Der Duft Der Hingabe - April Geremia - E-Book

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April Geremia

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Der Duft Der Hingabe

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April Geremia:

(demnächst auch auf Deutsch erhältlich)

––––––––

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(Arbeitstitel: „Der Sprung der Vergebung“)

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(„Seelen der See“, Band 2)

––––––––

„The Irrationality of Poetry“

(Arbeitstitel: „Die Unvernunft der Poesie“)

Souls of the Sea: Book 3

(„Seelen der See“, Band 3)

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Der Duft der Hingabe

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Teil zwei:

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Über die Autorin

Widmung

Für meine Familie – für diejenigen, die uns verlassen haben, um bei unserem Herrn zu sein, für diejenigen, die uns nahe bleiben, und für jene, die das Schicksal in die Ferne geführt hat. Ich liebe euch alle und kann mir mein Leben ohne euch nicht vorstellen.

Prolog

––––––––

Gabriella verstand selbst kaum, was sie nun tun würde. Schließlich war sie nicht gläubig. Sie konnte nicht wissen, dass die himmlischen Heerscharen zugegen waren und sie leise mahnten, das Gebet zu sprechen, das jenen Plan in Gang setzen würde, der schon vor Anbeginn der Zeiten festgelegt worden war. Es gab für sie keine Möglichkeit, zu ermessen, was es bedeutete, das Leben des eigenen Kindes Gott und Seinem Plan anzuvertrauen. Sie konnte die quälende Pein der Ungewissheit nicht vorhersehen, die schmerzliche Aufgabe des eigenen Willens, die unvorstellbare Lockerung ihrer Umarmung. Dieses schreckliche, unerbittliche Loslassenmüssen.

Nein, das Einzige, woran Gabriella in diesem Moment denken konnte, war das Leben ihres einzigen Sohnes. Der Regen traf ihre Haut so hart, als wollte er sie bestrafen, und sie fühlte das Drängen unsichtbarer Kräfte. Ein Windstoß zwang sie mit Nachdruck auf die Knie. Ihre Seele begriff und Tränen strömten über ihre Wangen.

„Gott, wenn Du wirklich da bist“, wisperte sie, „bitte, nimm mir nicht meinen Sohn.“

Sie hielt inne und versuchte, die Panik zu bezwingen, die sie zu überwältigen drohte. Der Wind drückte sie weiterhin zu Boden. Sie schluckte schwer und hob die Augen zum Himmel. In ihrer Verzweiflung würde sie alles tun, wenn Sammy nur leben könnte. Sogar diesen Gott anflehen, den sie zu hassen gelernt hatte. „Wenn Du meinen Sammy verschonst, verspreche ich, seine Zukunft in Deine Hände zu legen. Ich gelobe Dir: Wenn Du ihn am Leben lässt, werde ich ihn Dir zurückgeben.“

Und so geschah es.

Kapitel 1

––––––––

Drei Monate zuvor

Gabriella stellte sich so nah an den Rand der Klippe, wie es nur möglich war, ohne in den hundert Meter tiefen Abgrund zu stürzen. Dann blickte sie auf die zerklüfteten Felsen, die nach unten hin abfielen, bis sie jäh in die wogende, blau-grüne See eintauchten.

Sie atmete ein, fand ihr Gleichgewicht und hob den Blick zum Himmel mit all seinen scheinbar unergründlichen Geheimnissen. Sie reckte die Arme nach oben, die Fäuste fest geballt, und atmete aus. In solchen Momenten – wenn sie die See, die Welt, sogar den allmächtigen Gott herausforderte, sie zu vernichten – fühlte sie sich am lebendigsten. Nur hier, einen winzigen Schritt vom Tod entfernt, spürte sie, wie sich das Leben in ihr regte.

Es war nicht immer so gewesen.

Vor fünf Jahren war Gabriella noch glücklich. Sie war mit Nicolas verheiratet und Mutter eines kleinen Sohnes, der Licht in ihr Dasein und das ihres Mannes brachte. Sie führte ein angenehmes Leben, das sie zwar nicht ganz, jedoch beinahe ausfüllte, zumindest in dem Maße, wie man es auf dieser Welt erwarten konnte.

