Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt - Richard Osman - E-Book

Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt E-Book

Richard Osman

0,0
14,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein verunglückter Drogendeal, ein toter Freund, der Donnerstagsmordclub is back and better than ever! Das hätten sie sich ja denken können, die Hobbyermittler des Donnerstagsmordclubs. Ein Jahr ohne Mordfall haben sie sich zu Weihnachten gewünscht, doch nur wenig später – dahin der fromme Wunsch. Der Tote: Kuldesh Shamar, ein Antiquitätenhändler, der sich am Morgen nach den Festtagen in seinem Laden einfindet und unglücklicherweise in ein Drogengeschäft verwickelt wird, was er am Abend mit seinem Leben bezahlt. Von dem wertvollen Paket, das er aufbewahren sollte, aber fehlt jede Spur. Nicht unbedingt zur Freude der Beteiligten. Mittendrin in dieser Löwengrube aus Dealern, Fälschern und Betrügern, die dem Paket hinterherjagen, die vier aus Coopers Chase. Und sie sind wütend, denn der Tote war nicht irgendwer, sondern ein alter Freund von Elizabeths Ehemann Stephen. Zieht euch warm an, möchte man den Ganoven da zurufen, aber nicht, weil gerade Winter ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt

Richard Osman ist Autor, Produzent und Fernsehmoderator. Seine Serie über die vier scharfsinnigen und liebenswerten Ermittlerinnen und Ermittler des Donnerstagsmordclubs hat ihn über Nacht zum Aushängeschild des britischen Krims und Humors gemacht. Für sein Debüt Der Donnerstagsmordclub wurde er bei den British Book Awards 2020 zum ›Autor des Jahres‹ gewählt. Er lebt mit Frau und Katze in London.

Der Donnerstagsmordclub macht Verbrechern die Hölle heiß!

Ein Jahr ohne Mord haben sich Elizabeth, Joyce, Ron und Ibrahim zu Weihnachten gewünscht, doch nur wenig später ist der fromme Wunsch dahin. Der Antiquitätenhändler Kuldesh Shamar wurde getötet. Wie es scheint, war er in ein Drogengeschäft verstrickt. Aber von dem wertvollen Paket, das er aufbewahren sollte, fehlt jede Spur. Was eine teuflische Brut von Dealern, Betrügern und anderen Ganoven aus ihren Höhlen lockt. Und mittendrin: der Donnerstagsmordclub, entschlossener denn je, den Mörder zu stellen. Woraus sich für die Verdächtigen die Frage ergibt, ob nicht die Hölle doch der angenehmere Ort ist …

Richard Osman

Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Sabine Roth

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

© 2023 by Richard OsmanDie Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The Last Devil To Die bei Viking, PRH UK© der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin /List VerlagAlle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka Umschlagmotiv: © Look and Learn; Florilegius / Bridgeman Images; shutterstock / Artur Balytskyi; mountain beetle; ArtMari; Mateusz AtroszkoAutorenfoto: © Conor O’LearyE-Book powerded by pepyrusISBN 978-3-8437-3056-3

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Donnerstag, 27. Dezember, 23 Uhr

Erster TeilWorauf wartet ihr noch?

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

Zweiter TeilWas immer Sie suchen, hier werden Sie fündig!

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

Dritter TeilAm schönsten ist es zu Hause

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

Anhang

Anhang

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Donnerstag, 27. Dezember, 23 Uhr

Widmung

Für Fred und Jessie Wright, in Liebe und Dankbarkeit.

Ihr seid und bleibt der Beginn meiner Geschichte.

Donnerstag, 27. Dezember, 23 Uhr

Ist er hier wirklich richtig? Kuldesh Sharma hält am Ende des Waldwegs. Bäume auf allen Seiten, geisterhaft anzusehen im Dunkeln.

Bis um vier saß er im Hinterzimmer seines Ladens und hat mit sich gerungen, das Kästchen vor sich auf dem Tisch, während im Radio Cliff Richard »Mistletoe and Wine« sang.

Dann hat er zweimal telefoniert, und jetzt ist er hier.

Er schaltet die Scheinwerfer aus, und die Dunkelheit schließt sich um ihn.

Riskant ist es. Mehr als riskant. Aber mit fast achtzig kann man schon einmal etwas riskieren. Was droht ihm denn schlimmstenfalls? Dass sie ihn aufspüren und töten?

Das ist durchaus drin, aber wäre das so tragisch?

Kuldesh denkt an seinen Freund Stephen. An das Bild, das er dieser Tage abgibt. So verloren, so still, so erloschen. Steht ihm selbst Ähnliches bevor? Und sie hatten so tolle Zeiten miteinander. Jahrelang haben sie aus dem Vollen geschöpft.

Jetzt verflüchtigt sich die Welt um Kuldesh immer mehr. Seine Frau tot, mit den Freunden geht es dahin. Ihm fehlt das pralle Leben von früher.

Bis heute Morgen der Mann mit dem Kästchen zur Tür hereinkam.

Aus der Entfernung streicht schwacher Lichtschimmer durch die Baumstämme. In der kalten Stille ist Motorbrummen zu hören. Es schneit jetzt; er kann nur beten, dass die Rückfahrt nach Brighton nicht zur Rutschpartie wird.

Ein Lichtstrahl wandert über seine Heckscheibe, als der andere Wagen sich nähert.

Sein Herz klopft in harten Stößen. Noch nicht alles tot dadrin, immerhin.

Kuldesh hat das Kästchen nicht bei sich. Aber es befindet sich an einem sicheren Ort, und damit ist vorerst auch er in Sicherheit. Zunächst einmal geht es nun darum, Zeit zu gewinnen. Und wenn das glückt, kann er vielleicht …

Die Scheinwerfer des heranrollenden Autos flammen in Kuldeshs Spiegeln auf und verlöschen. Räder kommen knirschend zum Stehen, ein Motor tuckert im Leerlauf, dann sind Dunkel und Stille wieder ungebrochen.

Jetzt gilt’s. Ob er aussteigen sollte? Er hört eine Autotür zufallen, Schritte näher kommen.

Die Flocken fallen immer dichter. Wie lange wird das hier wohl dauern? Gut, er muss das mit dem Kästchen erklären, Bedenken zerstreuen, aber dann wird er hoffentlich aufbrechen können, ehe der Schnee sich in Eis verwandelt. Die Straßen werden tödlich glatt sein. Er fragt sich, ob –

Kuldesh Sharma sieht den Schuss aufblitzen, doch bevor der Knall ihn erreicht, ist er schon tot.

Erster TeilWorauf wartet ihr noch?

1

Mittwoch, 26. Dezember, mittags

»Ich war mit einer Frau aus Swansea verheiratet«, sagt Mervyn Collins. »Rothaarig. Wie die Waliserinnen eben so sind.«

»Ah«, sagt Elizabeth. »Das klingt nach einer längeren Geschichte.«

»Nein, wieso?« Mervyn schüttelt den Kopf. »Wir sind getrennt. Sie kennen ja die Frauen.«

»Stimmt, Mervyn«, sagt Joyce und zerteilt ihren York­shire Pudding. »Stimmt, die kennen wir.«

Schweigen. Nicht, wie Elizabeth bei sich vermerkt, das erste während dieser Mahlzeit.

