzt zu haben.

»Gibt es momentan eine Frau in seinem Leben?«

»Nur zu Zwecken leichter körperlicher Betätigung in den Abendstunden«, sagte Philip. »Aber ich versichere Ihnen, die kriegt nichts.«

»Glauben Sie, dass es unserem Vater gut geht?«, mischte Tom sich ein.

»Um ehrlich zu sein, ich habe keinen Hinweis auf einen Mord gefunden. Wir sind im Haus nicht auf eine Leiche gestoßen.«

»Könnte er entführt worden sein?«

Barnaby schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Warum sollte man sich mit einer Geisel belasten?« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Ihm blieben vielleicht noch fünf Minuten, höchstens sieben. Es reichte, um die Frage zu stellen: »Ist das Zeug versichert?« Er stellte die Frage so beiläufig wie nur möglich.

Philips Miene umwölkte sich. »Nein.«

Nicht einmal Barnaby konnte seine Überraschung verbergen. »Nein?«

»Im letzten Jahr habe ich versucht, eine Versicherung abzuschließen. Doch niemand wollte die Sammlung versichern, solange sie sich ohne entsprechende Sicherheitsmaßnahmen in diesem Haus befand. Sie sehen ja selbst, wie leicht man hier einsteigen kann.«

»Warum hat Ihr Vater nicht für mehr Sicherheit gesorgt?«

»Er war ein schwieriger Mensch. Niemand konnte ihm vorschreiben, was er tun sollte. Er hatte immer jede Menge Waffen im Haus. Ich schätze, er hat angenommen, er könnte sich seiner Haut erwehren; wie im Wilden Westen und so.«

Barnaby prüfte seine Notizen und warf einen erneuten Blick auf die Uhr. Er war verwirrt. Die Einzelteile passten nicht zusammen. Er war sich völlig sicher, dass sie es nicht mit einem gewöhnlichen Raub zu tun hatten. Aber wenn das Zeug nicht versichert war … Welchen Sinn hatte es dann, sich selbst zu bestehlen? Außerdem gab es da noch die identischen Briefe an die Söhne, die sie zu diesem Zeitpunkt zu einem Treffen baten. Was hatte da noch mal gestanden? … eine sehr wichtige Angelegenheit, die deine Zukunft betrifft … Erweise deinem alten Herrn diese letzte Höflichkeit … Die Wortwahl hatte etwas sehr Zweideutiges.

»Was befand sich in dem Safe?«

»Sagen Sie bloß nicht, da waren die auch drin!« Philip griff sich mit bebender Hand an die schweißbedeckte Wange. Sein Anzug wirkte nun zerknittert, und die Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht sah echt aus.

»Doch.«

»Oh, Gott! Da waren Edelsteine und Juwelen drin. Und Gold aus Süd- und Mittelamerika. Außerdem seltene Münzen und Briefmarken, alle äußerst wertvoll.«

»Offenbar hatten die Einbrecher nicht nur Schlüssel für alle Räume, sondern sie kannten auch die Kombination. Können Sie sich vorstellen, woher sie die hatten?«

»Nein.«

»Hatte Ihr Vater einen Vertrauten? Vielleicht einen Anwalt, der einen Zweitschlüssel besaß oder die Safe-Kombination kannte?«

»Er hat niemandem vertraut.«

Das war ein wichtiger Punkt. Barnaby schaute Vernon und Tom an. »Sehen Sie das auch so?«

Die beiden nickten.

»Hatte er eine Haushaltshilfe?«

»Er hatte eine Frau, die täglich kam.«

»Einen Gärtner?«

»Der war ständig hier.«

»Sonst noch jemand?«

»Er hatte einen Koch angestellt – und eine Pflegerin, die dreimal pro Woche nach ihm sah.«

Nun mischte Fenton sich ein. Er beugte sich vor und lächelte auf die für ihn typische barbarische Weise. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Philip?«

»Wenn’s sich nicht vermeiden lässt?«

»Wieso reden Sie eigentlich in der Vergangenheitsform über Ihren Vater? Wissen Sie etwas, das wir nicht wissen?«

»Ach, um Gottes willen!«, explodierte Philip. »Kann mir denn niemand diesen Sherlock-Holmes-Verschnitt vom Hals schaffen?«

»Fenton«, murmelte Barnaby und warf seinem Kollegen einen warnenden Blick zu.