Gabriella lernte Nicolas in dem Jahr nach ihrem Collegeabschluss kennen. Sie war die Adoptivtochter einer armen Einwanderin – ihrer Tante –, er der geliebte Sohn eines älteren Ehepaares, das noch in späten Jahren einen Sohn bekommen hatte. Sie beide, der lässige, durch und durch amerikanische junge Mann und die feurige lateinamerikanische Immigrantin, waren ein Musterbeispiel für Gegensätze. Er sah ungewöhnlich und dabei attraktiv aus: Er war gut gebaut, hatte lockiges blondes Haar, wie man es sonst hauptsächlich bei Kindern sieht, und sanfte grüne Augen, bei deren Blick man überrascht feststellte, dass man sich wohlfühlte. Gabriella dagegen war zierlich. Ihre feinen Gesichtszüge hoben sich gegen die blauschwarze Haarmähne ab, die ihr bis weit über den Rücken fiel. Das Gesicht war nicht schön, noch nicht einmal hübsch, aber es ließ eine Unergründlichkeit erahnen, die in den Menschen den Wunsch erweckte, sie zu durchdringen und herauszufinden, wer Gabriella war.

Die folgenden Jahre waren angefüllt mit frischgebackenem Apple Pie und Tamales, lateinamerikanischen Quinceñeras und amerikanischen Sweet-Sixteen-Feiern, mit Festen, auf denen Kinder nach Äpfeln angelten und Piñatas mit bunt umwickelten Besenstielen zertrümmerten. Das multikulturelle Familienleben war geprägt von Liebe, Wärme und einer Leichtigkeit, in deren Genuss nur wenige Menschen kommen.

Doch das war vor über drei Jahren, bevor sie und ihr Sohn nach Rendición zogen, einem kleinen Dorf auf einer abgelegenen Insel in Lateinamerika, an der die Zeit scheinbar spurlos vorübergegangen war. Danach wurde alles anders, und an mehr Tagen, als sie zugeben wollte, hing sie buchstäblich am Rand der Klippe und suchte nach einem Grund, sich nicht fallen zu lassen. Sie starrte auf die endlose Weite des blaugrünen Wassers und fühlte, wie die altbekannte Sehnsucht in ihrem Innern anschwoll und sich Gehör zu verschaffen suchte. Gabriella wollte so gern an den Ort und in die Zeit zurückkehren, bevor alles so schrecklich schiefgelaufen war. Doch es war unmöglich. Sie würde nie wieder dort sein, wo sie gelebt hatte, ohne zu ahnen, wie grausam das Leben sein konnte.

Diese Wahl zwischen Leben und Tod, zwischen dem Sturz von der Klippe und dem Versuch, innezuhalten und in ihrem verpfuschten Leben einen Sinn zu sehen, gab ihr Halt. Ihr war es überlassen, was als Nächstes geschehen würde, ihr und nicht dem Zufall. Und weil sie so lange keine Kontrolle mehr über ihr Leben gehabt hatte, war sie berauscht von dem Gedanken, dass sie selbst entscheiden konnte. Aber Sammy, ihr zehnjähriger Sohn, verkomplizierte die Sache.

Der einfachste Ausweg würde darin bestehen, ins Nichts zu fallen, nach dem sie sich so sehr sehnte. Doch das würde sie Sammy niemals antun. Er brauchte sie, liebte sie immer noch, obwohl sie sich schon vor so langer Zeit gefühlsmäßig von ihm entfernt hatte. Und wer, wenn nicht sie, wüsste besser, wie wichtig die Familie für ein Kind war!

Bevor Gabriella Nicolas heiratete, hatte sie keine Familie gehabt, keine richtige, so wie sie es sich immer erträumt hatte. Als sie noch sehr klein war, hatten ihre Eltern sie von einem auf den anderen Tag verlassen. Sie hatte ihren Weg durchs Leben allein finden müssen, nur geführt von einer genervten und gefühlsarmen Tante, die quälende Jahre lang immer wieder unwillig gemurmelt hatte, dass sie keine andere Wahl gehabt hätte, als das Kind ihrer Schwester aufzunehmen, denn schließlich wäre sie ja die einzige noch lebende Verwandte.

Und so hatte sich Gabriella zeit ihres Lebens an die wenigen frühen Erinnerungen geklammert, die sie an ihre Eltern und an das Leben in dem blassgelben Haus auf der Klippe hatte, als ihr Dasein noch hell gewesen war und nicht dunkel, angefüllt mit Lachen und nicht mit Weinen, mit Liebe und nicht mit Verlassenheit.