Es ist der zweite Weihnachtsfeiertag, und der Donnerstagsmordclub zuzüglich Mervyn begeht ihn im Restaurant von Coopers Chase. Sie tragen alle bunte Papierkronen, aus den Crackern, die Joyce mitgebracht hat. Die ihrige ist ihr zu groß und sitzt ihr halb über den Augen. Ron ist seine zu klein, der rosa Krepp schneidet ihm in die Schläfen.

»Und ich kann Sie ganz sicher nicht zu einem Schlückchen Wein überreden, Mervyn?«, fragt Elizabeth.

»Alkohol zum Mittagessen? Nein«, erwidert Mervyn.

Das Fest selbst haben die vier getrennt verbracht. Für Elizabeth war es kein ganz einfacher Tag, das muss sie zugeben. Sie hatte gehofft, irgendein Funke würde überspringen, gehofft, die Erinnerung an vergangene Weihnachten könnte ihren Mann Stephen aufleben lassen, ihm zu Momenten der Klarheit verhelfen. Aber nein. Weihnachten war für Stephen ein Tag wie jeder andere. Eine leere Seite am Ende eines alten Buches. Ihr schaudert beim Gedanken an das vor ihnen liegende Jahr.

Für den zweiten Feiertag haben sie ein gemeinsames Mittagessen im Restaurant ausgemacht. Im letzten Augenblick hatte Joyce noch die Idee, Mervyn dazuzubitten. Er ist erst wenige Monate in Coopers Chase und tut sich bislang etwas schwer, Anschluss zu finden.

»Er ist Weihnachten ganz allein«, hat sie gesagt, und sie waren sich einig, dass sie ihn einladen sollten. »Mal was anderes«, sagte Ron großzügig, und Ibrahim fügte hinzu, wenn es einen Ort gebe, wo sich an Weihnachten niemand einsam fühlen dürfe, dann sei das Coopers Chase.

Auch Elizabeth hat Joyce für ihren Altruismus gelobt, wenngleich ihr nicht entgangen ist, dass Mervyn in gewissem Licht die Art von gutem Aussehen hat, die bei Joyce immer zieht. Diese walisische Knurrigkeit in seiner Stimme, dazu die dunklen Augenbrauen, der Schnurrbart, das silberne Haar … Elizabeth entwickelt allmählich ein Gespür für Joyces Typ, und »jeder, der in irgendeiner Form halbwegs attraktiv ist« scheint es ziemlich gut abzudecken. »Der klassische Seifenopern-Schurke«, so Rons Fazit, und dem konnte Elizabeth ausnahmsweise nicht widersprechen.

Bisher haben sie mit Mervyn über Politik zu reden versucht (»nicht mein Fall«), über Fernsehen (»den Stuss tu ich mir nicht an«) und über die Ehe (»Ich war mit einer Frau aus Swansea verheiratet« etc.).

Mervyns Essen wird serviert. Den Truthahn hat er verweigert, darum hat ihm die Küche auf besonderen Wunsch Scampi mit Salzkartoffeln gemacht.

»Ah, ein Scampi-Fan.« Ron deutet auf Mervyns Teller. Er bemüht sich redlich um den Mann, das muss Elizabeth ihm lassen.

»Mittwochs esse ich immer Scampi«, sagt Mervyn.

»Ist heute Mittwoch?«, fragt Joyce. »Ich verliere um Weihnachten rum immer ein bisschen den Überblick über die Wochentage.«

»Mittwoch, natürlich«, sagt Mervyn. »Mittwoch, der 26. Dezember.«

»Wussten Sie, dass ›Scampi‹ die Pluralform ist?«, fragt Ibrahim, dem die Kreppkrone modisch schräg auf dem Haupt sitzt. »Jedes Teil für sich ist ein ›Scampo‹.«

»Natürlich wusste ich das«, sagt Mervyn.

Elizabeth hat im Lauf der Jahrzehnte härtere Nüsse als Mervyn geknackt. Einmal war sie auf einen sowjetischen General angesetzt, der in über drei Monaten Gefangenschaft keine Silbe von sich gegeben hatte, und binnen einer Stunde sang er mit ihr Noël-Coward-Songs. Joyce bearbeitet Mervyn jetzt schon einige Wochen, seit dem Abschluss des Bethany-Waites-Falls. In dieser Zeit hat sie in Erfahrung gebracht, dass er Schulleiter war, dass er eine Ehe hinter sich hat, dass Rosie sein dritter Hund ist und dass er gern Elton John hört. Es gibt also durchaus Luft nach oben.

Elizabeth beschließt, zu den harten Bandagen zu greifen. Manchmal ist ein Schock nötig, um den Patienten aus dem Koma zu holen.

»Und von der mysteriösen Dame aus Swansea einmal abgesehen, Mervyn, wie sieht es mit Ihrem Liebesleben aus?«

»Ich habe eine Verlobte«, antwortet Mervyn.

Elizabeth sieht Joyces Augenbrauen einen winzigen Tick nach oben wandern.

»Gratuliere«, sagt Ron. »Wie heißt sie?«

»Tatiana«, sagt Mervyn.

»Sehr schöner Name«, sagt Joyce. »Aber warum habe ich noch nie von ihr gehört?«

»Wo feiert sie Weihnachten?«, will Ron wissen.

»In Litauen«, sagt Mervyn.

»Die Perle des Baltikums«, bemerkt Ibrahim.

»Aber hier in Coopers Chase haben wir sie noch nicht gesehen, kann das sein?«, sagt Elizabeth. »Seit Ihrem Einzug?«

»Die haben ihr den Pass weggenommen«, sagt Mervyn.

»Ach je«, sagt Elizabeth. »Das ist ja ärgerlich. Wer sind ›die‹?«

»Die Behörden«, sagt Mervyn.

»Typisch!« Ron schüttelt den Kopf. »Ein Drecks-Verein ist das.«

»Sie muss Ihnen so sehr fehlen«, sagt Ibrahim. »Wann haben Sie sich zum letzten Mal gesehen?«

»Wir haben uns noch nicht in dem Sinn, äh, getroffen«, sagt Mervyn, während er einen Scampo von Remoulade freikratzt.

»Sie haben sich nicht getroffen?«, fragt Joyce. »Ist das nicht etwas ungewöhnlich?«

»Einfach Pech«, sagt Mervyn. »Erst wurde ihr Flug storniert, dann ist sie bestohlen worden, und jetzt die Sache mit dem Pass. Aber was wäre die Liebe ohne Hindernisse?«

»Sie sagen es«, pflichtet Elizabeth bei. »Ohne Hindernisse keine Liebe.«

»Das heißt«, sagt Ron, »sobald sie ihren Pass zurückkriegt, kommt sie?«

»Das ist der Plan«, sagt Mervyn. »Jetzt läuft alles. Ich habe ihrem Bruder Geld geschickt.«

Die vier nicken und tauschen Blicke, während Mervyn seine Scampi verzehrt.

»Rein interessehalber, Mervyn«, Elizabeth rückt ihre Kreppkrone zurecht, »wie viel haben Sie ihm geschickt? Dem Bruder?«

»Fünftausend«, sagt Mervyn. »Insgesamt. Ganz üble Korruption in Litauen. Jeder schmiert jeden.«

»Das war mir gar nicht klar«, sagt Elizabeth. »Ich habe sehr schöne Zeiten in Litauen verbracht. Arme Tatiana. Und das Geld, das ihr gestohlen wurde? War das auch von Ihnen?«

Mervyn nickt. »Ich habe es an sie geschickt, und der Zoll hat es sich unter den Nagel gerissen.«

Elizabeth schenkt ihren Freunden nach. »Wir freuen uns jedenfalls schon, sie kennenzulernen.«

»Sehr sogar«, ergänzt Ibrahim.

