Der Duft von Honig und Lavendel - Donatella Rizzati - E-Book
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Der Duft von Honig und Lavendel E-Book

Donatella Rizzati

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Beschreibung

Viola Consalvi, eine junge Heilpraktikerin aus Rom, hat es sich zur Aufgabe gemacht, anderen zu helfen. Vor allem durch ihr besonderes Gespür für die Kraft der Kräuter, das sie für jeden die richtige Pflanze finden lässt. Doch als ihr geliebter Mann plötzlich stirbt, bricht Violas Welt zusammen. Sie fühlt sich einsam und unsicher – und sie hat ihr Gespür für die Kräuter verloren. Viola weiß nur einen Ausweg: Sie steigt in den Zug nach Paris. Hier, mitten in Montmartre, befindet sich der einzige Ort, der Viola immer Sicherheit gegeben hat: der kleine Kräuterladen von Gisèle. Als Viola den Laden betritt und seine magische Atmosphäre spürt, weiß sie sofort, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat. Und dann ist da noch Romain, der nette Barista aus dem Café um die Ecke …

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Buch

Viola Consalvi, eine junge Heilpraktikerin aus Rom, hat es sich zur Aufgabe gemacht, anderen zu helfen. Vor allem durch ihr besonderes Gespür für die Kraft der Kräuter, das sie für jeden die richtige Pflanze finden lässt. Doch als ihr geliebter Mann plötzlich stirbt, bricht Violas Welt zusammen. Sie fühlt sich einsam und unsicher – und sie hat ihr Gespür für die Kräuter verloren. Viola weiß nur einen Ausweg: Sie steigt in den Zug nach Paris. Hier, mitten in Montmartre, befindet sich der einzige Ort, der Viola immer Sicherheit gegeben hat: der kleine Kräuterladen von Gisèle. Als Viola den Laden betritt und seine magische Atmosphäre spürt, weiß sie sofort, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat. Und dann ist da noch Romain, der nette Besitzer des Cafés um die Ecke …

Autorin

Donatella Rizzati wurde 1973 in Rom geboren und hat Literatur- und Sprachwissenschaft studiert. Sie übersetzt Belletristik aus dem Englischen und dem Französischen. »Der Duft von Honig und Lavendel« ist ihr erster Roman.

Donatella Rizzati

Der Duft von Honig und Lavendel

Roman

Deutsch von Judith Schwaab

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »La piccola erboristeria di Montmartre« bei Mondadori, Mailand.
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Donatella RizzatiLicense agreement made through Laura Ceccacci Agency S.R.L.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur MünchenUmschlagfoto: © FinePic®, MünchenRedaktion: Viktoria von SchirachSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-20100-5V002
www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz
www.penguinrandomhouse.de

Für Giò.Immer und für immer bei mir.

Erster Teil

Prolog

Paris, November 2004

Keuchend erklomm ich die Rue Lepic. Über mir ballte sich der bleigraue und wolkenverhangene Himmel zusammen. Die Straße, normalerweise voller Touristen, Autos und geschäftiger Passanten, war merkwürdig still. Ich spürte die Kälte durch die Schnürstiefel und die dicke Strumpfhose hindurchkriechen, die ich unter der Hose trug. Dankbar für die Wärme, die er mir spendete, kuschelte ich mich in den schweren Mantel aus grobem Wollstoff und zog mir die Kapuze über den Kopf. Ich kam am Café des Deux Moulins vorbei, einer kleinen, bis auf den knallroten Anstrich eher unspektakulären Eckbar, die durch einen Film eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte und seitdem Trauben von Touristen und Schaulustigen anzog. Ich bevorzugte andere Cafés, die zwar weniger en vogue, dafür aber erschwinglicher waren, wenigstens für eine mittellose Studentin wie mich. An diesem Tag war ich mit einem ganz bestimmten Plan losgezogen: Ich wollte getrocknete Caldendulablüten besorgen, die ich für ein medizinisches Öl brauchte. Das war meine Hausaufgabe für den praktischen Kurs in Kräuterheilkunde am nächsten Tag. Ich besuchte erst seit kurzem die Schule für Naturheilkunst voller Begeisterung und in dem Bewusstsein, dass jeder Erfolg mich einen Schritt weiter wegführte von der Welt meines Vaters und seiner wissenschaftlichen, aseptischen und mechanischen Medizin. Unter allen Fächern war mir die Kräuterheilkunde immer am liebsten gewesen. Ich liebte es, die therapeutischen Eigenschaften der Heilkräuter zu studieren, und konnte es wie immer kaum erwarten, das Gelernte in die Praxis umzusetzen.

Getrocknete Ringelblumen zu finden war nicht allzu schwierig, doch an diesem Tag war ich so düsterer Stimmung, dass ich die Suche nach den Blüten zum Vorwand nahm, um einen Spaziergang auf den Hügel von Montmartre zu unternehmen. Normalerweise besserte sich meine Laune spürbar, wenn ich durch diese engen Gassen schlenderte, vorbei an den alten Jugendstilhäusern, die in allen erdenklichen Schattierungen von Weiß schimmerten, doch an diesem Nachmittag ließen auch sie mich gleichgültig. Ganz am Ende der Rue Lepic bog ich in die erste Seitenstraße rechts ab und betrachtete im Vorbeigehen flüchtig die Schaufenster, als eine Auslage meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Es war ein kleiner, altmodischer Laden, eingezwängt zwischen einer modernen, neonbeleuchteten Boutique und einem eleganten Einrichtungsgeschäft. Das Lädchen wirkte vollkommen fehl am Platz, wie das Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit, das sich zu seiner großen Überraschung in einer Straße des einundzwanzigsten Jahrhunderts wiederfand. Es war eine Art Bioladen, jedoch ganz anders als die üblichen Geschäfte dieser Art, in deren Auslagen sich meist ein unübersichtliches Sammelsurium aus Shampoos, Cremetiegeln, Teekannen und Duftkerzen türmte. Nein, dieser Laden war anders: In seinem großen Schaufenster mit dem malvenfarbenen Holzrahmen war einzig und allein ein prachtvolles, reich verziertes Kräuterbuch ausgestellt, das vermutlich aus dem Mittelalter stammte, auf einem Ständer ruhte und vom warmen Schein einer Lampe beleuchtet wurde, in deren Lichtkegel hauchfeiner, goldfarbener Staub tanzte. Die vergilbten Seiten waren mit zahlreichen Zeichnungen von Pflanzen bedeckt und mit fast unleserlichen, seltsam spitzen Buchstaben beschriftet. Auf dem Ladenschild stand einfach nur: FAMILIE FLEURE-BOURRY, SEIT 1895.

Manchmal stelle ich mir die Frage, ob die Wirklichkeit tatsächlich existiert oder doch nur eine Spiegelung unserer eigenen Ängste und uneingestandenen Sehnsüchte ist. Ich habe keine Antwort darauf, und doch weiß ich, dass jenes magische Schaufenster, das ich vermutlich in einem anderen Moment gar nicht bemerkt hätte, plötzlich neben mir auftauchte und mich wie durch Zauberhand aus meiner düsteren Stimmung riss. Ich konnte gar nicht anders, als einzutreten. Und kaum hatte ich einen Fuß hineingesetzt, verschwand das Paris, aus dem ich kam, und ich hatte das Gefühl, die Schwelle zu einer längst vergangenen Epoche zu überschreiten. Mir kam eine Stelle aus Boccaccios Decamerone in den Sinn, die wir erst ein paar Tage zuvor in der Schule durchgenommen hatten und in der von Klosterzellen die Rede gewesen war, »voll von Büchslein mit Latwergen und Salben … voll von Schachteln mit mancherlei Konfekt, voll Karaffen und Phiolen mit wohlriechenden Wassern und Ölen … schier überlaufen, sodass diese weniger Mönchszellen denn Spezerei- und Salbenläden gleichen.«

Mehr als ein Kräuterladen schien mir dies eher eine altmodische Apotheke zu sein, und ganz im Gegensatz zu dem äußeren Anschein entpuppte sich das Geschäft als ausgesprochen geräumig. In der Luft hing ganz zart ein Geruch, der mir gleich in die Nase stieg und sich dann zu einem Kaleidoskop aus verschiedensten Aromen entfaltete, von denen ich verschiedenste Blüten, Rinden, Borken und Gewürze herausschnupperte. Schmeichelnde Düfte, die wie Balsam auf mich wirkten und mich im Nu von allen Sorgen und Nöten befreiten. Die Wände waren bis zur Decke mit schlichten Regalen aus schimmerndem Nussbaumholz bedeckt. Dieses kostbare dunkle Holz (das mir vertraut war, weil mir meine Mutter mit ihrem Faible für Nussbaum einen solchen Schreibtisch ins Zimmer gestellt hatte, den ich mit allerlei Aufklebern verziert hatte) war in nüchterne Quadrate unterteilt, doch die herrliche Maserung mit ihren eleganten Kringeln und Schnörkeln wirkte wie das Werk eines Kunsttischlers. Jedes Regalbrett enthielt dicht an dicht alphabetisch beschriftete Gefäße aus Glas und Keramik sowie kleine Jutesäckchen mit Samen, getrockneten Blüten und Blättern mit Aufschriften, die selbst mir unbekannt waren. Cajeput, Calabar, Campecheholz, Cascara, Cervina-Minze, Ceylon-Zimt, Chaldron – und das war erst der Beginn der Reihe C.

