Der Duft der Aphrodite - Heike Koschyk - E-Book

Der Duft der Aphrodite E-Book

Heike Koschyk

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Beschreibung

Helena Jacobi gerät während ihres Côte d'Azur-Urlaubes unvermittelt in einen tödlichen Fall: Der Parfümeur Jean Batiste musste wegen seiner neuesten Kreation, ›Der Duft der Aphrodite‹, sterben. Denn dieses Parfüm ist gefährlich, es könnte die Welt verändern! (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 458

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Heike Koschyk

Der Duft der Aphrodite

Roman

FISCHER Digital

Inhalt

Prolog123456789101112131415161718192021222324252627

Prolog

Der Duft von Lavendel wehte herüber. Er hätte ihn schon längst ernten müssen, aber aus irgendeinem Grund hatte er sich dafür entschieden, ihn stehen zu lassen. Es war nicht viel, nur wenige Reihen säumten die Beete in seinem Garten. Aber für ein paar Lavendelsträuße für die Küche und einige gefüllte Säckchen für die Kleiderschränke hatte es noch immer gereicht.

Sein Blick ging in die Ferne. Dort, hinter den sanften Hügeln, war das Meer. An manchen Tagen glaubte er, es schmecken zu können. Es war wohl mehr die Erinnerung an den Geschmack, als dass er tatsächlich in der Luft lag. Aber wenn der Himmel klar war und ein kühler Wind von der Küste herüberwehte, dann schien das Meer direkt vor ihm zu liegen.

Er lebte in einem Paradies. Das wurde ihm nun umso schmerzhafter bewusst, da es in Gefahr war. Seine Ruhe, seine Zuflucht, vielleicht sogar sein Leben. Vielleicht würde er das Land verlassen müssen, für immer.

Der Gedanke löste eine tiefe Traurigkeit in ihm aus. Er liebte das bescheidene Leben in seinem kleinen Haus am Rande von Valbonne. Er hätte sich längst eines dieser begehrten Appartements an der Küste leisten können, voll gestellt mit edlen Möbeln, die ständig von eifrigen Haushaltshilfen abgestaubt werden mussten. Aber er hatte das Haus nicht aufgeben wollen.

Hier hatte er seine besten Kreationen entwickelt und auf die ersten Erfolge angestoßen. In dem kleinen Garten, den er mit viel Liebe pflegte, konnte er am besten entspannen, wenn seine Gedanken sich verknoteten und seine Nase ihm nach stundenlangen Duftexperimenten den Dienst verweigerte. Oft hatte er auf einem der Teakstühle sitzend den Sonnenuntergang betrachtet und war nach Anbruch der Dunkelheit gestärkt in das kleine Labor im Erdgeschoss des Hauses zurückgekehrt.

Jemand hatte ihn verraten. Er war offenbar unvorsichtig geworden. Die vielen einsamen Stunden im Labor hatten ihn redselig gemacht. Noch vor wenigen Jahren gab es nur einige Menschen, denen er vertraute, und nicht einmal ihnen hatte er Dinge erzählt, die ihn selbst oder seine Arbeit betrafen. In letzter Zeit aber hatte er sich dabei ertappt, um die Aufmerksamkeit anderer zu buhlen und Dinge preiszugeben, die er besser für sich behalten sollte.

Mit dem Erfolg war auch die Anteilnahme an seiner Arbeit gestiegen. Mehr als einmal hatte er in den letzten Jahren im Rampenlicht gestanden. Sein Bestreben, sich über scheinbar unumstößliche Gesetze der Parfümeurskunst hinwegzusetzen und neuartige Düfte zu kreieren, hatte sich in der Branche herumgesprochen. Die größten Kosmetikhäuser zählten zu seinen Kunden. Es galt als chic, Parfüms von ihm kreieren zu lassen. Innerhalb kürzester Zeit war er zu bescheidenem Wohlstand gekommen. Er hatte sich sogar einen Armani-Anzug gekauft, um sich nicht allzu sehr von den adretten Leuten der Kosmetikbranche zu unterscheiden. Und wenn er seine halblangen dunklen Haare zu einem Zopf zurückband, sah man in ihm den Künstler, den Mann mit der goldenen Zukunft.

Er musste zu viel geredet haben, wie sonst hätten sie von dem schwärzesten Kapitel seines Lebens erfahren können. Nie hätte er gedacht, dass ihn seine Vergangenheit einmal einholen würde. Und vor allem hätte er niemals gedacht, dass sie es jetzt tun würde, kurz bevor er dabei war, ein großartiges Werk zu vollenden. Es hätte den Gipfel seines Ruhmes bedeutet, es hätte die ganze Welt in ihren Grundfesten verändert.

Jean Batiste wandte sich vom Fenster ab, setzte sich an den großen antiken Schreibtisch und lehnte sich in dem Stuhl zurück, die Augen starr zur Decke gewandt, als könne er dort die Lösung für sein Problem finden.

Seit dem Telefonanruf gestern früh hatte er nicht mehr geschlafen. Stunde um Stunde hatte er über das Gehörte nachgedacht, unfähig, zu einem Entschluss zu kommen. Im Morgengrauen war er in seinen Garten gegangen, hatte die Blüten der Rosen liebkost und den Duft des Salbeis inhaliert. Langsam hatten sich seine Gedanken beruhigt und einer Lösung Platz gemacht. Und nun, nur wenige Minuten vor Ablauf des Ultimatums, hatte er einen Weg gefunden. Einen Weg, an die belastenden Unterlagen zu kommen, ohne das Geheimnis des Duftes komplett preiszugeben. Die Formel in den Händen von machtgierigen Menschen wäre eine Katastrophe. Er würde einfach ein paar Parameter weglassen. Bis es bemerkt wurde, konnten Wochen vergehen, und in dieser Zeit musste er sich darüber klar werden, wie es weitergehen sollte.

Er stützte den Kopf in die Hände und fuhr sich schwer atmend durch das Haar. Eines war sicher: So sehr er sich auch dagegen sträubte, er konnte nicht hier bleiben. Er würde das Land verlassen müssen.

Er sah auf die Armbanduhr. Fünfzehn Uhr. In diesem Moment klingelte das Telefon. Sein Herz setzte für einen Moment aus, und obwohl er mit dem Anruf gerechnet hatte, begannen seine Hände zu zittern.

»Ja?«

»Wie ist Ihre Entscheidung?« Dieselbe monotone Stimme wie am Vortag.

»Sie bekommen die Formel.«

»Klug von Ihnen.«

»Sie haben mir keine andere Wahl gelassen. Was ist mit den Unterlagen?«

»Die bekommen Sie, wie versprochen.«

»Wer garantiert mir, dass nicht noch Kopien im Umlauf sind?«

»Sie müssen uns vertrauen. Sie haben keine andere Wahl.«

Jean sah ein, dass der Mann Recht hatte. »Wo treffen wir uns?«

Sie besprachen kurz die Details der Übergabe. Dann ließ Jean den Hörer auf die Gabel zurücksinken.

Ein ungutes Gefühl beschlich ihn und schien ihn mit eiskalten Händen zu packen. Was, wenn sie ihn gar nicht am Leben lassen würden? Warum sollte man einen Mitwisser laufen lassen?

Je mehr er über diese entsetzliche Erkenntnis nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien sie ihm. Sollte er sofort abtauchen? Mit der Formel? Er könnte innerhalb einer Stunde gepackt haben. Vielleicht erwischte er noch einen frühen Abendflieger nach Amerika. Aber was dann? Sie könnten die Beweise dazu benutzen, ihn international suchen zu lassen. Ein Leben auf der Flucht, gejagt von seinen Peinigern und von der Polizei. Nein. Er musste erst die Unterlagen bekommen und die Spuren aus der Vergangenheit vernichten. Erst dann konnte er fliehen.

Aber er sollte sich auch für den Fall wappnen, dass sein Leben in Gefahr war. Die Formel war zu wichtig, um wieder zurück in die Versenkung zu geraten.

Er musste sich beeilen. Er hatte noch einiges zu erledigen.

Jean stand schwerfällig auf und ging hinunter in die Küche. Dort nahm er einen seiner besten Rotweine aus dem Weinregal, entkorkte ihn und goss ihn in ein großes, bauchiges Glas. Ohne die Entfaltung des Bouquets abzuwarten, schwenkte er das Glas und nahm einen tiefen Schluck. Mit geschlossenen Augen stand er da und versuchte, all die Sinneseindrücke in sich aufzunehmen. Dann ging er mit dem Glas in der Hand ins Wohnzimmer, setzte sich auf das weiche Sofa und schaltete das Diktiergerät an.