»Ich denke nur gerade, Mervyn«, sagt Elizabeth, »wenn sie sich das nächste Mal meldet und um Geld bittet, wollen Sie mir dann vielleicht Bescheid sagen? Ich habe meine Kontakte und könnte eventuell helfen.«

»Im Ernst?«, fragt Mervyn.

»Aber sicher«, sagt Elizabeth. »Lassen Sie es mich einfach wissen. Bevor Sie noch mehr Pech haben.«

»Danke«, sagt Mervyn. »Sie bedeutet mir wirklich sehr viel. Ist lange her, dass jemand sich um mich gekümmert hat.«

»Und diese ganzen Kuchen, die Sie von mir bekommen haben?«, fragt Joyce.

»Ja, ja, ich weiß«, sagt Mervyn. »Ich meinte, im romantischen Sinne.«

»Ach, so meinen Sie das«, sagt Joyce, und Ron erstickt sein Lachen in einem Schluck Wein.

Truthahn und Yorkshire Pudding, Girlanden und Luftschlangen, Cracker und Kronen. Ein guter Roter im Glas, während im Hintergrund Weihnachtsschlager dudeln, die für Elizabeth alle gleich klingen. Dazu gute Freunde und Joyces aussichtslose Bemühungen um einen Waliser, der ganz offenkundig einem ausgefeilten grenzübergreifenden Betrug aufgesessen ist – Elizabeth könnte sich schlechtere Feiertagsbeschäftigungen denken.

»Dann noch mal frohe Weihnachten allerseits!« Ron hebt sein Glas.

Sie folgen seinem Beispiel.

»Und Ihnen einen schönen Mittwoch, den 26. Dezember, Mervyn«, sagt Ibrahim galant.

2

Unter normalen Umständen kann Mitch Maxwell gar nicht weit genug weg sein, wenn eine Lieferung ausgeladen wird. Wozu das Risiko eingehen und sich im Lagerhaus aufhalten, solange die Drogen noch dort sind? Aber aus naheliegenden Gründen sind dies keine normalen Umstände. Je weniger Mitwisser es gibt, desto besser. Mitchs Finger trommeln nur dann nicht, wenn er an den Nägeln kaut. Dieses Nervös-Sein schlaucht.

Außerdem ist es der leidige zweite Feiertag, und Mitch wollte schlicht und einfach mal raus. Musste raus, um es genau zu sagen. Die Kinder waren eine Pest, und er selbst hat sich mit seinem Schwiegervater über die Frage gekloppt, in welcher anderen Serie dieser Schauspieler in Call the Midwife noch mitspielt. Sein Schwiegervater sitzt jetzt mit gebrochenem Kiefer in der Not­aufnahme. Mitchs Frau und ihre Mutter geben die Schuld beide Mitch, so verrückt ist die Welt, also hat er sich lieber verdrückt, und was lag da näher, als die hundertfünfzig Kilometer von Hemel Hempstead nach East Sussex zu fahren, um persönlich nach dem Rechten zu sehen.

Mitch ist hier, um sicherzustellen, dass ein einfacher kleiner Behälter mit Heroin im Wert von hunderttausend Pfund aus einem Laster ausgeladen wird, der direkt von der Fähre kommt. Kein großer Betrag, aber darum geht es auch nicht.

Die Lieferung hat es durch den Zoll geschafft. Darum geht es.

Das Lagerhaus liegt in einem wild in die Landschaft gebauten Industriegebiet gut acht Kilometer von der Kanalküste entfernt. Über Jahrhunderte dürfte hier Ackerland gewesen sein, Scheunen und Ställe, Weizen, Gerste und Klee, klappernde Pferdehufe, nun sieht man auf demselben Boden Lagerschuppen aus Wellblech, alte Volvos, gesprungene Fensterscheiben. Die ächzenden alten Knochen Englands.

Ein hoher Eisenzaun um das gesamte Gelände hält Gelegenheitsdiebe fern, während innerhalb der Umzäunung die wahren Verbrecher ihren Geschäften nachgehen. An Mitchs Lagerhaus hängt ein Aluminiumschild: SUSSEX LOGISTICS SYSTEMS. An dem Nachbargebäude, auch so ein hallender Hangar, steht FUTURE TRANSPORT SOLUTIONS LTD, eine Fassade unter anderem für gestohlene Luxusautos. Links davon ein namenloser Mietcontainer, in dem eine Frau, die Mitch noch nicht zu Gesicht bekommen hat, einen schwunghaften Handel mit Ecstasy und gefälschten Pässen treiben soll. Am hinteren Ende des Geländes ist eine Weinkellerei samt Lagerschuppen: BRAMBER – THE FINEST ENGLISH SPARKLING WINE. Mitch hat erst kürzlich entdeckt, dass sich dahinter tatsächlich ein echtes Unternehmen verbirgt. Die Betreiber, Bruder und Schwester, sind beide ganz reizend und haben zu Weihnachten sämtlichen Nachbarn eine Kiste ihres Sekts geschenkt. Er war besser als Champagner und hatte an Mitchs Prügelei mit seinem Schwiegervater keinen unwesentlichen Anteil.

Ob den beiden Geschwistern von Bramber-Sekt schwant, dass sie die einzige legale Firma auf dem Gelände sind? Mitch weiß es nicht. Zumindest haben sie ihn einmal bei Future Transport Solutions Ltd eine Armbrust kaufen sehen und nicht mit der Wimper gezuckt, ganz schlechte Nachbarn können sie also nicht sein. Englischer Sekt scheint Mitch äußerst gut zu gehen, und kurz hat er sogar den Einstieg erwogen, dann aber doch einen Rückzieher gemacht, denn Heroin geht natürlich auch extrem gut, und besser, man bleibt bei dem, was man kennt. Von dieser Meinung kommt er allerdings jetzt, wo sich die Probleme so häufen, immer mehr ab.

Die Türen des Lagerhauses sind geschlossen, die Hecktür des Lasters steht offen. Zwei Männer – oder vielmehr ein Mann und ein junger Bursche – laden Pflanztröge aus. Angesichts der erwähnten Schwierigkeiten musste Mitch sie bereits zu größerer Sorgfalt mahnen. Zwar ist der tief zwischen den Paletten versteckte Behälter die wichtigste Ware, doch das heißt nicht, dass sich mit den Trögen nicht auch ein paar Pfund verdienen lässt. Mitch verkauft sie an Gartenzentren in Sussex und Kent, ein netter legaler Nebenerwerb. Und einen Pflanztrog mit einer Macke will keiner.

