Der Duft des Wals - Paul Ruban - E-Book
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Der Duft des Wals E-Book

Paul Ruban

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Beschreibung

Ein absurd-komischer Roman über den Duft des Verfalls.

Judith und Hugo versuchen, ihre Ehe zu retten, indem sie sich einen Aufenthalt in einem luxuriösen All-Inclusive-Resort in Mexiko gönnen. Das Meer glitzert am Horizont, die Eiswürfel klirren im Glas, doch dann trübt sich die Stimmung: Ein toter Wal wird an den Strand gespült und verströmt einen üblen Geruch, den die tropische Brise trotz aller Bemühungen des Hotelpersonals bis in den letzten Winkel trägt. Wie lange lässt sich unter diesen Umständen die Illusion vom perfekten Urlaubsparadies aufrechterhalten? Mit viel Humor und Zärtlichkeit lotet Paul Ruban das Unbehagen aus, das sich im Verborgenen einstellt und so lange verstärkt, bis es nicht mehr zu ignorieren ist ...

»Ein Roman mit grandiosem Humor. Wenn Literatur eine Form der Unterhaltung ist, hat Paul Ruban mit ›Der Duft des Wals‹ einen Volltreffer gelandet.« La Presse.

»Erfrischend kühn erzählt.« Radio-Canada Première.

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Seitenzahl: 216

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Judith und Hugo sind seit zwölf Jahren ein Paar, aber es läuft schon lange nicht mehr rund zwischen ihnen. Nach unzähligen Paartherapiesitzungen beschließen sie, in den Süden zu fahren, um ihre Liebe neu zu entfachen. Zusammen mit ihrer zehnjährigen Tochter, der begabten und introvertierten Ava, fliegen sie in ein Fünf-Sterne-Hotel nach Mexiko. Dort treffen sie auf den liebenswerten Pagen Waldemar, das narkoleptische Zimmermädchen Belén und die Stewardess Céleste, die eine ganz besondere Beziehung zum Himmel hat. Dann strandet ein Wal direkt vor dem Hotel und stinkt so gewaltig, dass ihn schon bald niemand mehr ignorieren kann. Und Judith und Hugo müssen sich fragen, ob ein Paradies unter Palmen wirklich über tiefgreifende Verwesungsprozesse hinwegtäuschen kann.

Über Paul Ruban

Paul Ruban wurde in Winnipeg, Kanada, geboren und ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Übersetzer. Er lebt in Kanada und in Deutschland. »Der Duft des Wals« ist sein erster Roman, der in Kanada zu einem Überraschungserfolg wurde.

Jennifer Dummerist freie Journalistin, Übersetzerin und Vermittlerin Québecer Kultur in den deutschsprachigen Raum. Sie studierte französische Literaturwissenschaft in Mainz, Berlin und Montréal und übersetzte u. a. Joséphine Bacon, David Goudreault und Marie-Anne Legault.

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Paul Ruban

Der Duft des Wals

Roman

Aus dem Französischen von Jennifer Dummer

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Zitat

Céleste

Waldemar

Hugo

Judith

Ava

Céleste

Hugo

Judith

Ava

Waldemar

Ava

Judith

Céleste

Hugo

Judith

Hugo

Judith

Ava

Céleste

Waldemar

Hugo

Judith

Ava

Waldemar

Hugo

Céleste

Judith

Ava

Waldemar

Judith

Céleste

Hugo

Ava

Waldemar

Judith

Hugo

Belén

Danksagung

Impressum

Für Paavo und Béa.

Ich liebe euch wie verrückt und so sehr mit dem riesengroßen Herz eines Wals.

Der Himmel sah den faulen Prunk an dem Gerippe

Wie Blumen aufgehn; der Gestank

War so entsetzlich, daß dein Leben von der Lippe

Verschwand und fast in Ohnmacht sank.

Charles Baudelaire, Ein Aas

I think you’re headed for a breakdown,

so be careful not to show it.