»Mein Name ist Jean Batiste. Ich bin freischaffender Parfümeur. Wenn Sie dieses Band abhören, bin ich wahrscheinlich schon tot …«

1

Helena Jacobi lehnte sich eng an das Geländer und bewunderte die atemberaubende Aussicht, die sich vor ihr auftat. Direkt unter ihr fiel der Steilhang tief ab zum Meer. Und gegenüber, auf der anderen Seite der kleinen Bucht, konnte sie auf die Dachterrassen der noblen Appartementhäuser des kleinen Jachthafens blicken. Hier schienen die Reichen zu wohnen, die sich vom Trubel des Zentrums zurückzogen. Eine kleine aufgeschüttete Landzunge, mit terrakottafarbenen Appartementhäusern besetzt, deren Dächer grün bepflanzt waren und zum Teil sogar das Ausmaß ganzer Parks hatten. Sogar einen Swimmingpool konnte sie auf einem der Dächer erkennen. Wie es wohl war, so reich zu sein?

Helena hielt ihr Gesicht in die Sonne und schloss die Augen. In Monaco leben, sich all die schönen Dinge leisten, ohne schlechtes Gewissen shoppen gehen … Sie hob die Lider. Wahrscheinlich stürbe sie vor Langeweile. Ein wenig mehr Geld wäre schön. Aber niemals würde sie aufhören wollen zu arbeiten, dafür liebte sie ihren Job zu sehr.

Sie warf noch einen Blick auf die wundervolle Aussicht und ging dann durch den mit exotischen Blumen bepflanzten Park zurück zum Grimaldi-Schloss, vor dem gerade eine weitere Busladung Touristen ankam. Umständlich kramte sie den Stadtführer hervor und rückte ihre Brille zurecht. Jedes Mal, wenn sie die Brille aufhatte, kam sie sich ein wenig unbeholfen vor. Aber ihre Augen vertrugen die neuen Kontaktlinsen, die sie sich vor dem Urlaub hatte anpassen lassen, nicht, und ohne Brille konnte sie die kleinen Buchstaben des Stadtführers nicht erkennen.

Eine Weile blätterte sie, bis sie das Kapitel über Monaco fand. Das Grimaldi-Schloss und die dahinter liegenden Geschäfte und Parkanlagen hatte sie ausgiebig besichtigt. Als Nächstes war der große Hafen dran, dann das Casino und das daneben liegende Hotel de Paris. Am meisten freute sie sich auf das Flanieren durch die edlen Geschäftsstraßen mit den Designerboutiquen. Nicht dass sie sich auch nur eines der Teile leisten konnte. Aber das Betrachten schöner Auslagen inspirierte sie.

Mit federnden Schritten stieg sie die vielen Stufen vom Palastberg hinab. Es war der letzte Tag ihres kurzen Urlaubes, und sie hatte jeden einzelnen davon genossen. Sie hatte sich Nizza angesehen, war auf der großen Promenade von Cannes flaniert, durch die Altstadt von Antibes gebummelt und hatte im Hafen von Porte Juan feinsten Fisch gegessen. Und sie hatte sogar ein wenig Zeit gehabt, am Pool zu liegen. Innerhalb weniger Tage hatte ihre Haut einen leichten bronzenen Schimmer angenommen, und die Sommersprossen in ihrem Gesicht hatten sich um ein Vielfaches verstärkt. Schade nur, dass ihre Freundin Julie im letzten Moment abgesagt hatte.

»Es blutet mir das Herz«, hatte sie in ihrer melodramatischen Art gesagt, und dabei war ihr französischer Akzent noch stärker zum Vorschein gekommen. »Ich hatte mich so sehr darauf gefreut. Aber die Arbeit …«

Julie arbeitete, wie Helena, in der Werbeagentur Bellini und Partner. Ein Mitarbeiter war krank geworden, und sie hatte ein wichtiges Projekt für ihn fertig machen müssen. Also war Helena alleine gefahren. Ihr erster Urlaub als Single, und sie hatte es keine Sekunde lang bereut.

Sie hätte schon viel früher in den Urlaub fahren sollen. Aber seit der Trennung von Tom hatte sie sich erst einmal ans Singlesein gewöhnen müssen. Tom … Sie schob die Brille fester auf die Nase und überquerte die Straße zum Hafengelände. Sie hatte den ganzen Urlaub nicht an ihn denken müssen, also war auch jetzt jeder Gedanke an ihn überflüssig.

Vom Hafen her hörte sie helle Kinderstimmen. Schon von weitem konnte Helena erkennen, dass direkt in das Hafengelände hinein ein Schwimmbad gebaut worden war, in dem Kinder plantschten und Erwachsene ihre Bahnen zogen.

Jedes Plätzchen in dieser Stadt ist ausgenutzt, dachte sie staunend und zog ihre Kamera hervor, um den Blick über den Hafen und die angrenzenden Hochhäuser festzuhalten.

Eine sehr gepflegte ältere Frau kam ihr entgegen. Behängt mit feinstem Schmuck, an der Leine einen kleinen Hund mit glitzerndem Halsband, der kaum mit dem Schritttempo seiner Besitzerin mithalten konnte. Unwillkürlich musste Helena lächeln. Es war ein Fleisch gewordenes Klischee.

In der Mitte des Hafens hielt sie inne und sah zum Meer hinaus. Ein großes Kreuzfahrtschiff bahnte sich den Weg in die Bucht. An unzähligen Stegen schaukelten weißblitzende Jachten im sanften Wind. Kleine und große, die fast das Ausmaß eines Hauses hatten. Helena reckte das Gesicht in die Sonne. In Deutschland begann bald der Herbst. Aber hier war es Ende August noch so warm, wie es in Deutschland selbst im Hochsommer nur selten war.

Ein Mann, der einen der Stege entlanglief, erregte ihre Aufmerksamkeit. Etwas an seiner Haltung zeigte, dass er in Panik war. Er kam direkt auf sie zu. Sie wich zur Seite, um nicht umgerannt zu werden. Er war noch einige Meter entfernt, als sein Blick auf sie fiel. Für einen kurzen Moment hielt er in der Bewegung inne, zögerte kurz, beugte sich schließlich herunter, riss sich die Sohle vom rechten Schuh und zog etwas aus dem Hohlraum. Dann setzte er seinen Lauf fort. Als er bei ihr ankam, drückte er ihr etwas Kleines, Hartes in die Hand.

»Laufen Sie«, raunte er ihr atemlos zu. »Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, verschwinden Sie von hier.«

Seine Augen blickten gehetzt. Es waren nur Sekunden, dann verschwand er hinter den kleinen Cafés am Hafenrand.

Helena zögerte einen Moment lang. Ihr Herz klopfte. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie in Gefahr war. Sie ließ das kleine Päckchen in ihrer Handtasche verschwinden und marschierte zielstrebig zurück zu den Stufen zum Grimaldi-Palast.

Hinter ihr wurden aufgeregte Männerstimmen laut. Scheinbar unbeteiligt drehte sie sich um. Drei dunkel gekleidete Männer liefen die Pier hinunter in Richtung der Cafés, hinter denen der fremde Mann verschwunden war. Einer von ihnen aber bog in ihre Richtung ab.

»Mademoiselle!«

Sie erschrak und tat, als hätte sie ihn nicht gehört. Etwa zweihundert Meter trennten sie voneinander. Mit schnellem Schritt erreichte sie den Palastberg und erklomm die Stufen. Eilig drängte sie sich an einer Familie vorbei, die stehen geblieben war, um die Aussicht auf den Hafen zu genießen. Die empörten Ausrufe ignorierend lief sie weiter. Ihr Herz schien zu zerspringen. Auf halber Höhe wurden die näher kommenden Schritte lauter. Fast glaubte sie, seinen Atem im Nacken zu spüren und fing an, die steilen Stufen hinaufzurennen.

Oben auf der Plattform angekommen, drängte sie sich leise keuchend in eine Gruppe Touristen, die den kleinen Gässchen mit den Restaurants und Souveniershops entgegenströmten. Gut abgeschirmt von aufgeregt plappernden und schiebenden Menschen zwängte sie sich hinter einer Kreuzung in ein kleines, gut gefülltes Restaurant, setzte sich an einen der hinteren Tische, band schnell ihre widerspenstigen Locken zu einem straffen Knoten zusammen, steckte ihre Brille in die Tasche und vertiefte sich in die Speisekarte.

Warum mache ich das eigentlich, fragte sie sich, vielleicht unterstütze ich gerade einen Kriminellen.

Immer wieder ließ sie den Blick zum Fenster schweifen. Doch der Verfolger war nicht zu sehen. Hätte sie das Päckchen fallen lassen sollen? Was, wenn es Drogen enthielt?