Das Heroin ist in einem kleinen Terrakottagefäß, auf alt getrimmt wie ein wertloses Gartenornament, falls irgendwer schnüffeln kommt. Ein spießiges Deko-Objekt. Das ist ihr üblicher Trick. Das Gefäß ist auf einem Bauernhof irgendwo in der Provinz Helmand mit Heroin gefüllt und dann gut verschlossen worden. Jemand aus Mitchs Netzwerk – diesmal hat es Lenny getroffen – war in Afghanistan, um die Aktion zu beaufsichtigen, sich zu vergewissern, dass das Heroin sauber ist und niemand sie übers Ohr haut. In Lennys Obhut hat besagtes Terrakottagefäß sodann den Weg nach Moldawien gefunden, in ein Dorf, wo keiner dumme Fragen stellt und wo es fachkundig zwischen Hunderten von Pflanztrögen versteckt wurde, um anschließend quer durch Europa kutschiert zu werden, von einem Mann namens Garry, der ein Haftstrafenregister und nicht viel zu verlieren hat.

Mitch sitzt im Büro, einem Verschlag auf einer Art Galerie an der Rückwand des Lagerhauses, und kratzt sich das »God Loves a Trier«-Tattoo an seinem Unterarm. Everton liegt 0:2 gegen Man City im Rückstand, was unvermeidlich, aber trotzdem ärgerlich ist. Jemand hat Mitch einmal angeboten, einem Konsortium zum Aufkauf des FC Everton beizutreten. Eine verlockende Vorstellung, sich in den Verein seiner Jugend einzukaufen, für den sein Herz schon so lange schlägt, aber nachdem sich Mitch etwas gründlicher mit dem Geschäftsmodell Fußball befasst hatte, kam er auch hier wieder zu dem Schluss, dass er mit Heroin wahrscheinlich besser bedient ist.

Auf seinem Handy geht eine Nachricht von seiner Frau Kellie ein.

Dad aus dem KH zurück. Er sagt er macht dich kalt.

Das würden manche bildlich verstehen, aber Mitchs Schwiegervater ist das Oberhaupt einer der größten Gangs in Manchester, und eins seiner ersten Weihnachtsgeschenke an Mitch war ein Taser aus Polizeibeständen. Man muss bei ihm also auf der Hut sein. Aber muss man das bei Schwiegereltern nicht immer? Mitch geht davon aus, dass es sich schon wieder einrenken wird – schließlich waren er und Kellie die Liebe, die alles überwindet, der Romeo und die Julia, die Liverpool und Manchester miteinander versöhnt haben. Er schreibt zurück:

Sag ihm ich hab ihm einen Range Rover gekauft.

Ein schepperndes Klopfen an der dünnen Bürotür kündigt Mitchs Stellvertreter an, Dom Holt.

»Alles erledigt«, sagt Dom. »Tröge ausgeladen, Kiste im Safe.«

»Danke, Dom.«

»Willst du sie anschauen? Sieht ziemlich scheiße aus.«

»Du – danke«, sagt Mitch. »Noch näher muss echt nicht sein.«

»Ich schick dir ein Foto«, sagt Dom. »Damit du’s einfach gesehen hast.«

»Bis wann ist das Zeug jetzt hier?« Mitch ist klar, dass noch nicht alles in trockenen Tüchern ist. Aber seine große Sorge war der Zoll. Ab jetzt sind sie auf der sicheren Seite, oder? Was soll schon noch schiefgehen?

»Bis morgen um neun«, sagt Dom. »Der Laden macht um zehn auf. Ich schick den Jungen hin.«

»Braver Bursche«, sagt Mitch. »Wohin bringt ihr es gleich wieder? Brighton?«

Dom nickt. »Antiquitätenladen. Kuldesh Sharma heißt der Typ. Nicht unser üblicher, aber außer ihm hat morgen keiner geöffnet. Sollte kein Problem sein.«

Man City trifft zum dritten Mal, und Mitch verzieht gequält das Gesicht. Er schaltet das iPad aus – kein Grund, sich diese Misere noch länger anzutun.

»Dann lass ich euch mal machen. Ich muss langsam zurück«, sagt Mitch. »Meinst du, der Junge könnte den Range Rover klauen, der drüben vor der Sektkellerei parkt, und ihn zu mir nach Hertfordshire fahren?«

»Kein Thema, Boss«, sagt Dom. »Ist zwar erst fünfzehn, aber diese Dinger fahren sich ja praktisch von allein. Dann geb ich die Kiste selber ab.«

Mitch verlässt das Lagerhaus durch den Notausgang. Außer Dom und dem jungen Burschen hat ihn niemand gesehen, und er und Dom sind zusammen in die Schule gegangen beziehungsweise zusammen von der Schule geflogen, aus der Richtung hat er also nichts zu befürchten.

Dom ist vor zehn Jahren hier runter gezogen, nachdem er das falsche Lagerhaus abgefackelt hatte, und die gesamte Logistik von Newhaven aus läuft bei ihm zusammen. Sehr nützlich. Einwandfreie Schulen hier unten, das ist für Dom schon die halbe Miete. Sein Sohn hat es gerade ins Royal Ballet geschafft. So hat sich alles bestens gefügt. Bis auf die letzten Monate. Aber die liegen nun ja hinter ihnen. Solange mit dieser Sache jetzt alles glattgeht. Und bisher sieht es gut aus.

Mitch lockert die Schultern, macht sich bereit für die Fahrt nach Hause. Sein Schwiegervater wird sauer sein, aber sie werden zusammen ein Bier trinken und irgendeinen Fast & Furious-Film gucken, und dann passt alles wieder. Mitch wird vermutlich ein Veilchen kassieren – nach dem gebrochenen Kiefer hat der Alte was bei ihm gut –, aber der Range Rover sollte ihn gnädig stimmen.

Ein kleines Kästchen, hundert Riesen Gewinn. Nicht schlecht für den zweiten Weihnachtsfeiertag.

Was nach dem morgigen Tag passiert, kann Mitch egal sein. Seine Zuständigkeit ist es, das Kästchen von Afghanistan in einen kleinen Antiquitätenladen in Brighton zu schaffen. Sobald jemand es dort abholt, ist Mitchs Part beendet. Ein Mann, oder vielleicht eine Frau, wer weiß, wird morgen früh in den Laden kommen, das Kästchen kaufen und wieder gehen. Der Inhalt wird überprüft werden, und die Zahlung wird direkt auf Mitchs Konto landen.

Und, wichtiger noch, er wird wissen, dass sein Netzwerk keine Sicherheitslecks hat. Es waren nervenaufreibende Monate. Beschlagnahmen in Häfen, Festnahmen von Fahrern, Festnahmen von Laufjungen. Deshalb hat er den Ball jetzt so flach gehalten, nur mit Leuten geredet, denen er absolut vertraut. Das Terrain sondiert.

Ab morgen wird er hoffentlich nie wieder einen Gedanken an das hässliche Terrakotta-Teil verschwenden müssen. Er kann einfach das Geld einstreichen und weitergehen zum nächsten Job.

Hätte Mitch beim Verlassen des Geländes nach links geschaut, dann wäre ihm der Motorradkurier aufgefallen, der auf dem Rastplatz ein Stück weiter parkt. Und vielleicht hätte ihn der Gedanke gestreift, dass dies ein ungewöhnlicher Platz für einen Motorradkurier ist, an einem ungewöhnlichen Tag zu einer ungewöhnlichen Zeit noch dazu. Aber Mitch sieht den Mann nicht, darum streift ihn auch kein solcher Gedanke, und er fährt vergnügt nach Hause.

Der Motorradfahrer bleibt, wo er ist.

3

Joyce

Da bin ich wieder.