Es war unglaublich.

Nachdem mein Blick über die Wände, die Decke mit den Holzbalken, den Boden mit den schwarz und sandfarben gewürfelten Fliesen und die überall aufgestellten Körbe gewandert war, fiel er endlich auf die Person, die hinter dem Tresen stand und mir die ganze Zeit geduldig und höflich zugesehen hatte.

Unsere Blicke begegneten sich, und einen Moment lang verlor ich die Fassung … Aus diesen Augen sprach eine uralte Weisheit, sie verrieten Klugheit und Gelassenheit, aber da war auch ein Anflug von Verschmitztheit.

Es war keine junge Frau mehr, sicherlich jenseits der sechzig, zumindest nach dem grauen, glatten Haar zu schließen, das sie zu einem kurzen Bob geschnitten trug. Sie war eher schlank und mittelgroß, mit einem spitzen, hellen Gesicht und strahlenden, himmelblauen und verblüffend klaren Augen, an denen ich mich gar nicht sattsehen konnte.

Sie lächelte mich an. »Bonjour. Kann ich Ihnen helfen?«

Einen Moment lang war ich versucht, meinem ganzen Ärger und Frust Luft zu machen. »Oh ja, und wie Sie mir helfen können«, hätte ich am liebsten geschrien. »Haben Sie ein Mittel gegen das Versagen? Einen Tee für enttäuschte Liebe? Oder einen Absud gegen die Angst, nie mehr geliebt zu werden? Ist denn auf dieser Welt nirgendwo ein Kraut gewachsen, das einem das Gefühl gibt, gut genug zu sein, und sei es nur für fünf Minuten?« Ich biss mir auf die Zunge, um nicht vor dieser freundlichen Unbekannten eine Szene zu machen.

Doch sie musste einen sechsten Sinn besitzen, denn sie sah mich eindringlich an und erwiderte: »Ich besitze zwar nicht die Gabe, Schicksale zu ändern, doch gegen Kummer habe ich noch immer ein Kraut gefunden. Sie sind keine Französin, stimmt’s?«

Verblüfft über ihre Hellsichtigkeit gab ich nicht gleich eine Antwort. Auf einmal überkam mich große Lust, dieser Frau mein Herz auszuschütten. Vielleicht weil meine Traurigkeit einfach schon zu lange andauerte, vielleicht weil ich niemanden hatte, dem ich mich anvertrauen konnte; jedenfalls vermittelte mir diese so warmherzig und mütterlich wirkende Frau ein Gefühl der Wärme, das ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr empfunden hatte.

Ich begann zu weinen.

Eine Tränenflut überkam mich. Ich weinte über das verbitterte Schweigen meines Vaters und das Kind in mir, dem eine einzige Umarmung genügt hätte, um sich wieder geborgen zu fühlen.

Ohne ein Wort wartete die Frau, bis ich mich ausgeweint hatte. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, kam sie hinter dem Tresen hervor, reichte mir ein Papiertaschentuch und streichelte mir lächelnd über die Wange. »Es ist bestimmt nur halb so schlimm, da bin ich mir sicher. Hast du Lust, ein wenig zu reden?«, sagte sie in einem vertraulichen Ton, bei dem es mir sogleich besser ging.

Ich fühlte mich frei. Frei, endlich ich selbst zu sein, und das dank einer mir vollkommen Unbekannten.

Wie ich herausfand, hieß die Unbekannte Gisèle, war verheiratet, hatte zwei Kinder, drei Enkel sowie zwei jüngere Schwestern, mit denen sie das Geschäft führte. Eigentlich kümmerten sich nur sie und ihre Schwester Sabine darum, denn Yvette, die Jüngste, hatte einen italienischen Ingenieur geheiratet, mit dem sie nach mehreren Auslandsaufenthalten jetzt in Rom gelandet war. Außerdem erfuhr ich, dass sich Gisèles Familie bereits seit mehr als hundert Jahren mit Arznei- und Heilkräutern befasste. Ich hatte gar nicht falschgelegen, als mich das Geschäft an eine Apotheke erinnert hatte: In der Tat war Gisèles Urgroßvater Arzt gewesen und hatte dabei ein besonderes Interesse für Pflanzenheilkunde entwickelt. Im Laufe der Generationen hatte die Leidenschaft der Familie für Heilkräuter schließlich zur Eröffnung des ersten Geschäfts in Paris für pflanzliche Arzneimittel geführt. Selbst die beiden Weltkriege hatte das Geschäft beinahe spurlos überstanden, abgesehen von wenigen unverzichtbaren Modernisierungen.

Diese Geschichte erzählte mir Gisèle, nachdem sie mir einen beruhigenden Aufguss aus Lindenblüten und Melisse mit einem Hauch Ingwer gebracht hatte. »Um das Eis zu brechen«, sagte sie.

»Leider wird der Laden mit mir und meinen Schwestern ein Ende finden«, schloss sie mit einem Seufzer und führte ihre Tasse an die Lippen.

»Wie das?«, fragte ich.

»Weil weder meine Kinder noch meine Enkel daran interessiert sind, die Familientradition fortzuführen. Meine Tochter Mélusine ist Anwältin, und mein Sohn Florian arbeitet auf einer Bohrinsel. Ihre Kinder sind noch jung, aber in einem Punkt haben sie klare Vorstellungen: Sie wollen einmal viel Geld verdienen, und das kann man nicht mit einem Kräuterladen.«

Wie schade, dachte ich. Gerade erst hatte ich dieses wunderbare Fleckchen in Paris entdeckt, und schon drohte es zu verschwinden. Gisèle bemerkte meine Enttäuschung, denn sie fügte mit einem Lächeln hinzu: »Aber noch stellt sich dieses Problem nicht, denn meine Schwestern und ich haben nicht vor, das Geschäft aufzugeben. Nein, Yvette kommt sogar zu Weihnachten nach Hause; wenn du sie kennenlernen willst, komm doch einfach zu uns. Sie wird dir gefallen!«

Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich zu Hause.

1

Rom und Paris, Sommer 2015

Nach meinen drei Jahren in Paris, wo ich Naturheilkunde studiert hatte, war ich sofort nach Rom zurückgekehrt.

Man könnte denken, dass das nur logisch war, denn mit dem Diplom in der Tasche stand der Eröffnung einer Praxis in meiner Heimatstadt nichts mehr im Wege. Doch in Wirklichkeit hatte dieser Abschluss damit nur wenig oder gar nichts zu tun. Schließlich hatte ich keinerlei Bindung mehr an Rom, meine Familie hatte sich in den drei Jahren kein einziges Mal gemeldet, weil sie mir meine Flucht und all das, was darauf gefolgt war, nicht verziehen hatte, und so hatte ich eigentlich keinen rechten Grund, Paris zu verlassen. Doch genau das war der springende Punkt. Plötzlich war mir das Leben, das ich dort führte, wie ein Traum erschienen, aus dem ich früher oder später erwachen musste. So konnte es einfach nicht weitergehen. Ich spürte, dass meine Wurzeln woanders lagen.

Die Rückkehr war alles andere als leicht gewesen. Es war schwer, eine Stelle zu finden, doch am Schluss schaffte ich es: Ich wurde von einer bekannten Naturheilpraxis, der Praxis Ferri, angestellt. Die Arbeit mit den Patienten bereitete mir große Freude. Anderen den Weg zur Heilung zu zeigen, gab mir mehr Selbstsicherheit und half mir dabei, meine persönlichen Probleme zu überwinden. Vor allem jedoch fand ich etwas, was noch wichtiger und noch größer war und mein Leben mit Licht und Wärme erfüllte: Michel, meinen Ehemann, meine große Liebe, und noch dazu mein Lehrmeister und Freund. Durch ihn öffnete sich mein Herz, ganz einfach und ohne Wenn und Aber. Sechs Jahre lang lebte ich in einer goldenen Hülle des Glücks und der Zufriedenheit, und ich dankte jeden Tag aufs Neue dem Moment, an dem ich beschlossen hatte, Paris zu verlassen. Doch offenbar sollte mein Glück nicht von Dauer sein, denn innerhalb nur weniger Monate entriss mir das unergründliche Schicksal Michael, und meine Welt brach zusammen. Wieder war ich allein und leer, und das Leben hatte keinen Sinn mehr für mich.