Und nun, während sie sich der Erinnerung hingab, schmeckte sie die salzige Luft, die der Wind landeinwärts trieb, hörte das Toben der Wellen, fühlte das Prickeln der Gischt, die die schalkhafte See sorglos ausspie. Sie dachte daran zurück, wie es gewesen war, von Wärme und grenzenloser Liebe eingehüllt zu sein und das sichere Gefühl zu haben, dass die Welt in Ordnung war. Sie wünschte, die Zeit wäre damals stehen geblieben, an jenem Ort, wo sie hingehörte, wo sie sich nichts verzweifelt wünschte und es ihr an nichts fehlte.

Doch die Zeit war nicht stehen geblieben.

Diese flüchtigen Erinnerungen, Bruchstücke ihrer Vergangenheit, stammten aus dem Lebensabschnitt, bevor ihre Eltern auf mysteriöse Weise in die Nacht hinausgingen, um niemals zurückzukehren. Oft dachte sie, es wäre einfacher, wenn sie diese glücklichen Zeiten vergessen könnte, weil sie ein klaffendes Loch in ihrem bereits gebrochenen Herzen hinterließen. Mit diesem Nicht-Wissen, dem Sich-Fragen, warum ihre Eltern ohne sie fortgegangen waren, hatte sich Gabriella immer auseinandersetzen müssen. Es war eine treibende Kraft in ihrem Leben, die mit ihr wuchs, größer wurde, höher und breiter, die immer an ihrer Seite blieb wie ein tyrannischer Schatten, der ihr unerbittlich folgte, wohin sie auch ging.

Ihre Tante hatte sich über dieses Thema ausgeschwiegen, sogar noch, als sie im Sterben lag und Gabriella sie angefleht hatte, ihr Geheimnis nicht mit ins Grab zu nehmen. Sie war dennoch hinübergeglitten und hatte das Wissen, das Gabriellas Herz zum Teil die Freiheit wiedergegeben hätte, mit sich genommen.

Das war der Grund, warum sie so sehr an Nicolas und seinen Eltern hing. Als sie ihn heiratete, bekam sie nicht nur einen Ehemann geschenkt, sondern gleichzeitig auch eine liebevolle Familie.

Sie sahen sie so, wie sie war: als jemand, der eins geliebt und angenommen wurde. Nicolas’ Eltern spürten auf irgendeine Weise, dass sie Erinnerungen an die Vergangenheit mit sich trug, die sie jedoch nicht wirklich verinnerlicht hatte, weil sie sich zu sehr davor fürchtete, sie als ihre eigenen zu betrachten. Deshalb nahmen sie sie so auf, dass sie sich nicht verweigern konnte. Langsam, nach und nach, erlaubte sie es sich, in diese andere Familie hineinzuwachsen, und bald war sie so tief mit ihr verwurzelt, dass sie vergaß, das Ende zu bedenken – diesen unausweichlichen Moment, in dem alles, wofür man lebt und was man liebt, zu einem plötzlichen Ende kommt.

Er kam an einem unglaublich nassen Morgen. Regen trieb über das Land, die Wolken hingen tief, Scheibenwischer gingen hektisch hin und her. Als die Polizeibeamten in tropfnassen Regenjacken an ihrer Tür standen, um die Nachricht zu überbringen, dass Nicolas’ Eltern tot waren – dass sie den Lastwagen, der auf der falschen Seite der rutschigen Straße auf sie zugerast war, noch nicht einmal gesehen hatten –, schalt sie sich sofort selbst, weil sie auf eine Illusion hereingefallen war. Es endete immer so, sagte sie sich. Mit dem Verlassenwerden.

Doch anstatt die Menschen loszulassen, die sie liebte, indem sie Abstand suchte, um dem unvermeidlichen Schmerz zu entgehen, klammerte sie sich noch stärker an sie und versuchte verzweifelt, das zu ändern, was das Schicksal bestimmt hatte.

Nun umwehte eine mitfühlende Brise die Klippe und bewegte den Saum ihres Bauernrocks. Gabriella wurde sich bewusst, dass sie den Atem anhielt. Immer waren es diese Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit ihres Lebens, die sie an den Rand der Klippe führten. Doch der Gedanke an den nächsten Schritt, den Sturz in vollkommene Dunkelheit, trieb sie jedes Mal wieder zurück ins Leben. Hier, der Ewigkeit so nahe, konnte sie das schwache Wispern des Windes kaum wahrnehmen, der ihr sagte, dass da noch mehr war.