Laura Branigan, Gloria

Céleste

Ich stelle mir oft folgendes Szenario vor: Mitten im Flug laufe ich zum Notausgang und betätige den roten Hebel. Die Tür der Boeing geht auf und es wird extrem laut. Der Wind bläst mir ins Gesicht, trotzdem gelingt es mir wie durch ein Wunder, die Notrutsche durch selbstbewusstes und beherztes Ziehen zu aktivieren. Anschließend entledige ich mich meines Blazers, unter dem ich einen Fallschirm trage. Ich drehe mich noch ein letztes Mal zu den Passagieren um, streiche mir theatralisch die Haare aus dem Gesicht und schicke sie alle – mit einem schelmischen Lachen und funkelnden Augen – zur Hölle.

Ein Szenario, das in einer Schublade in meinem Kopf schlummert.

Denn die traurige Wahrheit ist, dass ich durch den Gang schlurfe und wie eine gesprungene Schallplatte mit gestellter, honigsüßer Stimme immer wieder frage: »Feuchte Tücher? Wet towelettes? Feuchte Tücher?«

Es ist meine letzte Gabe vor der Landung. Eine Art Reinigungsritual – die Gelegenheit für all diese Idioten, sich die Sünden der vergangenen fünf Flugstunden abzuwischen. Gut in den Urlaub zu starten, geschniegelt und sauber.

Barmherzig wie ein Priester, der seinen Schäfchen die Hostie auf die Zunge legt, nehme ich jeweils ein Tuch zwischen Daumen und Zeigefinger und überreiche es. Eins für 4C, die heimlich versucht hat, eine zu dampfen. Eins für 13B, der, als ich den Servicewagen vorbeigeschoben habe, absichtlich meinen Po gestreift hat. Eins für 17D, der mich ständig antanzen ließ und mir seinen Becher unter die Nase hielt, als würde der Wodka aus mir herausfließen. Tücher für das Paar auf 26A und 26B mit den orangenen Gesichtern – wahrscheinlich das Resultat eines gemeinsamen Solariumbesuchs, der sie auf die tropische Sonne »vorbereiten« sollte –, das auf die Toilette verschwand, um sich einen Platz im Mile High Club zu sichern. Ein Tuch für 27F, die während der Turbulenzen absichtlich das Anschnallzeichen ignoriert hat. Nachdem sich diese blöde Kuh abgeschnallt hat, ist sie schnell in die Toilette, um sich zu mausern: riss sich den Wollpullover vom Leib und tauschte ihn gegen ein Sommerkleid und Sandalen.

Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich bei diesem Flug in den Süden dabei war, diese ganzen Charterflüge, die in meinem Kopf zu einem einzigen geflügelten Albtraum verschmelzen. Und je mehr Jahre vergehen, desto mehr scheinen sich die Urlauber zurückzuentwickeln und lassen mich am Schicksal unserer Spezies zweifeln.

Halbwegs normal schien heute nur die Familie in Reihe 8. Mutter, Vater und Tochter, die artig auf einem Etch A Sketch auf ihren Knien malte.

Eine gewöhnliche Familie ohne Drama, so wie ich sie mag.

Aber ich war zu voreilig.

Während die Eltern mit Nackenhörnchen um den Hals schliefen, schlich die Kleine mit voller Blase zur Toilette. Da sie besetzt war – von dem orange getünchten Pärchen –, kehrte sie an ihren Platz zurück und versuchte, ihre Eltern zu wecken. Doch es war nichts zu machen, die beiden schliefen tief und fest. Panisch fasste die Kleine unter ihren Sitz zur Rettungsweste und legte sie sich an. Warum auch immer, vermutlich ein Hilferuf. Als sie dann auch noch anfing, die Weste aufzublasen, brannte mir die Sicherung durch. Mit zuckendem Augenlid stürzte ich mich auf Mutter und Vater und schüttelte sie wie eine Packung Tomatensaft.