»Haben Sie sich schon entschieden?«

Helena zuckte zusammen. Vor ihr stand ein dicker, gelangweilt aussehender Kellner, der Block und Stift schreibbereit in den Händen hielt. Helena sah vorsichtig an ihm vorbei. Ein dunkel angezogener Mann spähte in das Restaurant. Der Verfolger. Dunkles, krauses Haar, rundes Gesicht.

»Was können Sie empfehlen?« Helena beugte sich vor und verschwand nun vollends hinter der fülligen Gestalt des Kellners.

Der Kellner runzelte die Stirn. »Das Tagesgericht.«

»Woraus besteht es?«

»Tomatensuppe, Dorade, Crème brûlé.«

»Ich hätte gerne Spaghetti.«

»Wir haben eine ganze Menge Spaghetti, Mademoiselle, wie Sie sicher der Karte entnehmen konnten.« Ungeduldig trat er von einem Bein auf das andere. »Soll ich später wiederkommen, wenn Sie sich entschieden haben?«

»Nein, warten Sie.« Sie beugte sich erneut in die Karte. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Ob der Verfolger inzwischen weg war? »Haben Sie Spaghetti mit Meeresfrüchten?«

»Ja«, antwortete er knapp. »Zu trinken?«

»Ein Mineralwasser und vielleicht einen Wein. Welcher ist denn gut?«

»Mademoiselle, alle Weine hier sind gut. Nehmen Sie den offenen Hauswein. Er passt gut zu den Spaghetti.«

Sie überhörte seinen sarkastischen Tonfall. Scheinbar nachdenklich lehnte sie sich ein Stück zurück und riskierte dabei einen Blick in Richtung Ausgang. Der Mann war verschwunden. Sie sollte sich vorsichtshalber noch eine Weile hier aufhalten, bevor sie sich auf den Weg zum Auto machte.

»Mademoiselle?«

»Ja? Ah, ja. Ich nehme ein Glas vom Hauswein.«

Der Kellner nickte erleichtert. Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, ging er in Richtung Küchentheke.

Helena öffnete ihre Handtasche und befühlte das kleine Päckchen. Es sah nicht aus, als ob es Drogen enthielt. Etwas Hartes war in Papier gewickelt. Sie löste vorsichtig ein Stück der Umhüllung, konnte aber im Dunkeln der Tasche nichts erkennen. Sie musste sich eine Weile gedulden.

Während sie auf das Essen wartete, zog sie sich vorsichtshalber die dünne Strickjacke über, die sie sich angesichts der Wärme um die Hüften geknotet hatte, und steckte sich ihre mondäne Sonnenbrille ins Haar. Dann tönte sie die Sommersprossen im Gesicht mit ein wenig Kompaktpuder ab. Zufrieden betrachtete sie sich im kleinen Handspiegel. Es würde für ihren Verfolger schwer werden, sie auf Anhieb zu erkennen. Ihre widerspenstigen blonden Locken mussten Signalwirkung gehabt haben, und nun verlieh ihr der streng gebundene Knoten eine ganz andere Kopfform. Dazu die dünne Strickjacke sowie die Sonnenbrille im Haar, und aus einer sportlichen Touristin war eine elegante Dame geworden. Sie hoffte inständig, dass es half.

Die Nudeln schmeckten pappig und verklebt, der Wein schal. Aber sie dehnte das Mahl aus, als wäre es zu köstlich, um es hinunterzuschlingen. Nach einer Stunde bezahlte sie und trat vor die Tür des Restaurants. Für einen kurzen Moment setzte sie ihre Brille auf und sah sich vorsichtig um. Der Verfolger war nicht zu sehen.

Zielstrebig und ohne sich noch einmal umzusehen, ging sie zu dem Parkplatz, an dem sie den Mietwagen geparkt hatte.

 

Joseph T. Gordon war kein Mann, der sich gerne öffentlich zeigte. Kaum jemand hatte ihn zu Gesicht bekommen – mit Ausnahme seiner kleinen Truppe Männer, die sich durch Verschwiegenheit, gute Kondition und eisernen Willen auszeichnete.

Obwohl schon Mitte fünfzig, war er unverheiratet. Seiner Meinung nach hatten es Frauen ohnehin nur auf sein Vermögen abgesehen, und er war nicht bereit, es mit jemandem zu teilen. Außerdem waren ihm enge Bindungen lästig. Die unbedeutenden Liebschaften, die er zwischendurch unterhielt, dienten nur seinem Amüsement. Keine der Damen hatte zu irgendeinem Zeitpunkt geahnt, wer hinter dem wortkargen Mann mit dem von Sonne und Wind geprägten Gesicht und den silbergrauen Haaren steckte.

»Er ist erledigt.«

Gordon nickte den beiden Männern, die sich vor dem großen Schreibtisch aufgebaut hatten, wohlwollend zu und lehnte sich im Ledersessel zurück. Ein Problem weniger. Hatte der Idiot Jean Batiste doch tatsächlich geglaubt, er würde nach Übergabe der Formel am Leben bleiben.

Er öffnete den Humidor, griff nach einer Cohiba und ließ sich die Zigarre von einem der eifrig herbeieilenden Männer anzünden. Konzentriert paffte er ein paar Züge, bis die Spitze zu glühen begann. »Erzähl.«

»Er war auf dem Weg zur Rue Grimaldi, als wir ihn einholten und in einen Hauseingang ziehen konnten«, antwortete Ben Hudson, ein großer durchtrainierter Mann mit weißblondem Haar und stahlblauen Augen. »Eine gezielte Spritze und …« Er grinste und ahmte mit beiden Händen an der Kehle Atemnot nach. »Seine Leiche ist bereits auf dem Weg nach Grasse. Es wird alles nach einem Herzinfarkt aussehen.«

»Gut. Sobald die anderen zurück sind, legen wir ab.«

Er war zufrieden. Niemand schien Jean Batistes Verfolgung bemerkt zu haben. Er hätte erst gar nicht entkommen dürfen, doch die Tür, die sie fest verschlossen glaubten, hatte nach einigen Rucken nachgegeben. Ein unkalkulierbares Risiko. Wären sie auf der Firmenjacht gewesen, wäre das nicht passiert. Aber sie hatten vorsichtig sein müssen und eine Jacht gemietet. Es war Glück, dass sie Batistes Flucht noch rechtzeitig bemerkt hatten.

Gordon zog erneut an der Zigarre. Verwundert hob er eine Augenbraue. Er hatte seinen letzten Satz als Beendigung des Gespräches verstanden, und normalerweise wussten die Männer auf seine Hinweise zu reagieren. Nun aber standen sie mit hinter dem Rücken verschränkten Händen da und sahen ihn zögernd an.

»Und?«

Pedro León, einer seiner eifrigsten Männer, räusperte sich. »Wir vermuten, dass er auf seiner Flucht jemanden informiert hat.«

»Informiert?«

»Ja. Als wir ihm folgten, konnten wir gerade noch sehen, wie er sich von einer Frau entfernte, der er anscheinend etwas zugeraunt hatte.«

Gordons Gesicht rötete sich. »Was heißt ›anscheinend‹?« Seine Stimme war ruhig, aber der Ton verriet die Wut hinter seiner Frage.

»Wir waren um ein paar Sekunden zu spät. Ich bin ihr gefolgt, bis auf den Palastberg hinauf und in die kleinen Gassen mit den Souvenirgeschäften. Dort habe ich sie verloren.«

»Eine Komplizin?«

»Sie sah eher aus wie eine Touristin. Sie hielt eine Kamera in der Hand. Ich hatte den Eindruck, sie war erst unbeteiligt und bekam dann Angst, als sie die Verfolgung bemerkte.« Die Worte klangen bestimmt, aber seine Augen drückten Zweifel aus.

»Dann ist sie in den Fall verwickelt!«

Gordons Stimme hatte inzwischen einen eindeutig bedrohlichen Unterton angenommen. Verärgert legte er die Zigarre zur Seite und stand auf. Den Rücken zu den beiden Männern gewandt, blickte er auf die Bucht von Monaco und auf das sich dahinter öffnende Meer. Er hasste Unregelmäßigkeiten. Nie wäre er darauf gekommen, dass der eigenbrötlerische Batiste mit jemandem zusammenarbeiten könnte … Verfügte die Frau über dieselben Informationen wie Batiste? War sie seine Komplizin? Oder handelte es sich tatsächlich nur um eine harmlose Touristin, die von ihm auf der Flucht umgerannt worden war? Hatte er die Zeit gehabt, ihr etwas zuzustecken? Aber das konnte nicht sein. Sie hatten Batiste am ganzen Körper untersucht. Wenn er ihr aber einen Hinweis auf Gordons Firma gegeben hatte? Nein, unmöglich, Batiste hatte ihn persönlich niemals zu Gesicht bekommen. Er war von seinen Männern verhört worden, während er selber alles auf einem Bildschirm mitverfolgt hatte. Was also konnte Batiste mit der Frau zu tun gehabt haben? Konnte sie ihnen gefährlich werden? Sie mussten schnell handeln. Abrupt drehte er sich wieder um.