Auf einmal stand mir meine selbstauferlegte Isolation in ihrer ganzen grausamen Deutlichkeit vor Augen. Nach Michels Tod hatte ich ein Jahr lang nichts anderes getan, als um mich herum Mauern zu errichten und in ihnen Türen, die ich nach seinem Tod geschlossen und nie wieder geöffnet hatte. Das Schlafzimmer, das Arbeitszimmer, die Besenkammer, die wir zu einer kleinen Bibliothek umfunktioniert hatten: Mein Lebensraum war auf ein paar Quadratmeter zusammengeschmolzen. Meine gesamten Habseligkeiten hatte ich zwischen dem Wohnzimmer und der Küche untergebracht, wo ich provisorisch hauste. Ich hatte ein Bollwerk aus Gegenständen errichtet, die die erschreckende Leere um mich herum verdecken sollten. Doch es handelte sich nicht nur um einen physischen Rückzug. Ich ging nicht mehr ans Telefon und irgendwann auch nicht mehr an die Tür. In der ersten Zeit nach Michels Tod waren noch viele Leute gekommen, um mich zu besuchen – Kollegen aus der Praxis, die mit mir trauerten, meine alten Schulfreundinnen, die mir Trost spenden wollten. Ich hatte so viele Beileidsbekundungen erhalten, dass sie am Ende unerträglich für mich waren. Jeder Blick, jedes Wort, jede zärtliche Geste war mir zu viel, und wer versuchte, mich aus meiner Verzweiflung zu reißen, wurde mir zum Feind. Ich wollte leiden, und ich brauchte den Schmerz, um dem Schuldgefühl, das noch verheerender gewesen wäre, keinen Raum zu lassen. Ganz allmählich hatte ich dann erreicht, was ich wollte, und mein Telefon hörte auf zu klingeln. Nur Yvette, die Schwester von Gisèle – der Inhaberin des Pariser Kräuterladens, der zu meinem zweiten Zuhause geworden war –, gab sich nicht geschlagen und klopfte nach wie vor ungebeten an meine Tür, die fast immer geschlossen blieb, während ich mucksmäuschenstill dahinter stand und lauschte, bis sie es aufgab und sich ihre Schritte auf dem Flur entfernten.

In dieser emotionalen Wüste war es eigentlich ein logischer Schritt, nach Frankreich zurückzukehren. Auslöser war ein Morgen wie so viele, als ich am Küchentisch vor meinem Kaffee saß und mich auf einen weiteren Tag ohne Ziel und Sinn vorbereitete. Ich schaltete den Fernseher ein, um die Stille zu übertönen, als auf dem Bildschirm ein weißer Sandstrand gezeigt wurde, umspült von den herrlichsten himmelblauen Wellen, die ich jemals gesehen hatte. Es war nur eine Frage von Sekunden, um in Gedanken von diesem Himmelblau zu den Augen zurückzukehren, die nicht nur genau diese Farbe hatten, sondern auch dieselbe Ruhe ausstrahlten. Die Sehnsucht überkam mich wie eine gewaltige Flut, und mit den Tränen kam auch die Antwort, einer ausgestreckten Hand gleich.

Ich wollte wieder in diesem ruhigen Blau versinken.

Ich wollte zu Gisèle zurück.

Nach Hause.

Und so kam es, dass ich jetzt, mit zweiunddreißig Jahren, wieder vor dem malvenfarbenen Schaufenster stehe, unschlüssig, ob ich gleich klopfen oder doch Gisèle vom Hotel aus anrufen soll, um ihr meinen Besuch anzukündigen. Die Stehlampe ist immer noch an ihrem Platz und wartet über dem Kräuterbuch darauf, eingeschaltet zu werden, doch die nur angelehnte Tür sagt mir, dass bereits jemand drinnen ist. Vielleicht sind Gisèle oder Sabine im Hinterzimmer und prüfen die Bestände, oder sie kochen sich noch schnell einen Tee. Es ist seltsam, wieder hier zu sein, so viele Erinnerungen stürzen auf mich ein und lassen mir nicht die Zeit für einen klaren Gedanken. Kurzerhand drücke ich die Tür auf. Der angenehme und doch durchdringende Geruch des Ladens, den ich nie vergessen habe, schließt mich sogleich in die Arme wie ein alter Bekannter. Ich bleibe stehen, wo ich bin, und lasse mich von dem Duft durchdringen, strecke eine Hand aus und streiche langsam über die dunkle und glatte Holzoberfläche des nächstgelegenen Regals. Wie in einem Film sehe ich mich ganz oben auf der Leiter sitzen und sorgfältig Dosen und Säckchen abstauben und Bestandslisten ausfüllen. Und ich denke an den Tag zurück, als Sabine mit einer gewaltigen Kiste voller Damaszenerrosen erschien und mir den Auftrag gab, alle Blütenblätter abzuzupfen, zu mazerieren und daraus die entsprechende Tinktur zuzubereiten. Unter der Haut spüre ich diese Erinnerungen an die wunderbare Zeit wie einen kostbaren Nektar, der mir die Kraft von damals wiedergeben soll. Fast alles in diesem Raum hat etwas mit mir zu tun. Ich mache ein paar behutsame Schritte im Halbdunkel, lasse den Blick zärtlich durch den Raum schweifen, scheine mich jedoch nicht mehr allzu gut zurechtzufinden, denn prompt stoße ich gegen einen Schachtel, die daraufhin umfällt. Aus dem Hinterzimmer höre ich eine atemlose Stimme sagen: »Sekunde, ich bin gleich da!«. Kurz darauf taucht eine weibliche Gestalt auf. Die Haare trägt sie noch immer kinnlang geschnitten; sie sind höchstens ein wenig grauer. Der Hauch eines Lächelns umspielt ihre Lippen, während sie mit ihren himmelblauen Augen ins Halbdunkel späht, um zu erkennen, wer da wohl gekommen ist. Dann sieht sie mich.

Wenige Sekunden.

Sie bleibt schlagartig stehen, mit halb offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. Ein einziges Wort kommt ihr über die Lippen, kaum mehr als ein raues Flüstern. »Chérie …«

Einen Augenblick später liege ich in Gisèles Armen. So bleiben wir eine Weile stehen, halten einander eine gefühlte Ewigkeit fest. Mit tränenverschleierten Augen trete ich einen Schritt zurück und schaue meine Freundin an. Es sind mehrere Jahre vergangen, und doch sieht man dies ihrem Gesicht nicht an, ganz anders als bei meinem, in dem der Kummer tiefe Furchen um Augen und Mund gegraben hat. Gisèle streicht mir zärtlich das Haar aus der Stirn und lässt ihre Hand einen Augenblick lang auf meiner Wange ruhen, hebt dann sanft mein Gesicht an und schaut mir tief in die Augen. Ganz sachte steigt ein Gefühl des Friedens in mir auf. Es ist die Farbe dieser Augen, so blau wie das Meer der Karibik, die mich hierher zurückgeführt hat.

»Es ist schön, dich zu sehen, petite. Komm, wir kochen uns einen Tee, und dann erzählst du mir alles.«

Gisèle ist einfach wunderbar. Auf einmal scheint es mir, als wären nur wenige Tage vergangen und nicht ein ganzes Jahrzehnt. Ich habe ihr gar nicht viel zu erzählen, denn Yvette hat sie immer auf dem Laufenden gehalten. Auch ich hatte ihr oft geschrieben, allerdings nur bis Michels Tod. Danach hatte der Schmerz mich buchstäblich gelähmt und mich in eine vertrocknete Pflanze verwandelt.

Ich folge Gisèle ins Hinterzimmer und setze mich auf einen der Schemel. Ganz allmählich spüre ich, wie sich die Anspannung in meinen Schultern löst und verschwindet. Der kleine, warme Raum nimmt mich in sich auf wie ein schützender Kokon, und ich lasse mich von seiner Stille wiegen, nur durch die leisen, präzisen Bewegungen von Gisèle unterbrochen, die Wasser aufsetzt und zwei Porzellanfilter mit einer Mischung aus Blüten, Samen und getrockneten Blättern füllt. Melisse für einen nervösen Magen, Lindenblüten für einen erholsamen Schlaf, Weißdorn für ein wundes Herz …

Gisèles Worte tauchen aus der Tiefe meiner Erinnerung auf. Wie oft hat sie mir genau diesen Heiltrunk zubereitet? Seit ich zum ersten Mal in den Laden und das Leben der Schwestern Fleuret-Bourry trat, hat es für mich immer ein freundliches Wort, eine liebevolle Geste oder eine Ermunterung gegeben, die mich meine Sorgen vergessen ließen und mir wieder Kraft und Freude am Leben schenkten.

Gisèle gießt kochendes Wasser über die Filter auf unseren Tassen und legt die kleinen Porzellandeckel darauf, damit das kostbare Aroma des Aufgusses nicht entweicht. Binnen weniger Minuten wird der Tee fertig sein. Gisèle nimmt neben mir vor dem kleinen, quadratischen Tisch Platz, reicht mir die Tasse und schaut mir wortlos in die Augen. Ich lege die Hände um das warme Porzellan, hole tief Luft, doch genau in dem Moment, als ich den Mund öffnen will, kommt sie mir zuvor.

»Ich freue mich so, dass du zurück bist, chérie. Fühl dich nicht verpflichtet zu irgendwelchen Erklärungen. Das ist nicht nötig. Mir reicht es, dass du beschlossen hast, zu uns zurückzukehren. Ich kann mir vorstellen, wie einsam du dich fühlst. Du kannst hierbleiben, solange du willst. Und wann immer dir danach zumute ist zu reden, werde ich dir zuhören.«

Wie schafft es diese Frau nur, immer genau die richtigen Worte im richtigen Moment zu finden? Sie sagt mir das, was ich hören will, und nimmt mich einfach wieder in ihr Leben auf, ohne dafür etwas zu verlangen, obwohl ich doch damals ohne ein Wort einfach verschwunden bin. Diese Frau hat mich unterstützt, wie es meiner Mutter niemals gelungen ist, und sie tut es immer noch. Ich stehe auf, gehe um den Tisch herum und schließe sie in meine Arme, schmiege mein Gesicht an ihre Schulter.

»Ich hab dich gern, Gisèle. So gern.«

Endlich bin ich wieder daheim.