Fenton schaute ihn an. Als er Barnabys Blick sah, erstarrte seine Miene. »Verzeihung.«

»Wo sind sie jetzt?«, fragte Barnaby.

»Wer ist jetzt wo?«

»Die Haushälterin, der Gärtner, die Köchin. Der Raub hat vor zwei Wochen stattgefunden. Irgendjemand hat das Hauspersonal entlassen.«

»Der Raub fand vor zwei Wochen statt?«, sagte Tom.

»Richtig.«

»Aber ich habe den Brief doch erst vor drei Tagen per Eilboten bekommen.«

Das war interessant. »Hat sich jemand die Absenderadresse gemerkt?«

»Es war irgend so ein Kurierdienst wie Mail Boxes Etc.«, erklärte Tom.

Barnaby dachte kurz nach. »Ich muss Ihnen mitteilen«, sagte er, »dass dieser angebliche Raub gewaltig nach Versicherungsbetrug stinkt.«

»Ich hab doch schon gesagt, dass die Sammlung nicht versichert war«, erwiderte Philip.

»Sie haben es erklärt, aber ich glaube es nicht.«

»Ich kenne die Kunstversicherungsbranche, Lieutenant. Ich bin Kunsthistoriker. Die Sammlung war eine halbe Milliarde Dollar wert und stand einfach in einem Haus rum, das nur von einem technisch völlig überholten Sicherheitssystem bewacht wurde. Mein Vater hatte nicht mal einen Hund. Ich sage Ihnen, die Sammlung war nicht versicherbar.«

Barnaby schaute Philip eine ganze Weile an, dann wandte er sich den beiden anderen Brüdern zu.

Philip stieß zischend die Luft aus und blickte auf seine Uhr. »Glauben Sie nicht, dass der Fall für die Polizei von Santa Fe eine Nummer zu groß ist, Lieutenant?«

Wenn es kein Versicherungsbetrug war, was war es dann? Ein Raub war es jedenfalls nicht. In Barnabys Hirn bildete sich allmählich eine vage Idee. Eine echt bescheuerte Idee. Doch sie nahm gegen seinen Willen Gestalt an und entwickelte sich sogar zu einer Art Theorie. Er musterte Fenton kurz. Fenton hatte natürlich keinen Schimmer, denn trotz all seiner Fähigkeiten besaß er keinen Sinn für Humor.

Dann fielen Barnaby der riesige Fernseher, der Videorekorder und die Kassette auf dem Boden wieder ein. Nein, sie lag nicht nur einfach da rum. Sie war gleich neben die Fernbedienung auf den Boden gelegt worden. Und was hatte noch mal handschriftlich auf dem Etikett gestanden? SCHAU MICH AN.

Das war es. Plötzlich passte alles zusammen. Barnaby wusste genau, was passiert war. Er räusperte sich: »Kommen Sie mal mit.«

Die drei Söhne folgten ihm ins Haus zurück – ins Wohnzimmer.

»Nehmen Sie Platz.«

»Was ist denn los?« Philip wirkte zunehmend gereizt. Sogar Fenton musterte Barnaby fragend.

Barnaby hob die Kassette und die Fernbedienung auf. »Wir schauen uns jetzt ein Video an.« Er schaltete den Fernseher ein und schob die Kassette in den Schlitz.

»Wollen Sie uns verarschen?«, fragte Philip. Er weigerte sich, Platz zu nehmen. Sein Gesicht war gerötet. Seine Brüder standen verdutzt neben ihm.

»Sie stehen vor dem Bildschirm«, sagte Barnaby und setzte sich aufs Sofa. »Nehmen Sie doch Platz.«

»Das ist doch unerhört …«

Ein plötzliches Geräusch aus dem Fernseher brachte Philip zum Schweigen. Dann materialisierte sich das überlebensgroße Gesicht von Maxwell Broadbent auf dem Bildschirm. Alle drei setzten sich hin.