Aber was?

Sie wollte – musste – unbedingt wissen, wo sie landen würde, wenn sie sich fallen ließe. In den Händen des sogenannten liebenden Gottes, wie Nicolas behauptet hatte, oder in einem alles verschlingenden schwarzen Abgrund?

Ach ja, Nicolas.

Sie schloss ihre Augen gegen das gleißende Sonnenlicht und versuchte, nichts zu fühlen. Der Verlust war noch zu frisch, der Schmerz zu scharf, um ihn zu ertragen. Erst zehn Jahre war es her, dass sie und Nicolas das unbeschreibliche Glück miteinander geteilt hatten, ein Kind der Liebe in diese Welt drängen zu sehen. Sammy hatte bei seiner Ankunft geschrien. Er war ein Kämpfer, von Anfang an eine starke Persönlichkeit. Mit seinen fantasievollen Eskapaden, seinem großen Herzen und seiner unstillbaren Neugier hatte er seine Eltern entzückt, in Erstaunen versetzt und auch beunruhigt.

Als Sammy älter wurde, waren Vater und Sohn unzertrennlich. Sie ähnelten einander wie ein Ei dem anderen. Beide waren hellhäutig, hatten Sommersprossen und widerspenstige blonde Locken, die ihnen in die Stirn fielen. Nicolas war ein kräftiger Mann, seine Erscheinung ließ Ehre, Würde und alte Werte erahnen. Sammy hatte den Körperbau seines Vaters geerbt sowie seine Augen, die grün und sanft waren wie Moos, das sich in eine seichte Stelle am Teich schmiegt.

Gabriella liebte es, wenn ihr kleiner Junge Nicolas nachahmte. Wenn der ein rotes Shirt trug, zog Sammy sich schnell auch eins an. Wenn Nicolas sich mit einer Hand am Türrahmen abstützte und sich in die Türöffnung hineinlehnte, war Sammy auch da und machte seine Bewegungen genau nach.

Es waren ein paar unbeschwerte Jahre, in der die Zeit angenehm dahinschmolz wie der letzte Rest Butter auf einer warmen Arbeitsplatte in der Küche. Gabriella ließ ihre Angst vor Unglück hinter sich, das ständige Gefühl drohenden Unheils, und obwohl sie sich selbst gelobt hatte, sich nie wieder in der falschen Hoffnung auf Sicherheit zu wiegen, wappnete sie sich nicht gegen das Verhängnis, das bereits vor der Tür stand. Und so schlich es sich von hinten an sie heran. Heimtückisch. Hinterhältig. Grausam.

Auf der Klippe atmete Gabriella die schwere, salzige Luft ein und dachte an die Nacht, in der ihre Welt unwiderruflich zerbrach.

Es begann, als Nicolas von einem Kollegen zu einer Männerfreizeit in Südtexas eingeladen wurde. Er entschloss sich mitzufahren, weil der Mann einer seiner Vorgesetzten war und er ihn nicht vor den Kopf stoßen wollte.

„Wer weiß, mi amor?“, neckte Gabriella ihn. „Vielleicht hast du dort Spaß.“

Nicolas seufzte. „Ich wünschte nur, der Zeitpunkt wäre besser. Ich bin so erschöpft, dass ich glaube, ich könnte tagelang schlafen.“

Sie senkte ihren Kopf, sodass die langen Locken ihre Besorgnis verbargen. Zwar stimmte es, dass Nicolas viele Überstunden machte, doch das konnte das Ausmaß seiner Erschöpfung in den letzten Monaten kaum erklären. Sie hatte ihn gebeten, einen Arzt aufzusuchen, doch er glaubte, wenn er nur ein wenig Schlaf nachholen könnte, würde es ihm wieder gutgehen. Dabei verschlief er schon jetzt fast alle Wochenenden und schien trotzdem immer müder zu werden. „Nicolas“, begann sie.

Er legte einen Stapel Hemden in seinen geöffneten Koffer, kam zu ihr herüber und umfasste ihr kleines Gesicht sanft mit beiden Händen. „Ich weiß, was du sagen willst, und du hast recht. Morgen  früh mache ich als Erstes einen Termin beim Arzt.“

Sie lächelte erleichtert. „Ich danke dir! Ich bin sicher, es ist nichts, aber ich werde mich danach besser fühlen.“

Er zog sie eng an sich und flüsterte ihr ins Ohr: „Mach dir keine Sorgen, Gabby. Ich bin davon überzeugt, dass alles in Ordnung ist.“

Sie nickte und kämpfte gegen die wohlbekannte Unruhe an.