Gestern habe ich nichts geschrieben, weil Weihnachten war, und da wird doch leicht alles ein bisschen viel. Baileys und Mince Pies und Fernsehen, man kennt das ja. In der Wohnung war es erst einen Ticken zu heiß, fand Joanna, und kaum hatte ich die Heizung heruntergedreht, einen Ticken zu kühl. Joanna hat im ganzen Haus Fußbodenheizung, wie sie nicht gerade selten erwähnt.

Aber mein Weihnachtszimmer freut mich doch sehr, mit dem roten und goldenen und silbernen Schmuck, der das Licht meiner elektrischen Kerzen einfängt, und all den Karten von alten und neuen Freunden. An der Spitze meines Weihnachtsbaums (kein echter, aber bitte nicht weitersagen: Er ist von John Lewis, und ganz ehrlich, man sieht keinerlei Unterschied) steckt ein Engel, den Joanna in der Grundschule gebastelt hat – eine Klopapierrolle, etwas Alufolie, ein paar Zentimeter Spitze und ein hölzerner Kochlöffel mit aufgemaltem Gesicht. Ich habe ihn jetzt seit vierzig Jahren – ein halbes Leben!

Was war Joanna die ersten vier, fünf Jahre stolz und glücklich, ihn an unserem Baum zu sehen! Dann kamen zwei oder drei Jahre, in denen er ihr langsam peinlich wurde, gefolgt von schätzungsweise dreißig Jahren ausgemachter Feindseligkeit gegen den armen Engel. Seit einiger Zeit setzt allerdings zunehmend Tauwetter ein, merke ich, und als ich gestern mit einem Teller Jaffa-Keksen ins Zimmer zurückkam, stand Joanna da und berührte den Engel, Tränen in den Augenwinkeln.

Was mich schon etwas überraschte, aber gut, für sie ist es ja fast ihr gesamtes Leben.

Joanna war mit ihrem Liebsten da, Scott, dem Fußball-Präsidenten. Eigentlich hatte ich gedacht, wir würden bei ihnen feiern – Joannas Haus sieht so wunderbar weihnachtlich aus auf Instagram, mit Blumen und Schleifen und natürlich einem echten Baum. Mir wären die Kerzen ja zu dicht an den Vorhängen, aber sie ist erwachsen und muss wissen, was sie tut.

Joanna wartete bis zum 20. Dezember, um mir zu eröffnen, dass Weihnachten bei mir stattfinden würde; ums Essen bräuchte ich mir keinerlei Sorgen machen, sagte sie, weil sie alles mitbringen würden, lauter vorgekochte Sachen aus irgendeinem Restaurant in London. »Du musst keinen Finger rühren, Mum«, sagte sie – ein Jammer, weil ich natürlich sehr gerne gekocht hätte.

Und warum waren wir bei mir? Weil sie am Abend des ersten Feiertags nach St. Lucia flogen und ihr Flug auf den letzten Drücker von Heathrow, was nahe bei ihnen gewesen wäre, nach Gatwick verlegt worden war, also nahe bei mir.

Sprich, ich kam ihnen gelegen. Was ja manchmal das Beste ist, was einem passieren kann, nicht wahr?

Das bringt mich gleich zum nächsten Punkt: Es gab Gans zum Essen. Gans! Ich sagte, ich hätte einen Truthahn, den ich ohne Weiteres machen könnte, aber Joanna belehrte mich, dass Gans eine viel ältere Tradition sei als Truthahn, und ich sagte, Gans traditioneller als Truthahn, haha!, und sie sagte, weißt du, Mum, Weihnachten wurde nicht von Charles Dickens erfunden, und ich sagte, das sei mir völlig klar (so ganz wusste ich nicht, was sie meinte, aber ich hatte das Gefühl, dass mir die Sache etwas entglitt, und brauchte einen Halt), worauf sie sagte, sehr gut, dann essen wir also Gans, und ich sagte, ich besorge die Cracker, und sie sagte, keine Cracker, Mum, die Achtziger sind vorbei. Aber ansonsten war es ein sehr nettes Weihnachten, und wir sahen die Ansprache des Königs, was ein ziemliches Opfer aufseiten Joannas war. In Wahrheit war ich auch nicht so wild auf die Rede, aber wir wussten beide, dass ich dringend einen Punktgewinn brauchte. Charles machte seine Sache sehr ordentlich, fand ich – ich weiß noch mein erstes Weihnachten ohne meine Mutter.

Joanna hatte ein sehr schönes Geschenk für mich, eine Thermoskanne, wie die Astronauten sie benutzen, in die eingraviert ist: Frohe Weihnachten, Mum! Auf ein Jahr ohne Morde. Was sich die Leute in dem Geschäft wohl gedacht haben mögen? Sie hatte außerdem Blumen für mich, und von dem Fußball-Präsidenten bekam ich ein Armband, das ich unter »nett gemeint« einordnen würde.

Aber Geschenke auspacken macht einfach Spaß. Ich hatte die neue Kate Atkinson für Joanna, zusammen mit einem Parfüm, dessen Namen sie mir vorab gemailt hatte, und für den Fußball-Präsidenten Manschettenknöpfe, die er vermutlich ebenfalls unter »nett gemeint« abheften wird. Ich lege ja bei allem den Kassenzettel dazu. Das hat meine Mutter auch immer gemacht. Wobei ich bezweifle, dass er sie umtauschen wird, denn sie sind aus dem Marks & Spencer in Brighton, und er scheint mir eigentlich permanent in London oder Dubai zu sein.

Heute war dann das Weihnachtsessen mit der Gang, und so kam ich doch noch zu meinem Truthahn und Crackern. Elizabeth wollte schon beides ablehnen, bremste sich jedoch, ich muss also sehr entschlossen gewirkt haben. Allerdings machte ich den Fehler (sage ich jetzt im Rückblick), Mervyn dazu einzuladen. Ich denke immer noch, irgendwann taut er auf, aber ich fürchte, da habe ich auf das falsche Pferd gesetzt. Ich kann nur hoffen, dass ich demnächst einmal mehr Glück haben werde. So sehr viel Zeit bleibt mir ja langsam nicht mehr.

Hinterher zogen wir zu Ibrahim um, und Mervyn ging zu sich. Er hat uns gestanden, dass er eine Internet-Verlobte hat, Tatiana, die er nie persönlich kennengelernt hat, aber offenbar trotzdem finanziert. Ibrahim sagt, Mervyn ist einem sogenannten »Love Scam« zum Opfer gefallen, und will mit Donna und Chris darüber sprechen. Wie bald nach Weihnachten fangen Polizisten wieder zu arbeiten an? Bei Gerry war es meist um den 4. Januar herum, aber die Polizei ist wahrscheinlich nicht dasselbe wie die Kreisverwaltung von West Sussex.