Broadbents tiefe, volltönende Stimme hallte durch den leeren Raum.

»Ich grüße euch aus dem Jenseits.«

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4

Tom Broadbent betrachtete das langsam schärfer werdende lebensgroße Abbild seines Vaters auf dem Bildschirm. Die Kamera fuhr schrittweise zurück und enthüllte, dass Maxwell Broadbent in seinem Büro hinter einem riesigen Schreibtisch saß und einige Papiere in seinen großen Händen hielt. Das Zimmer war noch nicht leer geräumt; das Lippi-Gemälde der Madonna hing noch hinter ihm an der Wand. In den Regalen stapelten sich Bücher, und die restlichen Bilder und Statuen waren ausnahmslos dort, wo sie hingehörten. Tom zuckte zusammen: Sogar die elektronische Aufzeichnung seines Vaters schüchterte ihn ein.

Nach der Begrüßung machte Maxwell Broadbent eine Pause. Dann räusperte er sich und richtete den Blick seiner blauen Augen genau auf die Kamera. Die Blätter, die er in der Hand hielt, zitterten leicht. Er schien unter starker Anspannung zu stehen. Dann schaute er auf die Papiere und las vor:

Lieber Philip, lieber Vernon, lieber Tom,

um die Sache kurz zu machen: Ich habe meinen Reichtum mit ins Grab genommen. Ich habe mich und meine Sammlung in einer Grabkammer bestatten lassen. Sie ist irgendwo auf der Welt versteckt – an einem nur mir bekannten Ort.

Er hielt inne, räusperte sich noch einmal, schaute kurz mit seinen blitzenden blauen Augen auf und las weiter. Seine Stimme hatte nun den leicht pedantischen Tonfall, an den Tom sich von den Tischgesprächen noch so gut erinnerte.

 

Seit über hunderttausend Jahren haben sich Menschen zusammen mit ihren kostbarsten Besitztümern bestatten lassen. Die Bestattung von Toten mitsamt ihren Schätzen hat eine ehrwürdige Geschichte und reicht von den Neandertalern über die alten Ägypter bis fast in die Gegenwart. Menschen haben sich mit ihrem Gold und Silber, mit Kunstwerken, Büchern, Medizin, Möbeln, Sklaven, Pferden und manchmal sogar mit ihren Konkubinen und Ehefrauen begraben lassen. Sie haben alles mitgenommen, von dem sie glaubten, es könne ihnen im Jenseits nützlich sein. Erst in den letzten beiden Jahrhunderten hat man aufgehört, sterbliche Überreste mit Grabbeigaben zu bestatten, und somit eine alte Tradition gebrochen.

Ich möchte diese Tradition gern neu aufleben lassen.

Es ist eine Tatsache, dass fast alle unsere Kenntnisse über die Vergangenheit aus Grabbeigaben stammen. Einige Menschen haben mich als Grabräuber bezeichnet. Stimmt nicht. Ich bin kein Räuber, sondern Wiederverwerter. Ich bin durch den Reichtum, den törichte Menschen mit ins Jenseits genommen haben, zu einem Vermögen gelangt. Ich habe beschlossen, das Gleiche zu tun wie sie und mich mit meinem ganzen weltlichen Hab und Gut bestatten zu lassen. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und mir besteht darin, dass ich kein Trottel bin. Ich weiß, dass es kein Jenseits gibt, in dem ich meinen Wohlstand genießen kann. Im Gegensatz zu meinen Vorgängern sterbe ich ohne Illusionen. Wer tot ist, ist tot. Wer stirbt, ist nur noch ein Matchbeutel voller verdorbenem Fleisch, Schmalz, Hirn und Knochen – weiter nichts.

Ich nehme meinen Reichtum aber auch noch aus einem anderen Grund mit ins Grab. Aus einem sehr wichtigen Grund sogar. Und dieser Grund betrifft euch drei.

 

Broadbent legte erneut eine Pause ein. Seine Hände zitterten leicht. Seine Kinnmuskeln spannten und entspannten sich.

