Der Dämon der Bewegung - Stefan Grabinski - E-Book

Der Dämon der Bewegung E-Book

Stefan Grabiński

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Beschreibung

Schauergeschichten spielen meist in alten Schlössern, prachtvollen Villen, Kirchen, Klöstern und auf Friedhöfen. Aber Schauergeschichten auf Schienen? Geht das überhaupt? Ja, es geht. Stefan Grabinski hat es mit seinen Eisenbahngeschichten bewiesen. Ein Lokführer, der nicht da anhält, wo er halten soll, eine verhängnisvolle Affäre im Zugabteil, ein unglücklicher Mann, der nur bei der Geschwindigkeit einer Zugfahrt Erfüllung finden kann, ein geisterhafter Schnellzug, der urplötzlich erscheint und genauso schnell wieder verschwindet, eine geheimnisvolle und dämonische Bahnstation im Nirgendwo und ein Mord aus Eifersucht im fahrenden Zug, das sind die sechs Kurzgeschichten dieses Bandes. Mal skurril, mal geheimnisvoll, mal Unheimlich. Aber jedes Mal spannend und wunderbar altmodisch. Eine Perle der Schauerliteratur um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Stefan Grabiński (* 26. Februar 1887 in Kamionka Strumiłowa, heute Ukraine; † 12. November 1936 in Lwów) war ein polnischer Schriftsteller und Autor von Horrorliteratur, der gelegentlich auch als "der polnische Poe" bezeichnet wurde. Grabiński arbeitete in Lemberg und Przemyśl als Lehrer und wurde für seine in Demon ruchu gesammelten Eisenbahngeschichten bekannt. Eine Anzahl seiner Werke wurden von Miroslaw Lipinski ins Englische übersetzt und als "The Dark Domain" publiziert. Andere Werke, wie zum Beispiel Szamota's Mistress, wurden verfilmt. Grabiński starb im Jahr 1936 an Tuberkulose.

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Stefan Grabinski

Der Dämon der Bewegung

Düstere Welten - Band 6

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Einleitung

Düstere Welten – Band 6

Stefan Grabinski – Der Dämon der Bewegung

1. eBook-Auflage – Juni 2013

© vss-verlag Hermann Schladt

Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von http://www.freepics.com/

Übersetzung: Izabella Steffens

Lektorat: Hermann Schladt

 

Stefan Grabinski

 

Der Dämon der Bewegung

 

und andere merkwürdige Eisenbahngeschichten

Lokführer Grot

Von der Fahrdienstleitung in Brzana erreichte den Stationsvorsteher in Podwyze eine Meldung folgenden Inhalts:

»Achtgeben auf Eilzug Nr. 10! Lokführer betrunken oder geistesgestört!«

Der Beamte, ein hochgewachsener, knochiger Blonder mit rötlichem Backenbart, las die Zeichen auf dem schmalen weißen Streifen, der aus dem Morseapparat rollte, las sie einmal, dann noch einmal, riss ihn ab, wickelte ihn zu einem Ring rund um den Finger und schob ihn in die Tasche. Ein kurzer Blick auf die Stationsuhr zeigte ihm, dass es bis zum Eintreffen des angekündigten Zuges noch reichlich Zeit hatte. So gähnte er fürs erste nur gelangweilt, zündete sich mit lässiger Gebärde eine Zigarette an und ging in das angrenzende Zimmer, wo die Fahrkartenverkäuferin Fela saß, ein hellblondes, breithüftiges Fräulein, ideales Objekt in Augenblicken der Langeweile und in Ermangelung besserer Happen.

Während sich der Vorsteher also würdig vorbereitete, hatte sich der in Verdacht geratene Eilzug schon ein gutes Stück von der Station Brzana entfernt.

Die Jahreszeit war hinreißend schön. Die heiße Junisonne hatte den Zenit schon überschritten und vergoss ihre goldenen Strahlen über die Erde. Der Zug raste mit Volldampf dahin. Es flimmerten die mit Kirsch- und Apfelblüten geschmückten Dörfer und Weiler, die Streifen der Wiesen und Kornfelder huschten vorbei und dann die wankenden Wipfel der Kiefern und Fichten. Kaum hatte sich der Zug aus ihrer dunklen Umarmung befreit, verneigten sich grüßend die Ähren der Getreidefelder. Fern am Horizont schimmerten dunstverhüllt die graublauen Säume einer Hügelkette.