»Pedro, du gibst uns eine genaue Beschreibung der Frau, inklusive Phantombild. Schickt es an Jacques, der soll Anfragen an alle Hotels in einem Umkreis von hundert Kilometern starten und unauffällig Fahnder einsetzen. Ich will die Frau innerhalb der nächsten 24 Stunden vor mir haben, habt ihr verstanden?«

Die Männer nickten.

Mit einer kurzen Handbewegung gab er zu verstehen, dass die Unterredung damit für ihn erledigt war.

Nachdem sich die Tür hinter den beiden Männern geschlossen hatte, drehte er sich wieder den großen, getönten Fenstern zu.

Nun machte es sich bezahlt, dass er Jacques Bonnet, den Polizeikommandanten, mit internen Informationen versorgt hatte. Informationen, mit denen dieser seine Widersacher hatte aus dem Weg räumen lassen. Jacques war ihm etwas schuldig. Ihm, Gordon, verdankte er seinen Aufstieg.

Nachdenklich rieb er sich das Kinn und beobachtete, wie sich das große Kreuzfahrtschiff, das vor wenigen Stunden eingelaufen war, wieder aus der Bucht entfernte. Wellen schlugen gegen die Jachten und ließen sie im Wasser schaukeln.

Er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Sie hätten Batiste lebend bei sich behalten müssen, bis sichergestellt war, dass die Formel korrekt war und es keine weiteren Kopien gab. Seine Flucht hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Vielleicht hätte man ihn nur betäuben sollen.

Stirnrunzelnd ging er zurück zum Schreibtisch und besah sich das Stück Papier, das Batiste seinen Männern gegeben hatte. Vielleicht machte er sich unnötig Gedanken. Er musste die Formel schnell ins Labor zu Maurice Signac geben. Nur ein Mann wie Maurice, der in der Welt der Düfte zu Hause war, konnte die Formel auf ihre Echtheit hin überprüfen. Dann würden sie mehr wissen.

 

Helena warf ihre Tasche auf das Hotelbett und zog sich das Band aus den Haaren. Mit beiden Händen griff sie in die dicken Locken und schüttelte sie aus. Dann setzte sie sich auf das Bett, holte das kleine Päckchen hervor und betrachtete es.

Es schien eine kleine Tonbandkassette zu sein, umwickelt von einem Stück Papier und einem Gummiband. Mit spitzen Fingern zog sie das Gummiband herunter, riss das Papier ab und warf es achtlos in den neben der Kommode stehenden Papierkorb. Tatsächlich. Es handelte sich um eine Kassette, die man für Diktiergeräte verwendete. Was da wohl drauf war? Sie würde sich damit bis zu Hause gedulden müssen, und die Informationen über eines der Diktiergeräte in der Firma abhören.

Das Gesicht des Mannes, der ihr das Päckchen zugesteckt hatte, blitzte kurz auf. »Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, verschwinden Sie von hier.«

Er schien sich bedroht gefühlt zu haben. Die Panik in seinen Augen war deutlich sichtbar gewesen. Ob er es geschafft hatte, seinen Verfolgern zu entkommen? War ihr Leben auch in Gefahr gewesen?

Schulterzuckend warf sie die Kassette zurück in ihre Handtasche. Sie würde es nie erfahren. Sie hatte den Verfolger abgeschüttelt und war zurückgekehrt in ihr sicheres Hotel, viele Kilometer von Monaco entfernt, vor den Toren von Saint-Paul-de-Vence.

Draußen zirpten die Grillen. Es war ein ruhiger Abend. Die Geschichte kam ihr plötzlich ein wenig albern vor. Ihretwegen hatte sie sich das Casino und die Einkaufsstraßen nicht ansehen können. Und wer wusste, wann sie das nächste Mal nach Frankreich reiste?

Sie riss die Türen zum Balkon weit auf, bewunderte für einen Moment den Anblick der mittelalterlichen Stadt, die sich vor ihr auf dem Berg aufbaute, eingetaucht in das milchige Licht des einsetzenden Sonnenunterganges, und ging ein wenig müde von den Ereignissen unter die Dusche.

Lange ließ sie das Wasser über ihren Rücken prasseln, bis sich ein Gefühl tiefer Entspannung einstellte. Mit ihrem Bademantel bekleidet und einem um den Kopf geschlungenen Handtuch ging sie zurück ins Zimmer. Ihr Blick fiel auf eine leere Dose Lightcola, die seit dem gestrigen Abend auf dem Nachttisch stand. Als sie die Dose in den Papierkorb warf, stutzte sie. Der Zettel, den sie vorhin in der Annahme, er sei nur Verpackung, achtlos beiseite geworfen hatte, schien beschrieben zu sein.

Vorsichtig fischte sie ihn zwischen Kaugummipapier und leeren Coladosen hervor. Bedächtig strich sie das Papier glatt. Tatsächlich. Es musste sich um eine Art Rezept handeln. Lateinische Namen standen neben Mengenangaben und irgendwelchen Berechnungen, mit denen sie nichts anfangen konnte.

Behutsam faltete sie den Zettel und schob ihn zusammen mit der Kassette in das Seitenfach ihrer Reisetasche. Nachdenklich trocknete sie mit dem Handtuch ihr Haar. Eine seltsame Spannung überkam sie, als wäre sie mit einem Male mitten in eine gefährliche Spionagegeschichte gerutscht. Oder in etwas anderes, nicht minder Ungewöhnliches.

Abrupt nahm sie das Handtuch vom Kopf und schüttelte ihre Haare aus, als könne sie damit auch die aufkeimende Sorge loswerden. Aber es wollte nicht gelingen.

2

Der Tag begann mit dunkel bewölktem Himmel. Gordon fluchte. Er hatte gehofft, das Frühstück auf Deck einnehmen zu können. Aber der kühle Fahrtwind und die fehlende Sonne hatten seine Pläne zunichte gemacht. Nun saß er im Salon und nippte am frisch gepressten Orangensaft. Es war acht Uhr.

Es klopfte leise, Pedro trat ein. Wortlos reichte er ihm eine Zeichnung. Gordon betrachtete sie. Die Frau auf dem Papier sah interessant aus. Schmales, wohlgeformtes, mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Große, seitlich nach oben geneigte Augen hinter einer schmalen, rechteckigen Brille. Am auffälligsten aber waren die Haare: Schulterlange, offenbar blonde Locken, die sich widerspenstig um das Gesicht rankten.

»Das ist sie?«

»Ja. Nur die Augenfarbe konnte ich nicht erkennen.«

»Hat Jacques eine Kopie bekommen?«

»Er war ein wenig verärgert. Ich hatte den Eindruck, dass er uns nur ungern den Gefallen tut – anscheinend denkt er, als Polizeikommandant sei er etwas Besseres. Ich habe ein wenig Druck gemacht. Er wird jetzt den Hoteliers zumindest eine Beschreibung zufaxen. Wenn einer der Hotelangestellten die Frau erkennt, werden wir es gleich erfahren.«

»Er hat schnell vergessen.«

Pedro nickte.

»Und wenn es nun keine Touristin war?«

»Jacques hat versichert, es auch an die umliegenden Polizeistationen weiterzuleiten.« Er legte den Kopf schief. »Aber wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass es dort viel Aufmerksamkeit erhält.«

»Jacques sollte eine Fahndung ausrufen«, schnaubte Gordon.

»Das kannst du vergessen. Wie ich schon sagte, er tut nur das Allernötigste.«

Gordon brummte. Es juckte ihn, sich den feinen Herren einmal vorzuknöpfen. Was Jacques Bonnet nicht wusste war, dass er im Besitz von Informationen war, die den Kommandanten stark kompromittierten. Es würde das sofortige Ende seiner polizeilichen Laufbahn bedeuten, wahrscheinlich sogar ein paar Jahre Gefängnis.

Im selben Augenblick, in dem Gordon der Gedanke kam, verwarf er ihn bereits wieder. Es würde im Moment mehr Aufsehen erregen, als ihm lieb war. Aber er speicherte Jacques’ mangelnde Hilfsbereitschaft ab. Der richtige Zeitpunkt würde kommen. Joseph T. Gordon vergaß nie.

Nach außen hin seelenruhig griff er nach einem bereits halbierten Brötchen und bestrich die untere Hälfte mit Butter.