Ein Geräusch an der Tür unterbrach sie. Sie drehten sich gleichzeitig um und sahen Sammy, der sich mit seinem Kinderkoffer abmühte.

„Daddy? Ich bin fertig mit Packen. Wann geht es los?“

Nicolas und Gabriella schauten sich an und versuchten, in den Augen des anderen zu erkennen, wie es zu diesem Missverständnis gekommen war. Nicolas kniete sich neben Sammy. „Ich fürchte, mein Junge, ich muss dieses Mal allein fahren.“

„Was?“, fragte Sammy und stellte den Koffer, dessen Deckel Spiderman zierte, geräuschvoll ab. Er strich seine wuscheligen Locken aus der Stirn. „Du hast doch gesagt, es wäre eine Männerzeit.“

„Na ja ...“

„Und ich bin ein Mann. Warum kann ich nicht mitkommen?“

Während Gabriella die Szene beobachtete, fiel ihr auf, dass Sammy wieder einmal dieselbe Kleidung wie Nicolas angezogen hatte. Diesmal trugen sie blaue Jeans und einen gelben Pullover. Nicolas legte seine Hände auf Sammys Schultern, die vor Empörung darüber, dass er zurückbleiben sollte, zuckten. „Mein Junge, manchmal muss ein Mann die Bedürfnisse anderer vor seine eigenen stellen. Ich meine, wenn wir beide wegführen, wer sollte sich dann um deine Mom kümmern?“

„Wir könnten einen Babysitter nehmen.“

Nicolas lächelte und schüttelte den Kopf. „Sie braucht keinen Babysitter, sondern einen Mann im Haus. Du musst dieser Mann sein, während ich weg bin.“

Gabriella sah zu, wie Sammy diese Aussagen verarbeitete. Zunächst war er kurz davor, in Tränen auszubrechen, doch dann richtete er sich mit einem neuen, entschlossenen Ausdruck im Gesicht auf. „Ich mache es, Daddy. Ich will der Mann im Haus sein, während du nicht da bist.“

Nicolas hatte ihn umarmt. „Ich wusste, mein Junge, dass du mich nicht im Stich lassen würdest. Ich zähle auf dich.“

Die Sonne verschwand hinter einer Wolke und das veränderte Licht riss Gabriella aus ihren Gedanken. Sie seufzte, fühlte, wie sie ein wenig schwankte und von einem bösartigen Nordwind nach vorn gedrückt wurde. Ihre Erinnerungen reichten, um sie den kleinen Schritt über den Rand der Klippe erwägen zu lassen, aber dann tauchten Bilder von Sammy vor ihrem geistigen Auge auf. Ihr kleiner Junge hatte so viel durchgemacht, sie würde ihm nicht noch mehr wehtun. Doch der Schmerz, den sie im Herzen fühlte, war erbarmungslos und sie glaubte nicht, dass sie mit ihm als ständigem Begleiter weiterleben konnte.

Sie ließ es zu, dass die Erinnerungen sie wieder zurück in die Vergangenheit führten. Sie war geschockt gewesen, als Nicolas nach der Reise zur Tür hereingekommen war. Er sah erschöpft aus, als wäre er in der kurzen Zeit, die er weg gewesen war, gealtert. Aber sie hatte ihren Blick nicht von seinen Augen abwenden können. Sie schienen alles Licht der Welt in sich aufgenommen zu haben.

„Nicolas!“, rief sie und eilte auf ihn zu.

Er lehnte ihr Angebot, seinen Koffer zu tragen, nicht ab, und als er tief in das Sofa sank, schloss er für einen Moment die Augen, um Kraft zu schöpfen. Als er sie wieder öffnete, war das Licht immer noch da.

Sie hatte Mühe, seinen Worten Aufmerksamkeit zu schenken, weil sie sich solche Sorgen um seine Gesundheit machte. Es stellte sich heraus, dass es eine christliche Freizeit gewesen war, und Nicolas sprach begeistert über alles, was er gehört hatte.