Auf den Türflügel seiner Lok gestützt, starrte Grot durch das ovale Fenster reglos auf die Strecke, die sich in einem grauen, von schwarzen Schienensträngen eingefassten Trakt dahinzog. Leicht glitt die Maschine auf den Schienen dahin, packte die Stränge gierig mit ihren Laufrädern und strich sie hastig hinter sich.

Grot empfand fast physische Wollust bei dieser ständigen Eroberung. Die schon errungene Beute unbeachtet lassend und unersättlich weiter raffend, berauschte er sich an der Unterwerfung des Raums. ..

Oft kam es vor, dass er sich so sehr in die Strecke verbiss, so sehr in Gedanken verlor, dass er Gott und die Welt vergaß, bis ihn der Heizer am Ärmel schütteln und warnen musste, weil der Druck zu groß oder eine Station nicht mehr weit war.

Ja, er war schon ein Träumer, der Lokführer Grot. Dennoch liebte er seinen Beruf über alles und hätte ihn um nichts in der Welt gegen einen anderen eingetauscht. Er war ziemlich spät, erst im dreißigsten Lebensjahr in den Bahndienst eingetreten, hatte aber desungeachtet gleich zu Beginn eine so sichere Hand im Führen von Dampflokomotiven gezeigt, dass er alsbald dienstältere Kollegen in den Schatten stellte.

Was er vorher getrieben hatte, war nicht in Erfahrung zu bringen. Auf entsprechende Fragen antwortete er unwillig bald dies, bald jenes, oder er schwieg sich einfach aus.

Die Kollegen und Vorgesetzten brachten ihm deutliche Wertschätzung entgegen und zeichneten ihn vor den übrigen aus, denn seine kurzen, knappen Sätze, die er sparsam unter die Leute verteilte, verrieten einen hohen Grad respektgebietender Intelligenz.

Über seine Vergangenheit waren mannigfaltige, einander häufig widersprechende Vermutungen im Umlauf, deren Kern die einmütige Überzeugung war, dass Grot eine sogenannte verkrachte Existenz sei, ein gefallener Stern, zu Höhenflügen berufen, doch an der Tücke des Schicksals gescheitert.

Er selbst ließ sich deswegen jedoch keine grauen Haare wachsen, und er dachte nicht daran, mit seinem Schicksal zu hadern. Er versah seinen Dienst gern und kam auch niemals um Urlaub ein. Ob er vergessen hatte, was er einst gewesen war, und ob er sich zu Höherem berufen fühlte, wusste niemand genau.

Aus Grots dunkler Vergangenheit hatte man nur zwei Fakten ans Licht befördern können: den einen, dass er während des französisch-preußischen Feldzuges gedient, und den anderen, dass sein geliebter Bruder in ebendiesem Krieg ums Leben gekommen war.

Weitere Einzelheiten vermochte trotz aller Bemühungen niemand aus ihm herauszuquetschen. Zu guter Letzt gab man es auf und begnügte sich mit dem spärlichen Bündel biographischer Erkenntnisse über den »Ingenieur« Grot. So nämlich wurde mit der Zeit der wortkarge Lokführer von seinen Kollegen genannt. Dieser im übrigen nicht böse gemeinte Spitzname passte so genau zu der Persönlichkeit des Krzysztof Grot, dass ihn selbst die Vorgesetzten in ihren Weisungen und Anordnungen duldeten. Auf diese Weise wollten die Leute seine Andersartigkeit zum Ausdruck bringen.

Die Lokomotive arbeitete schwer und stieß immer wieder ganze Wolken flockigen Rauchs aus. Ständig von der fleißigen Hand des Heizers beschickt, strömte der Dampf durch das stählerne Skelett des stählernen Riesen in die Zylinder, bewegte den Schieber, drückte die Kolben und trieb die Räder. Die Schienen polterten und knirschten, beim Wechsel krachten die Umstellvorrichtungen und Hebel.

Für eine Weile erwachte Grot aus seiner Versunkenheit und warf einen Blick auf das Manometer. Der Druckmesser näherte sich der fatalen Zahl 13.

»Lassen Sie Dampf ab!«

Der Heizer streckte die Hand aus und rüttelte am Ventil, ein langer, durchdringender Pfiff ertönte; gleichzeitig entwich der Flanke des stählernen Kolosses ein dünner weißer Dampfkegel.

Grot kreuzte die Arme über der Brust und versank von neuem ins Sinnen.

»Ingenieur« Grot! O ja, ein zutreffender Beiname. Die Kollegen ahnten nicht, wie zutreffend er war.