»Was ist mit Batistes Haus?«

»Wir haben es über Stunden durchsucht.«

»Und?«

»Nichts. Es scheint, als habe er keine Kopien der Formel gemacht. In seinem Labor befanden sich eine Menge anderer Formeln, wir haben sie vorsichtshalber fotografiert.«

»Formeln seiner großen Parfüms?«

»Nein. Die liegen wahrscheinlich in den Tresoren der Kosmetikfirmen.«

Gordon legte sich eine Scheibe Lachs auf das Brötchen und biss hinein.

»Und Batiste?«, fragte er kauend.

»Den haben wir in einen Schlafanzug gesteckt und in sein Bett gelegt. Alles sieht nach einem natürlichen Tod aus.«

»Gut.«

Er nahm einen weiteren Biss von seinem Brötchen und machte eine abweisende Handbewegung. Pedro entfernte sich.

Es dauerte keine halbe Stunde, als er erneut den Raum betrat. Gordon hatte sein Frühstück gerade beendet und strich sich über den leichten Bauchansatz.

»Wir haben sie!«

Gordon sprang auf. »Wo?«

»Ein Hotel in der Nähe von Nizza. Sie sitzt gerade beim Frühstück.«

»Wir ändern sofort den Kurs Richtung Nizza. Gerry und Ben sollen hinfahren und sie aufsuchen. Sie sollen ihr erzählen, sie seien vom FBI. Sie könne eine wichtige Zeugin sein und ein großes Verbrechen verhindern. Wenn sie sich wehrt, denkt euch was aus. Ich will sie in einer Stunde auf der Jacht haben!«

 

Es war kurz nach neun, als Helena sich mit einem gut gefüllten Teller auf die Frühstücksterrasse des Hotels setzte. Geschickt hatte sie zwei große Scheiben Melone, ein Brötchen, etwas Käse und Aprikosenmarmelade darauf geschichtet und gleichzeitig ein Glas Orangensaft balanciert.

Trotz des schützenden Mauervorsprunges war es ein wenig windig, aber die Sonne lugte bereits hinter den sich auflockernden Wolken hervor. Es war ihr letztes Frühstück vor der Abfahrt, und um nichts auf der Welt hätte sie in diesem Augenblick drinnen sitzen mögen.

Begierig nahm sie den Anblick des Pools und der prachtvollen Oleanderbüsche in sich auf. Dutzende von wohlriechenden Blumen, deren Namen sie nicht kannte, säumten die Beete. In der Ferne erwachte Saint-Paul-de-Vence zum Leben. Über der Stadt schien die Sonne und tauchte das bewölkte Umland in eine seltsame, schemenhafte Stimmung.

Es war Zeit gewesen, dass sie wieder anfing, ein normales Leben zu führen. In diesem Augenblick fühlte sie sich mit der ganzen Welt verbunden. Innerlich ruhig und ausgeglichen und eins mit sich selbst. Es war lange her gewesen, dass sie sich so gut gefühlt hatte.

Carla, das junge Mädchen, das jeden Morgen servierte, stellte sich neben den Tisch. Und wie jeden Morgen bestellte Helena einen Milchkaffee.

»Der letzte für diesen Urlaub«, seufzte sie.

Carla warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. »Die Zeit rennt immer am schnellsten, wenn es besonders schön ist«, sagte sie und verschwand durch die Terrassentür im Frühstücksraum.

Nur noch eine halbe Stunde … Helena hatte die Rechnung bereits beglichen, das Gepäck im Mietwagen verstaut. In knapp drei Stunden ging ihr Flieger. Inzwischen bereute sie es, dass sie sich nur eine Woche freigenommen hatte. Während sie die Melone in kleine Stücke schnitt, klingelte das Handy. Helena meldete sich. Die Verbindung war klar.

»Julie hier. Ich wollte wissen, ob du deinen letzten Urlaubstag genießt!«

»Ja. Und ich frage mich wirklich, warum ich nicht einfach verlängert habe.«

»Vergiss es. Hier im Büro ist die Hölle los. Es wird Zeit, dass du wieder kommst.«

Helena lachte. »Du gönnst mir wohl gar nichts!«

»Unsinn. Hattest du eine schöne Zeit?«

»Ja, wundervoll. Ich kann jetzt deine Begeisterung für Südfrankreich nachvollziehen.« Sie dachte an die Kassette. »Aber es ist auch etwas sehr Seltsames passiert. Jemand hat mir ein Päckchen mit einer Kassette in die Hand gedrückt. Er sah aus, als sei er auf der Flucht.«

»Wahrscheinlich wollte er dich nur ablenken, damit jemand anderer dein Portemonnaie klauen kann.«

»Nein. Mir wurde nichts gestohlen. Es war schon merkwürdig.« Sie dachte an den vergangenen Tag und das mulmige Gefühl, das sie beim Anblick des dunkelhaarigen Mannes gehabt hatte, der ihr nachgelaufen war. »Ich wurde verfolgt.«

»Wirklich? Übertreibst du da nicht etwas?« In Julies Stimme schwang eine Mischung aus Unglauben und Neugierde.

»Vielleicht. Gestern war es allerdings sehr real.«

»Was ist denn auf der Kassette drauf?«

»Ich weiß es noch nicht. Es ist ein Kleinformat, ich werde es wohl erst in Hamburg erfahren.«

»Ich bin gespannt. Ich wünsche dir auf jeden Fall einen guten Flug.«

Nachdenklich schaltete Helena das Handy ab und schob sich ein Stück Melone in den Mund. Der Milchkaffee wurde gebracht. Noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt.

 

Es war für Gordon noch nie einfach gewesen zu warten. Manche Dinge brauchten ihre Zeit, aber es war ihm oft unmöglich, sie abzuwarten.

»Und? Kannst du schon etwas sagen?« Seine langen, kräftigen Finger trommelten ungeduldig auf die Tischplatte, während er den Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt hielt.

»Es ist gerade mal einen Tag her, dass ich die Formel bekommen habe.« Maurice war offensichtlich eingeschnappt.

Gordon brummte. Diese Parfümeure hielten sich für Künstler. Dabei waren sie seiner Meinung nach nichts weiter als Handwerker, die so lange mischten und probierten, bis der Duft stimmte. Und in diesem Fall brauchte Maurice nichts weiter zu tun, als eine Einschätzung der Formel zu geben und sie dann umzusetzen.

»Ich will nur deine Meinung zur Echtheit der Formel. Wir haben nicht viel Zeit.«

»Nun …» Maurice zögerte. »Sie sieht zumindest echt aus. Weiteres kann ich dir erst sagen, wenn ich sie zusammengemischt habe.« Seine Stimme fiel ab. Er räusperte sich. »Es ist nicht ganz so einfach. Viele der beschriebenen Pflanzen wurden im Laufe der Zeit kultiviert und haben sich verändert.«

»Was willst du damit sagen?«

»Nun ja, nehmen wir zum Beispiel die Rosa centifolia. Die waren damals blasser, aber kräftiger im Duft als die heutigen. Es könnte sein, dass das einen Einfluss auf die Wirksamkeit des Parfüms hat.«

»Wenn du meinst, es nicht zu schaffen, dann sag lieber rechtzeitig Bescheid.«

»Nein, nein. Ich wollte damit nur sagen, dass es nicht ganz so einfach …«

»In einer Woche will ich einen genauen Zwischenstand«, würgte Gordon den immer leiser werdenden Maurice ab. Er hasste unsichere Menschen, aber er war auf seine Mithilfe angewiesen. Mit einem Knall warf er das Telefon auf die Station. Fast im selben Moment klingelte es.

»Ja!«

»Chef, wir haben die Frau und sind auf dem Weg zum Schiff. Wir sind in ungefähr fünf Minuten da.«

Endlich mal eine gute Neuigkeit. Er ließ nach Pedro rufen, schaltete den Bildschirm ein, der mit den Raumüberwachungskameras verbunden war, und stellte den Empfang auf den eleganten Essraum, in dem das Verhör stattfinden sollte.

Pedro betrat den Raum und stellte sich neben ihn.

Die Frau, die in den Essraum geführt wurde, sah ein wenig verängstigt aus. Gordon drehte den Bildschirm so hin, dass Pedro genau mitsehen konnte.

»Wir danken Ihnen, dass Sie die Zeit gefunden haben, uns zu begleiten«, sagte Gerry in diesem Moment höflich und wies die Frau an, ihm gegenüber Platz zu nehmen.

Sie hatte ihre Haare zu einem Zopf geflochten. Ihr Gesicht war schmal. Gordon beobachtete Pedro, der die Kameraeinstellung vergrößerte und das Gesicht genau betrachtete.