„Ich habe Ihn gefunden, Schatz“, sagte er mit stiller Ehrfurcht in seiner Stimme. „Den, der uns ein Leben geben kann, das niemals endet.“

„Wir müssen dich ins Krankenhaus bringen“, entgegnete sie. „Ich habe dich noch nie so krank gesehen.“

„Wir haben für die falschen Dinge gelebt“, fuhr er fort. „Für etwas, was vergänglich ist, statt für das Ewige.“

Sie legte ihr Handgelenk auf seine Stirn. „Amor, du hast Fieber. Wann ist dein Termin beim Arzt?“

„Oh, Gabby“, seufzte er und sank noch tiefer in das Sofa. „Er liebt uns so sehr. Das habe ich nicht gewusst. Das habe ich einfach nicht gewusst.“

„Vámonos“, sagte sie, und in dem Wort schwang Gereiztheit mit. Sie stand auf und zog an seinem Arm, doch sie war nicht stark genug, um Nicolas zu bewegen. „Sehen wir zu, dass du ins Bett kommst, und ich rufe gleich morgen früh den Doktor an.“

Widerstrebend und mit viel Mühe stemmte sich Nicolas vom Sofa hoch. „Gabby“, sagte er, fasste sie an der Schulter und drehte sie behutsam zu sich um. „Ich möchte nur, dass du weißt, was ich weiß. Dass du siehst, was ich entdeckt habe. Es ändert alles, Schatz.“

Sie atmete tief aus und versuchte, geduldig zu bleiben. „Im Augenblick“, erwiderte sie, „ist die einzige Änderung, die mich interessiert, dein Gesundheitszustand. Wirklich, Nicolas, lass uns zusehen, dass wir dich ins Bett bekommen, bevor du noch umfällst.“

Die salzige Luft brannte in ihren Augen und Gabriella befreite sich für einen Augenblick von ihren Erinnerungen. Noch nicht einmal ein Jahr danach starb Nicolas an einer besonders bösartigen und aggressiven Krebserkrankung.

Auch er hatte sie letztlich verlassen.

„Ein schöner Gott bist Du“, zischte sie voll Verbitterung. Sie ballte ihre Fäuste fester und achtete nicht auf den unbarmherzigen Wind, der ihr das Haar hart ins Gesicht schlug. Gegen ihren Willen richteten sich ihre Gedanken auf die Zeit, als sich ihre und Sammys Welt für immer veränderte.

Nach Nicolas’ Tod versank Gabriella in tiefer Schwermut. Sie verspürte den Wunsch, mit dem Hintergrund zu verschmelzen und nie wieder hervorzutreten. Während der darauffolgenden Jahre zog sie sich von ihren Freunden zurück, erwiderte keine Telefonanrufe und begann, in ihrem Heim jede Erwähnung von Gott zu verbieten. Es machte sie zornig, dass Nicolas all sein Vertrauen in diesen Gott gesetzt hatte, der ihn im Stich ließ, als er krank war.

Sie machte nun alles anders als zu der Zeit, als sie noch eine vollständige Familie gewesen waren. Sie kochte nicht mehr dasselbe Essen, änderte ihren bisherigen Tagesablauf, beseitigte vertraute Dinge im Haus und ersetzte sie durch funktionale, zweckmäßige Gegenstände. Sonst wäre jede Mahlzeit eine Erinnerung an das gewesen, was sie verloren hatte, und alles, woran sie gewöhnt war, hätte sie den Schmerz wieder neu fühlen lassen. Sie konnte es nicht ertragen, auf dem Sofa zu sitzen, auf dem auch Nicolas gesessen hatte. Von denselben Tellern zu essen. Im selben Bett zu schlafen.

Sie war eine Frau, die dem Leid verzweifelt zu entkommen suchte, und sie glaubte, dass sie nur damit fertigwerden konnte, wenn sie alle Erinnerungen an Nicolas und ihr gemeinsames Leben mit der Wurzel ausriss. Doch im Grunde wusste sie, dass es falsch war. Nicolas war die Liebe ihres Lebens und Sammys Held. Und doch – ganz gleich, wie oft ihr der Verstand sagte, dass für Sammy alles normal und in vertrauten Bahnen weiterlaufen musste – fand ihr Herz keinen Weg, um dafür zu sorgen. Die Schuld, die sie verfolgte, erdrückte sie. Sie wusste, sie beraubte Sammy seiner Möglichkeit zu trauern, und er würde so nicht auf natürliche Weise über den Verlust hinwegkommen können. Ihr Herz schrie, dass sie tun musste, was das Richtige für Sammy war, doch sosehr sie es auch versuchte, sie konnte es nicht. Nicolas’ Tod hatte sie zerstört. Er hatte aus ihr eine Frau gemacht, deren Handlungsweise allein von ihrem Schmerz bestimmt war, und obwohl sie den Schaden sah, den sie dadurch anrichtete, konnte sie das nicht abstellen.

