Der Dozent und der Tod - Karl Vocelka - E-Book

Der Dozent und der Tod E-Book

Karl Vocelka

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Beschreibung

Ein Schluck Wasser. Und es ist vorbei. Während eines öff entlichen Hearings, bei dem es um die Neubesetzung einer Professorenstelle an der Universität Wien geht, kippt einer der Bewerber um. Herzinfarkt? Schlaganfall oder Mord? Chefinspektor Lietzmann nimmt die Ermittlungen auf. Sein erster Verdacht fällt auf einen Dozenten, der das Fach Orientalistik in der Hearing-Kommission vertreten hat. Ein bunter Vogel und Alt-68er, der so gar nicht in die Schar der übrigen Universitätslehrer passt. Um den Verdacht zu entkräften, beginnt der Dozent Nachforschungen anzustellen und gerät dabei in ein Labyrinth von Sex, Lügen und Intrigen in der akademischen Welt. Ein spannender Universitätskrimi, der in den bewegten 1980er-Jahren zur Zeit von Kurt Waldheims Präsidentschaftswahlkampf spielt.

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Klappentext

Wien, 1986. Ein Schluck Wasser. Und es ist vorbei. Während eins öffentlichen Hearings zur Neubesetzung einer Professorenstelle kippt einer der Bewerber um. Herzinfarkt? Schlaganfall oder Mord?

Chefinspektor Lietzmann nimmt die Ermittlungen auf. Sein erster Verdacht fällt auf einen Dozenten. Ein bunter Vogel und Alt-68er, der so gar nicht in die Schar der übrigen Universitätslehrer passt. Um den Verdacht zu entkräften, beginnt der Dozent Nachforschungen anzustellen und gerät dabei in Labyrinth von Sex, Lügen und Intrigen in der akademischen Welt.

Endlos viel Zeit verging, bis die Polizei eintraf. Sie hatte sich davor noch mit dem Rektorat in Verbindung setzen müssen, da die Universität im Rahmen ihrer Autonomie von Polizisten nur mit Erlaubnis des Rektors betreten werden durfte. Währenddessen unterhielten sich die Anwesenden leise über das, was geschehen war. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt, denn der Dozent hörte jemand sagen: „Vielleicht ist das eine Folge von der Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl vor vier Wochen, vielleicht ist er ein Opfer der Radioaktivität geworden.“ Unsinn, dachte der Dozent, am wahrscheinlichsten sind die beiden Lösungen Herzschlag oder Mord. Bisher hatte in Österreich niemand ernsthafte Beschwerden nach der Explosion im sowjetischen Kernkraftwerk geäußert. Wenngleich niemand wusste, wie sich diese radioaktive Wolke, über die man derzeit so viel sprach, langfristig auswirken könnte.

Autor

Univ.-Prof. Dr. Karl Vocelka unterrichtete 40 Jahre lang Geschichte an der Universität Wien sowie in amerikanischen Programmen und ist jetzt im Ruhestand. Er schrieb über 30 Bücher, darunter eine Geschichte Österreichs, sowie gemeinsam mit seiner Frau Michaela eine Biografie Kaiser Franz Josephs (2015) und ist Mitherausgeber des Titels „Wein in Österreich“ (2019).

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© Carl Ueberreuter Verlag, Wien 2022ISBN 978-3-8000-9011-2ISBN 978-3-8000-9911-5 (e-book)

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.

Lektorat: Gerhard LoibelsbergerTitelseite: Collage aus Bildern: Adobe Stock, ShutterstockCovergestaltung, Umschlag: Saskia Beck, s-stern.comFotos Innenklappe: Saskia BeckSatz: Gabi Schwabe, grafik designKonvertierung: bookwire.de, Frankfurt/Main

www.ueberreuter.at

Karl Vocelka

DER DOZENTUND DER TOD

Ein Universitätskrimi

Inhalt

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

KAPITEL 47

KAPITEL 48

KAPITEL 49

KAPITEL 50

KAPITEL 51

KAPITEL 52

KAPITEL 53

KAPITEL 54

KAPITEL 55

KAPITEL 56

KAPITEL 57

KAPITEL 58

KAPITEL 59

KAPITEL 60

KAPITEL 61

KAPITEL 62

Drei Fragen an Karl Vocelka

PROLOG

Heute fühlt sich der Tag wieder besonders grell an. Alles ist vom Sonnenlicht zerfressen, die Augen brennen. Jedes Geräusch schmerzt, das Surren, Pochen und Klirren in meinen Ohren wird immer stärker. Mein Kopf dröhnt, als wäre ein Dutzend Schlagzeuger in ihm, dunkle Fetzen von Erinnerungen und die Gedanken an den Alltag vermengen sich zu einem grauenvollen Gemisch. Im Hintergrund macht sich Hass auf alles und jeden breit, eine ohnmächtige Wut steigt in mir auf.