Zu sagen, ich würde meine Berufswahl nicht bereuen, wäre gelogen. Mir tut es noch immer leid, den Ruf nach einem religiösen Leben in meiner Jugend ignoriert zu haben – diese leise Stimme in mir, die ich leichtfertig überhört habe. Ich wäre sicher eine gute Nonne geworden. Meine Mutter meinte es gut, als sie sagte, ich würde auch so den Menschen auf gewisse Art und Weise helfen, in den Himmel zu kommen. Hätte sie doch nur eine Ahnung davon, was ich in tausend Metern Höhe alles ertragen muss. Dieses ganze Gerede und all das Zeug, das ich mit einem Lächeln servieren muss … Den Party-Chaoten, die sich um die Wette ins Koma saufen. Den frisch Vermählten, die glauben, sie könnten sich alles erlauben, nur weil sie in den Flitterwochen sind. Den jungen Eltern, die mit Augenringen bis zum Bauchnabel Babys auf ihrem Schoß hüpfen lassen und hoffen, dass eine Woche Cluburlaub die erloschene Libido wieder entfacht. Der geschiedenen Dame auf der Jagd nach jungen Männern, die den Ausschnitt ihres Badeanzugs vor ihrem Tauchlehrer ein Stück tiefer ziehen wird. Dem trübseligen Witwer, der sich auf der Tanzfläche gegen jeden reibt, weil er die Leere in sich füllen will. Der Großfamilie, die sich eigentlich nicht ausstehen kann, mithilfe von reichlich Rum-Cola aber ihr Bestes geben wird.

Ich ertrage sie nicht mehr. Wie lange noch bis zur Rente? Meiner letzten Berechnung zufolge muss ich diesen Luftzirkus nur noch sechs Jahre ertragen … Vorausgesetzt, dieser Billiganbieter geht vorher nicht pleite und nagelt seine Flotte zusammen mit meiner Altersvorsorge am Boden fest.

Doch bei der ganzen Nörgelei sehe ich auch die Vorteile meines Jobs. Zum Beispiel die Aussicht auf eine Woche Urlaub in der Sonne nach getaner Arbeit. Wie die, die mich nebenbei gesagt erwartet, sobald wir gelandet sind.

Denis – der Flugkapitän – gibt mit knisternder Stimme durch, dass der Landeanflug begonnen hat. Denis ist nicht nur ein Kollege, sondern auch ein langjähriger Freund. Sein nüchterner Ton bei den Durchsagen bringt mich immer zum Schmunzeln. Sobald das Mikro aus ist, ist er der Erste, der Witze über Flugzeugabstürze macht.

Ich setze mich auf den Notsitz und schaue durch das Fenster. Unter uns ziehen das ruhige Meer und Palmen vorbei. Als das Fahrwerk ausgefahren wird, führe ich eine Reihe verinnerlichter Rituale aus. Ich richte meinen Seidenschal, trage Lippenstift auf, reibe meine Hände mit Jojobacreme ein. Und verborgen vor den Blicken anderer bete ich in meiner Blazertasche einen Bernsteinkranz herunter, ein Geschenk zu meiner Erstkommunion, das mich überall begleitet, wie im Himmel, so auf Erden. Denis mag ein noch so herausragender Pilot sein, ich überlasse lieber nichts dem Zufall.

Bis die Räder endlich den Asphalt berühren, behalte ich die junge Passagierin vor mir im Auge. Sie ist kreidebleich und sucht verzweifelt nach der Kotztüte. Ich halte sie ihr sofort – dank einer Abfolge perfekt abgestimmter Bewegungen – unter das Kinn. Die Reifen treffen auf den Boden, die Passagierin wird nach vorne geworfen und übergibt sich. In der Kabine wird geklatscht und gejubelt. Möge der Urlaub beginnen.

Waldemar

»Heiliger Christophorus, mach, dass meine Hände stark und meine Augen wachsam sind und dass ich niemandem auf meinem Weg schade. Beschütze mich und beschütze alle, die mir durch jedes Übel und jedes Unheil helfen. Lehre mich, das Gefährt zum Nutzen anderer zu bedienen, und die Liebe zur Geschwindigkeit abzuwehren. Führe uns sicher an unser Ziel, so dass ich auf meinem Weg stets freundlich und höflich bin. Amen.«

Dieses Gebet baumelt eingeschweißt und mit umgeknickten Ecken an meinem Rückspiegel. Und verdreht sich in jeder Kurve.

Das Gefährt, das es schützt, ist ein Golfcart, das keine 40 Kilometer die Stunde schafft. Ich hielt es trotzdem für angebracht, es dem Schutz des Heiligen Christophorus, dem Patron aller Autofahrenden, zu unterstellen.