»Wie ich Ihnen bereits erzählt habe, geht es um Ermittlungen des FBI«, erklärte Ben, der die Befragung leitete. »Die Spur eines Schmugglerringes aus Chicago endet hier in Südfrankreich. Und vielleicht haben Sie etwas gesehen, was uns weiterhelfen könnte.«

Die Frau nickte und rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Gordon sah Pedro fragend an. Der zuckte die Schultern und versenkte sich wieder in das Geschehen auf dem Bildschirm.

»Wo waren Sie gestern Nachmittag?«

»Am Hotelpool.«

»Den ganzen Tag?«

»Ja.«

»Hatten Sie denn keinen Hunger? Sind Sie nicht zum Essen weggegangen?«

»Mittags habe ich mir einen Salat an den Pool bringen lassen und am Abend war ich im Hotelrestaurant.« Sie beugte sich ein wenig vor. »Wissen Sie, es ist mein erster Urlaub alleine und ich bin nicht daran gewöhnt. Ich habe mich am Pool am sichersten gefühlt.«

»Kann es vielleicht sein, dass Sie sich irren? Vielleicht war der Pooltag vorgestern? Haben Sie irgendwelche Städte besichtigt?«

»Natürlich. Ich war in Nizza.«

»Und Monaco?« Ben verschärfte seinen Ton.

»Ja, aber nicht gestern.«

»Tragen Sie eine Brille?«

»Nein.« Sie stand auf. Ihre Nervosität schien mit einem Mal verschwunden. »Was wollen Sie von mir? Ich bin freiwillig mitgekommen. Und nun werde ich regelrecht verhört.«

Ben sah Hilfe suchend in Richtung Kamera. Dann bedeutete er der Frau, sich wieder zu setzen. »Es tut mir Leid. Aber wir müssen jedes Detail wissen, das uns in diesem Fall weiterhelfen kann.«

Gordon sah Pedro erneut an. Der schüttelte den Kopf. »Nein. Zuerst war ich mir nicht sicher. Das Gesicht ist ähnlich. Der geflochtene Zopf irritiert. Aber die Größe kommt nicht hin. Die Frau, die ich verfolgt habe, war groß. Und schlanker.«

»Bist du dir sicher?« Er warf einen Blick auf das Phantombild. Es sah der Frau im Essraum sehr ähnlich.

»Ja«, sagte Pedro fest. »Ich bin mir sicher. Das ist sie nicht.«

»Geh in den Raum und sieh sie dir noch einmal persönlich an. Vielleicht erkennt sie dich wieder und verrät sich. Wenn nicht, lasst sie gehen. Aber vergesst nicht, für alle Fälle ihre Personalien aufzunehmen. Und sucht weiter nach der richtigen Frau!«

Gordon schaltete den Bildschirm aus. Er brauchte jetzt etwas, bei dem er sich abreagieren konnte. Aber auf dieser verdammten Jolle war noch nicht einmal ein Sportraum. Es wurde Zeit, dass sie in ihre provisorische Zentrale zurückkehrten.

3

Lucile Bertrand betrachtete die beiden leeren Weinflaschen, die neben dem Sofa lagen. Dann wanderte ihr Blick zum Fenster. Es war heller Tag. Wie spät mochte es wohl sein?

Sie rieb sich mit der flachen Hand die Augen, streckte sich und setzte sich vorsichtig auf. Eine Weile blieb sie sitzen und versuchte zu ergründen, wie stark ihr Kopf schmerzte. Es war erträglich. Mit beiden Händen strich sie sich über die zerzausten Haare. Es war spät geworden gestern. Am Anfang war es nur das Gläschen Wein zum Essen, ein ganz besonders guter Brunello zur Feier des Tages. Gestern wären Paul und sie fünfzehn Jahre verheiratet gewesen. Fünfzehn Jahre! Sie hatte erst spät geheiratet, damals war sie Anfang dreißig gewesen. Für die Leute aus ihrem Dorf ein Grund, sich das Maul zu zerreißen. Aber sie hatte warten wollen, bis sie jemanden traf, den sie wirklich liebte. Und das war Paul.

Die Erinnerung an die glücklichen Tage jagte Lucile einen Stich durchs Herz. Verbissen kämpfte sie gegen die dunkle Woge, die erneut über ihr zusammenzubrechen drohte. Da sie aus Erfahrung wusste, dass ruhiges, konzentriertes Atmen die düstere Stimmung am schnellsten vertrieb, setzte sie sich gerade auf und atmete langsam, bis der Schmerz sich wieder verkroch. Schwerfällig stand sie auf und ging ins Bad, um den pappigen Geschmack im Mund loszuwerden.

Das Gesicht, das ihr im Spiegel entgegenblickte, sah furchtbar aus, aber es erschreckte sie schon lange nicht mehr. Die Jahre hatten es gezeichnet, und auch der Alkohol hinterließ seine Spuren. Das, was die Leute früher wohlwollend als interessantes Aussehen bezeichnet hatten, war hinter aufgeschwemmten Zügen verschwunden. Ihr kurzes, braun gelocktes Haar war von grauen Strähnen durchzogen und ihre hellbraunen Augen blickten matt.

Sie registrierte es wie jeden Morgen. Sie sah aus wie Mitte fünfzig. Der Verfall war innerhalb kürzester Zeit eingetreten, aber sie sah keinen Grund, ihn aufzuhalten. Ihr Gesicht spiegelte genau das wider, was in ihrem Inneren vorging.

Lucile drehte den Wasserhahn auf und benetzte ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Dann putzte sie sich die Zähne, fuhr sich kurz mit einem Kamm durch die zerzausten Haare und ging, ohne ihr Spiegelbild noch eines Blickes zu würdigen, in die Küche. Zwischen dem benutzten Geschirr der letzten Tage fand sie einen Becher und spülte ihn aus. Dann setzte sie Kaffee auf.

Tränen stiegen ihr in die Augen, wie immer, wenn sie an Paul dachte. Es war keine zwei Jahre her, dass er bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Paul war schon immer ein rasanter Fahrer gewesen, und Lucile hatte ihn mehr als einmal gebeten, umsichtiger zu fahren. Aber dass das Ungeheuerliche eines Tages tatsächlich eintreffen würde, hatte sie niemals erwartet. Aus heutiger Sicht schien es fast unvermeidlich gewesen zu sein. Die unübersichtlichen Kurven der N85 waren schon manchem geübteren Fahrer zum Verhängnis geworden.

Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Wand. Elf Uhr vormittags. Sie hatte Schlimmeres erwartet. In einer Küchenschublade fand sie eine halb leere Schachtel Zigaretten und zündete sich eine an. Die Unordnung um sie herum drängte in ihr Bewusstsein. Es wurde Zeit, dass sie etwas dagegen unternahm. Damals, als Paul noch lebte, war das Haus Mittelpunkt der Society gewesen. Geschmackvoll eingerichtet, immer strahlend und sauber. Und sie und Paul mittendrin – ein erfolgreicher Parfümeur mit seiner eleganten Frau.

Lucile nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und schenkte sich Kaffee in den Becher. Der erste Schluck schmeckte bitter, aber das war genau das, was sie jetzt brauchte.

Nach dem Unfall hatte Lucile von den ganzen oberflächlichen Leuten nichts mehr hören wollen. Und es hatte auch nicht lange gedauert, bis die halbherzigen Beileidsbekundungen aufhörten. Nur einer hatte ihr unermüdlich zur Seite gestanden und war immer zur Stelle gewesen, wenn sie ihn gebraucht hatte: Pauls Freund Jean Batiste.

Jean war fast zehn Jahre jünger gewesen als Paul, aber die beiden hatte etwas verbunden, was in der Branche äußerst selten war: eine Freundschaft, die voller Respekt und Anerkennung vor den Leistungen des anderen war. Pauls Tod hatte Jean fast ebenso hart getroffen wie sie.

Nun hatte Jean fast zwei Wochen nichts mehr von sich hören lassen. In letzter Zeit hatte er so euphorisch gewirkt. Er schien sich in einem neuen Projekt festgebissen zu haben, das seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Sie hatte ihn in seiner Hochstimmung mit ihren Problemen nicht behelligen wollen. Aber nun spürte sie das Bedürfnis, mit ihm zu reden.

Lucile drückte die Zigarette in einer Untertasse aus und nahm den Kaffeebecher mit ins Wohnzimmer. Einem plötzlichen Bedürfnis nach frischer Luft folgend, riss sie die Fenster weit auf. Dann ging sie zum Telefon und wählte Jean Batistes Nummer.

Der Anrufbeantworter sprang an.

»Hallo Jean, hier spricht Lucile. Ich hoffe, es geht dir gut und dein Projekt kommt voran. Wenn du magst, ruf mich doch bitte zurück.«

Sie legte den Hörer auf, stellte den Kaffeebecher ab und ging in die Küche, um sich an den Abwasch zu machen.