»Gütiger Gott«, sagte Philip leise. Er richtete sich halb in seinem Sessel auf und ballte die Fäuste. »Es ist einfach unfassbar.«

Maxwell Broadbent hob die Papiere hoch, um weiter vorzulesen, doch da verhaspelte er sich. Er zögerte, dann stand er abrupt auf und warf sein Manuskript auf den Tisch. Scheiß drauf, sagte er und schob den Stuhl mit einer ungeduldigen Gebärde zurück. Was ich zu sagen habe, ist zu wichtig für eine Scheißrede. Er umrundete mit mehreren großen Schritten den Schreibtisch. Seine gewaltige Präsenz füllte den Bildschirm und aufgrund der Vergrößerung auch den Raum, in dem sie saßen. Er ging aufgewühlt vor der Kamera auf und ab und strich sich über seinen gestutzten Bart.

Es ist nicht leicht. Ich weiß einfach nicht, wie ich es euch dreien erklären soll.

Er wandte sich um, ging zurück.

Als ich in eurem Alter war, hatte ich nichts. Gar nichts. Ich kam aus Erie in Pennsylvania nach New York und hatte nur fünfunddreißig Dollar und den alten Anzug meines Vaters. Keine Familie, keine Freunde, keinen höheren Schulabschluss. Nichts. Papa war ein tüchtiger Mann, aber er war Maurer. Mama war tot. Ich war ziemlich allein auf der Welt.

»Nicht schon wieder diese alte Leier«, stöhnte Philip.

Es war im Herbst neunzehnhundertirgendwas. Ich hab mir die Füße wund gelaufen, bis ich einen Job kriegte. Es war ein Scheißjob. Ich hab im Mama Ginas Restaurant in der East 88th, Ecke Lexington Avenue, Geschirr gespült. Für eins zwanzig pro Stunde.

Philip schüttelte den Kopf. Tom fühlte sich wie betäubt.

Broadbent blieb stehen. Er baute sich vor dem Schreibtisch auf, schaute leicht gebückt in die Kamera und funkelte sie an. Ich sehe euch drei förmlich vor mir. Philip – du schüttelst jetzt zweifellos den Kopf. Du, Tom, stehst vermutlich da und fluchst. Und Vernon hält mich einfach für durchgedreht. Gott, mir ist fast so, als könnte ich euch drei sehen. Ihr tut mir wirklich Leid. Was ich hier mache, fällt mir nicht leicht.

Er nahm seinen Schritt wieder auf. Mama Gina war nicht weit weg vom Metropolitan Museum of Art. Eines Tages bin ich aus einer Laune heraus da reingegangen, und von da an war mein Leben nicht mehr das gleiche. Ich hab meinen letzten Dollar für eine Mitgliedskarte ausgegeben und bin von da an jeden Tag ins Museum gegangen. Ich hab mich in den Laden verliebt. Was für eine Offenbarung! Ich hatte noch nie so schöne Dinge gesehen, solche … Er schwenkte seine große Hand. Na ja, ihr wisst schon.

»Und ob«, sagte Philip trocken.

Es geht darum, dass ich mit nichts angefangen habe. Nada. Ich habe schwer gearbeitet. Ich hatte eine Vorstellung, wie mein Leben weitergehen sollte – ein Ziel. Ich habe alles gelesen, was mir in die Hände fiel. Über Schliemann und die Entdeckung Trojas. Über Howard Carter und die Entdeckung des Grabes von König Tutenchamun. Über John Lloyd Stephens und die Stadt Copán, die Ausgrabung der Villa der Rätsel in Pompeji. Ich habe davon geträumt, selbst Schätze dieser Art aufzustöbern, sie auszugraben, zu besitzen. Ich habe mich umgesehen: Wo auf der Welt gab es versunkene Grabstätten und Tempel, die man noch entdecken konnte? Die Antwort war: in Mittelamerika. Dort konnte man noch versunkene Städte finden. Dort gab es für mich noch eine Chance.

Broadbent pausierte und öffnete ein auf seinem Schreibtisch stehendes Kästchen. Er entnahm ihm eine Zigarre, schnitt sie ab und zündete sie an.