Als ich das Gebet aufgehängt habe, haben sich meine Kollegen des Hotel Nuevo Gran Palacio über mich lustig gemacht: »Hey, viejito, du willst mit deinem Rennwagen doch etwa keinen Crash verursachen? Oder während der zehnsekündigen Fahrt gegen eine Palme donnern?«

Natürlich sind meine Wege nicht weit. Von dem kleinen Wachhäuschen am Straßenrand unter dem großen Bogenportal des Hotels bis zum Vorplatz sind es höchstens 800 Meter. Vor dem Häuschen halten die Kleinbusse vom Flughafen gerade so lange, wie es dauert, die neuen Gäste auszuladen, anschließend verschwinden sie in einer Staubwolke in Richtung weiterer Badeorte entlang der Küste und kehren dann zum Flughafen zurück – ein immerwährender, endloser Kreis.

Die Familie, die ich gerade aufgelesen habe, mag es lieber still, keinen Small Talk. Ich hatte es im Laufe der Jahre mit genug Touristen zu tun, um zu wissen, wann ich reden kann und wann ich lieber schweige. Ich begnüge mich damit, auf die Annehmlichkeiten des weitläufigen Hotelkomplexes zu zeigen, den ich wie meine Westentasche kenne, und so sachlich wie höflich zu sagen: »Da sind die Tenniscourts … gleich daneben ist die Poollandschaft. Zu Ihrer Rechten sind Minigolf und Riesenschach. Und sehen Sie den Kran da oben auf dem Hügel? Wir bauen gerade einen riesigen nagelneuen Pavillon mit 200 Luxuszimmern und einem Schwimmbad mit Sauna. Alles nur vom Feinsten. Sie sollten zur Eröffnung wiederkommen. Nächsten Sommer, wenn alles gut geht.«

Ich betrachte einen Betonmischer in einer Ecke der hochgelegenen, gewaltigen Baustelle. Seine Mischtrommel dreht sich langsam, wie die Erde, trostlos um die eigene Achse. Plötzlich entleert sie eine breiige Betonlava in eine Schubkarre, um die eine Handvoll Arbeiter steht. Über ihren sonnengebräunten Gesichtern wackeln Helme hin und her, drei Nummern zu groß und aus billigem Plastik. Ich kenne einige davon, wir winken uns zu.

Ich blicke im Rückspiegel zur Mutter. Eine hübsche Rothaarige mit blasser Haut, üppig, um die 40. Sie starrt ins Leere und schiebt sich mit verkrampftem Kiefer schweigend die Nagelhaut ihrer Finger zurück. Ich stelle mir ihren scheuen Blick hinter der großen Sonnenbrille aus Schildpatt vor, der fragt, was sie hier bloß soll. Es gibt erstaunlich viele Urlauber, die bei ihrer Ankunft im Cluburlaub aussehen, als wären sie gerade auf dem Jupiter gelandet.

Ihren Arm hat sie um ihre Tochter gelegt, die ich auf zehn oder elf schätze. Die Kleine dreht munter und gewissenhaft an den Knöpfen eines Etch A Sketch. Ich sehe nicht, was sie malt, doch so konzentriert, wie sie dabei ist, muss sie eine Künstlerin sein.

Ich suche im Rückspiegel ihre Augen und frage: »Was malst du, Señorita?«

»…«

»Ava, der Mann hat dich was gefragt«, brummt ihr Vater neben mir.

»Eine künftige Frida Kahlo!«, sage ich den Eltern zuliebe.

»Ihr Spezialgebiet ist der Realismus«, prahlt der Vater. »Viele Stillleben. Obstkörbe, Vasen und so was. Gerade malt sie eine Palme, die sie im Flughafen gesehen hat.«

»Eine Palme in einem Flughafen! Na, wenn sie Palmen mag, kriegt sie hier reichlich davon«, antworte ich und deute mit dem Kinn auf die endlose Reihe am Wegrand.

Ich bin die Strecke schon so oft gefahren, dass es auch mit verbundenen Augen ein Leichtes wäre. Trotzdem habe ich es jetzt, warum auch immer, versäumt, den Fuß vor dem Bremsbuckel vom Gas zu nehmen. Wir holpern mit voller Wucht darüber. Meine Passagiere schreien simultan auf. Ein Golfcart federt die Erschütterungen des Lebens nicht ab. Ich werfe mir meine Unachtsamkeit vor.

