Der Duft von Rosenöl und Minze - Katja Maybach - E-Book
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Der Duft von Rosenöl und Minze E-Book

Katja Maybach

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Beschreibung

Ein gefühlvoller Familiengeheimnisroman vor exotischer Kulisse: »Der Duft von Rosenöl und Minze« von Katja Maybach jetzt als eBook bei dotbooks. Vor Jahren gingen sie im Streit auseinander, nun stehen sie sich an einem Sterbebett gegenüber: Die Schwestern Lauren und Katja werden von ihrem todkranken Vater, einem deutschen Diplomaten, nach Marrakesch gerufen – in die bunte, lebendige, faszinierende Stadt ihrer Kindheit. Katja fällt die Rückkehr besonders schwer, denn sie hat vor Jahren einen Fehler begangen, den ihre Schwester ihr nicht verzeihen kann. Während Lauren ihr weiterhin die kalte Schulter zeigt, begibt Katja sich auf die Spuren ihrer beinahe verblassten Erinnerungen an die Zeit, als ihre Mutter noch lebte. Dabei verliebt sie sich erneut in das malerische Land Marokko – und in einen Mann, der unerreichbar scheint … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der bewegende Schicksalsroman »Der Duft von Rosenöl und Minze« von Katja Maybach. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 510

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Über dieses Buch:

Vor Jahren gingen sie im Streit auseinander, nun stehen sie sich an einem Sterbebett gegenüber: Die Schwestern Lauren und Katja werden von ihrem todkranken Vater, einem deutschen Diplomaten, nach Marrakesch gerufen – in die bunte, lebendige, faszinierende Stadt ihrer Kindheit. Katja fällt die Rückkehr besonders schwer, denn sie hat vor Jahren einen Fehler begangen, den ihre Schwester ihr nicht verzeihen kann. Während Lauren ihr weiterhin die kalte Schulter zeigt, begibt Katja sich auf die Spuren ihrer beinahe verblassten Erinnerungen an die Zeit, als ihre Mutter noch lebte. Dabei verliebt sie sich erneut in das malerische Land Marokko – und in einen Mann, der unerreichbar scheint …

Über die Autorin:

Katja Maybach hat seit jeher zwei große Leidenschaften: das Schreiben und die Mode. Nach einer langen und bewegenden Karriere in der Modebranche, unter anderem in Paris, beschloss sie, ihre zweite Leidenschaft zum Beruf zu machen und begann, erfolgreich Romane zu schreiben. Sie hat zwei erwachsene Kinder und lebt heute in München.

Bei dotbooks veröffentlichte Katja Maybach:

»Melodie der Erinnerung«

»Die Stunde der Schwestern«

»Das Haus unter den Zypressen«

Die Website der Autorin: www.katja-maybach.de

Die Autorin im Internet: www.facebook.com/katja.maybach

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eBook-Neuausgabe Januar 2021

Dieses Buch erschien bereits 2008 unter dem Titel »Irgendwann in Marrakesch« bei Knaur.

Copyright © der Originalausgabe 2008 Knaur Taschenbuch Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Robson90 / Henryk Sadura / Ortis / LexyK / Anton Petrus / Kolesker Anastasiia

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96655-346-9

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Katja Maybach

Der Duft von Rosenöl und Minze

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

»Und? Wirst du kommen?«

In Laurens Stimme schwang der leicht hysterische Unterton mit, den Katja so gut kannte und der in ihrer Kindheit Vorbote von Auseinandersetzungen und Zusammenbrüchen gewesen war.

»Er will dich sehen, Katja, du musst kommen!« Leise, fast unhörbar fügte sie hinzu: »Er wird sterben.«

In dem gespannten Schweigen, das jetzt zwischen ihnen stand, dachte Katja an den Satz, den Lauren ihr vor zehn Jahren ins Gesicht geschleudert hatte: »Für Vater und mich existierst du nicht mehr. Du hast etwas getan, was wir dir niemals verzeihen können. Du bist nicht mehr meine Schwester ... Du hast Vaters Karriere ruiniert und unsere Familie zerstört.« – »Welche Familie?«, hatte Katja noch voller Bitterkeit gefragt, bevor sie gegangen war. Manchmal hatte sie sich danach gesehnt, mit ihrer Schwester zu sprechen, ihr zu erklären, warum sie es getan hatte, doch die Zeit war vergangen, der Wunsch, sich der Schwester mitzuteilen, war schwächer geworden, und nach einigen Jahren hatte sie kein Bedürfnis mehr verspürt, mit Lauren zu sprechen.

»Also, wirst du kommen?« Laurens Stimme klang nun leise und verzweifelt. Katja erinnerte sich, wie sehr ihre Schwester den Vater vergöttert hatte, und sicher musste sie jetzt sehr leiden, da er im Sterben lag.

»Vielleicht.« Zögernd kam ihre Antwort, und zögernd legte sie den Hörer auf. Katja spürte ihr Herz in jeder Faser ihres Körpers klopfen, als sie sich mit zitternden Knien auf ihr Bett fallen ließ. »Vater«, flüsterte sie. Sie horchte in sich hinein, aber sie empfand nichts, sie konnte keinen Schmerz um einen Menschen empfinden, der ihr immer fremd geblieben war und den sie stets mit den Augen der Mutter gesehen hatte, und das waren Augen des Hasses gewesen. Die Mutter, die mit dem Leben nicht zurechtkam, die versuchte auszubrechen und die im Laufe der Jahre mehrmals ihren Mann verließ, um doch immer wieder zu ihm zurückzukehren, in welchem Teil der Welt er sich auch gerade befand.