»Herrgott«, sagte Philip. »Der Alte ist unverbesserlich.«

Broadbent schüttelte das Zündholz aus, warf es auf den Schreibtisch und grinste. Er hatte ansehnliche Zähne, sie glitzerten weiß. Ich werde ohnehin sterben. Warum soll ich meine letzten Monate also nicht genießen? Stimmt’s, Philip? Rauchst du eigentlich noch immer Pfeife? An deiner Stelle würde ich es aufgeben.

Er drehte sich um, ging erneut auf und ab und paffte blaue Wölkchen vor sich hin. Jedenfalls hab ich mein Geld gespart, bis ich genug hatte, um nach Mittelamerika zu fahren. Ich bin nicht dorthin gegangen, um was zu verdienen – obwohl es, wie ich zugeben muss, zu meinem Plan gehörte –, sondern weil ich eine Leidenschaft hatte. Und ich habe sie gefunden. Ich habe meine versunkene Stadt gefunden.

Er fuhr herum, drehte sich, nahm seinen Marsch wieder auf.

Das war der Anfang. Damit ging alles los. Ich hab nur mit Kunst und Antiquitäten gehandelt, um meine Sammelei zu finanzieren. Und schaut mal …

Er blieb stehen, gestikulierte mit der offenen Handfläche auf die unsichtbaren Sammlungen, die ihn in diesem Haus umgaben.

Schaut mal. Das ist das Ergebnis. Eine der größten Kunst- und Antiquitätensammlungen, die es in privater Hand auf der Welt gibt. Es sind nicht nur Gegenstände. Jedes dieser Stücke hat seine Geschichte, ist für mich eine Erinnerung. Wie ich es zum ersten Mal sah, wie ich mich in es verliebte, wie ich es erwarb. Jedes Teil ist ein Stück von mir.

Er nahm einen Gegenstand aus Jade vom Schreibtisch und hielt ihn vor die Kamera.

Wie dieser Olmec-Schädel, den ich in einem Grab in Piedra Lumbre fand. Ich erinnere mich noch genau an den Tag … an die Hitze, die Schlangen … und ich weiß noch, wo ich ihn zum ersten Mal sah, dort in dem staubigen Grab, in dem er zweitausend Jahre lang geruht hatte.

Philip schnaubte. »Klauen muss Spaß machen.«

Broadbent legte den Gegenstand weg. Er lag zweitausend Jahre dort – ein Gegenstand von so erlesener Schönheit, dass man bei seinem Anblick am liebsten weinen möchte. Ich würde euch gern erklären, welche Gefühle ich empfand, als ich diesen makellosen Jadeschädel dort im Staub liegen sah. Er wurde nicht dazu erschaffen, in der Finsternis dahinzuvegetieren. Ich habe ihn gerettet und ihm das Leben zurückgegeben.

Broadbents Stimme klang belegt. Er hielt inne, räusperte sich und neigte den Kopf. Dann tastete er nach der Lehne seines Sessels, setzte sich hin und legte die Zigarre in einen Aschenbecher. Schließlich wandte er sich wieder der Kamera zu und beugte sich über den Tisch.

Ich bin euer Vater. Ich habe euch aufwachsen sehen. Ich kenne euch besser als ihr euch selbst.

»Kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Philip.

Während eures Heranwachsens hat es mich bestürzt, in euch einen gewissen Standesdünkel zu sehen. Privilegien, die Krankheit reicher Kinder. Das Gefühl, dass man sich nicht allzu sehr anstrengen, nicht allzu viel lernen, sich nicht bemühen muss, weil man ja der Sohn von Maxwell Broadbent ist. Denn irgendeines Tages ist man ja reich, ohne einen gottverdammten Finger rühren zu müssen.

Broadbent stand energisch und ruhelos erneut auf. Hört zu, ich weiß, dass es hauptsächlich meine Schuld ist. Ich habe euren Launen nachgegeben. Ich habe euch alles gekauft, was ihr haben wolltet. Ich habe euch auf die besten Privatschulen geschickt und durch Europa geschleppt. Ich hatte ein schlechtes Gewissen – wegen der Scheidungen und so weiter. Ich bin wohl nicht fürs Eheleben geschaffen. Aber was habe ich angerichtet? Ich habe drei Jungs aufgezogen, die auf ihr Erbe warten, statt ein ausgefülltes Leben zu führen. Große Erwartungen machen faul.