»Mist!«, ärgert sich das Mädchen und beugt sich über ihre kleine Plastiktafel. »Jetzt ist alles weg.«

»Das macht nichts, Spatz«, versucht sie ihre Mutter zu beruhigen. »Hier sind noch so viele Palmen, die du zeichnen kannst … Hey, Señor! Können Sie nicht aufpassen!?«

»Aber natürlich, bitte entschuldigen Sie …«, stammle ich und verabschiede mich in Gedanken von dem Trinkgeld.

Der Mann greift zum beigen Haltegriff an der Decke des Carts und dreht sich ruckartig zu seiner Frau nach hinten.

»Verdammt, Judith! Wie redest du denn mit ihm!? Wir sind zwar in einem Fünfsternehotel, aber die Angestellten sind doch nicht unsere Lakaien.«

»Hugo, er fährt wie ein Verrückter und hat dadurch Avas Bild gelöscht«, hält sie dagegen.

»Dann zeichnet sie die blöde Palme eben noch mal. Gelöschtes kann neu entstehen.«

Mit Unbehagen umklammere ich das Lenkrad und tue, als würde ich ihren Streit nicht hören. Auch das Mädchen scheint abgeschaltet zu haben. Sie sinkt in ihren Sitz, als schäme sie sich für ihre Eltern, und macht sich daran, die leere Fläche ihres Etch A Sketch wieder zu schwärzen.

Zum Glück sind wir gleich da. Wir erreichen das Rondell mit dem Brunnen, den eindrucksvollen Vorplatz des Hotels.

»Da wären wir«, verkünde ich und betätige die Bremse ganz vorsichtig. »¡Bienvenidos al Nuevo Gran Palacio!«

Kaum ist der Motor aus, springen die Eltern blitzschnell von ihren Sitzen. Hätte das Cart Türen, hätten sie sie vermutlich so sehr zugeknallt, dass sie aus den Angeln geflogen wären. Das Mädchen malt hingegen still mit dem Kopf nach unten weiter.

Ich nehme die Koffer und stelle sie vorsichtig auf dem weißen Marmorboden in der Halle ab. Der genannte Hugo bedankt sich bei mir und drückt mir unbeholfen zwei amerikanische Dollar in die Hand. Seinen Unmut versucht er mit einem Kommentar zu meinen schwarzen Lederhandschuhen zu überspielen, die ich beim Fahren trage: »Echt stylish, deine Handschuhe! Wie bei Steve McQueen.«

»Gracias, Señor«, erwidere ich höflich, ohne auf seine Schmeichelei hereinzufallen.

In dem Moment taucht Luis Miguel auf. Der neue Chefconcierge ist ein selbstgefälliges kleines Dickerchen mit nach hinten gegelten Haaren, der ständig mit der Goldkette um seinen Hals spielt. Seit er von der Leitung einen Ohrknopf bekommen hat, hält er sich für den Nabel der Welt. An mich wendet er sich nur noch, wenn er etwas braucht, so wie jetzt: »Oye, viejito, meine Kofferträger haben alle zu tun. Tu mir den Gefallen und bring das Gepäck der Familie auf deren Zimmer, während sie einchecken. ¿Vale?«

Gerne würde ich sagen: »Luis Miguel, falls du es vergessen hast: Ich war dreißig Jahre lang Gepäckträger. Ich war sogar der allererste, als das Hotel eröffnet hat, zu einer Zeit, in der das ›Nuevo‹ in ›Nuevo Gran Palacio‹ wirklich ›nuevo‹ war, zu einer Zeit, in der du noch Sternenstaub warst. Ich weiß, dass du mich letztes Jahr zu den Carts versetzt hast, weil ein alter Knochen wie ich am Empfang nicht zu dem jungen und sexy Image passt, das du den Gästen vermitteln willst. Dabei wissen alle im Hotel, dass ich dein bester Gepäckträger war. Also nimm deinen ›Gefallen‹ und steck ihn dir dorthin, wo keine Sonne scheint. Cabrón.«

Doch ich sage nur: »Aber gerne, Luis Miguel.«

»¡Gracias, viejito!«

Er lächelt mir zu, klopft mir auf den Rücken und entfernt sich langsam.