Beruhigungstee

Zutaten: Lindenblüten, Melisseblätter, Passionsblume, Sternanis, Lakritzwurzel, Weißdornblüten, Orangenschalen

Kochendes Wasser in eine große Tasse gießen. Jeweils einen Teelöffel der getrockneten Pflanzen dazugeben und abdecken. Zwanzig Minuten ziehen lassen, dann den Aufguss mit einem möglichst feinmaschigen Sieb abseihen. Am besten trinkt man diesen Tee ungesüßt oder mit einem kleinen Löffel Honig verfeinert.

Die kombinierten Wirkstoffe der Pflanzen in diesem Aufguss haben fast augenblicklich einen beruhigenden Effekt. Insbesondere Lindenblüten und Melisse fördern den Schlaf und bekämpfen nervöse Zustände, während die Passionsblume gegen nervlich bedingte Magenverstimmungen hilft, krampflösend wirkt und zum allgemeinen Wohlbefinden beiträgt.

2

Ich öffne die Augen, doch es ist immer noch dunkel, und ich brauche ein paar Sekunden, bis mir wieder einfällt, dass ich in einem Pariser Hotelzimmer bin. Instinktiv fällt mein Blick auf das erleuchtete Rechteck des Weckers auf dem Nachttischchen: drei Uhr nachts. Gestern bin ich relativ früh zu Bett gegangen, in einen tiefen, aber traumlosen Schlaf gefallen, doch jetzt bin ich plötzlich hellwach. Ich lege den Kopf zurück aufs Kissen, richte den Blick auf die Decke und erkenne dort langsam ein paar verschwommene Umrisse. Ich will noch nicht aufstehen, spüre aber, dass die Unruhe überhandzunehmen droht, und weiß, dass es mir sicherlich nicht mehr gelingen wird, noch einmal einzuschlafen.

In der Dunkelheit dieses kleinen Zimmers fühle ich mich auf einmal schrecklich verloren. Ich wälze mich im Bett, versuche, meinen Geist zu beruhigen, doch das genügt nicht. Wie immer in solchen Momenten wird Michels Gestalt immer stärker, und der Schmerz, den ich mittlerweile so gut kenne, durchbohrt mein Herz mit tausend Nadeln.

Ich denke an eines der vielen Male zurück, als wir über die Iridologie sprachen. Michel war ein überzeugter Anhänger dieser Theorie, während ich eher skeptisch war. Am Ende aber hatte ich es dann doch zugelassen, dass er meine Iris fotografierte.

»Die Augen sind der Spiegel der Seele: Was glaubst du, woher dieser Spruch kommt?«

Michel saß auf dem Schreibtisch seines kleinen Arbeitszimmers, während er den Monitor seines PCs zu mir drehte, um mir die Großaufnahme meiner Iris zu zeigen. »Schon im alten Ägypten studierte man die Iris – du kennst doch den Augenkult des Horus? Auch die chinesische Medizin sucht im Auge nach Symptomen für Erkrankungen anderer Organe; selbst die moderne Schulmedizin untersucht das Auge zu diagnostischen Zwecken, wie du sicherlich weißt.«

Ich betrachtete mein riesig vergrößertes Sehorgan mit der dunkelbraunen Iris, deren dichtes chromatisches Spektrum hie und da von violetten Flecken und Äderchen durchbrochen wurde.

Michel ließ sich von meinem Schweigen nicht entmutigen. »Jetzt hör mir mal zu. Ich will nur, dass du einen Schritt weitergehst. Die Iris ist wie eine Landkarte. Sie enthält Informationen, die sogar in die Zeit vor unserer Geburt zurückreichen, Erinnerungen, die unsere Gefühle konditionieren. Ihre Merkmale, ihre Flecken und Zeichen können uns bei der Lösung von Problemen helfen, deren sich manchmal sogar der Patient selbst nicht bewusst ist …«

»Das weiß ich doch«, unterbrach ich ihn. »Ich weiß alles über die Iridologie und ihren diagnostischen Nutzen für die Medizin, aber mit allem anderen gehst du mir zu weit!« Ohne es zu wollen hatte ich die Stimme erhoben, und Michel schaute mich überrascht an.

»Wieso?« Das war keine Frage. Michel konnte einfach nicht glauben, dass ich so verbohrt war.

»Weil es eine reine Abstraktion ist, das menschliche Auge als Landkarte der Emotionen zu betrachten. Worauf begründet sich diese Theorie? Gibt es irgendwelche empirischen Beweise? Fallstudien? Wie kannst du so sicher sein, dass dein Standpunkt korrekt ist? Immerhin geht es um menschliche Wesen.«

»Du hast kein Vertrauen in mich«, sagte er langsam.

»Nein, das ist es nicht, ich …«

»Hör mir zu«, wiederholte er, erneut in leidenschaftlichem Ton. »Ich beschäftige mich seit mehr als zwanzig Jahren mit dem Studium dieser Theorie, ich habe Tausende von Fällen untersucht, und alle haben sie meine Erkenntnisse untermauert. Ich bitte dich nur, nicht so stur zu sein und mir eine Chance zu geben, dir zu demonstrieren, was ich meine.« Er nickte in Richtung des Fotos, das auf dem Bildschirm wartete, und sah mich so eindringlich an, dass ich einfach nicht Nein sagen konnte.

»Meinetwegen«, gab ich nach. »Lass hören.«

Er lächelte, und wir tauschten die Plätze. »Gut«, sagte er und umarmte mich von hinten. »Jetzt schau mal: Die rechte Iris steht für die väterliche Linie und die Beziehung zum Vater …«

Das war nicht gerade eines meiner Lieblingsthemen. Michel spürte das, drückte sich noch fester an mich, als wolle er mich beschützen, und fuhr mit seiner Analyse fort. »Also, siehst du hier, dieser Fleck …« Er unterbrach sich und blickte konzentriert auf die Fotografie. Auf einmal rückte er weg, und als ich den Blick hob, sah ich auf seinem Gesicht einen so angestrengten Ausdruck, dass ich lächeln musste.

»Was ist denn?«, fragte ich.

»Nein, nichts, es ist bloß … Irgendwie sind mir deine Augen ein Rätsel. Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, würde ich denken, dass du ein Geheimnis hast.«

»Aber wovon redest du denn?«

»Da, dieser Fleck«, er zeigte auf eine Stelle im unteren Bereich meiner Iris, »befindet sich an einer eher ungewohnten, ja sogar unwahrscheinlichen Stelle. Ich weiß ja, dass du zu deinem Vater eine extrem schlechte Beziehung hast, aber das hier ist so ausgeprägt …«

»Michel, ich bitte dich«, unterbrach ich ihn rasch, bevor er weiterreden konnte, »zwing mich nicht, auf dieses Thema einzugehen. Du weißt, dass ich nicht gern über meinen Vater rede.«

Er ging vor mir auf die Knie, und unsere Blicke begegneten sich auf gleicher Höhe. »Na gut, mein Liebes. Lassen wir das Thema. Aber …« Er nahm mein Gesicht in beide Hände. »Mich faszinieren deine wunderschönen dunklen Augen, ich spüre, dass sie mir sehr viel über dich verraten könnten, wenn du mich nur machen ließest. Hast du vielleicht Angst, ich könnte etwas Unangenehmes entdecken?«, fragte er mit spitzbübischem Lächeln.

Wenn er mich so ansah, schmolz ich jedes Mal dahin. Ich konnte ihnen einfach nicht widerstehen, diesen warmen Händen, diesen Augen, die tief in meine Seele blickten.

Ich rückte immer näher, und meine Lider schlossen sich bei einem langen, zärtlichen Kuss. »Vielleicht ein anderes Mal. Jetzt kommen mir ein paar andere schöne Sachen in den Sinn, die wir tun könnten. Was meinst du?«

Er stand auf und drückte mich an sich. »Hmm, jetzt bin ich aber neugierig, was du vorschlägst. Deine Geheimnisse können warten«, murmelte er.

»O ja«, flüsterte ich, während er mich entschlossen in die Arme nahm und zu den großen, orientalischen Kissen hinübertrug, die sein kleines Reich zu einem magischen Ort machten. »Wir haben noch das ganze Leben vor uns.«

Ich halte inne, bleibe reglos auf dem Rücken liegen und versuche, ganz allmählich meine innere Mitte zu finden. Das habe ich schon lange nicht mehr getan, doch es ist eine gute Methode, um meine Seele wieder ins Gleichgewicht zu bringen: Ich wende mich an die Energie in mir, diejenige, die mit dem Reiki verbunden ist, jener Lebenskraft, die das Universum trägt. Ich kehre meine Handflächen nach oben, schließe die Augen und konzentriere mich auf meinen Atem, bis in meinen Ohren nur noch das Rauschen der Luft ist, die durch meine Lunge ein- und ausströmt. Nach nur wenigen Augenblicken spüre ich ein Prickeln auf meinen Handflächen, und ich lasse die Energie durch meinen Körper strömen. Ich lege die Hände genau auf die Stelle über dem Herzen auf Höhe des vierten Chakras, das für die emotionale Ebene steht.

Allmählich beruhigt mich die Wärme der Erinnerung, ich spüre, wie mein Herzschlag sich verlangsamt, regelmäßig wird und sich Gelassenheit von der Brust aus in meinem ganzen Körper ausbreitet. Reglos liege ich da und koste dieses Gefühl aus, das ich schon so lange Zeit nicht mehr empfunden habe. Während ich ganz und gar darin aufgehe, gleite ich, fast ohne es zu merken, endlich in einen tiefen, erholsamen Schlaf hinüber.