»Scheißdreck«, knurrte Vernon wütend.

Philip, du bist Assistent für Kunstgeschichte an einem Junior College auf Long Island. Tom? Pferdedoktor in Utah. Und Vernon? Tja, ich weiß nicht mal, was du gerade machst. Wahrscheinlich lebst du ja in irgendeinem Ashram und verschenkst dein Geld an irgendeinen schrägen Guru.

»Stimmt gar nicht!«, sagte Vernon. »Stimmt gar nicht! Leck mich doch!«

Tom konnte nichts sagen. Irgendwo in seinem Magen machte sich ein mulmiges Gefühl breit.

Und als wäre das noch nicht genug, fuhr Broadbent fort, kommt ihr drei auch nicht miteinander aus. Ihr habt nie gelernt, zu kooperieren oder Brüder zu sein. Also hab ich mich gefragt: Was habe ich angerichtet? Was habe ich getan? Was war ich nur für ein Vater? Habe ich meine Söhne Unabhängigkeit gelehrt? Habe ich sie den Wert der Arbeit gelehrt? Habe ich sie Selbstvertrauen gelehrt? Habe ich sie gelehrt, aufeinander Acht zu geben?

Er hielt inne, dann schrie er: Nein!

Mit all diesem Kram, mit den Schulen, Europa, den Angel- und Campingausflügen habe ich drei Quasi-Versager aufgezogen. Herrgott, es ist meine Schuld, dass es so gekommen ist, aber so ist es nun mal. Als ich erfuhr, dass ich sterben muss, geriet ich in Panik. Wie sollte ich alles wieder gutmachen?

Er pausierte und drehte sich um. Er atmete nun schwer. Sein Gesicht war gerötet.

Wenn der Sensenmann einem zuzwinkert, fängt man unweigerlich an nachzudenken. Ich musste mir überlegen, was aus meiner Sammlung wird. Eines stand für mich fest: Museen oder Universitäten kriegen sie keinesfalls. Ich will nicht, dass sich später so ein paar studierte Nullen die Hände reiben. Und ich wollte sie auch keinem schrägen Auktionshaus oder Händler überlassen, der sich an meiner Schwerarbeit bereichert, die Sammlung auseinander reißt und in alle vier Windrichtungen verscherbelt, nachdem ich mein Leben damit zugebracht habe, sie zusammenzutragen. Das kam auf keinen Fall in Frage.

Broadbent wischte sich die Stirn ab, zerknüllte das Taschentuch mit der Hand und deutete auf die Kamera.

Ich hatte immer vor, euch die Sammlung zu hinterlassen. Aber als es dann so weit war, wurde mir klar, dass es das Schlimmste ist, was ich euch antun kann. Ich will euch auf keinen Fall eine halbe Milliarde Dollar aushändigen, die ihr nicht verdient habt.

Er kehrte hinter den Schreibtisch zurück, wuchtete seine imposante Gestalt in den Sessel und entnahm dem Kästchen eine neue Zigarre.

Schaut mal. Ich rauche noch. Ist jetzt zu spät, um damit aufzuhören.

Er knipste das Ende ab und zündete die Zigarre an. Die Rauchwolke brachte den Autofokus der Kamera durcheinander. Das Bild wurde abwechselnd scharf und unscharf. Als die Wolke nach links aus dem Bild wehte, war das stattliche Gesicht von Maxwell Broadbent wieder deutlich zu sehen.

Dann hatte ich eine Idee. Eine geniale Idee. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, Gräber auszubuddeln und mit den daraus stammenden Gütern zu handeln. Ich kenne jeden Trick, wie man Grabstätten verbirgt, und auch alle Todesfallen. Mir wurde schlagartig klar, dass auch ich meinen Reichtum mitnehmen kann. Außerdem bin ich so in der Lage, euch so auch ein wirkliches Vermächtnis zu hinterlassen.

Er hielt inne, faltete die Hände und beugte sich vor.