Wie immer spielt Vater die Hauptrolle in dem Theater, das mir mein Gehirn vorgaukelt. Er erzog mich streng. Wann immer ich etwas sagte, das er nicht hören wollte, oder eine schlechte Schulnote heimbrachte, kam sein Gürtel zum Einsatz, mit dem er mir den Hintern versohlte. Von meiner Mutter konnte ich keine Hilfe erwarten. Aus Angst vor der Unberechenbarkeit ihres Ehemannes war sie innerlich erstarrt.

Mein Vater hat ungehemmt Abscheu und Zorn in mich hineingeprügelt. Ich träume im Wachen davon, Menschen zu ermorden, die gesamte Menschheit auszurotten. Leider Gottes bin ich feige. Ich traue mich nicht, sie zu erstechen oder zu erwürgen. Deshalb bin ich ein Anhänger des Gifts. Ein gutes Gift, ein schneller Tod, bei dem man aus der Entfernung zusehen kann. Das würde meinen Hass besänftigen.

KAPITEL 1

„Mist“, dachte der Dozent, als ihm ein Blick auf die Uhr zeigte, dass er die Arbeit, die ihn gerade so brennend interessierte, abbrechen musste. Es erwartete ihn eine jener lästigen Sitzungen, von denen er sich gerne soweit wie möglich fernhielt. Seufzend schaltete er das Mikrofilmlesegerät ab und stand auf. Viel lieber wäre er über dem Mecmua-i Menazil, der Chronik des Nasuh al-Silahi al-Matraki, sitzen geblieben. Eine Handschrift auf Mikrofilm, die er gestern aus der Bibliothek Ahmeds III. im Topkapi Sarayi in Istanbul erhalten hatte. Gerade jetzt, nachdem er die Entzifferung der mit orientalischer Höflichkeit ausgeschmückten Einleitung dieser osmanischen Chronik des 16. Jahrhunderts beendet hatte, war es spannend geworden. Er war zum eigentlichen Inhalt vorgestoßen und neugierig, ob die Chronik ihm Informationen über das Hofleben Süleymans des Prächtigen bringen würde. Nochmals schaute er auf den Kalender, aber leider stand da wirklich unter Donnerstag, 22. Mai 1986 „10 Uhr Berufungskommission Nachfolge Holub, Probevorträge“. Grundsätzlich mochte er Sitzungen nicht, aber gerade dieser Fall war ihm besonders unangenehm. Der Dozent überlegte zum hundertsten Mal, ob es nicht besser gewesen wäre, persönliche Befangenheit vorzuschützen, doch nun war es zu spät. Er saß als Mitglied des Mittelbaus – wie das so schön hieß –, also als Vertreter der Assistenten und Dozenten in dieser Berufungskommission, deren Aufgabe es war, für den fast 70-jährigen Professor Holub, Ordinarius für Indologie, einen Nachfolger zu finden.