***

Mit einem Stöhnen verbarg Katja ihr Gesicht in den Händen. Der Anruf ihrer Schwester legte Erinnerungen frei, die sie tief in ihrem Herzen begraben hatte. Und die Reise zu ihrem sterbenden Vater würde noch mehr Qual bedeuten, endlose Auseinandersetzungen mit einer Frau bringen, die ihr im Leben mehr Fremde als Schwester gewesen war. Katja rang mühsam nach Atem, sie spürte den Schweiß auf der Stirn, sie spürte ihr Herz hart gegen die Rippen schlagen. Sie wollte nicht nachdenken müssen, nicht über ihre Mutter, nicht über den Vater und auch nicht über ihre traurige Kindheit und Jugend. Und noch weniger über die Leere in ihr, eine Leere, die ein Kind hätte ausfüllen können, ein Kind, das sie sich sehnlichst gewünscht hatte und das sie nie bekommen konnte. Ein Kind, dem sie all die Liebe und Zärtlichkeit gegeben hätte, die sie selbst so sehr vermisst hatte.

»Hallo ... hier oben bist du also!«

Michael stieß die angelehnte Tür zum Schlafzimmer auf, blieb jedoch wie angewurzelt im Türrahmen stehen, als Katja mit einem entsetzten Aufschrei herumfuhr.

»Ich habe gerufen, aber du hast mich nicht gehört. Habe ich dich so erschreckt? Du bist ja ganz blass.«

Er durchquerte den Raum, blieb hinter Katja stehen und beugte sich zu ihr hinunter. Seine Hände umschlossen ihre Schultern, doch Katja wich ihm mit einer geschickten Bewegung aus, so dass Michaels Arme herabfielen.

»Natürlich hast du mich erschreckt. Ich dachte, du kommst erst morgen.«

»Das zweite Konzert ist ausgefallen, zu wenig verkaufte Karten«, antwortete er leichthin und griff nach einer Illustrierten, die neben Katja auf dem Bett lag. Für einen kurzen Moment begegneten sich ihre Blicke, und Michael sah in den Augen seiner Frau Mitleid. Sie erwiderte nichts, aber ihr Schweigen, mit dem sie seinen Misserfolg überging, war für ihn demütigender als jedes Trostwort. Er beobachtete sie, wie sie jetzt aufstand, in das Badezimmer ging und sich im Spiegel ansah, bevor sie ihre dunklen, rötlich schimmernden Haare über die Schultern warf und nach der Bürste griff. Michael folgte ihr und lehnte sich betont lässig an den Türstock. Er durchschaute sie, sie versuchte unbefangen zu wirken, um ihn nicht spüren zu lassen, wie groß ihr Mitleid für ihn war. Wieder ein ausgefallenes Konzert, wieder eine schmerzliche Niederlage.

»Lauren hat angerufen. Vater liegt im Sterben, und er will mich sehen.« Katja warf ihrem Mann im Spiegel einen unsicheren Blick zu.

»Was? Nach so vielen Jahren erinnert sich die Familie plötzlich an dich? Du wirst doch nicht nach London fliegen, oder?«

Katja fühlte sich ängstlich und müde, und sie wollte ihrem Mann nicht erklären müssen, dass sie sich entschlossen hatte, zu ihrem Vater zu fliegen, doch nicht diesem zuliebe und auch nicht, um ihre Schwester wiederzusehen. Sie würde es für sich selbst tun. Sie spürte, der Moment war gekommen, dass sie sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen musste. Sie legte die Bürste weg, drückte sich wortlos an Michael vorbei und ging zurück in das Schlafzimmer. Sie nahm das kleine Bild von der Wand, das über ihrer altmodischen Kommode hing, Reproduktion des Gemäldes Frau am Meer von Böcklin, das Michael verabscheute und das Katja aus unerfindlichen Gründen so sehr liebte. »Vater lebt seit ... seit damals in Marrakesch. Er hat sich in das Land zurückgezogen, in dem er vor achtunddreißig Jahren seinen ersten Posten als Diplomat übernahm. Und ich werde zu ihm fliegen.«

Michael war ihr gefolgt und sah schweigend zu, wie sie den Safe öffnete, der sich hinter der Frau am Meer befand. Außer ein paar alten, nicht sehr wertvollen Schmuckstücken enthielt er die Tagebücher ihrer Mutter. Nach dem Tod von Maria Bachmann vor zwölf Jahren hatte Katja sie zu einem Buch umgeschrieben und einem großen Verlag angeboten. Ein Roman, der nach seinem Erscheinen innerhalb weniger Wochen die Bestsellerlisten gestürmt und Katja mit nur sechsundzwanzig Jahren zur meistgelesenen Autorin des Jahres gemacht hatte. Sie wurde damals als erfolgreichste Neueinsteigerin des Jahres gefeiert und mit Preisen überhäuft. Doch der Erfolg war zugleich ihr familiärer Bankrott gewesen. Der Roman hatte ihr Hass, Ablehnung und Verachtung ihrer Schwester und ihres Vaters eingebracht, für den das Buch das Ende seiner Karriere bedeutet hatte.

»Ich werde sie mitnehmen«, entschied sie.

Während sie die zehn Hefte sorgfältig auf dem Tisch stapelte, strich sie nachdenklich über die zerfledderten, mit Blumen bedruckten Einbände.

»Seit sie fünfzehn Jahre alt war, hat Mutter hier Tagebuch geführt. Manchmal waren es nur ein paar Sätze in mehreren Jahren, doch eines ist seltsam ...«

»Was meinst du?«

»Die Zeit in Rabat. Wieso hat sie darüber nichts geschrieben? Ich wurde damals geboren, und sie blieb, bis ich drei Jahre alt war. Dann verließ sie mit mir das Land und kehrte zu ihren Eltern nach Hamburg zurück. Erst dort fangen die Notizen wieder an.«

»Nun, vielleicht war sie während der Zeit in Rabat zu beschäftigt, es war schließlich alles neu für sie: ein exotisches Land, die plötzlichen gesellschaftlichen Verpflichtungen oder einfach nur das heiße Klima. Deinen Schilderungen nach war sie doch immer zart und kränklich.«