Hier die Geschenke, die wir uns gemacht haben:

Joyce von Elizabeth: ein Fußbad. Und zwar genau das aus der Fernsehwerbung. Ich stecke gerade drin. Oder jedenfalls meine Füße.Elizabeth von Joyce: M&S-Gutscheine.Ron von Elizabeth: Whisky.Ron von Ibrahim: die Autobiografie eines Fußballers, der mir nichts sagt. Nicht David Beckham oder Gary Lineker.Elizabeth von Ron: Whisky.Ron von Joyce: M&S-Gutscheine.Elizabeth von Ibrahim: ein Buch, das Die Psychopathen sind unter uns heißt.Ibrahim von Elizabeth: ein Gemälde von Kairo, bei dessen Anblick Ibrahim feuchte Augen bekam, das heißt, sie müssen irgendwann ein Gespräch geführt haben, bei dem ich nicht anwesend war.Ibrahim von Joyce: M&S-Gutscheine. Er packte sie direkt nach Elizabeths Bild aus, deshalb kam ich mir reichlich einfallslos vor.Joyce von Ibrahim: M&S-Gutscheine. Uff!Joyce von Ron: Das Kamasutra. Sehr witzig, Ron.Alan von Ibrahim: ein Quietsche-Telefon.Ibrahim von Alan: eine Tontafel mit Alans Pfotenabdruck. Ibrahim kriegte wieder feuchte Augen. Yippie!Ibrahim von Ron: eine kleine Oscar-Statue mit der Inschrift Mein bester Kumpel. Diesmal heulten wir alle.

Wir tranken, wir sangen ein paar Weihnachtslieder – Elizabeth kann den Text von »Last Christmas« nicht, ist das zu glauben? Aber gut, dafür kann ich den Text von »In dulci jubilo« nicht. Danach durfte Ron noch gut fünfundzwanzig Minuten gegen die Monarchie wettern, und dann gingen wir auseinander.

Daheim packte ich noch das Geschenk aus, das Donna mir geschickt hat. Ich war sehr gerührt, denn allzu viel verdient man als Polizeiwachtmeisterin bestimmt nicht. Es ist ein kleiner Messinghund, der, wenn man ein bisschen blinzelt, entfernt wie Alan aussieht. Sie hat ihn bei Kemptown Antiquitäten in Brighton gekauft. Der Laden gehört Stephens Freund Kuldesh, der uns bei unserem letzten Fall geholfen hat. Klingt nach genau dem richtigen Laden für mich. Vielleicht schaue ich mal rein, denn jetzt brauche ich ja etwas für Donna. Schön ist das, Leute zu haben, denen man Geschenke machen kann.

Alles in allem war es also ein sehr guter zweiter Feiertag. Jetzt zum Einschlafen noch ein Judi-Dench-Film, dann fehlt als Einziges Gerry, der sich durch eine Dose Quality Street lutscht und die Papierchen in der Dose lässt. Ein bisschen hat mich das immer geärgert, aber was gäbe ich jetzt nicht darum, es wiederzuhaben! Gerry mochte die Erdbeer- oder Orangencreme in dunkler Schokolade am liebsten, ich die Toffee-Bonbons, und wenn Sie ein Rezept für eine glückliche Ehe suchen: Hier ist eins.

Joanna hat mich zum Abschied ganz fest umarmt und mir gesagt, dass sie mich lieb hat. Von Truthähnen und Crackern versteht sie zwar nichts, aber sie hat doch auch ihre Stärken. Seltsam, wie Weihnachten das immer wieder schafft: Alles Unstimmige kommt einem noch schlimmer vor und alles Gute noch besser.

Meine lieben Freunde, meine liebe, liebe Tochter. Und mein noch lieberer toter Mann, der mich nie wieder treuherzig anlächeln wird.

Auf irgendetwas möchte ich noch trinken, also trinken wir vielleicht ja doch auf »ein Jahr ohne Morde«.

4

Donnerstag, 27. Dezember, 10 Uhr

Kuldesh Sharma ist froh, die Feiertage hinter sich zu haben. Froh, wieder in seinem Laden zu stehen. Viele der anderen kleinen Geschäfte im Viertel bleiben die Woche durch geschlossen, aber Kuldesh öffnet seine Kemptown Antiquitäten am 27. Dezember Schlag zehn.

Er hat sich in Schale geworfen, wie immer. Violetter Anzug, cremefarbenes Seidenhemd. Gelbe Budapester. So ein Laden ist eine Bühne. Kuldesh überprüft sein Äußeres in einem antiken Spiegel, nickt wohlgefällig und deutet eine kleine Verbeugung an.

Ob Kundschaft kommen wird? Im Zweifel nein. Wer braucht zwei Tage nach Weihnachten schon eine Art-déco-Porzellanfigur oder einen silbernen Brieföffner? Niemand. Aber Kuldesh kann ein bisschen aufräumen, ein paar Kleinigkeiten umstellen, sich bei den Online-Auktionen umschauen. Mit anderen Worten, er kann sich beschäftigen. Die Feiertage vergehen zäh, wenn man allein ist. Man kann sich noch so viel Lektüre bereitlegen, noch so viele Tassen Tee aufbrühen, früher oder später schlägt die Einsamkeit über einem zusammen. Man saugt sie ein, man strömt sie aus, und die Uhr tickt langsam, langsam, bis man endlich schlafen darf. Er hat sich nicht einmal umgezogen für das Fest. Für wen hätte er sich umziehen sollen?

Die Eisenwarenhandlung gegenüber hat geöffnet. Der Inhaber, Big Dave, hat seine Frau letzten Oktober an Krebs verloren. Das Café ein Stück weiter hügelabwärts ist ebenfalls offen. Es wird von einer jungen Witwe betrieben.

Kuldesh sitzt im Hinterzimmer und trinkt seinen Cappuccino. Er hat erst vor wenigen Minuten aufgeschlossen, und das Klingeln der Ladenglocke überrascht ihn.

Wer kann da kommen, zu dieser Zeit, an einem solchen Tag?

Er stemmt sich aus seinem Schreibtischstuhl hoch, wobei seine Arme den Part übernehmen, der früher Sache der Knie war, tritt durch die Verbindungstür in den Laden und erblickt einen gut gekleideten, kräftig gebauten Mann in den Vierzigern. Kuldesh nickt und schaut dann weg, sucht sich etwas, in das er sich zum Schein vertieft.

Einen neuen Kunden darf man mit dem Blick allerhöchstens streifen. Manche Menschen wollen Blickkontakt, aber das sind die wenigsten. Kunden sind wie Katzen, man muss warten, bis sie von selber kommen. Zu viel Eifer verscheucht sie. Spielt man seine Karten dagegen richtig aus, fühlen sich die Kunden am Ende geehrt, wenn sie hier etwas kaufen dürfen.

Bei dem Neuankömmling allerdings sind derlei Abwägungen überflüssig. Er will nicht kaufen, er will verkaufen. Kurz geschorenes Haar, teure Sonnenbräune, die Zähne zu weiß für das Gesicht, wie es heutzutage Mode zu sein scheint. Und in seiner Hand eine Ledertasche, die kostspieliger wirkt als alles, was Kuldesh in seinem Laden stehen hat.

»Sind Sie der Besitzer hier?« Ein Liverpooler Akzent. Sehr selbstsicher. Bedrohlich? Eine Spur vielleicht, aber nichts, was Kuldesh einschüchtern würde. Was immer der Mann in dieser teuren Tasche hat, dürfte interessant sein, das weiß er. Illegal, aber interessant. Was hätte er nicht alles verpasst, wenn er daheim geblieben wäre!

»Kuldesh«, sagt Kuldesh. »Schöne Feiertage gehabt, hoffe ich doch?«

»Die reinste Idylle«, sagt der Mann. »Ich hab was zu verkaufen. So ein Kistchen. Sehr dekorativ.«

Kuldesh nickt, er weiß Bescheid. Nicht ganz sein Metier, so etwas, aber vermutlich haben die einschlägigen Läden zwischen den Jahren alle zu. Trotzdem, kampflos muss er sich nicht geschlagen geben.