Solche Berufungskommissionen waren immer langwierig und mit Ungerechtigkeiten gegenüber den Bewerbern verbunden. Diesmal spielten bei ihm auch persönliche Abneigungen mit. Vor Jahren hatte er seinen Kollegen Schimanek öffentlich einen „ewig gestrigen Depp, der beseitigt werden sollte“ genannt, was eine langjährige Feindschaft zwischen beiden begründete. Schimanek sollte heute seinen „Probevortrag“ – im Insiderjargon „Probesingen“ – halten. Die spezifische Situation in den kleinen Fächern, in denen es nur einen Professor gab, machte die Sache nicht leicht. In der 6-3-3-Kommission – sechs Professoren, drei Vertreter des Mittelbaus und drei Studentenvertreter – war kein einziger Indologe. Sie bestand aus zwei Professoren der Orientalistik und je einem der Ägyptologie, Tibetologie, Japanologie und Sinologie sowie drei Assistenten – neben dem Dozenten noch ein Tibetologe und ein Sinologe –, dazu drei Studenten der Indologie. Die waren von den Entscheidungen der Kommission am meisten betroffen, hatten jedoch am wenigsten mitzureden. Professor Holub, der nur eine beratende Stimme bei seiner eigenen Nachfolge hatte, dominierte die Kommission. Für seine Nachfolge hatten sich neun Menschen beworben. Sie wurden in einer der letzten Sitzung einzeln durchbesprochen und man stellte fest, dass nur vier infrage kamen, denn die anderen waren der deutschen Sprache nicht mächtig. Unter den aus sprachlichen Gründen ausgeschiedenen Bewerbern waren recht interessante Leute, die sich auch mit der Gegenwart Indiens beschäftigten. Der Versuch des Dozenten, sie in die engere Wahl zu bringen, scheiterte an dem Argument der mangelnden Deutschkenntnisse. Wie fast immer war er überstimmt worden. Seine fortschrittliche politische Haltung prallte gegen die Phalanx der konservativen Professoren und anderer Mittelbauvertreter. Nur gelegentlich solidarisierte sich jemand mit ihm, häufig war das ein Angehöriger der Studentenkurie. Aber er resignierte nicht, setzte den „langen Marsch durch die Institutionen“ fort und konnte gelegentlich etwas Positives erreichen oder zumindest Ärgeres verhindern.

Es blieben also vier Namen übrig, davon zwei aus Wien: der Assistent Holubs Habermann, dann Schimanek, ebenfalls ein Schüler Holubs und derzeit Bibliothekar, sowie zwei auswärtige Bewerber. Der eine hieß Weesmann und kam aus Marburg an der Lahn, der andere Malcolm. Ein Engländer, der in Paris lebte und ausgezeichnet Deutsch sprach.

Der Dozent dachte an seine eigene wissenschaftliche Laufbahn. Vom Standpunkt des klassischen Karrieremusters betrachtet, war er ein Verlierer, da er nicht zum Ordentlichen Professor aufgestiegen war. Gerade das trug zur Legendenbildung rund um seine Person bei. Alle, die das Gestrüpp aus Intrige und Eitelkeit, die faulige Atmosphäre mit ihren Anpassungsmechanismen kannten, verstanden, warum er nicht erfolgreich war. War er doch ein Unangepasster, stets Rebell, nie Speichellecker. Als Ordinarius unter Ordinarien wäre er ein bunter Vogel gewesen. Schließlich war er der Inbegriff unbürgerlichen Verhaltens. Eine Hoffnung für Unangepasste, Nonkonformisten und Alternative. Er träumte davon, dass die althergebrachten, überholten Werte hinweggefegt würden. Vernichtet für immer, um einer neuen Moral – oder wie es die Konservativen nennen würden, einer neuen Unmoral – Platz zu machen. Kurz eine Umkehrung aller Werte. Werte, die das christliche Abendland, das in seinen Augen ein zutiefst heidnisches war, prägten und das er hasste. Bei der Umsetzung seiner Ideale war er inkonsequent. Doch selbst seine bescheidenen Ansätze eines revolutionären Alltags erschienen der institutionalisierten Mittelmäßigkeit an der Universität Wien als Gefahr.

Er riss sich von seinen egozentrischen Gedankengängen los und verließ seinen Arbeitsplatz. Das Gebäude, in dem sein Institut untergebracht war, war nicht sehr anheimelnd. Das sogenannte Neue Institutsgebäude wurde Anfang der 1960er-Jahre errichtet und galt zunächst als ein Provisorium. Eine der unerklärten Staatsmaximen Österreichs hieß jedoch „provisoria durant“. Und so war das Gebäude, das schon im Neuzustand kein architektonisches Meisterwerk gewesen war, mit den Jahren ziemlich heruntergekommen. Sein Zimmer war besonders hässlich. Dass ausgerechnet er diesen Raum bekommen hatte, zeigte, wie wenig ihn der Institutsvorstand schätzte. Normalerweise verließ er sein Zimmer gerne und betrieb seine Studien lieber im Lesesaal der Nationalbibliothek, heute allerdings wäre er lieber in seinem ungeliebten Zimmer geblieben.