Katja schüttelte heftig den Kopf. »Nein, es muss in Marokko etwas geschehen sein. Ich erinnere mich noch genau, als wir wieder in Deutschland waren, hat sie viel geweint, und ich denke, ihre schweren Depressionen haben damals angefangen, direkt nach der Rückkehr von Rabat.«

»Katja, wir haben doch schon so oft darüber gesprochen! Dieses Tagebuch. von dem du glaubst, dass sie es in Rabat geschrieben hat, gibt es nicht.« Michael wurde ungeduldig. »Schließlich hast du nach dem Tod deiner Mutter ihre ganze Wohnung auf den Kopf gestellt. Wo, also bitte, sollte es sein?« Seine Stimme klang gereizt. Er war müde, und die Absage des Konzerts war noch nicht verwunden. »Ich gehe jetzt schlafen. Wann wirst du fliegen?«

»So bald wie möglich. Ich hoffe, ich bekomme kurzfristig einen Flug«, antwortete Katja zerstreut.

Michael stand noch eine Weile in der Tür, doch sie schien seine Anwesenheit nicht zu bemerken. Sie blätterte in den Tagebüchern, als erwarte sie, doch noch auf Passagen zu stoßen, die sie übersehen hatte, auf Erklärungen ihrer Mutter, was damals vor über dreißig Jahren in Marokko geschehen war.

Mit einem Kopfschütteln wandte Michael sich ab. Eigentlich hatte er heute mit seiner Frau sprechen wollen, denn er hatte Pläne, die seine Zukunft betrafen. Immer wieder war er einem Gespräch mit Katja aus dem Weg gegangen, immer hatte ihn kurz vorher der Mut verlassen, und wenn er ehrlich zu sich war, kam ihm auch heute dieser Anruf von Lauren gerade recht.

Ich werde mit ihr reden, wenn sie zurück ist, entschied er, bevor er ins Badezimmer ging und sich unter den heißen Strahl der Dusche stellte.

Er musste an die Beerdigung von Maria Bachmann denken, bei der er seine Schwägerin Lauren kennengelernt hatte. War das wirklich schon zwölf Jahre her? Lauren war noch immer so schön wie damals, das hatte er bewundernd festgestellt, als sie im vergangenen Jahr bei seinem Konzert in London, wo sie lebte, aufgetaucht war. Er hatte Katja nie von dieser kurzen Begegnung erzählt. Er wollte einfach weiteren Familiendiskussionen aus dem Weg gehen.

In Gedanken an seine Schwägerin lächelte er, hob den Kopf und ließ das Wasser auf sein Gesicht prasseln.

Kapitel 2

Der Abend war vollkommen gewesen. Das Dinner, das ein bekannter indischer Koch hier in ihrer Küche zubereitet hatte, die weißen Lilien in den hohen schmalen Vasen, die Gäste, das Kleid, das sie trug. Fast hatte man vergessen, dass der Gastgeber an dem Dinner nicht teilgenommen hatte.

Jetzt, nachts um elf Uhr, war die Wohnung bereits wieder aufgeräumt und die Küche sauber. Dafür hatte ihr chinesisches Mädchen Nancy gesorgt, bevor es lautlos die Wohnung verließ.

Während des gesamten Dinners hatte Lauren an den Anruf aus Marrakesch denken müssen. Aber je weiter der Abend fortschritt, desto weniger glaubte Lauren, dass ihr Vater wirklich im Sterben lag.

Seit Jahren schon litt Jürgen Bachmann an einer leichten Herzinsuffizienz, und er hatte sich schon oft eingebildet, todkrank zu sein. Warum also sollte er gerade diesmal sterben? Es war eine geschickte Inszenierung seiner selbst, sie kannte schließlich ihren Vater und seinen Hang zur Dramatik. Er wollte sie und Katja zwingen, nach Marrakesch zukommen, um dort die Familie zu versöhnen. Vielleicht fühlte er sich wirklich nicht so gut, war in Panik geraten und steigerte sich in die Vorstellung hinein, sterben zu müssen.

Als das Telefon geklingelt hatte, dachte sie, es sei ihr Ehemann Tony, der ihr endlich eine plausible Erklärung geben würde, wieso er nicht rechtzeitig aus New York zurückgekommen war, um an dem wichtigen Dinner teilzunehmen. Und ihr versicherte, dass sie sich keine Sorgen um ihn zu machen brauche.

Doch es war nicht Tony gewesen, sondern ein Mann namens Tariq Benaissa. Seine Stimme hatte besorgt und sehr traurig geklungen, als er ihr mitteilte, dass ihr Vater im Sterben liege und sie sofort nach Marrakesch kommen solle. Und im Namen von Jürgen Bachmann hatte er darauf bestanden, dass sie Katja anrufen müsse. Noch bevor die Gäste eintrafen, hatte sie schnell einen Flug nach Marrakesch gebucht.

Lauren machte nun einen letzten Rundgang durch die Räume, und wie jeden Abend sog sie mit ihren Blicken zufrieden die luxuriöse Einrichtung, die aufwendigen Blumenarrangements und die kostbaren Bilder an den Wänden in sich auf. Das war ihr Werk, ihr Stil, sie war stolz auf ihre Wohnung, über die es schon mehrere Berichte in Hochglanzmagazinen gegeben hatte. Im Vordergrund stets Lauren, die Frau des erfolgreichen Anwalts, groß, blond, früher einmal hochbezahltes Model, bis sie mit siebenundzwanzig Jahren geheiratet hatte. Diese Darstellung ihrer Vergangenheit entsprach nicht ganz der Wahrheit, Lauren hatte ihr Image aufpoliert, und es las sich gut in den Zeitungen. Nie erwähnte sie ihre Gesangsausbildung in Paris und verschwieg ihren sehnlichsten Wunsch, eine berühmte Sängerin zu werden. Aber ihre Stimme hatte nicht ausgereicht für die große Karriere, und so hatte sie sich sehr schnell entschlossen, das Singen aufzugeben. Über Misserfolge und nicht erfüllte Träume sprach Lauren niemals.