Während sich die Eltern an der Rezeption anmelden, sitzt die Tochter im Schneidersitz auf dem Rand eines riesigen Kunstteichs in der Mitte der Empfangshalle. Sie hat ihr Etch A Sketch auf dem Schoß und malt die großen Koikarpfen aus dem Teich erstaunlich realitätsgetreu.

Ich stelle den Gepäckwagen neben ihr ab, gehe in die Hocke, ziehe ein Tütchen aus meiner Westentasche und sage: »Gib mir deine Hand!«

Ich klopfe mit den Fingern gegen das Tütchen, so dass Fischflocken auf ihre kleine Kinderhand rieseln.

Sie erstrahlt.

»Und jetzt?«

»Jetzt wirfst du sie ins Wasser. Aber versuch die Kleinen zu treffen. Es sind immer die dicksten Dickwänste, die alles fressen.«

»Wie im Leben auch.«

»Du weißt, wie der Hase läuft«, gratuliere ich und tätschle ihr den Kopf. »Eine echte Minimarxistin.«

Beim Aufrichten knacken meine Knie.

»Wir sehen uns gleich auf eurem Zimmer, wenn deine Eltern mit dem Check‑in fertig sind«, sage ich, während ich zu dem Gepäckwagen gehe.

Ava nickt und hebt kurz die Hand. Dann streut sie weiter Flocken auf die Karpfen, die die Wasseroberfläche abknutschen. Fast wie Küken in einem Nest, die ihre Schnäbel in Erwartung eines Wurms aufreißen.

Ich schiebe den Wagen in den Aufzug. Die glänzenden Kupfertüren schließen sich, lassen mich mit meinem Spiegelbild allein. Schon verrückt, wie alt ich auf einmal aussehe. Ich erkenne dieses Gesicht kaum wieder, diese alte und zerfurchte Haut, die überall zusammenfällt. Vielleicht sähe ich ohne den Schnauzer jünger aus? Nein, dann wären die Falten über meiner Lippe nur noch präsenter … Ich betrachte meine hängenden Ohrläppchen, mit denen ich wie ein Basset Hound aussehe. Meine Haare sind angegraut, mehr grau als schwarz. Der einzige Trost: Sie scheinen noch gute Wurzeln zu haben. Was lässt sich über das einst so kantige und inzwischen schlaffe Kinn sagen? Ganz zu schweigen von den hängenden Lidern, ihrer feinen und knittrigen Haut? Und wenn ich mich liften lassen würde? Schönheitschirurgie ist letztlich nicht nur etwas für Frauen …

Ich ziehe mit den Zeigefingern die Augenlider hoch, als die Tür aufgeht.

Vor mir steht eine Familie in Badesachen, die mich perplex ansieht: Sie denken bestimmt, ich wäre übergeschnappt. Ich lächle nervös, schaue nach unten und mache, dass ich aus dem Fahrstuhl komme. Ich schiebe den Wagen im Schnellschritt vor mir her und tue, als würde ich nicht hören, wie die Familie in meinem Rücken laut loslacht.

Im Flur treffe ich kurz darauf auf Belén, die einen großen Rollbehälter mit Bergen von schmutzigen Laken manövriert. Meine geliebte Belén, so viel mehr als ein einfaches Zimmermädchen: mein Herz, meine Sonne, meine Welt. Ich mache ihr schon seit Jahren den Hof, und bekomme seit Jahren immer wieder einen Korb. Auch wenn mir ihr Lächeln verrät, dass ihr meine Avancen schmeicheln.

Als sich unsere Wege kreuzen, stoße ich meinen Wagen absichtlich gegen ihren Behälter.

»Ups, verzeih, mein Engel. Deine verhängnisvolle Schönheit hat mich kurz abgelenkt.«

»Haha. Komm, Waldemar, lass mich vorbei. Ich muss die Wäsche in die Waschküche runterbringen und dann wieder hochkommen und die Zimmer fertig machen.«

»Deine neue Spange steht dir übrigens ausgezeichnet … Auch wenn du sie eigentlich gar nicht brauchst. Ich fand dein Gebiss immer toll.«

»Danke«, erwidert sie und hält sich verlegen eine Hand vor den Mund. »Ich dachte mir, es ist nie zu spät, um sich sein Lachen richten zu lassen.«

»Na hör mal, dein Lachen ist doch perfekt!«

Ich stütze meine Ellenbogen auf dem Wagen ab, lehne mich nach vorne und verliere mich in ihren lächelnden, kastanienbraunen Augen. Ich bewundere das Rosa, das sie auf ihre feinen Lippen aufgetragen hat, die winzigen Schönheitsflecken auf ihren Wangen, ihre Kurven in der pastellgrünen Uniform. Mir gefällt einfach alles an ihr, auch ihre Haare, die sie in einem Dutt trägt, und die elegante graue Strähne, die sie natürlich belässt. Und jetzt die Zahnspange.