KAPITEL 2

Als er im Institut für Indologie, in dessen Hörsaal der Vortrag stattfinden sollte, ankam, waren schon ein großer Teil der Kommissions-Mitglieder sowie Lehrende und Studenten versammelt. Sie standen vor dem Hörsaal in kleinen Gruppen, sprachen miteinander und rauchten. Professor Holub kam auf ihn zu und begrüßte ihn:

„Grüß Gott, Herr Kollege, das ist aber schön, dass Sie gekommen sind, wir werden uns ja in nächster Zeit öfter sehen. Sie wissen ja, bei den Probevorträgen der Kollegen, die von der Kommission in die engere Wahl gezogen wurden.“

„Ja, ja, ich habe alles notiert“

Mit Schrecken dachte er daran, wie viel kostbare Zeit ihm dieser Unfug rauben würde. Seine Haltung zum akademischen Betrieb war durch seine von ihm gepflegte Außenseiterposition bestimmt. Schon sein Äußeres unterschied sich deutlich von den anderen Kommissionsmitgliedern, die sich in Anzug und Krawatte, mit kurz geschnittenem Haar auf dem Gang vor dem Hörsaal eingefunden hatten. Der Dozent, immer noch der alte 68er von einst, trug Jeans und ein Hemd mit offenem Kragen. Seine langen, an der Stirn schon etwas gelichteten Haare sowie die runde Nickelbrille standen für seine ungebrochene revolutionäre Haltung. Ihm war die Gesellschaft, die er hier vorfand, nicht sehr angenehm und er fragte sich, mit wem der Anwesenden er wohl auf ein Bier gehen würde.

Den Reigen des Vorsingens eröffnete der jüngste Bewerber, Dozent Schimanek. Morgen kam sein Kollege Habermann, dessen Liebedienerei gegenüber Holub oftmals Grund zur Heiterkeit gab, an die Reihe. Ende der Woche folgten dann Professor Weesmann aus Marburg an der Lahn, für den Wien das ersehnte Ziel seiner Karriere zu sein schien, sowie Dr. Malcolm. Der war, soviel der Dozent gehört hatte, Sohn einer indischen Mutter und eines englischen Kolonialbeamten. Er arbeitete in Paris in einer internationalen Organisation, hatte sich aber neben dieser Tätigkeit als Indienfachmann einen Namen gemacht. Etwas ungewöhnlich war die Tatsache, dass alle vier Bewerber beim „Vorsingen“ anwesend waren. Der Dozent kannte weder Weesmann noch Malcolm persönlich, vermutete aber, dass es sich bei Malcolm um den exotisch aussehenden Mann in der ersten Reihe des Hörsaales handeln musste. Wahrscheinlich war der riesenhafte Blonde daneben sein Mitbewerber Weesmann. Dann wurde es ernst. Professor Stürmer, der Vorsitzende der Kommission, trat ans Pult.

„Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, laut Paragraph 36, Absatz 5 des UOG sind wir hier versammelt, um die Serie der Probevorträge jener vier Kandidaten, die gemäß des Beschlusses der Kommission vom 4. April 1986 in die engere Wahl für die Nachbesetzung des Planpostens eines Ordinarius für Indologie gekommen sind, zu beginnen. Ich möchte Ihnen den heutigen Vortragenden Herrn Dozent Schimanek vorstellen. Der Herr Kollege wurde 1950 in Steyr in Oberösterreich geboren, legte seine Matura im Stiftsgymnasium Kremsmünster mit ausgezeichnetem Erfolg ab und studierte dann in Wien Indologie und allgemeine Sprachwissenschaften. 1976 promovierte er und wurde daraufhin in der Österreichischen Nationalbibliothek als Bibliothekar tätig. Eine Tätigkeit, die Kollege Schimanek“ – hier lächelte Stürmer dem Angesprochenen zu – „trotz seiner hohen Qualifikation noch immer ausübt. Zahlreiche Arbeiten über die Veden und eine großartige Wortschatzuntersuchung über das Mahabarata liegen von ihm vor. Heute wird Herr Kollege Schimanek über ‚Das Wortfeld für König und Herrschaft im Râjataranginî des Kalhana aus dem 12. Jahrhundert‘ sprechen. Darf ich bitten, Herr Kollege?“