Vor dem altmodischen Kamin blieb sie stehen und griff nach dem Foto ihres Mannes. Sie sah es sich gerne an, es war eine gut gelungene Aufnahme, die Tony Madsens markantes Profil zeigte, das energische Kinn, das ihr seinerzeit als Erstes aufgefallen war. Lauren stellte das Foto zurück und musterte sich gleichzeitig im Spiegel. Vorige Woche war sie sechsundvierzig geworden.

»Du bist noch sehr attraktiv«, hatte Tony ihr versichert. Noch. Das gefürchtete Wort. Denn es deutete auf ein baldiges Nachlassen hin. Sie war keine vierzig mehr. Und das sah man auch, da brauchte sie sich nichts vorzumachen. Panik ergriff sie, als sie mit ihrer Hand an den Augenpartien entlangfuhr, über das Kinn und über den Hals strich, an dem ein geübtes Auge ihr Alter erkennen konnte.

»Eines Tages wirst du siebzig sein. Und es wird schneller gehen, als du denkst.« Das hatte die Großmutter aus Hamburg schon zu ihr gesagt, als sie achtzehn geworden war. Damals hatte Lauren lachend den Kopf geschüttelt, denn alt zu sein, das passierte irgendwie nur den anderen, nicht ihr, Lauren Bachmann, dem schönen jungen Mädchen, das sich für unsterblich hielt.

»Wenn Sie heute Bilanz ziehen, was ist für Sie wichtig in Ihrem Leben?«

Vergangene Woche hatte eine Journalistin sie so gefragt. Diese junge Frau in den ausgefransten Jeans und der schwarzen Lederjacke hatte sie provozieren wollen, als ihr spöttischer Blick über die elegante und teure Einrichtung glitt. Das hatte Lauren sofort spüren können.

»Meine Familie«, hatte sie rasch geantwortet und von der jungen Frau wieder nur einen ironischen Blick aufgefangen. Natürlich war ihr die Familie wichtig, das lag doch auf der Hand. Ihr Mann Tony und ihre Tochter Leslie, die im nächsten Monat nach Oxford gehen würde, um Kunstgeschichte zu studieren. Auch das hatte sie der Journalistin erzählt, die davon jedoch wenig beeindruckt schien. Natürlich war ihr auch das Leben in dieser eleganten Wohnung wichtig. Diesen Rahmen hatte sie für sich und die Ihren geschaffen: die Inszenierung einer perfekten Familie. Nur leider passte Leslie nicht so ganz in diesen Rahmen. Ihre Tochter war nicht so schlank und auch nicht so gepflegt, wie Lauren es sich gewünscht hätte. Zudem kleidete sie sich schlecht, trug billige T-Shirts, und in einem Moment der Ehrlichkeit gestand Lauren sich sogar ein, wie froh sie war, dass Leslie nicht an den Einladungen für die Freunde und Mandanten ihres Vaters teilnahm.

Jetzt ging Lauren hinüber zur Bar und schenkte sich einen Whisky ein. Während des Dinners hatte sie nur wenig von dem ausgezeichneten Mersault getrunken, denn sie wollte nicht, dass man sich hinter vorgehaltener Hand zuflüsterte, die Frau von Tony Madsen habe ein Alkoholproblem. Mit dem gut gefüllten Glas in der Hand, wechselte sie in das Schlafzimmer hinüber, öffnete ihren Kleiderschrank und überlegte, was sie auf die Reise nach Marokko mitnehmen solle. Sie war unsicher und fühlte sich unbehaglich, wenn sie an das Zusammentreffen mit der jüngeren Schwester dachte, mit der sie vor zehn Jahren im heftigen Streit auseinandergegangen war. Und da konnte nur eine gut ausgewählte Garderobe ihr die Sicherheit geben, die sie brauchte.

***

»Hallo«, rief Leslie, als sie eine Stunde später nach Hause kam. Lauren kam ihr tränenüberströmt entgegen.

»Mein Vater liegt im Sterben«, schluchzte sie.

Leslie erschrak. »Aber«, stammelte sie, »wieso denn so plötzlich?«

Leslie kannte ihren Großvater kaum. Für sie war er ein älterer, gepflegter Herr, der einmal im Jahr nach London kam, um seine Tochter zu besuchen. Meist fiel sein Kommen in Leslies Ferien, wenn sie mit Freundinnen irgendwo in Europa unterwegs war und ihn nur kurz begrüßen konnte. Als sie ihn jedoch vor zwei Jahren in Marrakesch besuchen wollte, hatte er strikt abgelehnt. Sie wusste überhaupt wenig über die Familiengeschichte, nur dass ihr Großvater seit zehn Jahren dort lebte, und zwar genau seit dem Erscheinen des »gewissen Buches«, wie ihre Mutter es nannte. Seit damals widmete sich Jürgen Bachmann seinem Hobby, dem Malen, und zwar mit großem Erfolg, wie ihre Mutter stets betonte.

»Er wollte uns doch nächsten Monat wieder besuchen, und diesmal hätte ich Zeit gehabt, ich wäre hier gewesen«, flüsterte Leslie und machte einen hilflosen Schritt auf ihre Mutter zu. Doch Lauren wich ihrer Tochter geschickt aus, denn unbewusst zuckte sie vor jeder körperlichen Berührung mit ihr zurück.