Drei Stunden später bin ich schon wieder auf den Beinen, dusche schnell und verlasse das Zimmer, wobei ich es wieder einmal vermeide, mich in einem der Spiegel dieses kleinen Hotels zu betrachten. Ich durchquere die Rezeption und steuere mit raschen Schritten den Speisesaal an, wo fürs Frühstück gedeckt ist, doch der Anblick des mit Croissants, Säften, Marmeladen und anderen Köstlichkeiten überladenen Büfetts kann meinen Magen nicht locken. Es ist noch früh, erst sieben Uhr; meine Verabredung im Geschäft ist um halb zehn. Ich könnte mich setzen und wenigstens in aller Ruhe einen Kaffee trinken, doch ich kann einfach nicht lange stillsitzen; eine fiebrige Unruhe treibt mich nach draußen. Die Morgenluft ist mild und warm, und schon bald werden die Straßen mit Menschen, die zur Arbeit gehen, mit Studenten und Touristen angefüllt sein.

Während ich mich von der Rue Malher im Marais in Richtung Montmartre aufmache, spüre ich, wie mich ein Schauder der Freude durchläuft, endlich wieder auf diesen Straßen unterwegs zu sein. Zu Fuß werde ich mindestens eine Stunde brauchen, doch die Entfernung kann mich nicht schrecken, im Gegenteil, dadurch habe ich viel Zeit zum Nachdenken.

Ich komme an dem aggressiven, glitzernden Glaskasten des Centre Pompidou mit seiner Rüstung aus Rohren und Treppen vorbei, auf dessen Vorplatz sich allabendlich eine bunte Mischung aus Straßenkünstlern, Touristen und jungen Müßiggängern versammelt. Ich denke an die Sorglosigkeit und Ausgelassenheit zurück, die ich hier einmal selbst erlebt habe, an die unbekannten Chansons, die sofort zur Musik meines Herzens wurden, spüre wieder die feuchte Hitze der Sommerabende, die ich mit meiner lärmenden Freundesclique an der Seine verbrachte …

Seltsam.

Die einzige Erinnerung, die in meiner kleinen nostalgischen Collage fehlt, ist die an eine Liebschaft.

Bisher hatte ich daran nicht allzu viele Gedanken verschwendet. Eigentlich konnte ich zu jener Zeit nicht auf amouröse Abenteuer zurückblicken, hatte weder verzehrende Leidenschaft noch echten Liebeskummer erlebt, mich überhaupt nie Hals über Kopf verliebt. Jedenfalls besaß mein Leben nur wenig Ähnlichkeit mit dem der jungen, frechen, wagemutigen Heißsporne aus den Filmen und Büchern, die mich als junges Mädchen so begeistert hatten. Da war nichts zu machen: Meine Herkunft und Erziehung als höhere Tochter ließen sich einfach nicht mit dem freizügigen Lebensstil vieler meiner Freundinnen in Einklang bringen, und am allermeisten beneidete ich Marie-Thérèse, mit der ich mir damals meine Wohnung teilte und die zu meiner ersten Reiki-Lehrerin wurde: eine bodenständige und überaus liebenswerte Normannin, die beeindruckende Mengen Wein vertrug und mich bis spät in die Nacht mit Erzählungen von ihren erotischen Abenteuernn unterhielt, bei denen oft auch eine Vertreterin ihres eigenen Geschlechts eine Rolle spielte. Maïté, so ihr Spitzname, war eine Meisterin darin, Bettgeschichten, die bei jedem anderen nur schlüpfrig und peinlich geklungen hätten, mit so viel Unschuld und Humor zu erzählen, dass man nicht anders konnte, als ihr begeistert zuzuhören. Sie war ein sonniges Gemüt, vernarrt in Sex, und ihr stämmiger Körper nahm die Leichtigkeit eines Schmetterlings an, sobald ein Mann die Bildfläche betrat. Um dazuzugehören gab ich vor, mich ebenfalls »amüsieren« zu wollen, allerdings nur mit mäßigem Erfolg.

Vielleicht weil ich aus einer Familie stamme, in der Gefühlsäußerungen schon immer im Sinne vornehmer Zurückhaltung unterdrückt wurden.

Bei Michel hingegen war alles ganz anders.

Auf einmal kommt mir wieder der Ausflug zu einer Wellness-Messe in den Sinn, die in einem winzigen Weiler in Umbrien stattfand. Damals kannten wir uns erst seit kurzem, ich hatte gerade mit meinem Praktikum in der Naturheilpraxis begonnen, und Michel, der zu diesem Zeitpunkt nur mein Lehrer war, hatte mir vorgeschlagen, ihn zu jener Messe zu begleiten, die man auf gar keinen Fall verpassen dürfe. Ich hatte noch nie davon gehört, mich jedoch von seiner Begeisterung anstecken lassen und beschlossen mitzufahren. Wir waren sehr früh am Morgen aufgebrochen, um den ganzen Tag dort zu nutzen. Am Steuer seines alten Clio fuhr er nach einer behelfsmäßigen Karte, die er selbst gezeichnet hatte, wortlos die einsame Straße entlang, die sich durch Ackerland wand. Es war kalt und regnete so heftig, dass man durch die Wassermassen auf der Windschutzscheibe kaum einen Meter weit sehen konnte, doch Michel fuhr unbeirrt immer weiter, während ich selbst schon seit Stunden die Orientierung verloren hatte. Irgendwann bog er auf einen Schotterweg ab, der sich einen Hügel emporwand und uns, wenn es nach der Karte ging, direkt zu besagtem Dorf bringen sollte.

»Ah, endlich!«, rief er zufrieden aus, zog dann mitten in der Steigung die Handbremse und stellte den Motor ab.

Ich ließ staunend den Blick über das nasse Niemandsland schweifen, in dem wir angehalten hatten.

»Willst du damit sagen, dass wir da sind?«

»Nein, ich will damit sagen, dass wir uns endgültig verfahren haben. Und wenn ich weiter so tue, als wäre nichts, haben wir bald auch kein Benzin mehr.«

Stumm riss ich die Augen auf, doch Michel sah mich mit einem so urkomischen Ausdruck gespielter Zerknirschung an, dass wir beide in Gelächter ausbrachen.

»Und ich muss dir noch was sagen«, fügte er hinzu und holte zwischendurch tief Luft. »Ich hab nicht den blassesten Schimmer, was wir eigentlich auf dieser Wellness-Messe sollen, geschweige denn, wo dieses bescheuerte Dorf liegt.« Auf einmal wurde er ganz ernst. »Ich wollte bloß ein bisschen Zeit mit dir allein verbringen, außerhalb der Praxis, und als ich den Flyer mit der Messe sah, schien mir das die perfekte Gelegenheit zu sein … Bist du jetzt sauer?«

Auf meinen Lippen war das Lachen erloschen, doch ich war nicht sauer, kein bisschen.

In jenem Moment sagte ich ihm nicht, dass ich mich über seine Einladung sehr gefreut hatte. Ich beschränkte mich darauf, ihm über die Wange zu streicheln, und ließ meine Hand so lange auf seiner Haut ruhen, bis er sie nahm und küsste.

Ich erinnere mich noch an den Schauder, der mir bei dieser Berührung durch den Arm lief, an die Wärme seiner Lippen, zuerst auf meiner Handfläche und dann auf meinem Mund, an seine Hand in meinem Haar, an die noch zögerliche Zärtlichkeit, mit der er mich zu streicheln begann, und an jenen ersten, zarten, tiefen Kuss, ehe ich mich vollkommen in ihm verlor …

Und da ist es wieder, dieses dumpfe Gefühl in meiner Magengegend. Die Erinnerungen stürzen auf mich ein, und jedes Bild, jede Geste, jedes Wort ist wie eine Nadel aus Eis, die sich mir in die Haut und ins Herz bohrt. Doch jetzt ist nicht der richtige Moment, darüber nachzudenken, ich darf jetzt nicht zerbrechen.

Ich merke, dass ich, in meine Erinnerungen versunken, immer schneller gegangen bin und fast am Ziel bin. Mittlerweile ist es heiß geworden, und mir wird bewusst, dass ich noch nichts gefrühstückt habe und mir ein wenig schwindelig ist. Die Ladenschilder um mich herum haben sich verändert – was nach so vielen Jahren ja normal ist –, und so muss ich mich wohl oder übel auf meine Intuition verlassen.

In einem Pariser Café zu frühstücken war für mich immer schon ein Hochgenuss. Wenn im Winter eine dicke Wolkendecke über der Stadt hängt, aus der es oft genug auch noch regnet, ist es ein herrliches Gefühl, in die Wärme eines Cafés zu treten und das kräftige Aroma des Kaffees und den Duft der zuckrigen, zarten viennoiseries zu schnuppern, der nur leicht süßen Croissants, buttrig zart und nach Vanille duftend, die auf der Zunge zergehen, oder der pains au chocolat mit Schokoladenstückchen in einer hauchfeinen Hülle aus glasiertem Teig … Und dann das Baguette: ein schmaler Streifen aus knusprigem, warmem Brot, das in der Mitte durchgeschnitten und mit Butter und Marmelade bestrichen wird, bevor man es in eine große Tasse Milchkaffee stippt … Und als krönender Abschluss dann ein frisch gepresster Orangensaft, der hauptsächlich zur Absolution dient für das opulente Mahl, das man gerade genossen hat.