Je weiter sie sich von ihrem alten Leben entfernte, desto deutlicher trat etwas anderes in ihren Gedanken hervor: das gelbe Haus auf der Klippe, wo sie diese wenigen kostbaren Jahre mit ihren Eltern verbracht hatte. Als sie den Ruf in das von Feuchtigkeit durchzogene, verloren hoch oben auf einem Kliff gelegene Küstendorf zum ersten Mal vernahm, versuchte sie, dies zu ignorieren. Denn warum sollte sie sich so viel Mühe geben, ihr altes Leben hinter sich zurückzulassen, nur um auf die Suche nach einer anderen fernen und schmerzlichen Vergangenheit zu gehen?

Doch sie verlangte nach diesem Ort. Ihr Vater war in seinen Kinderjahren in diesen Hügeln herumgestreift und hatte in dem kleinen Orangenhain geholfen, von dem die Familie lebte. Als ihre Eltern heirateten, erbten sie das Gelände, genauso wie sie, als ihre Tante starb.

Die Gedanken an das alte Haus machten sie wehmütig. Sie sehnte sich nach dem, was sie vor so langer Zeit verloren hatte. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind den ganzen Tag mit ihrer Mutter in der Küche gebacken hatte und in ihrem Spiel im Orangenhain aufgegangen war, wo sie Stunden in ihrer Fantasiewelt zubrachte. Diese Erinnerungen waren hauchdünn und verwehten schnell, aber sie ließen ein angenehmes Gefühl von Behaglichkeit in ihr zurück. Der ständige Drang, zu diesem Haus zurückzukehren, war schließlich so stark geworden, dass sie ihm nachgab, nur um Ruhe zu finden.

Und so hatte sie in einem Versuch, den Schaden zu begrenzen, Sammys und ihr eigenes Leben in Texas eingepackt und alles und jeden hinter sich gelassen, um zu diesem verlassenen Fleckchen Erde zu kommen. Das Dasein war zu unvorhersehbar, entschied sie, zu unkontrollierbar. Sorgfältig und mit Bedacht schränkte sie deshalb ihr einstmals ausladendes Leben ein, sodass es übersichtlicher und leichter zu bewältigen war. Kleiner bedeutete sicherer, redete sie sich ein. Es bestand weniger die Gefahr, dass etwas Undenkbares geschah. Bestimmt würden Tod und Verderben ihnen nicht bis ans Ende der Welt folgen.

Doch so weit sie auch lief, sie konnte der Furcht, dem Zorn und dem Gefühl, dass alles, was angeblich gut war, sie verraten hatte, nicht entfliehen.

Und so, statt den ersehnten Frieden zu erlangen, fand sie sich an den meisten Tagen am Rand der Klippe wieder, einen Schritt vom Abgrund entfernt, wo sie aufmerksam auf die flüchtigen Stimmen im Wind lauschte und auf eine Erklärung hoffte, warum alles in ihrem Leben so schrecklich schiefgelaufen war.

Nun schloss sie die Augen, hob ihre Fäuste erneut gen Himmel und schüttelte sie. „Wo bist Du, großer und schrecklich Gott von Nicolas?“, schrie sie gegen die brandende See an. „Und warum hast Du mich zu Deiner Feindin gemacht?“

Kapitel 2

––––––––

Sammy stieg aus dem klapprigen Schulbus aus und traf auf das, was er am meisten auf der ganzen weiten Welt verabscheute: ein leeres Haus. Wieder einmal. Er blickte nervös zur Klippe hinüber, ließ seinen Rucksack über seine dünnen Arme gleiten und schleuderte ihn auf die Veranda. Er lief in seinen abgestoßenen grünen Keds und den blauen Jeans mit dem abgewetzten Saum den unbefestigten Weg zum Orangenhain hinunter.

Endlich waren die Sommerferien da – und das gefiel ihm außerordentlich. Er und seine Mutter waren vor drei Jahren hierhergezogen, als er gerade die Hälfte der zweiten Klasse hinter sich hatte. Obwohl er am Anfang nicht allzu begeistert gewesen war, hatte er das Leben in dem gelben Haus doch schätzen gelernt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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