»Ein Freund oder vielleicht ein Hausangestellter von Vater rief kurz vor acht Uhr an«, sagte sie, »und teilte mir mit, dass Vater im Sterben liege. So kurz vor dem Dinner hatte ich keine Zeit, mich genauer mit ihm zu unterhalten, ich nahm ganz selbstverständlich an, es sei wieder sein Herz. Aber als ich vor einer halben Stunde zurückrief, um Genaueres zu erfahren, erklärte er mir, dass Vater Krebs habe. Bauchspeicheldrüsenkrebs mit Lebermetastasen. Und dass der Tumor zu spät erkannt worden sei und Vater nur noch eine ganz kurze Lebenserwartung habe. Aber das Schlimmste ist«, Lauren sprach weiter, während sie sich mit einem kleinen weißen Tuch vorsichtig die zerflossene Wimperntusche abtupfte, »Vater möchte nicht im Krankenhaus bleiben, er will zu Hause sterben. Er lehnt lebenserhaltende Maßnahmen ab und hat sich mit dem Tod abgefunden. Zwei Pflegerinnen betreuen ihn rund um die Uhr, und täglich kommt ein Arzt vorbei. Dieser Tariq Benaissa sagte, Vater müsse keine Schmerzen erleiden. Doch er will unbedingt Katja sehen, und ich musste sie anrufen. Es war so demütigend, nachdem ich mir fest vorgenommen hatte, kein einziges Wort mehr mit ihr zu reden.«

Leslie konnte sich noch gut an ihre schöne dunkelhaarige Tante erinnern, die sie mit acht Jahren zum letzten Mal gesehen hatte.

»Und? Fliegt sie zu ihm?« Ihre Neugier war erwacht.

Lauren nickte. »Ich denke schon, sie ruft mich morgen früh noch einmal an, um mir ihren Flug zu nennen.«

»Ich komme mit …«, begann Leslie, doch Lauren schnitt ihr mit einem heftigen Kopfschütteln das Wort ab.

»Das kommt gar nicht in Frage! Du musst dich auf Oxford vorbereiten!«

Leslie schwieg. Sie wusste, wie viel es ihrer Mutter bedeutete, dass sie an der Eliteuniversität angenommen worden war. Und ausgerechnet heute wollte sie mit ihr darüber sprechen, dass sie nicht nach Oxford gehen würde. Dass sie andere Pläne hatte. Ihren eigentlichen Wunsch, als Sängerin Karriere zu machen, hatte Leslie als unerfüllbar verdrängt. Nachdem ihre Mutter als junges Mädchen gescheitert war, konnte die Tochter unmöglich diesen Weg einschlagen. Es hätte Lauren zu sehr verletzt, wenn die Tochter das erreicht hätte, was ihr versagt geblieben war. Aber auch Leslie drängte es zur Bühne, und sie wollte eine große und berühmte Schauspielerin werden.

Als Leslie Lauren beobachtete, die krampfhaft damit beschäftigt war, die Spuren der Tränen auf ihrem Gesicht zu beseitigen, dachte sie mit einer gewissen Schadenfreude, wie alt ihre Mutter in diesem Moment aussah. Doch dann erschrak sie über die eigenen Gedanken. Sie liebte ihre Mutter, selbst wenn das Verhältnis zwischen ihnen beiden nicht das beste war. Denn Laurens Sucht, ewig jung zu bleiben und jedem zu gefallen, der in ihrem Blickfeld auftauchte, weckte in Leslie tiefe Aggressionen. Ihrer Mutter war wohl nicht bewusst, wie krankhaft abhängig sie von der Anerkennung und der Bewunderung anderer Leute war. Und auch dass sie ihren Körper durch ständige Diäten schwächte, die sie latent in einer neurotischen Spannung hielten, verstärkte Leslies Ablehnung der Mutter.

»Mein Flug geht morgen früh um elf Uhr. Und ich habe noch nicht gepackt.«

Lauren schob ihre Tochter zur Seite und verschwand in Richtung ihres Schlafzimmers. Leslie wusste, die nächsten Stunden würde Lauren mit dem Aussuchen der passenden Garderobe beschäftigt sein. Sie ging in die Küche und sank auf einen der hohen Stühle. Er war unbequem, aber er stammte von der Hand eines berühmten französischen Designers, und Leslie wurde einmal mehr bewusst, dass nichts, aber auch gar nichts in dieser Wohnung behaglich oder anheimelnd war.

***

Noch bevor das Flugzeug in Marrakesch aufsetzte, spürte Lauren den Herzschlag ihrer Angst. Der Angst, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein, die das Sterben des Vaters an sie stellte. Und: Sie kam zurück in ein Land, das sie mit acht Jahren zum ersten Mal betreten und von diesem Moment an gehasst hatte, da sie ihr Leben in Hamburg, ihre Freundinnen und ihre geliebte Großmutter hatte verlassen müssen, um mit den Eltern hierher zu ziehen. Und hier war einige Jahre später die Familie auseinandergebrochen. Damals hatte sie geglaubt, ihre Schwester sei schuld daran, denn nach Katjas Geburt hatte es heftige Auseinandersetzungen, Hass und sogar Gewalt zwischen den Eltern gegeben. Drei Jahre später hatte die Mutter ihren Mann verlassen und die Jüngere mitgenommen. Lauren hatte zu der Zeit mit einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung im Krankenhaus gelegen, mehrere Wochen lang schwebte sie zwischen Leben und Tod. Erst als sie wieder einigermaßen hergestellt war, hatte ihr der Vater erklärt, ihre Mutter sei mit Katja zurück nach Hamburg gegangen.

»Doch sie wird uns oft besuchen«, hatte er noch hastig hinzugefügt und sie in seine Arme genommen. Sie hatte dabei grenzenloses Mitleid in seinen Augen erkannt und sich später oft gefragt, ob das Mitgefühl ihrem kranken Körper oder ihrer gequälten Seele galt. Denn sie wurde fast jede Nacht von einem Traum gepeinigt, einem Traum, von dem sie fest geglaubt hatte, er sei Wirklichkeit gewesen: ein großer Mann in einer weißen Djellabah, ein immer größer werdender Blutfleck ...

»Unsinn, sprich nie mehr darüber, versprich es mir!«, hatte ihr Vater damals heftig gefordert und sie voller Besorgnis angesehen. »Du hast geträumt, ein Fiebertraum, nichts weiter.«

Nachdem auch der Arzt dem Kind das bestätigt hatte und diese grauenvollen Bilder allmählich verschwanden, war Lauren langsam davon überzeugt, dass es nur ein Traum gewesen war.

Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war das Haus leer und einsam gewesen. Auch die liebevolle ältere Haushälterin, Frau Block, war in der Zwischenzeit nach Deutschland zurückgekehrt. Sie habe geheiratet, einen Witwer mit zwei Kindern, also habe sie jetzt doch noch ihre eigene Familie, hatte ihr Vater erklärt. Lauren hatte lange Zeit gebraucht, um auch diesen Verlust zu verarbeiten. Der Haushalt wurde inzwischen von einer Araberin betreut, die kein Deutsch verstand und nur schlecht Französisch sprach. Lauren sehnte sich nach ihrer Mutter. Oft setzte sie sich abends auf die oberste Stufe der hohen Treppe, lehnte sich an das Geländer und warte auf sie. Doch Maria Bachmann kam nicht mehr zurück.

An einen Abend erinnerte sich Lauren ganz besonders. Wieder hatte sie oben gewartet und gesehen, wie die Haushälterin das Licht löschte und das Haus verließ. Dann wurde es still. Lauren war so schrecklich traurig gewesen. Müde und schwach lehnte sie ihr Gesicht gegen das Geländer. Als sie ein Geräusch hörte, beugte sie sich leise vor, und als sie zwischen den geschwungenen Stäben nach unten spähte, sah sie ihren Vater. Er trug einen weißen Anzug und drehte sich mit einem leisen Lachen nach jemandem um, den sie nicht sehen konnte, so stark sie sich auch vorbeugte. Ihr Vater hatte das Licht nicht eingeschaltet, nur das Sternenlicht erhellte durch das hohe Fenster die Eingangshalle, und sie konnte sehen, wie ihr Vater jemanden umarmte. Sie hörte seine Stimme, die so anders klang, fremd, voll zärtlicher Erregung. Irgendetwas war verwirrend. Sie wusste nicht, was es eigentlich war, als sie mit schlechtem Gewissen vorsichtig in ihr Zimmer zurückeilte, als hätte sie ihren Vater heimlich nackt beobachtet. Starr, mit angezogenen Armen und Beinen lag sie dann im Bett, das hatte sie bis heute nicht vergessen. Es war 1973 gewesen, und acht Monate nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus war ihr Vater nach Mailand versetzt worden. Und erst dort hatte Lauren ihre Mutter wiedergetroffen.

Maria Bachmann war für ihre Tochter im Laufe der kommenden Jahre zu einer Fremden geworden, auch wenn sie immer wieder für kurze Zeit auftauchte. Manchmal brachte sie Katja mit, aber die Zeit, die sie bei ihrem Mann und ihrer älteren Tochter verbrachte, war stets begrenzt. Umgekehrt blieb Jürgen Bachmanns Verhältnis zu seiner zweiten Tochter Katja stets kühl und unpersönlich. Und doch wollte er sie jetzt an seinem Sterbebett sehen. Würde die Schwester ihr jetzt die kostbare, vielleicht letzte Zeit mit dem Vater stehlen? Wollte er Katja sogar verzeihen, dass sie mit ihrem Buch seine Karriere zerstört hatte?

***

Lauren schreckte hoch, als die Stewardess sich zu ihr hinunterbeugte und ihr freundlich mitteilte, sie seien bereits in Marrakesch gelandet. Als Letzte verließ sie auf ihren hohen Sandaletten das Flugzeug und wurde sofort von der erbarmungslosen Hitze des späten Nachmittags überfallen. Obwohl ihr schwarz vor Augen wurde, konnte sie doch mit letzter Kraft die umfassenden Einreiseformalitäten erledigen, bevor sie sich durch die Glastür schob und der Boden unter ihren Füßen wegzugleiten drohte. Da wurde sie leicht am Arm genommen, und durch den Nebel einer drohenden Ohnmacht sah sie in ein dunkles Gesicht, das sich über sie beugte.

»Lauren Madsen? Ich bin Tariq Benaissa«, stellte der Mann sich vor. »Ich habe Sie gestern angerufen.«

Als Lauren mit ihrem Vater vor vielen Jahren nach Paris gegangen war, hatte sie perfekt Französisch gelernt, und jetzt war sie erleichtert, dass ihr diese Sprache sofort wieder geläufig war.

Als sie fühlte, wie ihr der Schweiß über den Rücken lief und wie ihre teure Seidenbluse am Körper klebte, ergriff sie Panik, hier unter Fremden im fernen Marokko an plötzlichem Herzversagen zu sterben.

»Nachdem Sie aus London kommen, vertragen Sie sicher die Hitze schlecht.« Tariq warf ihr einen abschätzenden Blick zu. Er mag mich nicht, schoss es Lauren durch den Kopf, und dieses Gefühl machte sie unsicher. Dazu kamen stechende Kopfschmerzen, die ihre Angst unerträglich machten. Angst vor der ersten Begegnung mit dem sterbenden Vater und Angst vor dem Unvermögen, damit umgehen zu können.

Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihrem Vater gegenübertreten, wie sie ihn trösten sollte. Vielleicht wurde sogar von ihr erwartet, dass sie ihn pflegen sollte. Sie war sich sicher, an ihre Grenzen zu stoßen. In ihrer Hilflosigkeit würde sie sich falsch benehmen, nicht die richtigen Worte für einen Sterbenden finden, so dass der Arzt und seine Freunde nur den Kopf über die ungeschickte und herzlose Tochter schüttelten.

Lauren wurde von Tariq auf eine Bank gedrückt, während er sich um das Gepäck kümmerte. Nach einer Ewigkeit, wie es ihr schien, kam er zurück, und zusammen verließen sie das Flughafengebäude.