Der Dozent ärgerte sich. Diese Konservativen waren doch alle ein Pack, wie bei einer Verschwörung ging es hier zu. Deutlicher konnte Stürmer ja sein Wohlwollen für diesen Kandidaten nicht mehr signalisieren und dann das Thema! Natürlich sprach dieser Ewiggestrige über ein stockkonservatives Thema. Na ja, die anderen Bewerber waren bezüglich ihrer Themenwahl auch nicht besser. Am interessantesten schien ihm noch Malcolms Thema zu sein, das sich mit Volkskultur und Aberglauben in Nordindien und ihren Wurzeln in der klassischen Sanskrit-Literatur befasste. Schimanek war mittlerweile ans Pult getreten und hatte mit Verneigungen begonnen:

„Sehr geehrter Herr Vorsitzender, sehr verehrter Herr Professor Holub, verehrte Kommissionsmitglieder, meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie Professor Holub schon 1951 in seiner bahnbrechenden Untersuchung über das Râjataranginî des Kalhana ausführte, ist dieser Text der Sanskrit-Literatur nicht nur von inhaltlichen, sondern auch von lexikalischen Fragestellungen her eine zu wenig ausgewertete Quelle. Ich habe es mir daher zur Aufgabe gemacht …

“Spätestens jetzt schaltete der Dozent innerlich ab. Die Liebedienerei gegenüber Professor Holub, von dem man wusste, oder zumindest mutmaßte, dass Schimanek sein Wunschkandidat war, war peinlich. Er hasste dieses kriecherische Getue. Persönlich pflegte er stets ein locker kameradschaftliches Verhältnis zu seinen Studenten. Mittlerweile hatte Schimanek ausgeführt, mit welchen Methoden er sich dem Thema nähern wollte, und schloss:

„Einen Teil dieser mithilfe elektronischer Datenverarbeitung durchgeführten Wortschatzuntersuchung möchte ich Ihnen heute präsentieren und ich habe dabei als exemplarisches Beispiel die Wortfelder für König und Herrschaft ausgewählt.“

Schimanek machte eine bedeutungsvolle Pause, langte zu der vor ihm stehenden Wasserkaraffe, goss sich ein Glas Wasser ein und trank es auf einen Zug aus. Plötzlich riss er den Mund auf und griff sich mit einer geradezu theatralisch anmutenden Geste ans Herz. Gurgelndes Röcheln drang aus seiner Kehle. Dann fiel er von Krämpfen gebeutelt um. Nach einer Schrecksekunde ging ein Aufschrei durch die Menschenmenge. Alle sprangen auf, einige drängten nach vorne, man rief: „Einen Arzt, holt einen Arzt“ und „Herr Leitner, Herr Leitner“. Lorenz Leitner war der Institutsdiener. Ein gescheiterter Student der Indologie, der unentbehrlich für den Gang der Institutsangelegenheiten war. Leitner drängte sich durch die Umstehenden, beugte sich über den verkrümmt am Boden Liegenden, doch nach wenigen Sekunden, während denen die anderen voller Anspannung rundherum gestanden waren, richtete er sich auf und sagte:

„Er ist tot!“

Betroffen sahen sich alle an, es wurde für Sekunden still im Raum, bis Professor Holub salbungsvoll das Wort erhob:

„Die Aufregung war wohl zu viel für ihn, es muss ihn der Schlag getroffen haben.“

Wieder herrschte Stille. Plötzlich kreischte mitten hinein in das betroffene Schweigen die Stimme einer überaus attraktiven Blondine:

„Nein, es war Mord! Mord! Sie haben ihn umgebracht, sie haben ihn vergiftet, sie haben ihn ausgeschaltet.“

Der Dozent überlegte. Die Tatsache, dass der Tod sofort nach einem Schluck aus dem Wasserglas erfolgte, machte diese zunächst als hysterischen Ausbruch zu wertende und absurd erscheinende Theorie plausibel. Er, dessen Lieblingslektüre Kriminalromane von Agatha Christie, Chandler, Ambler und Highsmith bis zu Sjöwall/Wahlöö und -ky waren, wusste, wie man in einer solchen Situation handeln musste.

„Herr Leitner, rufen Sie die Polizei und Sie meine Damen und Herren setzen sich bitte wieder auf Ihre alten Plätze, bis die Polizei eintrifft“, hörte er sich plötzlich das Kommando übernehmen und war erstaunt, dass alle seinen Anweisungen Folge leisteten. Er war aber auch über sich selbst verwundert, denn eine solche autoritäre Verhaltensweise widersprach den Grundprinzipien seines Lebens.