In der fernen, nebligen Retrospektive der vergangenen Jahre sah er vor sich das bescheidene Elternhaus am Rande der Hauptstadt. In dem hellen Mittelzimmer der große runde Tisch mit einem Haufen Plänen, seltsamen Zeichnungen, technischen Skizzen. Über eine der Skizzen gebeugt, der strohblonde Schopf seines jüngeren Bruders Oles. Daneben er, Krzysztof. Mit dem Zeigefinger fährt er über eine schraffierte Linie, die in einem elliptischen Bogen irgendeine Fläche begrenzt. Oles nickt, korrigiert, erläutert. Das war ihr Laboratorium, in dem die kühne Idee eines Drachens geboren wurde, der, frei in den Lüften flatternd, die Atmosphäre durchdringen, den Weltraum erobern, den Gesichtskreis des Menschen erweitern und ihn ins Unendliche erheben sollte . . . Bis zur Vollendung der Konstruktion hatte nicht mehr viel gefehlt, zwei Monate, höchstens drei. Doch da brach der Krieg aus. Einberufung, Feldzug, Schlacht, Tod . . .

Er erinnerte sich an den schrecklichen Augenblick, als sie den Gipfel des »Roten Forts« erklommen. Oles war damals, von weitem erkennbar, an der Spitze der Abteilung heldenhaft vorwärtsgestürmt. Schon hatte sein gezogener Säbel den Rand des farbigen Wimpels berührt, die Hand mit siegessicherem Griff gegen die Fahnenstange gestreckt, doch dann blitzte es auf über der Bastion, eine Rauchwolke stieb aus den Visieren der Festung, ein höllischer Knall ließ die Zinnen erzittern . . . Oles taumelte, schwankte unter dem blitzenden Bogen des gezückten Säbels und stürzte in die Tiefe — kurz vor dem Vollzug seiner kämpferischen Absicht, im Moment seiner soldatischen Pflichterfüllung, unmittelbar vor dem Ziel. . .

Dieser Tod hatte ihn, Krzysztof, aufs Krankenlager geworfen. Viele Monate hindurch lag er fiebernd im Feldlazarett. Danach kehrte er in den Alltag des Lebens als gebrochener Mann zurück. Die weltbewegenden Ideen und Eroberungspläne von einst hatte er aufgegeben, er wurde Lokführer. Zwar spürte er den faulen Kompromiss, begriff die Karikatur des Gedankens, dennoch fehlte es ihm an Kraft, von der Miniatur zu lassen. Alsbald ersetzte das Surrogat völlig das ursprüngliche Ideal, verengte durch seinen schmalen grauen Rahmen die einst breiten Horizonte: Er eroberte den Raum in neuem, kleinerem Maßstab. Doch hat er sich bei der Verwaltung ausschließlich Schnellzüge ausbedungen; Personenzüge zu führen, lehnte er ab. Auf diese Weise das Terrain nutzend, näherte er sich wenigstens partiell dem ursprünglichen Ideal. Er berauschte sich an der wahnwitzigen Raserei auf dem weitverzweigten Netz und ergötzte sich am Bewältigen beträchtlicher Entfernungen in kürzester Frist.

Er mochte allerdings keine Rückfahrten, verabscheute sogenannte Tour-retour-Rekorde. Er liebte nur das Vorwärts-Stürmen, alle Wiederholungen widerten ihn an. Daher zog er es vor, zum unvermeidlichen Ausgangspunkt auf andere Art zurückzukehren, auf kreisförmiger oder elliptischer Bahn — Hauptsache, er mied den gleichen Rückweg. Er erkannte sehr wohl die Unvollkommenheit dieser Kurven, spürte die Illusion dieser doch in sich geschlossenen Wege, wahrte aber wenigstens den Schein einer Vorwärtsbewegung, hatte wenigstens die Vorstellung, geradeaus zu eilen. Sein Ideal waren Fahrten in wahnsinnigem Tempo auf gerader Strecke ohne Kurven und Abweichungen, er liebte das dahin Rasen ohne Rast, ohne Halt, in Sturmeseile nebelhaften blauen Fernen entgegen, auf Flügeln in die Unendlichkeit. . .

Jedwedes Ziel war ihm ein Gräuel. Seit dem tragischen Tod des Bruders war in ihm ein besonderes psychisches Trauma entstanden, das sich in der Furcht vor jeglichem Ziel äußerte, vor jeder beliebigen Art von Ende und Schluss. Er liebte das ewige andauernde Streben, die Anstrengung der Bewegung. Er hasste es, das Ziel zu erreichen, zitterte vor dem Augen-Mick der Ankunft aus Angst, ihn könnte in der letzten, entscheidenden Minute eine Enttäuschung überraschen, die gespannte Saite könnte reißen und ihn in den Abgrund stürzen, wie Oles damals, vor Jahren ...