Als er vor einem alten staubbedeckten Peugeot stehen blieb und den Kofferkuli entlud, geriet Lauren wieder in Panik. War es wirklich dieser Mann gewesen, der sie gestern angerufen hatte, oder war er ein Terrorist, der nur vorgab, Tariq Benaissa zu sein, um sie als Geisel in die Wüste zu verschleppen? Schließlich war sie die Frau eines erfolgreichen englischen Anwalts, und eine Entführung würde großes Aufsehen erregen. Während sie noch gegen ihr Misstrauen ankämpfte, wurde sie bereits auf den ausgesessenen Beifahrersitz komplimentiert, und Tariq ließ den Motor an. Erst als er von ihrem Vater erzählte, empfand Lauren Scham, in diesem kultivierten Mann einen Verbrecher vermutet zu haben. Durch das offene Fenster drangen Benzingestank und der ohrenbetäubende Lärm alter Autos und hupender Mopeds, weshalb Lauren nur ganz flach atmete und den Mund geschlossen hielt, aus Angst, sich in dem unerträglich heißen Auto vor den Augen dieses Fremden übergeben zu müssen. Plötzlich bremste Tariq mit einem scharfen Ruck und hielt vor einem schmalen mehrgeschossigen Haus.

»Wir sind da.«

Vorsichtig stieg Lauren aus und blieb stehen, während Tariq nacheinander ihre zwei Koffer und ihre Tasche aus dem Wagen holte. Dann öffnete er die Haustür und ließ ihr den Vortritt.

Der Vorraum, den sie betraten, wirkte alt und unscheinbar, doch als sie die Treppe hinauffingen, tat sich in der ersten Etage ein großer Raum auf. Der dunkelrote Steinboden war mit wollweißen Teppichen bedeckt, an den Wänden hingen Bilder in den starken Farben Marokkos, abgestimmt auf die niedrigen schmiedeeisernen Tische und die hellen Sitzkissen, die in loser Reihe auf dem Boden arrangiert waren. Eine weit geöffnete Tür gab den Blick auf eine riesige Terrasse frei, auf der große Terrakottatöpfe mit üppig blühenden Rosen und Oleander standen.

»Kommen Sie!«, drängte Tariq. »Ihr Vater wartet schon sehnsüchtig auf Sie.«

Lauren konnte nur beklommen nicken und folgte Tariq die nächste Treppe hinauf. Er klopfte an eine Tür, öffnete sie und schloss sie, nachdem Lauren zaghaft über die Schwelle getreten war, sofort lautlos hinter ihr. Da die Läden geschlossen waren, herrschte in dem Raum Dunkelheit. Nur eine kleine Lampe brannte, das Fenster stand weit offen, und ein leichter Windzug streifte die zarten weißen Vorhänge. Leise trat Lauren an das Bett, in der Hoffnung, ihr Vater würde bereits schlafen und die erste Begegnung mit dem Sterbenden sich noch bis zum nächsten Tag hinauszögern. Eine Frau in Schwesterntracht erhob sich bei ihrem Eintreten, nickte ihr kurz zu und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer. Lauren war mit ihrem Vater allein. Wieder überfiel sie panische Angst, drückte schwer auf ihre Brust und nahm ihr den Atem. Der Wunsch, die Pflegerin zurückzuholen, wurde fast übermächtig, doch da wandte Jürgen Bachmann langsam den Kopf und öffnete die Augen. Die Nase trat in dem grauen, eingefallenen Gesicht stark hervor, und als er seine Tochter jetzt mit einem Lächeln begrüßte, gaben die Lippen den Blick auf fast bloßgelegte Zähne frei. Es war das Gesicht eines Toten.

Lauren, die während des Flugs noch die unsinnige Hoffnung gehegt hatte, ihr Vater könne doch wieder gesund werden, erkannte bei seinem Anblick die grausame Präsenz des Todes.

Nur mit großer Mühe hob Jürgen Bachmann einen Arm und versuchte, seiner Tochter über die Wange zu streichen, doch kraftlos fiel die Hand zurück auf das Bett, bevor sie Laurens Gesicht erreicht hatte.

»Wie war dein Flug?«

»Ach Vater«, konnte Lauren nur leise stammeln und sank mit einem unterdrückten Schluchzen auf das Bett.

»Du brauchst nicht zu weinen, es macht mir nichts mehr aus zu sterben.«

Lauren konnte es nicht glauben, sie war gekommen, um ihrem Vater beizustehen, und nun war er es, der sie trösten musste. Doch sie konnte nicht anders, ihr Schluchzen wurde lauter, bis die Pflegerin hereinkam, sie sanft, aber energisch bei den Schultern nahm und meinte, der Vater müsse jetzt schlafen, man habe nur noch ihr Kommen abgewartet. Mühsam erhob sich Lauren.

»Wann ... wann kommt Khadija? Sie kommt doch, oder?«

Khadija. Wie lange hatte Lauren diesen Namen nicht mehr gehört!

»Katja kommt morgen«, flüsterte sie und hauchte ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn, die sich kühl und überraschend zart anfühlte. »Schlaf gut«, sagte sie noch leise, als Jürgen Bachmanns Kopf zur Seite sank. Er war bereits eingeschlafen.

Etwas später saß Lauren vor der offenen Terrassentür auf einem der hellen Sitzpolster und trank von dem süßen Minztee, den Tariq ihr in einer silbernen Kanne gebracht hatte. Durch tiefes, regelmäßiges Atmen versuchte sie, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Sie hatte immer eine große körperliche Distanz zu ihrem Vater gewahrt und fühlte sich jetzt sehr erleichtert, dass die beiden Krankenschwestern rund um die Uhr zur Verfügung standen, um ihn zu pflegen, zu waschen und zu füttern. Dinge, vor denen sie schon beim Gedanken daran zurückschreckte. Mit stark zitternden Händen setzte sie das verzierte Teeglas auf den kleinen niedrigen Tisch zurück. Wann würde es so weit sein, wann kam die Stunde des Todes? Würde ihr Vater leiden müssen, würde er verzweifelt sein, schreien, würde es einen langen Todeskampf geben?