Wieder meldet sich mein Magen, doch diesmal haben meine kummervollen Erinnerungen nur wenig damit zu tun: Ich habe schlicht und ergreifend einen Riesenhunger.

Hunger war schon immer qualvoll für mich – ein überaus unangenehmes Gefühl, das am Anfang noch ganz harmlos daherkommt und sich bestenfalls in Trägheit und einem leichten Schwindelgefühl äußert, jedoch sehr rasch, wenn ich nicht wenigstens mit einem Stück Brot meinen Blutzuckerspiegel wieder erhöhe, zu einer deutlichen Verstimmung führt und sich schließlich, wenn ich weiter faste, zu einer blinden Wut steigern kann, die mich dazu bringt, mich auf alles zu stürzen, was halbwegs essbar und in Reichweite ist.

Ich befinde mich mittlerweile in Phase zwei, in der Essen zu meinem absolut vorrangigen Bedürfnis geworden ist. Ich lasse den Blick über die Rue des Abbesses schweifen, in der es jede Menge Lokale gibt, allem Anschein nach jedoch Touristenfallen, auf die ich keine Lust habe. Nein, ich will das richtige Lokal finden und biege deshalb in eine der kleineren, weniger belebten Gassen ab. Oje, jetzt sehe ich, dass es auch einen Grund gibt, warum hier nichts los ist: Um mich herum stehen nur stumme Wohnhäuser, kein einziges Ladenschild, bloß verschlossene Türen. Doch auch die Leute, die hier wohnen, müssen doch irgendwo Kaffee trinken können. Ich beschließe, mich von meiner Nase leiten zu lassen, die es in Momenten wie diesem mit der eines Trüffelhundes durchaus aufnehmen könnte. Die nächste Querstraße zu meiner Linken ist schmal und liegt im Halbdunkel, doch da sie eine angenehme Kühle verspricht, biege ich ab.

Rue Tholozé.

Die Straße führt abschüssig den Montmartre hinab, und nach nur wenigen Minuten kann ich mich zu meinem olfaktorischen Spürsinn beglückwünschen, denn ich habe eine Glastür mitsamt einem Schild entdeckt, das aus der Mauer ragt und eine riesige gelbe Tasse dampfenden Kaffees zeigt. Gerade will ich eintreten, als mein Blick auf den Namen des Lokals fällt.

The Arizona Hairy Biker’s Bar.

Haariger Biker?

Die Bar zum langhaarigen Motorradfahrer? Aus Arizona?

Sieht ganz so aus, als hätte ich ausgerechnet das einzige Lokal in ganz Paris gefunden, das von einem pensionierten Harley-Fan aus den Staaten mit Fusselbart und Holzfällerhemd als Markenzeichen geführt wird. Dabei hatte ich mich schon so auf ein gemütliches Café gefreut … Doch mittlerweile ist mein Hunger so groß, dass mir nichts anderes übrigbleibt als einzutreten.

Klingeling. Ein zartes Bimmeln ertönt, als ich die Tür öffne. Mit Erleichterung bemerke ich, dass an den Wänden keine der üblichen verrosteten Auspuffrohre, Lenkstangen oder andere Devotionalien des Motorsports hängen. Auch von dem behaarten Biker, vor dem das Schild außen warnte, ist weit und breit nichts zu sehen. Hinter einem Holztresen samt einer Zinnverkleidung, die original aus den Zwanzigerjahren zu stammen scheint, steht ein Typ mit dem Rücken zu mir. Er ist konzentriert damit beschäftigt, eine Reihe von eleganten Teebüchsen in ein hohes Regal einzusortieren.

Er hat kurze Haare.

Wie es scheint, hat die Türglocke nicht genügt, um mich anzukündigen. Gerade will ich dies mit einem lauten Bonjour selbst übernehmen, als mein Blick auf die Kuchenvitrine fällt. Donnerwetter – wenn das mal keine leckere Auswahl ist! Allein vom Hinschauen läuft mir das Wasser im Mund zusammen, und auch der Duft ist vielversprechend. Wenn dieser Motorradfreak auch noch in der Lage ist, einen anständigen Milchkaffee zu brühen, dann bin ich gerettet.

»Bonjour«, murmele ich höflich.

»Wir haben noch zu, kommen Sie um halb zehn wieder.«

Diese barsche Zurechtweisung kommt aus der Richtung des Büchsenstaplers, der sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, sich umzudrehen.

»Entschuldigung, aber die Tür ist doch offen.«

»Nur für die Lieferanten. Wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, das Schild zu lesen, wüssten Sie, dass Publikumsverkehr erst ab halb zehn ist.«

Ich bin verdattert, einerseits durch den anmaßenden Ton, andererseits, weil mir ein rascher Blick auf die Uhr zeigt, dass es zwanzig nach neun ist. Okay, das Schild mit den Öffnungszeiten habe ich übersehen, aber sollte denn ein Spielraum von zehn Minuten nicht drin sein? Was sind diese Franzosen doch für Prinzipienreiter!

Ich schlage meinen strengsten Ton an und erwidere: »Ich möchte ja nicht aufdringlich wirken, Monsieur, aber ich finde, Zeit ist ein dehnbarer Begriff. Wir haben jetzt zehn vor halb. Wenn ich mir in der Zwischenzeit ein Croissant nehme und einen Platz suche, vergehen allein schon drei Minuten, und bis ich es gegessen habe, sind weitere sechs vorbei. Könnten Sie mir nicht den Gefallen tun und wenigstens meine Bestellung aufnehmen, damit ich um Punkt halb zehn meinen Café crème auf dem Tisch stehen habe und Sie nicht weiter belästigen muss?«

Irgendwie müssen meine Worte zu ihm durchgedrungen sein, denn auf einmal hört er mit der Sortiererei auf und dreht sich langsam zu mir um. Er schaut mich von Kopf bis Fuß an und verschränkt dann die Arme vor der Brust.

Er hat nicht mal den angekündigten Bart.

»Sie wirken nicht aufdringlich, Madame, sondern Sie sind es. Auch wenn Sie sich um einen perfekten Akzent bemühen, entlarven Sie sich durch Ihr penetrantes Benehmen auf der Stelle als Ausländerin, und angesichts Ihres Pochens auf Lässigkeit würde es mich nicht wundern, wenn ich eine Italienerin vor mir hätte. Wie auch immer, ich wiederhole: Das Lokal öffnet Punkt halb zehn, und wenn es Ihnen nicht passt, zehn Minuten zu warten, können Sie sich gerne nach draußen begeben und ein anderes Lokal suchen.«

Ich – penetrant? Was fällt dem eigentlich ein, diesem ungehobelten Rocker und Sohn eines ausgewanderten amerikanischen Kuhhirten mit Kuhfladen an den Händen? Seine wohlziselierte kleine Ansprache hat mich fuchsteufelswild gemacht. Wie redet der denn mit mir? Und was sollte eigentlich diese unverschämte Anspielung auf die Italiener und ihren Hang zur Lässigkeit? Ich bin so wütend, dass mir keine Erwiderung einfällt, sondern ich einfach nur dastehe und ihn anstarre, Gott sei’s gelobt mit geschlossenem Mund.

Dann vergesse ich meinen knurrenden Magen und beschließe, dem Knaben zu zeigen, wo der Hammer hängt. »Mir scheint, ich bin nicht der einzige Gast in diesem Land, verehrter Mister Arizona Biker. Allerdings mit dem Unterschied, dass ich nach den Jahren, die ich hier gelebt habe, immerhin gelernt habe, mich höflich zu benehmen, was man von Ihnen mit Ihrer rüden und groben Art nicht gerade behaupten kann. Jedenfalls hält mich hier nichts mehr – lieber verhungere ich, als mich mit einem so ungezogenen, ungehobelten, unverschämten Rüpel wie Ihnen abzugeben!«

Ich drehe mich auf dem Absatz um und habe in zwei großen Schritten die Tür erreicht, reiße sie auf und verlasse mit so viel Haltung, wie es mir meine geschmähte Würde erlaubt, das Lokal, tapfer gegen den Hunger ankämpfend, der mittlerweile mit Zähnen und Klauen in meinem Inneren wütet.

Na gut, mein Frühstück hat sich in Luft aufgelöst, zu meiner Verabredung mit Gisèle komme ich zu spät, weil ich durch das ziellose Umherstreifen in den Straßen und Gässchen vollkommen die Orientierung verloren habe, ganz zu schweigen von der brütenden Hitze, durch die ich schon in aller Herrgottsfrühe schwitze wie ein Ackergaul. Ich versuche, mich abzuregen, doch die Angst, zu spät zu kommen, ist zu groß. Was, wenn Gisèle denkt, dass ich es mir anders überlegt habe? Wenn sie nicht auf mich wartet und ich die Chance auf einen Neuanfang vertan habe? Ich muss mit ihr reden, muss ihr alles erklären. Ich greife nach meiner Handtasche, um mein Handy zu suchen, doch die Aufregung und die Hitze haben sich gegen mich verschworen. Alles dreht sich um mich.