»Heirate mich!«, hauche ich ihr zu.

»Dafür hast du zu wenig Geld, Waldi«, albert sie herum und tätschelt mir sanft die Wange. »Und jetzt weg mit dir!«

»Aber mein Herz gehört dir!«

»Und meins gehört Óscar.«

»Ach komm schon, Belén! Dein Mann ist vor vier Jahren in die USA gegangen. Du weißt genauso gut wie ich, dass es mit euch vorbei ist.«

»Er hat versprochen, mich nachzuholen, sobald er seine Papiere hat.«

Ich ziehe ein Unterlid herunter, um ein »ja klar« anzudeuten, dann lege ich meine Hand auf ihre.

»Was willst du nur mit 52 da drüben tun?«

»Lass mich vorbei, Waldemar!«, sagt sie mit rollenden Augen.

»Nur wenn du am Freitag mit mir zusammen Bachata tanzt. Wir harmonieren perfekt beim Tanzen.«

»Ich kann Freitag nicht.«

»Dann nächsten Freitag. Was sagst du?«

»Nein.«

Ich presse resigniert die Lippen zusammen und schiebe meinen Wagen beiseite, um sie vorbeizulassen.

»Du weißt, dass ich dich schon immer liebe.«

»Ja, ich weiß, Waldi«, flüstert sie, während sie mir in die Augen schaut.

Dann setzt Belén ihren Behälter schwungvoll in Bewegung.

»Es geht einfach nicht!«, sagt sie, zeigt dabei auf den Ring an ihrer Hand und signalisiert mir so, dass sie immer noch sehr verheiratet ist.

Sie folgt dem Flur und ich sehe ihr noch eine gefühlte Ewigkeit nach. Als sie um die Ecke verschwindet, fallen weiße, leichte Laken tänzelnd vom Himmel und begraben mein Herz unter sich.

Sie fehlt mir schon jetzt, weshalb ich ihr eine Nachricht schreiben muss. Aber ich finde weder die richtigen Worte, noch den nötigen Charme. Nach zwei verunglückten und gelöschten Versuchen entscheide ich mich für die schlichte Fröhlichkeit eines Emojis.

Das kleine gelbe Gesicht meiner Wahl zeigt ein albernes Zahnspangenlächeln.

Zufrieden schicke ich es ab.

Mit meinem Generalschlüssel öffne ich die Tür zum Zimmer der neuen Gäste, trete ein und stelle die Koffer in die Ecke. Nachdem ich mich versichert habe, dass die Tür wirklich zu ist, lasse ich mich auf eines der beiden Kingsize-Betten fallen. Ich streiche mit der Hand über die Decke und muss seufzen. Feinste Baumwolle aus Ägypten, siebenhundert Fäden pro Quadratzoll. Kurz darauf drehe ich mich zu meinem Bettgenossen – ein weißes Handtuch, zu einem eleganten Schwan gefaltet. Er starrt mich an.

»Und du? Was würdest du an meiner Stelle tun? Mein verrücktes Unterfangen aufgeben, Belén erobern zu wollen?«

»…«

»Ich weiß, ich weiß, das geht schon viel zu lange. Aber was soll ich machen, ich habe nur Augen für sie. Entweder Belén oder keine.«

»…«

»Keine!? Geht’s noch? Lieber sterbe ich.«

Nach den vielen Jahren in meinem Beruf verfüge ich über eine Art innere Uhr, die mir hilft einzuschätzen, wie lange neue Gäste brauchen, um einzuchecken und ihr Zimmer zu finden. Und das quasi bis auf die Minute genau. Meine innere Uhr sagt mir, dass sich meine Zeit auf dem Bett dem Ende neigt.