Ihr müsst euch das Geld verdienen. Ich habe dafür gesorgt, dass ich zusammen mit der Sammlung irgendwo auf der Welt in einer Gruft beigesetzt werde. Ich fordere euch hiermit auf, mich zu suchen. Wenn ihr mich findet, könnt ihr mein Grab ausrauben und alles behalten. Das ist die Aufgabe, die ich euch, meinen drei Söhnen, stelle.

Er inhalierte und versuchte zu lächeln.

Ich warne euch. Es wird schwierig und gefährlich werden. Nichts im Leben, was des Tuns wert ist, ist einfach. Und hier ist der Haken: Ihr werdet nur dann Erfolg haben, wenn ihr zusammenarbeitet.

Er legte eine massive Faust auf den Tisch.

Das ist es, in aller Kürze. Ich habe zwar zu meinen Lebzeiten nicht viel für euch getan, aber – bei Gott – ich werde es mit meinem Tod wieder gutmachen.

Er stand auf und kam auf die Kamera zu. Er streckte den Arm aus, um sie abzuschalten, doch dann, als sei ihm noch etwas eingefallen, hielt er inne, und sein verschwommenes Gesicht ragte riesig über den Bildschirm.

Ich bin ja nie ein sentimentaler Typ gewesen, deswegen sage ich nur: Macht’s gut. Macht’s gut, Philip, Vernon und Tom. Macht’s gut und viel Glück. Ich liebe euch.

Der Bildschirm wurde leer.

[home]

5

Tom blieb auf dem Sofa sitzen. Er war im Augenblick unfähig, sich zu bewegen. Hutch Barnaby reagierte als Erster. Er stand auf und hüstelte leise, um das entsetzte Schweigen zu brechen.

»Fenton? Sieht so aus, als würden wir hier nicht mehr gebraucht.«

Fenton nickte. Schwerfällig richtete er sich auf. Er errötete sogar.

Barnaby schaute die Brüder an und tippte freundlich an die Krempe seiner Mütze. »Sie sehen ja selbst, dass das kein Fall für die Polizei ist. Wir lassen Sie jetzt allein, damit Sie … die Sache selbst auf die Reihe kriegen können.« Er und Fenton setzten sich in Richtung Bogengang in Bewegung, der in den Hausflur führte. Sie konnten es kaum erwarten, von hier zu verschwinden.

Philip stand auf. »Lieutenant Barnaby?«

»Ja?«

»Ich nehme doch an, dass Sie diese Geschichte nirgendwo erzählen. Es wäre nicht hilfreich, wenn … die ganze Welt sich aufmachen würde, um diese Grabkammer zu suchen.«

»Sehe ich ein. Es gibt auch keinen Grund, sie jemandem zu erzählen. Überhaupt keinen. Ich werde die Spurensicherung zurückschicken.« Er ging hinaus und verschwand. Kurz darauf hörten die drei Männer das Geräusch der sich scheppernd schließenden Haustür.

Nun waren sie allein.

»So ein Scheißkerl«, sagte Philip leise. »Ich kann’s nicht fassen. So ein Scheißkerl!«

Tom musterte das bleiche Gesicht seines Bruders. Er wusste, dass Philip bisher zu gut von seinem Assistentengehalt gelebt hatte. Er brauchte das Geld. Und er hatte es zweifellos bereits ausgegeben.

»Was jetzt?«, fragte Vernon.

Seine Worte blieben in der Stille hängen.

»Ich kann nicht glauben, dass der alte Mistkerl das wirklich gemacht hat«, sagte Philip. »Dass er ein Dutzend alte Meisterwerke einfach mit ins Grab genommen hat, ganz zu schweigen von der unbezahlbaren Maya-Jade und dem Gold. Ich bin am Boden zerstört.« Er zog ein seidenes Taschentuch aus der Westentasche und tupfte sich die Stirn ab. »Dazu hatte er kein Recht.«

»Also, was machen wir jetzt?«, wiederholte Vernon.

Philip schaute ihn an. »Wir werden die Grabkammer natürlich suchen.«

»Und wie?«

»Kein Mensch kann sich ohne Hilfe mit Kunstgegenständen im Wert von einer halben Milliarde Dollar begraben lassen. Wir müssen rauskriegen, wer ihm dabei geholfen hat.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Tom. »Er hat in seinem ganzen Leben niemandem getraut.«

»Allein hätte er es nicht schaffen können«, warf Vernon ein.