»Keine Ankäufe, tut mir leid«, sagt er. »Hier passt nichts rein – ich muss erst wieder Platz schaffen. Interessiert Sie vielleicht ein viktorianischer Kartentisch?«

Aber der Mann hört gar nicht hin. Er stellt die Tasche behutsam auf den Ladentisch und zieht den Reißverschluss halb auf. »Hässliches Ding, Terrakotta. Da.«

»Hat ein paar Jährchen auf dem Buckel, wie?« Kuldesh späht in die Tasche, wo ein Kästchen zu erahnen ist. Dunkel und stumpf, eingeritzte Muster mit einer gehörigen Schicht Dreck darüber.

Der Mann zuckt die Achseln. »Wer hat das nicht? Geben Sie mir einen Fuffzger, und morgen früh kommt jemand, der es Ihnen für fünfhundert abkauft.«

Hat es Sinn, Einwände zu erheben? Mit dem Mann herumzudiskutieren? Ihn abwimmeln zu wollen? Nein, sicher nicht. Ihre Wahl ist auf Kuldeshs Laden gefallen, da hilft nichts. Gib dem Kerl seinen Fünfziger, stell die Tasche unter den Ladentisch, händige sie morgen früh dem Käufer aus und überleg gar nicht erst, was in dem Kästchen sein könnte. So geht es eben manchmal, und das Klügste ist, mitzuspielen. Andernfalls fliegt dir ein Molotowcocktail zum Fenster herein.

Kuldesh nimmt drei Zehner und einen Zwanziger aus der Kasse und gibt sie dem Mann, der sie ohne Zeitverlust in seinem Mantel versenkt. »Sie sehen mir nicht aus, als würden Sie fünfzig Pfund brauchen.«

Der Mann lacht. »Und Sie nicht, als ob Sie fünfhundert Pfund brauchen würden, aber so kann’s gehen.«

»Sehr schönen Mantel haben Sie«, sagt Kuldesh.

»Danke«, sagt der Mann. »Thom Sweeney. Das muss ich wahrscheinlich nicht extra dazusagen, aber wenn dieser Tasche was passiert, sind Sie tot.«

»Verstehe«, sagt Kuldesh. »Darf ich trotzdem fragen, was in dem Kästchen ist? Strikt im Vertrauen?«

»Nichts«, sagt der Mann. »Es ist einfach bloß eine alte Schachtel.«

Wieder lacht er, und diesmal lacht Kuldesh mit ihm.

»Alles Gute für Sie, junger Mann«, sagt er dann. »An der Ecke Blaker Street ist eine Obdachlose, die sich über fünfzig Pfund sicher freuen würde.«

Der andere nickt. »Und schön die Finger von der Tasche lassen«, sagt er und verschwindet durch die Tür.

»Danke für Ihren Besuch«, sagt Kuldesh. Er sieht noch, wie der Mann den Weg hügelabwärts einschlägt, Richtung Blaker Street. Ein Motorradkurier fährt in entgegengesetzter Richtung vorbei.

Keine uninteressante Art, den Tag zu beginnen, aber in dieser Branche stößt einem allerhand Interessantes zu. Erst kürzlich konnte Kuldesh seinem Freund Stephen und dessen Frau Elizabeth helfen, einige seltene Bücher aufzuspüren und einen Mörder zu fangen. Elizabeth hat einen »Mordclub« aufgezogen – ausgerechnet.

Das Kästchen wird morgen in neue Hände gelangen, und damit wird die Geschichte abgehakt sein. So etwas kommt eben manchmal vor in einem Gewerbe, das nicht immer über jeden Zweifel erhaben ist.

Idealismus auf der einen Seite, kriminelle Energie auf der anderen, das ist der Stoff, aus dem der Antiquitätenhandel ist.

Kuldesh zieht die Tasche zu sich her und öffnet den Reißverschluss ganz. Das Kästchen ist nicht reizlos in seiner Gedrungenheit, aber nichts, was er in seinem Laden verkaufen könnte. Er hebt es ein Stück an. Irgendetwas ist definitiv drin. Kokain oder Heroin im Zweifel. Kuldesh kratzt etwas Schmutz vom Deckel. Was ist dieses wertlose Kästchen jetzt wert? Auf jeden Fall mehr als fünfhundert Pfund.

Kuldesh schließt den Reißverschluss wieder und stellt die Tasche unter den Tisch. Er wird den Straßenpreis von Heroin und Kokain googeln. Auf diese Weise geht der Tag etwas schneller herum. Und dann wird er die Tasche in den Tresor sperren. Es wäre zu dumm, wenn heute eingebrochen würde.

5

»Mervyn, ich sage das wirklich ungern so hart, aber Tatiana gibt es nicht.« Donna streckt Mervyn tröstend die Hand hin, doch der ergreift sie nicht, wie Ibrahim ihr gleich hätte sagen können. Mervyn gehört zu den Hände-Verweigerern dieser Welt. Er lebt sein Leben lieber aus sicherem Abstand.

Sie haben Donna gebeten, sie zu Mervyn zu begleiten, um mit ihm über seine angebliche neue Liebe zu sprechen. Joyce hatte die Hoffnung, dass eine Polizeibeamtin mehr Eindruck auf ihn machen würde, aber etwas in Mervyns Blick hat Ibrahim schon bei ihrem Weihnachtsessen verraten, dass weit mehr hermuss, um den Mann zu beeindrucken.

Mervyn lächelt überlegen. »Die Fotos und E-Mails, die ich habe, würden das so nicht bestätigen.«

»Ob wir diese Fotos wohl mal sehen dürften, Mervyn?«, fragt Elizabeth.

»Wenn ich dafür Ihre privaten E-Mails sehen dürfte?«

»Davon kann ich nur abraten«, sagt Elizabeth.

»Ich weiß, das ist nicht einfach für Sie«, sagt Donna. »Und mir ist klar, dass es Ihnen vielleicht peinlich ist –«

»Alles andere als peinlich«, sagt Mervyn. »Sie verkennen die Situation vollständig. Sie sind himmelweit von der Wahrheit entfernt, junge Dame.«

»Vielleicht ist es ja schlicht ein Missverständnis«, begütigt Joyce.

»Das kommt ja vor, dass man aneinander vorbeiredet«, springt Ibrahim ihr bei.

Mervyn schüttelt belustigt den Kopf. »Das mag altmodisch sein, aber es gibt da eine Tugend, die sich Vertrauen nennt und die heutzutage, fürchte ich, schwer unterschätzt wird. Bei der Polizei und auch sonst in der Welt.«

Er nimmt die ganze Gang in den Blick, als er das sagt.

»Ich weiß schon, ihr vier seid so was wie die ›coolen Kids‹ hier in Coopers Chase …«

Ibrahim bemerkt, dass Joyce hocherfreut dreinschaut.

»… aber ihr wisst längst nicht alles.«

»Das sage ich denen auch immer, Merv«, sagt Ron.