Ich stehe mit einem Ruck auf, streiche, um meine Spuren zu verwischen, die Decke glatt, glätte meine graue Uniform, glätte mein silbernes Haar und spurte zur Tür. Meine Mundwinkel sind noch nicht ganz hochgezogen, da höre ich schon die Schlüsselkarte die Tür entriegeln.

Ich sage: »Herzlich willkommen auf Ihrem Zimmer!«

Die Familie tritt schüchtern ein und sieht sich voller Bewunderung um.

»Wow!«, gibt sich Judith verblüfft.

Ich merke ihr an, dass sie lieber woanders wäre. Trotzdem bemüht sie sich, riecht an dem Strauß Rosen, der erst vor Kurzem auf den Tresen der Kochnische gestellt wurde.

»Ich-werd-nicht-mehr! Seht euch das Bidet an! Und den Whirlpool auf dem Balkon!«, sprudelt es aus Hugo heraus. »Es ist sogar noch schöner als auf den Bildern im Internet.«

»Ich mag die Schwäne«, flüstert Ava, als sie die Handtuchfiguren auf den Betten entdeckt, dann wickelt sie ein Stück Willkommensschokolade aus und steckt es sich in den Mund.

Ich beuge mich zu ihr hinunter und sage leise: »Wenn du näher rangehst und genau hinhörst, erfährst du, worüber sie reden. Aber du musst dich beeilen, bevor sie davonfliegen.«

Während sie ihren Kopf dicht an die Baumwollschwäne hält, reiche ich den Eltern ein Prospekt.

»Was ist das?«, fragt Hugo.

»Eine Auswahl an Kissen, um Ihnen die Nächte so angenehm wie möglich zu machen. Sie haben die Wahl.«

Ava, abgelenkt von dieser neuen Sache, erkundigt sich: »Ein Kissen-Menü?«

»Ganz genau. Es ist für jeden etwas dabei. Orthopädische Kissen. Kissen mit Memory Foam. Antiallergische Polyesterkissen mit silikonisierten Hohlraumfasern. Mikrogelkissen. Und nicht zu vergessen das Gänsefederkissen ultraslim, bestens geeignet für Rückenschläfer wie mich. Es gibt sogar ein Kissen für Schwangere.«

»Das brauchen wir ganz sicher nicht!«, wirft Hugo ein. »Dem Hahn haben wir längst das Wasser abgestellt, wenn du verstehst, was ich meine.«

Er zwinkert mir komplizenhaft zu und macht mit einer Fingerschere schnipp, schnapp vor seinem Schritt. Die Augen seiner Frau werden auf einmal feucht, etwas, was ich als Bedauern darüber interpretiere, keine weiteren Kinder bekommen zu haben.

»Ja, ein Kind ist echt viel«, übertreibt sie und kann ihre Enttäuschung kaum verbergen. »Jede Menge Arbeit!«

»Ich kann euch hören«, brummt Ava, während sie einem der Handtuchschwäne über den Kopf streichelt.

Ich wechsle schnell das Thema: »Wenn Sie wünschen, können Sie Ihre Kissen auch mit Duft wählen: Kamille, Lavendel oder Jasmin!«

»Meine Güte, was für eine Auswahl«, zwingt sich Judith ab.

»Also ich nehme dann mal das Ultraslim!«, sagt Hugo. »Mit Jasminduft.«

»Und für Sie?«

»Das orthopädische. Mit Lavendel.«

»Eine ausgezeichnete Wahl«, versichere ich ihnen auf meinem Weg zur Tür. »Ein Kollege wird sie Ihnen später bringen. Haben Sie einen angenehmen Aufenthalt! Und falls Sie etwas brauchen, zögern Sie bitte nicht. Wir sind für Sie da.«

»Mouchas grâsias«, versucht sich Hugo und drückt mir genauso umständlich wie vorhin einen Dollar in die Hand.

Ich bedanke mich mit einem unterwürfigen Lächeln.

Bevor ich die Tür schließe, sehe ich noch die kleine Ava, wie sie vor dem Bett kniet und einem Schwan etwas ins Ohr flüstert.

Ich frage mich, was sie ihm wohl erzählt.

Hugo

Bumm.

Eine dumpfe, aber heftige Explosion.

Ich reiße sofort die Augen auf.