 

Als Helena durch die Schiebetür die Ankunftshalle des Hamburger Flughafens betrat, entdeckte sie das strahlende Gesicht von Julie, die ihr winkend entgegenging.

»Überraschung!«

Helena war ehrlich erfreut. Sie hatte sich schon darauf eingestellt, mit dem Taxi zu fahren.

»Hast du heute frei?« Es war ein Dienstag, und gerade mal halb drei.

»Nur für eine Stunde. Ich dachte, wenn sie mir schon den Urlaub gestrichen haben, dann können sie mir wenigstens eine verlängerte Mittagspause genehmigen.« Julie strahlte über das ganze Gesicht. Dann drückte sie Helena herzlich an sich und nahm ihr die Reisetasche ab, wobei sie die Proteste ihrer Freundin überging.

Helena seufzte ergeben. Julie war ein Energiebündel. Und es hatte keinen Sinn, die zierliche Französin mit dem dunklen kurzen Haar zu bremsen.

Als sie das Flughafengebäude in Richtung Parkplatz verließen, empfing sie strahlender Sonnenschein. Es war ein paar Grade kälter als in Nizza, aber immer noch warm genug, um ohne Jacke auszukommen.

»Du bist ganz schön braun geworden«, sagte Julie. Sie wuchtete die Tasche in den Gepäckraum ihres Autos und hielt ihren blassen Arm gegen Helenas.

»Das sind die Sommersprossen!«

»Nein, wirklich. Du siehst gut aus. Du wirkst richtig erholt.«

Helena freute sich über das Kompliment und schwang sich auf den Beifahrersitz. »Was gibt es Neues aus der Firma?«

»Das Übliche. Wir ertrinken in Arbeit, und ab und zu bekommen wir zur Aufmunterung einen Anpfiff!«

Helena nickte. Herr Vollmers, ihr Vorgesetzter, konnte einem manchmal gewaltig auf die Nerven gehen.

»Und was war das für eine wilde Urlaubsgeschichte, das mit der Verfolgung?«

Julie tat, als konzentriere sie sich auf den Straßenverkehr. Helena wusste aber, dass sie hinter der scheinbar beiläufigen Frage vor Neugierde fast platzte. Sie lehnte den Kopf zur Seite und betrachtete die vorbeirauschenden Straßenzüge.

»Es war seltsam. Ich war gerade in Monaco und habe mir die Jachten am Hafen angesehen. Plötzlich stürmt ein Mann den Steg entlang, reißt sich den Absatz vom Schuh, holt etwas hervor und drückt es mir in die Hand. Er sagt, ich soll fliehen, wenn mir mein Leben lieb ist. Kurz darauf tauchen wütende Männer auf, die ihm hinterherrennen. Sie waren ganz dunkel gekleidet, irgendwie unheimlich. Ich bin so schnell wie möglich zurück in Richtung Grimaldi-Palast gerannt, weil es dort in den Gassen von Touristen wimmelt und weil ich den Mietwagen dort in der Nähe geparkt hatte.« Sie sah Julie an. »Einer der Männer hat mich tatsächlich verfolgt. Ich konnte mich gerade noch in einem Restaurant verstecken.«

»Und dann?« Julie hatte sichtlich Mühe, ihre Augen auf den Straßenverkehr zu richten.

»Nichts ›und dann‹. Der Verfolger hatte anscheinend aufgegeben. Ich bin nach einer Weile zum Hotel zurückgefahren. Das Päckchen enthielt eine Kassette und einen Zettel, auf dem so eine Art Formel geschrieben ist. Weiter weiß ich nichts.«

»Wann hörst du dir die Kassette an?«

Helena musste schmunzeln. Neugierde war eine von Julies hervorstechendsten Eigenschaften. »Morgen im Büro.«

 

Zu Hause fragte sich Helena, woher sie die Geduld nehmen sollte, bis zum nächsten Morgen zu warten. Der Gedanke an die Kassette ließ sie nicht los. Nachdem sie ihre Tasche ausgepackt und eine Ladung Wäsche in der Waschmaschine verstaut hatte, war die innere Unruhe schließlich bis ins Unerträgliche gestiegen.

Um halb sechs setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr zum nächstgelegenen Elektrogroßmarkt.

»Was für ein Unsinn, jetzt ein Diktiergerät zu kaufen«, schimpfte sie leise. »Das hat doch wirklich auch bis morgen Zeit.«

Keine halbe Stunde später war sie wieder zu Hause auf ihrem Sofa und schob die Kassette in das Gerät ein. Die Stimme, die den Raum füllte, war warm und voll. Mit angehaltenem Atem lauschte sie und versuchte, so viel wie möglich von dem klaren Französisch zu verstehen.

 

»Mein Name ist Jean Batiste. Ich bin freischaffender Parfümeur. Wenn Sie dieses Band abhören, bin ich wahrscheinlich schon tot.

Um dieses Tonband ist ein Zettel gewickelt, der eine wichtige Formel enthält. Vielleicht ist es ein Fehler, das Ganze zu dokumentieren, aber es erscheint mir jetzt, in diesem Moment, als die einzig richtige Lösung.

Sollten Sie zu dem seltenen Schlag guter Menschen gehören, dann sollten Sie wissen, dass ich Ihnen hiermit etwas offenbare, mit dem Sie die Welt verändern können. Sollten Sie aber zu den Menschen gehören, die meinen Tod verschulden, dann zum Henker mit Ihnen.«

 

Es entstand eine kurze Pause. Helena wartete gebannt auf die Fortsetzung. Sie zog die Beine an und schlang die Arme darum.

 

»Ich werde erpresst. Etwas aus meiner Vergangenheit wird mir vorgehalten und dazu benutzt, die Formel herauszubekommen. Ich habe beschlossen, den Erpressern nur einen Teil dessen zu geben, was sie erwarten. Ich bete zu Gott, dass Sie ein guter Mensch sind und mit dem Original umzugehen wissen.

Angefangen hat die ganze Geschichte an einem schönen sonnigen Tag, auf einem Flohmarkt in La-Colle-sur-Loup. Es ist kein besonders großer oder bekannter Flohmarkt, und ich hatte nicht wirklich erwartet, etwas zu finden. Aber dieses Mal kam mir etwas ganz Besonderes unter die Augen: Eine Amerikanerin, die sich ein kleines Häuschen für ihren Ruhestand gekauft hatte, wollte anscheinend den Dachboden entrümpeln und bot eine Menge kaputter Möbel und allerlei Schund an. Aber auf ihrem Tapetentisch stand auch ein alter Parfümflakon in Form einer Taube, den ich auf Ende achtzehntes, Anfang neunzehntes Jahrhundert schätzte. Ich tat uninteressiert, was unnötig war, denn die Frau hatte keinerlei Ahnung von dem Wert des Flakons. Und so erstand ich ihn für fünf Euro. Gerade wollte ich weitergehen, da bot sie mir noch ein altes, verstaubtes Buch an. Zuerst ablehnend blätterte ich darin. Aber bald wurde mir klar, dass es sich um ein wertvolles Exemplar aus den Anfängen des 19. Jahrhunderts handeln musste. Und tatsächlich! Das Buch enthielt Aufzeichnungen von Yves Sagan, einem der bekanntesten Parfümeure, der sich in Grasse niedergelassen hatte. Was für eine Rarität! Die Frau konnte es kaum fassen, als ich ihr dafür zehn Euro bot.«

 

Helena schaltete das Tonband ab. Ihre Füße waren eingeschlafen und prickelten so stark, dass sie sich nicht mehr auf das Gehörte konzentrieren konnte. Eine Weile ging sie im Zimmer auf und ab. Mit einmal verspürte sie einen brennenden Durst. Sie ging in die Küche auf der Suche nach Mineralwasser. Doch alle im Kasten befindlichen Flaschen waren leer. Sie sah auf die Uhr. Halb acht. Bedauernd sah sie zum Tonbandgerät. Aber wenn sie heute Abend nicht hungrig und durstig ins Bett gehen wollte, musste sie schnell in den schräg gegenüberliegenden Supermarkt laufen.

Eilig griff sie nach ihrer Handtasche, schloss die Tür hinter sich ab und rannte die Stufen hinab auf die Straße. Sie schien nicht die Einzige gewesen zu sein, die kurz vor Ladenschluss die Küchenschränke füllen wollte. Menschenmengen schoben ihre Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarktes, und die Kassenschlange reichte fast bis zur Käsetheke.