»Es ist so … typisch für ihn«, meinte Philip plötzlich.

»Vielleicht hat er ja Hinweise hinterlassen.« Vernon trat an die Kommoden, zog eine Schublade auf und kramte fluchend darin herum. Er riss die zweite und dritte Schublade auf und wurde dabei so wütend, dass sie herausrutschten und ihr Inhalt sich auf dem Boden verstreute: Spielkarten, Mühle, Dame, Schach. Tom erinnerte sich an alles – die alten Spiele ihrer Kindheit, nun vom Alter vergilbt und schäbig. In seinem Brustkorb war ein kalter Knoten. Das hatte er nun davon. Vernon versetzte dem verstreuten Chaos fluchend einen Tritt, sodass die Figürchen durch den ganzen Raum flogen.

»Das bringt nichts, wenn du deine Wut am Haus auslässt, Vernon.«

Vernon ignorierte ihn. Er zog weiterhin Schublade um Schublade heraus, verstreute ihren Inhalt auf dem Boden und untersuchte ihn.

Philip holte seine Pfeife aus der Hosentasche und zündete sie mit zitternder Hand an. »Du vergeudest deine Zeit. Ich finde, wir sollten uns mit Marcus Hauser unterhalten. Er ist der Schlüssel.«

Vernon hielt inne. »Hauser? Vater hatte doch über vierzig Jahre keinen Kontakt mehr zu ihm.«

»Er ist der Einzige, der Vater wirklich kennt. Sie haben zwei Jahre zusammen in Mittelamerika verbracht. Wenn jemand weiß, wohin er gegangen ist, dann Hauser.«

»Vater konnte ihn nicht ausstehen.«

»Ich gehe davon aus, dass sie sich wieder vertragen haben, wo Vater doch krank war und so.« Philip schnippte ein goldenes Feuerzeug an und saugte das Flämmchen mit einem gurgelnden Laut in den Kopf seiner Pfeife.

Vernon ging ins Büro. Tom hörte, dass er Schubladen öffnete und schloss, Bücher aus den Regalen zog und Gegenstände auf den Boden klatschte.

»Wetten, dass Hauser in der Sache mit drin steckt? Wir müssen schnell handeln. Ich hab Schulden – und Verpflichtungen.«

Vernon kam aus dem Arbeitszimmer zurück und schleppte einen Karton voller Papiere herein, den er auf den Kaffeetisch knallte. »Offenbar hast du dein Erbe schon ausgegeben.«

Philip drehte sich gelassen zu ihm um. »Wer hat sich denn erst vor einem Jahr zwanzig Riesen von Vater geliehen?«

»Er hat mir einen Kredit gegeben.« Vernon blätterte die Papiere durch, klappte Aktendeckel auf und verstreute alles auf dem Boden. Tom sah, wie ihre alten Grundschulzeugnisse aus einem Ordner segelten. Es überraschte ihn, dass ihr Vater sich die Mühe gemacht hatte, sie aufzuheben – schon deswegen, weil sie eigentlich keine Lobgesänge über sie anstimmten.

»Hast du ihn schon zurückgezahlt?«, fragte Philip.

»Das tue ich noch.«

»Natürlich«, sagte Philip ironisch.

Vernon errötete. »Was ist mit den vierzigtausend, die Vater geblecht hat, damit du die höheren Fachsemester belegen konntest? Hast du die schon zurückgezahlt?«

»Das war ein Geschenk. Er hat doch auch Toms Veterinärexamen bezahlt. Stimmt’s nicht, Tom? Wenn du weiterstudiert hättest, hätte er auch für dich bezahlt. Aber du musstest ja zu diesem Swami Wu-Wu nach Indiana ziehen.«

Eine angespannte Stille machte sich breit.

»Ach, leck mich doch«, sagte Vernon.

Toms Blick wanderte von einem Bruder zum anderen. Was hier ablief, hatte er schon tausendmal erlebt. Normalerweise warf er sich dazwischen und versuchte, den Friedensstifter zu spielen. Meist ging es aber nicht gut.