Ein roter Nebel mit lauter schwarzen Pünktchen steigt vor meinem Gesichtsfeld auf.

Dann ist da nur noch Leere in meinem Kopf.

Stille.

Dunkelheit.

3

Die Sonne bahnt sich einen Weg durch schimmernden Nebel und beleuchtet mit ihrem milden Licht die Blätter um mich herum. Sanddorn und orangerote Feuerlilien leuchten auf den Sanddünen, und die frische Meeresbrise zerzaust mir das Haar.

Es ist früh am Morgen, und ich mache einen kleinen Strandspaziergang, bevor ich ins Haus zurückkehre, um für Michel und mich das Frühstück herzurichten. Ich liebe es, auf die Wellen hinauszuschauen, während der Wind mein Gesicht streichelt, und ich denke, wie wunderbar doch mein Leben in den vergangenen Jahren geworden ist. Als ich mich dem Ufer nähere, sehe ich jemanden am Wasser stehen, einen Mann, das Gesicht aufs Meer gerichtet. Noch ein paar Schritte gehe ich weiter, jetzt hat der Mann mich bemerkt und dreht sich um. Mein Herz macht einen Satz, als ich erkenne, dass es Michel ist. Er schaut mich an, lächelt, und wie immer spüre ich, wie mir die Knie weich werden. Er winkt mich zu sich heran, ich lächele und laufe immer schneller auf ihn zu. Michels Blick ist immer noch auf mich gerichtet, die Haare vom Wind zerzaust, die goldbraunen Augen schimmern, sein Lächeln ist wie eine Liebkosung, die mich mehr wärmt als die Sonne. Als ich ihn endlich erreiche, breite ich die Arme aus und drücke ihn an mich, doch er bleibt reglos stehen, die Hände an die Flanken gedrückt. Ich rücke ein wenig von ihm ab und schaue ihm in die Augen, unsere Gesichter sind ganz nah, nur einen Atemzug voneinander entfernt. In seinen Augen mit der dunklen Iris erkenne ich ein heiteres Licht, das mir direkt ins Herz scheint, während er mich weiter anschaut, immer forschender, immer intensiver. Mit seinem Blick erkundet er meine Augen, er entblößt sie, entdeckt jedes Geheimnis darin und befreit mein Inneres von all seinen Schatten, bis meine Seele ganz leicht wird. In diesem Moment hebt er eine Hand und legt sie auf mein Herz, als wolle er es beruhigen und mir Mut und Kraft einflößen. Ich rücke noch näher an ihn heran, um ihn zu küssen, spüre seinen warmen Atem auf meiner Haut, seine Lippen, die mich berühren und meinen Namen sagen …

»Viola.«

»Michel …«, flüstere ich.

»Viola, wach auf«, sagt eine Männerstimme.

Jemand versetzt mir einen leichten Klaps auf die Wange.

Ganz langsam mache ich die Augen auf und blicke in zwei Augen mit grüner Iris, die mich fixieren. Es sind nicht Michels Augen, und der warme Atem ist auch nicht seiner.

»Wie fühlst du dich?« Die besorgte Stimme muss die des Cafébesitzers sein.

Ich unterdrücke einen Seufzer der Enttäuschung und schaue in die grünen Augen, die mich ohne Scheu mustern. Es ist ein intensiver Blick, in dem auch ein Hauch Besorgnis liegt. Fremde Augen, die mich betrachten, ohne mich wirklich zu erkennen. Etwas ganz anderes als die dunkelbraunen Samtaugen meines Mannes, und doch kann ich mich nicht von ihnen lösen.

»Was ist passiert?«, frage ich und blinzele, um den Sichtkontakt zu durchbrechen und meine Verstörung zu überspielen.

»Ich weiß es nicht. Du bist rausgegangen, vor der Tür stehen geblieben, und dann hab ich dich zu Boden fallen sehen. Vielleicht war es die Hitze. Jedenfalls hast du mir einen Mordsschrecken eingejagt.«

Soll das etwa ein Vorwurf sein? Erst schmeißt er mich raus, obwohl ich am Verhungern bin, und dann besitzt er die Frechheit, mir ein schlechtes Gewissen einzureden?

»Ich hab nichts gegessen«, antworte ich trocken, damit klar ist, wer hier wohl das schlechte Gewissen haben sollte.

»Tut mir leid, aber das konnte ich nicht ahnen. Na los, runter damit.« Er hält mir ein Glas an die Lippen, und ich trinke einen Schluck. Orangensaft. Der kühle Trank weckt sofort meine Lebensgeister, noch während er mir die Kehle herunterrinnt. Ich trinke noch ein bisschen, dann schaue ich mich um. Ich liege auf einer harten Fläche, vielleicht einem Tisch. Ich versuche mich aufzurichten, stütze mich auf einem Ellbogen auf, doch mir versagen die Kräfte, und ich bleibe lieber liegen. Der Cafébesitzer stützt mir den Kopf.

»Nicht bewegen. Tief durchatmen.«

Während er mir diese Anweisungen gibt, legt er meine Beine hoch. Dabei rutschen meine weiten Hosenbeine ein wenig hoch, und mir fällt mit großem Schrecken ein, dass ich mir an diesem Morgen nicht die Beine rasiert habe. Hastig rappele ich mich auf, um mich zu bedecken, doch ein heftiger Schwindelanfall hindert mich daran.

»Bleib liegen!«, ruft er und stützt mich ab. »Und keine Sorge, ich hab schon einige Frauenbeine in meinem Leben gesehen. Allerdings keine so stacheligen«, murmelt er mit einem Grinsen.

Jetzt hasse ich ihn endgültig.

Ich mache die Augen wieder zu, um die Peinlichkeit zu überspielen. Ganz allmählich kommt mein Kreislauf wieder in Schwung, und meine Benommenheit löst sich auf.

»Bleib noch ein bisschen unten. Wenn du zu früh aufstehst, wird dir nur wieder schwindelig, und wir sind übermorgen immer noch hier..«

Ich kann es einfach nicht glauben. Noch während dieser Knilch aufopfernd dafür sorgt, dass ich wieder auf die Beine komme, kann er es sich nicht verkneifen, mir vorzuwerfen, dass ich seine Zeit verschwende? Offenbar denkt er nicht im Traum daran, dass er zumindest teilweise selbst schuld an meinem Zustand ist. Wäre ich nicht so ein wohlerzogenes Mädchen, würde ich sagen, dass er nicht nur unerträglich, sondern ein kapitales A…loch ist.

»Na, geht’s schon besser?«, fragt er, während er meine Beine wieder ablegt und sich dann umdreht, um das Glas auf einem Tisch in der Nähe abzustellen.

»Ja«, antworte ich, »trotz deiner Hilfe.«

Er unterbricht seine Drehung, das Glas noch in der Hand, und wirft mir einen verwunderten Blick zu. Ich stütze mich mit Mühe auf einem Ellbogen ab und fahre, ohne ihm die Chance einer Erwiderung zu geben, fort: »Wenn du mir – statt mich mit fadenscheinigen Argumenten aus dem Lokal zu werfen – einfach ein Frühstück serviert hättest, wäre das alles nicht passiert! Ich hätte gefrühstückt, wäre wieder gegangen und rechtzeitig zu meiner Verabredung gekommen« – mein Blick fällt auf die Wanduhr – »und nicht eine halbe Stunde zu spät! Putain!«,rufe ich aus.

Ich kämpfe tapfer gegen den Schwindel an, der mich bei der kleinsten Bewegung erfasst, und versuche, von dem zum Krankenbett umfunktionierten Tisch zu klettern.

»Versuchst du etwa gerade, mir Schuldgefühle zu machen, Viola?« Ich weiß nicht, ob mich die Frage mehr trifft oder die Tatsache, dass er meinen Namen kennt. Der Cafébesitzer stützt die Hände herausfordernd auf einen Tisch. Ich hätte große Lust, ihm mit ein paar saftigen Ohrfeigen das spöttische Grinsen auszutreiben.

»Das ist nicht nötig, natürlich ist es deine Schuld. Aber wenn du das nicht von selbst kapierst, werde ich keine Zeit damit verschwenden, es dir zu erklären.«

Oh Gott, jetzt brauche ich ihm nur noch die Zunge rauszustrecken, und ich hätte mich komplett blamiert. Je eher ich aus dieser Alptraumsituation wieder rauskomme, umso besser. Unbeholfen klettere ich vom Tisch und suche nach meiner Tasche, als mir plötzlich etwas einfällt.

»Woher weißt du eigentlich, wie ich heiße?«

Ungerührt gesteht er: »Das habe ich in dem Ausweis in deiner Brieftasche gelesen.« Sein Lächeln wird breiter. »Und ich hatte mich nicht geirrt. Du bist tatsächlich Italienerin.«

Ein Blick zum Tresen genügt: Da liegt meine offene Tasche, und ihr Inhalt ist auf der Arbeitsfläche verteilt: Brieftasche, Handy, Tempos, Buch, Schminkzeug und anderer Kleinkram. Dieser impertinente Schnüffler! Ich atomisiere ihn mit einem flammenden Blick.