KAPITEL 3

Was für ein Tag – mein Traum hat sich erfüllt. Es war ein überwältigendes Schauspiel, als Schimanek das Glas nahm und – ohne zu wissen, dass darin der Tod lauerte – einen Schluck Wasser trank. Sein Röcheln und Stöhnen, seine verdrehte Bewegung im Kampf mit dem Tod, ehe sein Leichnam am Boden aufschlug, das begeisterte mich.

Alles war noch großartiger, als ich es mir in meinen Tagträumen vorstellte, der wirkliche Tod übertraf die Vorstellungen bei Weitem.

Ich habe mich zurückgehalten, um mir meine Freude nicht ansehen zu lassen, ich musste versuchten, so betroffen dreinzuschauen wie alle anderen. Es ist mir gelungen, niemand konnte den kleinsten Verdacht schöpfen, dass ich meine Wut, meinen Hass befriedigen und meinen Mordgelüsten frönen konnte.

Nun fühle ich mich leicht, keine dunklen, bedrückenden Gefühle und Zweifel schießen durch mein Gehirn, selbst mein Vater dringt nicht in meine Gedankenwelt ein. Heute ist der Tag meines Durchbruchs, meiner Wonne, ein Tag der Rache, ein Tag des Triumphes, an dem ich einen von denen, die ich verabscheue, beseitigt habe.

Schimanek möge in der tiefsten Hölle der Christen schmoren, gequält von Teufeln mit ihren Spießen, umgeben vom beißenden ewigen Feuer dieses Orts.

Er hat, wie viele andere, dieses Schicksal verdient. Ich bin heute zum ersten Mal seit Langem voll der Befriedigung und der Freude.

KAPITEL 4

Endlos viel Zeit verging, bis die Polizei eintraf. Sie hatte sich davor noch mit dem Rektorat in Verbindung setzen müssen, da die Universität im Rahmen ihrer Autonomie von Polizisten nur mit Erlaubnis des Rektors betreten werden durfte. Währenddessen unterhielten sich die Anwesenden leise über das, was geschehen war. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt, denn der Dozent hörte jemand sagen:

„Vielleicht ist das eine Folge von der Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl vor vier Wochen, vielleicht ist er ein Opfer der Radioaktivität geworden.“

Unsinn, dachte der Dozent, am wahrscheinlichsten sind die beiden Lösungen Herzschlag oder Mord. Bisher hatte in Österreich niemand ernsthafte Beschwerden nach der Explosion im sowjetischen Kernkraftwerk geäußert. Wenngleich niemand wusste, wie sich diese radioaktive Wolke, über die man derzeit so viel sprach, langfristig auswirken könnte.

Als das Team der Mordkommission erschien, übernahm ein grantig dreinblickender Mann, der sich als Chefinspektor Lietzmann vorstellte, das Kommando. Er bat alle in den Leseraum des Instituts und schließlich einzeln in das Zimmer des Institutsvorstandes, das er als eine Art Büro okkupiert hatte. Es handelte sich um eine erste Bestandsaufnahme der Situation, da man ja vor der Obduktion nicht wissen konnte, ob ein Verbrechen vorlag oder ob Schimanek die Aufregung dieses großen Tages in seiner wissenschaftlichen Karriere nicht verkraftet hatte. Die Studentin, die den ganzen Zirkus ausgelöst hatte – der Dozent erinnerte sich mittlerweile, dass sie Irene Moser hieß –, schluchzte und heulte von Krämpfen geschüttelt vor sich hin, sodass sie vom Polizeiarzt eine Spritze erhielt. Der Blick der meisten anwesenden Männer war aber nicht auf die Tränen der Studentin gerichtet, sondern auf einen der allerkürzesten Miniröcke, den sie jemals gesehen hatten. Auch der Dozent ertappte sich dabei, dass ihm dieser attraktive Anblick gefiel.