»Und Sie sind überhaupt der Schlimmste von allen«, beschuldigt Mervyn ihn. »Wenn Joyce nicht wäre, würde ich keine Sekunde an euch verschwenden. Ich habe auf mein Weihnachtsessen verzichtet, um euch Gesellschaft zu leisten, schon vergessen?«

»Das rechnen wir Ihnen auch sehr hoch an, Mervyn«, sagt Elizabeth. »Und ja, wir sind mit Fehlern behaftet, als Einzelpersonen wie auch als Gruppe, und vermutlich haben Sie völlig recht, Ron als den Schlimmsten von uns herauszugreifen. Aber ich glaube, Donna möchte Ihnen gern ein paar Dinge zeigen, die Sie umstimmen könnten.«

»Nichts wird mich je umstimmen«, verkündet Mervyn.

Donna klappt einen Laptop auf und öffnet eine Reihe von Fenstern.

»Das ist wirklich lieb von Ihnen, dass Sie an Ihrem freien Tag zu uns rauskommen«, sagt Joyce zu ihr.

»Kein Thema«, sagt Donna.

»Stellen Sie sich vor, Donna hat an Weihnachten jemanden verhaftet«, wendet Joyce sich an Mervyn. »Ich wusste gar nicht, dass das geht.«

»Wegen was?«, fragt Ron. »Rentierdiebstahl?«

»Sexueller Übergriff«, sagt Donna.

»An Weihnachten.« Joyce schüttelt den Kopf. »Man sollte meinen, da hätten die Leute zu volle Bäuche dafür.«

Donna hat gefunden, wonach sie gesucht hat, und dreht den Bildschirm in Mervyns Richtung. »Also, Mervyn, Joyce hat mir ein Foto von Tatiana weitergeleitet, das Sie ihr geschickt haben.«

»Sie hat was?«

»Ja«, sagt Joyce. »Jetzt tun Sie nicht so aufgebracht. Sie haben es mir doch nur geschickt, um anzugeben.«

»Männliche Eitelkeit«, bestätigt Ibrahim, der froh ist, etwas beitragen zu können.

»Ein heißer Feger«, sagt Ron. »Wer immer sie ist.«

»Das ist Tatiana«, sagt Mervyn. »Und Ihre Kommentare sind hier unerwünscht.«

»Aber das ist genau der Punkt«, sagt Donna. Sie zeigt Mervyn sein Foto auf ihrem Bildschirm und daneben ein zweites, identisches Foto. Dieselbe Frau, dasselbe Foto. »Man kann bei jedem Foto im Netz eine Rückwärtssuche machen, also habe ich das mit Ihrem Foto von Tatiana gemacht, und wie Sie sehen, zeigt es keineswegs eine Person namens Tatiana, sondern Larissa Bleidelis, eine litauische Sängerin.«

»Dann ist Tatiana also Sängerin?«, fragt Mervyn.

»Nein, Tatiana gibt es nicht«, sagt Donna.

Für sie alle liegt das klar auf der Hand, aber Mervyn wehrt sich mit Händen und Füßen.

Ibrahim lauscht Mervyns Redeschwall, und ihn überkommt das gleiche Gefühl, wie wenn er mit Ron über Fußball zu reden versucht. Oder über Politik. Oder über egal welches Thema. Mervyn nennt Donnas Behauptung »hanebüchen«. Er nennt sie sogar »Kokolores«, was bei ihm, denkt Ibrahim, einem Kraftausdruck sehr nahekommt. Mervyn kämpft, sagt, er kann ihnen etliche andere Fotos zeigen, vertrauliche Mitteilungen, Liebesschwüre, alles. Er hat sogar einen Ordner dafür angelegt, was ihn Ibrahim gleich etwas sympathischer macht.

Jetzt übernimmt Joyce. »Ist Ihnen schon mal der Begriff ›Liebesschwindel‹ untergekommen?«

»Nein, mir reicht das Wörtchen Liebe«, sagt Mervyn spitz.

»Es gab eine eigene Sendung darüber«, sagt Joyce. »Direkt nach dem Frühstücksfernsehen.«

»Ich schaue kein Fernsehen«, sagt Mervyn. »Die Mattscheibe, sage ich dazu nur.«

»Ja, das hört man sehr häufig«, bemerkt Elizabeth. »Den Ausdruck haben Sie nicht erfunden.«

»Das gehört vielleicht nicht hierher«, bemerkt Ibrahim. »Und es soll auch gar nichts heißen, aber erstaunlich viele Serienmörder besitzen keinen Fernseher.«

Joyces Hund Alan leckt Ibrahims Hand, ausdauernd wie stets. Die anderen sehen das als Zeichen einer speziellen Verbundenheit zwischen den beiden, nicht ahnend, dass Ibrahim immer Polo-Mints einstecken hat, seit er dahintergekommen ist, dass Alan Pfefferminz liebt.

Donna öffnet ein weiteres Fenster auf dem Laptop, und noch mehr Fotos erscheinen. »Die Betrüger verwenden dieselben Fotos mehrfach. Sie haben eine kanadische Pilotin im Angebot, dann eine Anwältin aus New York, Larissa und etliche andere. Die Gangster verschicken sie unter allen möglichen Namen. Schön, aber nahbar, das ist ihre bevorzugte Optik.«

»Also, meine schon auch«, sagt Joyce.

Donna zeigt Ibrahim die Pilotin, und Ibrahim kann den Reiz nachvollziehen. Ein Fels in der Brandung.

Mervyn vermag das nicht zu erschüttern, schließlich hat er ja die letzten fünf, sechs Monate laufend mit Tatiana gesprochen. Viele Male am Tag.

»Gesprochen?«

»Na schön, geschrieben, was ist schon der Unterschied«, sagt er ungeduldig.

Joyce weist ihn darauf hin, dass er Tatiana auch fünftausend Pfund geschickt hat, und er braust auf: Selbstverständlich hat er das, wenn ein Mensch, den man liebt, ein neues Auto braucht oder ein Visum, dann hilft man eben, das gebietet allein schon der Anstand.

»Ihr werdet noch staunen«, kündigt er an. »Am 19. Januar kommt sie, und dann werden so einige Herrschaften hier Grund haben, sich zu entschuldigen. Dann wird viel Kreide gefressen werden in Coopers Chase.«

Dabei müssen sie es wohl fürs Erste belassen, auch wenn es schmerzt, also packen sie ihre Gerätschaften ein und machen sich auf den Weg zurück zu Joyce. Elizabeth geht heim zu Stephen, und Joyce nutzt die Gelegenheit, um Donna über ihr Weihnachten mit Bogdan auszufragen.

»Und ist er überall tätowiert?«

»So ziemlich«, bestätigt Donna.

»Auch …?«

»Nein, da nicht«, sagt Donna. »Joyce, hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie pervers sind?«

»Jetzt tun Sie nicht so prüde«, sagt Joyce.

Ibrahim fragt sich, wie sie Mervyn aus der Klemme helfen können. Der Mann macht es einem nicht leicht, das muss man sagen, und sie hätten sich nie mit ihm eingelassen, wenn Joyce nicht auf seine tiefe Stimme und dieses Flair des Geheimnisvollen hereingefallen wäre. Aber er ist einsam, und ihm wird übel mitgespielt. Davon abgesehen könnte der Donnerstagsmordclub durchaus einmal ein Projekt gebrauchen, bei dem sich die Ereignisse nicht gar so überschlagen. Etwas ein bisschen weniger Mordlastiges wäre vielleicht ganz erfrischend.