Daher regte sich in ihm eine elementare Furcht vor Bahnhöfen und Haltepunkten. Zwar gab es auf seinen Strecken nur wenige davon, aber ein paar waren es immerhin, an denen der Zug von Zeit zu Zeit zum Stehen gebracht werden musste.

Stationen wurden für ihn allmählich zum Symbol des verhassten Endes, die plastische Verwirklichung des gesetzten Reiseziels, jenes verfluchten Endes, vor dem ihm graute und schauderte.

Die ideale Weglinie zerfiel in eine Reihe von Abschnitten, von denen jeder eine geschlossene Einheit vom Abfahrtspunkt bis zum Ankunftspunkt bildete. Es entstand eine desillusionierende Eingrenzung, eine verengende, überaus banale: Nur von hier bis dort.

Und vorerst sah er nirgendwo einen Ausweg aus dem Dilemma: Der Zug musste nun einmal ab und zu auf den vermaledeiten Bahnhöfen halten.

Wenn am Horizont die Konturen der Stationsgebäude auftauchten und sich die roten oder gelben Ziegelwände abzeichneten, befiel ihn unbeschreibliches Grauen; die Hand, die den Regler betätigen sollte, zuckte immer wieder zurück, und er musste seine ganze Überwindungskraft aufbieten, um nicht an der Station vorbeizufahren.

Schließlich, als der innere Widerstand zu einer unerhörten Spannung anwuchs, kam ihm ein glücklicher Gedanke. Er beschloss, eine gewisse Willkür im Zielbereich einzuführen, indem er ihre Grenzpunkte beweglicher machte. Auf diese Weise wurde der Begriff »Station«, indem er viel von seiner Deutlichkeit einbüßte, zu etwas Unbestimmtem, etwas flüchtig Skizziertem und überaus Elastischem. Diese Verschiebbarkeit gewährte ihm eine gewisse Bewegungsfreiheit, die Fesseln des Bremsventils verloren ihren Zwang. Nachdem die Haltepunkte den Charakter des Fließenden angenommen hatten, verwandelten sie den Begriff »Station« in einen unbestimmten, selbstherrlichen, ja fiktiven Begriff, den man nicht so ernst zu nehmen brauchte; kurzum, das Wort »Station« in dieser so großzügig verstandenen Bedeutung, der willkürlichen Interpretation des Lokführers preisgegeben, war jetzt weniger beklemmend, wenn auch noch widerwärtig genug.

Es ging also vor allem darum, niemals an der vorschriftsmäßigen Stelle zu stoppen, sondern stets ein Stückchen dahinter oder davor.

Grot ging anfangs sehr vorsichtig zu Werke, um bei den Beamten keinen Argwohn zu erregen. Die Abweichungen waren zunächst so unbedeutend, dass sie keinerlei Beachtung fanden. Um jedoch in sich das Gefühl der Freiheit zu festigen, führte der Lokführer gewisse Variationen ein. Mal hielt er zu früh, mal zu spät, mal schlug das Pendel in dieser, mal in jener Richtung aus.

Mit der Zeit indes begann ihn diese Vorsicht zu ärgern. Die Freiheit war nur ein Schein, etwas Illusorisches, eine Art Selbstbetrug; die durch keinerlei Verwunderung getrübte Ruhe in den Gesichtern der Stationsvorsteher fuchste ihn, weckte den Geist des Widerspruchs und des Trotzes. Grot wurde übermütig: Die Abweichungen wurden von Tag zu Tag erheblicher, sie wuchsen, vergrößerten sich.

Schon am Vortag hatte der Bahnhofsvorsteher in Smagtowo, ein grauhaariger Herr, der seine Äuglein wie ein betagter Fuchs ständig halb geschlossen hielt, befremdet in die Richtung geblinzelt, wo der Zug hielt — ein gutes Stück vor dem Bahnhof. Grot hatte sogar das Gefühl, als hätte der Alte irgendetwas in seinen Bart gebrabbelt und dabei mit der Hand auf ihn gewiesen. Doch irgendwie war er ungestraft davongekommen.

Er hatte sich erfreut die Hände gerieben und gedacht: Wenigstens hat er es bemerkt!

Als er diesen Morgen aus Worotycz abfuhr, beschloss er, den Einsatz zu verdoppeln.

Ich bin gespannt, dachte er, als er die Zylinderhähne öffnete, in welchem Verhältnis der Unwille dieser Herren zunehmen wird. Zum Quadrat der Entfernung, vermute ich . . .