KAPITEL 5

Der Dozent war einer der Letzten, die an die Reihe kamen. Ein Polizist, der im Lesesaal Aufsicht hielt, hatte jedes Reden miteinander über das, was geschehen war, im Keim erstickt. Als er aufgefordert wurde, zu Lietzmann zu gehen, waren außer ihm nur noch zwei Studenten im Raum, die ebenso wie er dumpf vor sich hin brüteten. Offensichtlich hatten die Polizisten die Anwesenden nach der Kleidung beurteilt und ihn als spät berufenen Hippie-Studenten eingeschätzt. Umso erstaunter war der kahlköpfige Chefinspektor – ein kleiner, wohlbeleibter Mann im grünen Anzug mit blauer Krawatte –, als er aus den anzugebenden Personalien des Dozenten dessen Stellung erfuhr. Eine missbilligend hochgezogene Augenbraue sprach all das aus, was der Chefinspektor nicht verbalisierte: die Abneigung des normalen Beamten gegen diese Universität und die hier in Scharen vorhandenen nichts tuenden Revoluzzer.

„Sie sind also Dozent hier im Institut?“

„Nein“, antwortete er und ergänzte bereitwillig, als der Chefinspektor erstaunt von seinem Block aufblickte, „das hier ist das Institut für Indologie, ich hingegen bin Dozent am Institut für Orientalistik, um es genau zu sagen, ich bin Turkologe.“

„Aha. Ich nehme an, Sie beschäftigen sich also mit der Türkei?“

„So ungefähr. Genau genommen beschäftige ich mit generativer Grammatik und Lexikografie der Turksprachen und außerdem mit osmanischen Texten, vorwiegend der Frühen Neuzeit, allerdings nicht mit rein philologischem Ansatz, sondern vor allem als Quellen für die osmanische Sozial- und Kulturgeschichte etwa der Zeit Kanuni-i-Süleymans.“

Er ertappte sich dabei, dass er sich für den abschätzigen Blick von zuerst zu rächen versuchte. An der Gestik und am Tonfall des Chefinspektors merkte er deutlich, wie die Voreingenommenheit ihm gegenüber stieg.

„Können Sie mir Ihre Funktion hier erklären und kurz schildern, was Sie beobachtet haben?“

„Ich bin Mitglied der Kommission, die über die Nachfolge von Professor Holub entscheidet. Ich nehme an, Sie wissen ja mittlerweile, um was es da geht“, sagte der Dozent. Als der Chefinspektor nickte, erzählte er, was er beobachtet hatte: den Vortrag, das Wassertrinken, den Zusammenbruch Schimaneks, das Eingreifen Leitners, den Aufschrei der Studentin, seine eigene Reaktion. Nur die letzte Bemerkung erregte das Erstaunen Lietzmanns. Vermutlich hatte ihm noch niemand erzählt, dass es der Dozent gewesen war, der einen klaren Kopf behielt und alles Weitere veranlasste.

„Sind Sie sicher, dass es sich überhaupt um ein Verbrechen handelt? Ich wäre ohne dieses hysterische Geschrei der Studentin nie auf die Idee gekommen. Ich hätte vermutet, dass Schimanek sich gesundheitlich übernommen hatte.“

„Wir wissen noch nichts sicher. Außerdem darf ich Ihnen darüber auch gar keine Auskunft geben, nur so viel: Vom ersten Blick auf die Leiche her scheint dem Arzt eine Vergiftung wahrscheinlich. Wie war eigentlich Ihr Verhältnis zu dem Verstorbenen, Herr Dozent?“

„Nun, ich mache keinen Hehl daraus, dass der Kollege Schimanek aus fachlichen wie auch aus menschlichen und politischen Gründen nicht zu meinen Freunden zählte.“

„Mehrere der Zeugen haben übereinstimmend ausgesagt, Sie hätten Herrn Schimanek öffentlich einen ewig gestrigen Idiot, der beseitigt werden sollte, genannt.“

„Ich glaube, um korrekt zu sein beim Zitieren, habe ich Depp gesagt, aber das tut nichts zur Sache. Ich weiß nicht, ob meine verehrten Kollegen Ihnen erzählt haben, bei welcher Gelegenheit ich diese Bemerkung gemacht habe, die, wie ich zugeben muss, etwas scharf ausgefallen ist.“

„Nein, Herr Dozent, aber ich nehme zu Protokoll, dass Sie eine von Ihnen geäußerte Mordabsicht gegenüber dem Opfer nicht bestreiten.“