Helena fluchte leise. Sie wollte so schnell wie möglich zurück und die Aufzeichnungen weiterhören. Kurz entschlossen drehte sie sich um und lief zum hundert Meter entfernten Grillimbiss. Dort erstand sie eine Flasche Wasser, ein halbes Hähnchen und eine Portion Pommes. Es gelang ihr nicht, das schlechte Gewissen angesichts der Fettmengen zu unterdrücken. Das alles zusammen hatte sicher mehr Gramm reines Fett als fünf normale Tagesrationen zusammen! Aber schließlich war es ihr letzter Urlaubstag, und da waren Fett und Kalorien nebensächlich. Und sie musste ja nicht alles aufessen.

Zurück in der Wohnung füllte sie einen Teller mit Hähnchen und Pommes, schenkte sich ein Glas Wasser ein und nahm das kleine Tonbandgerät mit in die Küche. Während sie einen Schuss Ketchup auf die Pommes gab, schaltete sie das Gerät wieder ein.

 

»Zuhause wollte ich den Flakon ausspülen und hielt ihn zunächst kopfüber, um eventuellen Schmutz hinausfallen zu lassen. Ein gerollter Zettel fiel mir entgegen. Er war vergilbt und ein wenig porös, doch war sein Inhalt trotz altmodischer Schrift noch gut zu lesen. Beim näheren Hinsehen entpuppte er sich als eine ungewöhnliche Formel, doch es war die Überschrift, die meine Neugierde weckte. Fein geschwungen, als wären sie gemalt, standen in großen Buchstaben die Worte: Der Duft der Aphrodite.

Dem Namen nach musste man davon ausgehen, dass es eine alte Formel für ein Aphrodisiakum war. Aber die aufgezeichneten Inhaltsstoffe enthielten nicht eine der dafür typischen Substanzen. Nein, diese Formel verzichtete gänzlich auf alle Duftreize, die den sexuellen Botenstoffen ähnlich waren. Auf den ersten Blick schien die Mischung eher ein wenig blumig zu sein, mit holzigem Unterton. Aber da waren auch andere Stoffe aufgeführt, mit denen ich nicht viel anzufangen wusste. Unter anderem bezeichnete eine Kombination die angebliche Zusammensetzung von Ambrosia.

Ich war neugierig geworden. Konnte es sein, dass diese Formel von Yves Sagan stammte – dem Parfümeur, dessen Aufzeichnungen in dem alten Buch waren?

Ich fing an, das Buch zu lesen, und war bald gefesselt von einer schier unglaublichen Geschichte. Nur so viel: Die Formel beinhaltete eine Mischung, die angeblich die sagenhafte Anziehungskraft der Göttin Aphrodite erklärte, die erst im Laufe der Jahrhunderte mit allzu menschlichen Charaktereigenschaften versehen wurde. Derjenige, der den Duft trägt, wird für den, der ihn riecht, unwiderstehlich. Und auch mit dem Träger selbst soll Unglaubliches geschehen. Der Duft verklärt die Seele, macht rein und anziehend. Der Träger wird umhüllt von der Aura reiner Liebe. Dem Betrachter erscheint er als göttlich und vollkommen. Seltsamerweise scheint es die komplexe Wirkung nur bei Frauen als Trägerin zu entfalten. Aber auch ein Mann, der sich ein paar Tropfen davon aufträgt, wird auf der Stelle gelassener und friedliebender.«

 

Helena setzte sich gerade auf. Das war doch Unsinn. Das hörte sich an, als würde jemand behaupten, er habe die Formel gefunden, wie man aus Eisen Gold machte. Allein die Erwähnung von Ambrosia, dem Göttertrank, machte die ganze Sache unglaubwürdig. Jeder einigermaßen intelligente Mensch wusste, dass die alten Griechen Ambrosia und Nektar nur erfanden, um den Göttern des Olymp mehr Macht zu geben und deren Unsterblichkeit zu erklären. Aber dieser Mann hier behauptete tatsächlich, die Formel enthielte einen Duft, der einer griechischen Gottheit gehörte.

 

»Zunächst war ich skeptisch. Hielt alles für die Phantasterei eines Spinners. Aber dann las ich in dem alten Buch von den Experimenten, die Yves Sagan gemacht hatte. Es war unglaublich. Schrullige Weiber verwandelten sich in liebreizende Frauen. Männer verfielen in unsterbliche Liebe zu ehemals verschmähten Geschöpfen.

Das war genau das, worauf alle Welt gewartet hatte! Ich begann, die Formel nachzubauen. Denn bevor ich damit an die Öffentlichkeit gehen wollte, musste ich ebensolche Experimente erfolgreich abgeschlossen haben. Langsam erschlossen sich mir die Möglichkeiten, die man mit einem solchen Duft hatte: Man konnte damit, richtig eingesetzt, viel Gutes bewirken, ja sogar die Welt verändern. Den Duft bei aggressiven Menschen einsetzen, um ihnen ein harmonisches Wesen zu geben. Es würde keine Kriege mehr geben, keinen Hass und keine Wut. Ein Leben in Frieden und Harmonie.

Aber natürlich kann man damit auch viel Geld machen und das Parfüm zu überteuerten Preisen an machtgierige Menschen verkaufen, die damit andere gefügig machen wollen. Die Feinde lahm legen, um Länder zu annektieren. Ein Fressen für die Mächtigen der Welt. Wer diesen Duft Regierungen zur Verfügung stellt, kann es in kürzester Zeit zu unvorstellbarem Reichtum bringen. Und genau das scheint der Plan meiner Erpresser zu sein. Ich frage mich nur, wie sie von der Existenz dieser Formel erfahren haben …

Ich stehe jetzt vor der Entscheidung: Mein Leben gegen das Leben vieler Menschen. Aber ich bringe den Mut nicht auf, die Formel zu vernichten und mich dann dem Rechtssystem auszuliefern. Die Entdeckung ist einfach zu wertvoll. Vielleicht schaffe ich es auch, mich mitsamt den Unterlagen, mit denen ich erpresst werde, und der vollständigen Formel abzusetzen. Dann werde ich selbst derjenige sein, der dieses Band abhört. Und dann sitze ich irgendwo in Amerika oder Asien und versuche, die Experimente fortzuführen. Ich bete zu Gott, dass es so sein wird.«

 

Das Band war zu Ende. Helena schob das zur Hälfte gegessene Hähnchen weit von sich und wischte sich mit einem Papiertuch Mund und Hände ab. Dann griff sie nach dem Zettel, auf den die Formel geschrieben war.

Hatte dieser Jean Batiste das Ganze wirklich ernst gemeint? Ein Duft, der die Menschen verändert? Wenngleich es sich äußerst unglaubwürdig anhörte, so schien es tatsächlich wichtig genug zu sein, dass er dafür verfolgt wurde.

Was sollte sie nun mit dieser Information anfangen? Sollte sie zur Polizei gehen? Die würden sie auslachen. Oder zu einem Parfümeur? Und dann?

Unentschlossen schob sie den Zettel hin und her. Was wohl aus Jean Batiste geworden war? Vielleicht sollte sie als Erstes versuchen, ihn zu kontaktieren? Aber wenn seine Flucht gelungen war, würde er dann noch erreichbar sein?

Abrupt stand sie auf. Sie hatte nicht darum gebeten, in eine solche Sache hineingezogen zu werden. Wenn es tatsächlich stimmte, dann hätte auch sie dabei draufgehen können. Jetzt war sie in Sicherheit, und sie würde ihr Leben nicht für eine Sache aufs Spiel setzen, von deren Realität sie noch nicht einmal überzeugt war.

Entschlossen nahm sie die Kassette aus dem Recorder und legte sie zusammen mit der Formel in die oberste Schublade ihres Sekretärs. Dann steckte sie das Diktiergerät zurück in die Verpackung. Was für ein Blödsinn, sich extra dafür ein Gerät zu kaufen. Wenn sie morgen rechtzeitig aus dem Büro kam, würde sie es zurückgeben.

4

Der ungewohnte Klang des Weckers riss Helena aus dem Schlaf. Tastend suchte ihre Hand den Ausschaltknopf. Dann rieb sie sich die Augen. Halb sieben. Bereits nach einer Woche veränderter Schlafgewohnheiten hatte sich ihr Rhythmus derartig verstellt, dass es ihr nun unmöglich erschien, täglich um diese unchristliche Zeit aufzustehen.

Langsam erhob sie sich und blieb noch einen Augenblick benommen auf der Bettkante sitzen. Sie hatte schlecht geschlafen und von wilden Verfolgungen geträumt. Der Traum war sehr bedrohlich gewesen, und auch jetzt, im Wachzustand, gelang es ihr nicht ganz, ihn abzuschütteln.

Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging ins Bad. Eine kalte Dusche war jetzt genau das Richtige, um schnell wieder munter zu werden.