»Schau doch nicht so, als wäre ich freiwillig in diesen heiligen Schrein eingedrungen, ich wollte dir nur die Ambulanz ersparen!«

»Gut gemacht. Dann erlöse ich dich jetzt von meiner Anwesenheit. Gleich kannst du wieder in Ruhe deine Dosen stapeln …«

»Warte einen Moment …«

»Den Teufel werde ich tun. Ich habe nicht die Absicht, auch nur eine Minute länger in dieser armseligen Kneipe zu bleiben und mich von dir beleidigen zu lassen, du ungezogener, ungehobelter …«

»Unverschämter Rüpel, das sagtest du bereits«, erwidert er mit engelsgleicher Miene. »Aber wenn du mir einen Moment zuhören würdest, statt einen hysterischen Anfall nach dem anderen zu bekommen, dann ….«

Hysterisch? Ich? Jetzt reicht’s. »Hörst du jetzt endlich auf? Ich verfluche den Moment, in dem ich diesen Laden hier betreten habe! Du bist schuld daran, dass ich eine sehr wichtige Verabredung verpasst habe mit einer Person, die sich große Sorgen um mich machen wird, und …«

Klingeling. Die Türglocke unterbricht meine Tirade, und ich fahre herum, mit hochrotem Gesicht und geballten Fäusten, verärgert über die Unterbrechung meiner Schmährede. Doch die Worte bleiben mir im Halse stecken, denn die Person, die eintritt, ist die allerletzte, mit der ich gerechnet hätte.

»Viola! Wie fühlst du dich? Alles wieder gut? Chérie, du hast mir einen solchen Schrecken eingejagt … Oh, hallo, Romain, danke, dass du dich so lieb um sie gekümmert hast.«

Gisèle.

Wie hat sie mich bloß gefunden?

Und vor allem, wer ist bloß dieser Romain?

»Hallo, Gisèle«, sagt der Cafébesitzer. »Endlich! Ich wusste schon nicht mehr, wie ich sie bändigen sollte«, sagt er mit einem Blick in meine Richtung.

Von außen betrachtet entbehrt die Szene nicht einer gewissen Komik. Meine Augen wandern von einem zum anderen, während ich krampfhaft versuche, mir auf das, was passiert ist, einen Reim zu machen. Bin ich die Einzige, die nicht eingeweiht ist?

Die beiden kennen sich? Und woher? Und wie lange schon?

»Was für ein Glück, dass Viola ausgerechnet hier reingegangen ist. Stell dir vor, sie wäre in den Armen eines Unbekannten ohnmächtig geworden.«

Das bringt mich schon wieder auf die Palme. Es kann überhaupt nicht die Rede davon sein, dass ich in den Armen dieses Trottels ohnmächtig geworden bin – ich bin auf dem Bürgersteig umgefallen wie ein Sack Kartoffeln, was die blauen Flecken, die sich bereits an Knien, Ellbogen und Kinn zu zeigen beginnen, bezeugen können.

»Aber ich bitte dich, Gisèle. Das hätte doch jeder an meiner Stelle getan.«

Jetzt schlägt dieser eitle Pfau auch noch ein Rad!

Mir platzt endgültig der Kragen. »Dürfte ich mal erfahren, woher ihr beide euch eigentlich kennt, und wie du hierherkommst?«, zische ich Gisèle an.

»Aber, Liebes …«. Meine Freundin sieht mich ratlos an.

»Lass gut sein, Gisèle, ich erkläre es ihr«, unterbricht Romain sie. »Während du ohnmächtig warst, hat dein Handy geklingelt. Ich hatte keine Ahnung, wer du bist, woher du kamst, du hättest ja auch aus dem Irrenhaus geflohen sein können hat … Deshalb bin ich drangegangen. Ich brauchte bloß zu sagen, wo du dich befindest, da erkannte mich Gisèle bereits an der Stimme. Sie sagte mir, wer du bist, und dass ich warten solle, bis sie dich abholt. Dann wurdest du wach und hast mich sofort wüst beschimpft, ohne mir die Gelegenheit zu einer Erklärung zu geben …«

Bei diesen Worten erröte ich. Denn auch wenn sich dieser Romain zu Beginn rüpelhaft benommen hatte, ist es nicht zu leugnen, dass er später versucht hat, mir zu helfen, woraufhin ich … na ja, sagen wir mal, ein wenig ausgerastet bin.

»Wie auch immer, wichtig ist nur, dass alles glimpflich ausgegangen ist«, wirft Gisèle ein, die mittlerweile begriffen haben dürfte, dass unsere Begegnung alles andere als friedlich verlaufen ist. »Na dann, chérie, wenn du dich ein bisschen erholt hast, können wir ins Geschäft gehen. Ich hab ein Schild an die Tür gehängt, dass ich gleich wiederkomme.«

Beim Hinausgehen ruft mein dosenstapelnder Retter mir nach.

»He, Viola! Du willst doch nicht etwa nochmal umkippen, oder?«

Ich drehe mich um, und er drückt mir mit ernster Miene eine Schachtel in die Hand. »Da, nimm. Geht aufs Haus.«

Vor der Tür öffne ich gleich den Deckel und staune: Darin sind ein großer Plastikbecher mit Milchkaffee, ein Croissant und ein pain au chocolat.

Endlich, lächele ich.

Bachblütenmischung, um nach dem Ende einer Liebesbeziehung wieder zu Kräften zu kommen

Zutaten:

3 Tropfen Star of Bethlehem (der Blüte des Verlassens)

2 Tropfen Gentian (hilft gegen Depression)

2 Tropfen Walnut (für die Anpassung an Neues)

3 Tropfen Larch (für die Lösung von Erinnerungen an die Vergangenheit)

10 ml Weinbrand

20 ml Quellwasser

Weinbrand und Quellwasser in einem Glasbehälter mit 30 ml Fassungsvermögen mischen, die Bachblütenmischung hinzugeben und gut schütteln.

Von dieser Essenz viermal am Tag vier Tropfen unter die Zunge geben, bei Bedarf auch öfter.

Nach dem Ende einer Beziehung ist es wichtig, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Das kann sehr schwer sein: Man war daran gewöhnt, alles zusammen zu unternehmen und sich gegenseitig zu helfen, und nun ist man auf einmal auf sich gestellt. Bachblüten helfen dabei, auf die Beine zu kommen und Schritt für Schritt das eigene Leben wieder in die Hand zu nehmen.

4

Im Kräuterladen ist viel los. Gisèle bedient zwei Kunden, die nach einem ihrer berühmten Tees sowie nach den Bachblüten fragen, die sie bestellt haben. Ein zierliches, blondes Mädchen mit dicker Brille stöbert in dem Bücherregalen der linken Wand, und eine ältere, aber sehr elegant gekleidete und sorgfältig geschminkte Dame bedient sich mit sicherer Hand an dem Regal mit kaltgepressten Ölen, kosmetischen Cremes und Emulsionen. Inzwischen ist es fast Mittag, und das Geschäft scheint an Fahrt aufgenommen zu haben, so wie es an einem normalen Mittwoch üblich ist.

Ich sitze auf einem hohen Schemel neben dem Weidenkorb mit den handgemachten Seifen und grübele vor mich hin. Mein Gesicht habe ich hinter einer Zeitung versteckt, ohne darin zu lesen, denn ich bin noch immer in Gedanken bei dem unglückseligen Vormittag, der Gott sei Dank hinter mir liegt.

Kurz hebe ich den Blick über die Zeitung. Gisèles zwei Kundinnen haben den Laden verlassen, und sie lauscht der älteren Dame, während das blonde Mädchen mit zwei Büchern in der Hand wartet. In der Zwischenzeit haben mehrere andere Kunden den Laden betreten. Meine Freundin schaut mich hilfesuchend an, doch ich blicke instinktiv zur Seite, weil ich es mir noch nicht zutraue, mit fremden Menschen umzugehen. Ich habe Angst, ich könnte nicht begreifen, was sie wollen oder ihnen sogar das Falsche geben. Da ist sie wieder, die Angst, Fehler zu machen, die mir den kalten Schweiß ausbrechen lässt. Kein Wunder nach dem, was mir in Rom in der Praxis passiert ist …

Ein diskretes Hüsteln lenkt erneut meine Aufmerksamkeit auf Gisèle, und ich sehe aus den Augenwinkeln, dass Gisèle mich immer noch mit einer Mischung aus Flehen und Aufmunterung ansieht. Jetzt kann ich ihre offenkundige Bitte nicht mehr ignorieren, gebe mir einen Ruck und steige von meinem Schemel hinab, um ihr zu helfen.

Als ich damals in Paris lebte und mich mit Gisèle anfreundete, habe ich oft im Laden ausgeholfen. Das hatte sich einfach so ergeben: Morgens ging ich zur Schule, und am Nachmittag setzte ich das, was ich am Vormittag gelernt hatte, in die Praxis um. Eine Weile lang hatte ich geglaubt, dass das das richtige Leben für mich sei. Doch seitdem sind viele Jahre vergangen …

Sei’s drum. Mit gesenktem Kopf nähere ich mich dem Tresen, hole tief Luft, straffe die Schultern und richte den Blick auf die Kunden, die mittlerweile schon Schlange stehen. Das blonde Mädchen lächelt und reicht mir schüchtern die ausgesuchten Bücher.

»Das wären fünfzehn Euro, danke schön. Möchten Sie eine Tüte, oder soll ich sie als Geschenk einpacken?«

Ein Lächeln erscheint auf meinen Lippen, ohne dass ich etwas dazutun muss. Ich bin wieder bei der Arbeit.