„Mordabsicht?“, murmelte der Dozent verstört und erstarrte innerlich. Allen Ernstes schien er im Verdacht zu stehen. Klar, sein unkonventionelles Aussehen, seine zynisch-saloppe Art und dazu die lieben Kollegen. Er tippte allen voran auf Stürmer, dessen Feindschaft er sich schon als junger Assistent zugezogen hatte, ohne zu wissen, warum. Stürmer hatte bei seiner Habilitation schreckliche Gerüchte ausgestreut und gegen ihn heftig Stellung genommen. Jetzt sah er wahrscheinlich eine Gelegenheit, den ihm verhassten Dozenten, der ein deklarierter Linker war, abzuservieren. Auch wenn der Mord nie aufgeklärt würde, blieb dann doch ein gewisser Verdacht zurück. Doch der Chefinspektor ließ ihm keine Ruhe zum Grübeln, in scharfem Tonfall kam die nächste Frage: „Was haben Sie eigentlich gemacht, als Sie allein im Hörsaal waren? Haben Sie da Gift in die Wasserkaraffe geschüttet?“

Diese primitive Verhörmethode war eine Zumutung. Man sollte diesem fetten Kerl ein paar anständige Krimis schenken, damit er sah, wie elegant Hercule Poirot, wie durchtrieben Miss Marple so was machte. Nicht einmal die schnoddrige Härte eines Philippe Marlowe hatte dieser Mensch! Als er allein im Hörsaal gewesen war? Er versuchte sich zu erinnern: Als er kam, standen alle vorm Hörsaal, die meisten der Anwesenden rauchten. Dann hatte er in den Hörsaal hineingeschaut, ob noch jemand da war, der ihn mehr interessierte als die Menschen davor. Der Saal war aber leer. Als er sich wieder nach draußen wandte, hatte er bemerkt, dass sein Schuhband offen war. Er hatte den Fuß auf einen der Sessel aufgestützt – und den Schnürriemen zugebunden. Das alles hatte keine Minute gedauert. Zeit genug, um in dem kleinen Hörsaal nach vorne zu gehen und etwas Gift ins Wasser zu schütten. Ihm wurde klar, dass er jetzt vorsichtig sein musste. Also sagte er:

„Ich habe nachgedacht. Es war mir völlig entfallen, dass ich allein im Hörsaal war. Ich habe nachgesehen, ob drinnen auch noch jemand sei, da ich eigentlich keine Lust hatte, mich mit einem der vor der Tür Stehenden zu unterhalten. Und dann habe ich noch mein Schuhband zugebunden. Alles in allem war ich nur kurz im Raum. Und jetzt muss ich Sie enttäuschen: Gift hatte ich gerade keines bei mir.“

Die ohnehin nicht freundliche Miene des Chefinspektors verdüsterte sich.

„Ich muss Sie bitten, sich von einem der Beamten im Nebenraum durchsuchen zu lassen. Das wäre für den Augenblick alles. Ich hoffe, Sie haben nicht die Absicht Wien zu verlassen. Auf Wiedersehen.“

Zwar brachte die Durchsuchung, die überaus gründlich vorgenommen wurde, nichts zutage, was ihn weiter belastete, doch die Tatsache, dass er durchsucht wurde, zeigte, dass man ihn ernsthaft des Mordes verdächtigte. Verwirrt, erstaunt, erheitert und beängstigt zugleich verließ der Dozent das Institut der Indologie. Hatte dieser Chefinspektor nur ihn oder auch andere so behandelt?

Schließlich gab es eine Reihe von Leuten, die weitaus mehr Grund hatten, Schimanek zur Hölle zu wünschen, als er. Er versuchte seine Ängste abzuschütteln, aber ganz gelang es ihm nicht. Irgendwo hatte sich ein ungutes Gefühl eingenistet, das er nicht loswurde. Der Gedanke, unter Mordverdacht zu stehen, beunruhigte ihn.

KAPITEL 6

Als Chefinspektor Lietzmann in seine Wohnung kam, merkte er so wie jeden Abend, dass etwas fehlte. Früher hatte ihn seine Frau empfangen, die Wohnung war perfekt aufgeräumt gewesen, frisch gekochtes Essen auf dem Tisch gestanden. Nach dem Nachtmahl hatte sie ihm immer zugehört, wenn er seine Probleme bei einem Fall mit ihr besprach. Er hatte sie in den letzten Monaten ihrer schweren Krankheit aufopfernd gepflegt. Es war schrecklich, mitanzusehen, wie ihr Zustand von Tag zu Tag schlechter wurde, und er fühlte, dass täglich ein Stück von ihr starb. Der Tod war letztlich eine Erlösung für sie. Und – wie er sich leise eingestand – auch für ihn.