Durch die Terrassentür blickte Lauren hinauf in einen südlichen Himmel, an dem die Sterne glitzerten und funkelten. Sie erhob sich, ging hinaus und lehnte sich weit über die Balustrade, so dass sie den Turm der Moschee, der Koutoubia, sehen konnte.

Der Wind strich leicht über ihr Gesicht, und sie spürte ein starkes Frösteln, das ihren ganzen Körper erfasste, bis zu ihrem Herzen. Der sternenübersäte Himmel rief schmerzliche Erinnerungen wach, die sie nicht zulassen wollte, denn dann wäre der Augenblick gekommen, in dem alles über sie hereinbrechen würde, was jahrelang verdrängt gewesen war.

Katja. Khadija.

Morgen um diese Zeit würde sie da sein. Morgen würde sie der Frau gegenüberstehen, die ihr die Liebe der Mutter gestohlen und die den Vater ins Unglück gestoßen hatte, der Frau, die jünger, schöner und erfolgreicher war.

Ihre Schwester. Die gehasste Fremde.

Kapitel 3

Katja stieg in das wartende Taxi, das sie zum Flughafen bringen sollte. Gegen sieben Uhr abends Ortszeit würde sie nach Umsteigen in Frankfurt und Casablanca in Marrakesch landen. Sie hatte Lauren den genauen Termin ihrer Ankunft mitgeteilt. Das Telefongespräch war kurz und kühl verlaufen.

Als der Wagen langsam anfuhr, wandte sie sich um und schaute zurück auf das kleine Haus, das sie von dem Erbe ihrer Mutter und den Einkünften aus dem Bucherfolg gekauft hatte. Es hatte ihr in den vergangenen Jahren Sicherheit und Ruhe gegeben. Eine Geborgenheit, nach der sie sich in ihrer Kindheit so sehr gesehnt hatte. Das Haus war in den frühen zwanziger Jahren erbaut worden, Efeu rankte sich an den Wänden hoch, und vor den Eingang hatte Katja beim Einzug Rosensträucher gepflanzt, deren rosa Blüten den ganzen Sommer über einen leichten Duft verströmten. Doch jetzt, Anfang September, waren sie fast verblüht.

An dem verwitterten Steinpfosten der Gartentür lehnte Michael und winkte ihr nach. Er sah gut aus, auch wenn er jetzt mit zweiundvierzig Jahren fülliger geworden war und sein Körper an Straffheit verloren hatte. Zudem trug er seit zwei Jahren eine kleine runde Brille, und seine Haare wurden von grauen Strähnen durchzogen. Wie er mit überkreuzten Beinen am Pfosten lehnte, in einer dunklen Hose, seinem maßgeschneiderten Hemd und dem Kaschmirpulli, den er über die Schultern gelegt hatte, wirkte er lässig und elegant. Genau wie das Haus gehörte auch Michael zu ihrem Leben der Geborgenheit und der Beständigkeit. Dabei hatte sie ständig Furcht vor Veränderungen, vor einer unsicheren Zukunft. Sie brauchte Michael, doch sie wusste, dass schon lange nichts mehr da war von den großen Gefühlen der ersten Jahre. Es war sicher normal, dass eine Liebe schwächer wurde, aber sie hatte die Veränderung in ihrer Beziehung lange nicht wahrgenommen oder einfach nicht wahrnehmen wollen.

Sie dachte an ihren zweiten Roman, der drei Jahre nach dem ersten erschienen war. Damals hatte sie unter enormem Erwartungsdruck des Verlages und der Presse gestanden, und sie war unsicher geworden, hatte an ihrem Talent gezweifelt, denn beim ersten Roman galt die allgemeine Bewunderung vor allem jenen Teilen des Werkes, die Katja fast wörtlich aus den Tagebüchern ihrer Mutter übernommen hatte. Immer wieder stellte sie sich voller Selbstzweifel die Frage, ob die begabte Schriftstellerin in der Familie nicht eigentlich ihre Mutter gewesen sei und sie nur von deren Gaben profitiert habe. Als dann der zweite Roman erschien, ließen die Kritiker, die sie so enthusiastisch gefeiert hatten, Katja schnell fallen. Ihrer Meinung nach hatte sich das Talent der jungen Autorin nicht als konstant erwiesen, hatte sich vielleicht sogar mit dem einen Roman, mit dem sie den Zeitgeschmack so gut getroffen hatte, erschöpft. Dann gab es noch den Band mit Erzählungen, erschienen vor fünf Jahren, der nicht mehr als einen Achtungserfolg erzielte.

Vor ein paar Tagen war nun ihr letzter Roman, an dem sie drei Jahre intensiv gearbeitet hatte, endgültig von ihrem Verlag abgelehnt worden. Ihre finanziellen Rücklagen waren erschöpft, das Haus mit einer hohen Hypothek belastet. Und Michael verdiente als Pianist nicht viel mehr als ein Taschengeld. Er hatte sich in den letzten Monaten sehr verändert, und Katja hatte nicht den Mut gehabt, ihn nach dem Grund seiner Unzufriedenheit, seiner plötzlich aufflammenden Aggressionen, die sich stets gegen sie richteten, zu fragen. War es nur der berufliche Misserfolg, oder steckte noch etwas anderes dahinter? Eine andere Frau vielleicht? Doch sie wollte jetzt nicht über ihre Probleme und ihre Ehe nachdenken müssen, sie würde nach Marrakesch fliegen, um dort nach zehn Jahren ihren Vater und ihre Schwester wiederzusehen.

***

In Frankfurt konnte das Flugzeug aufgrund verstärkter Sicherheitskontrollen erst mit großer Verspätung starten, so dass Katja in Casablanca fast die Anschlussmaschine verpasste. Mit einigen arabischen Großfamilien, teilweise gekleidet in ihrer Landestracht, hastete sie durch die stickig heiße Abflughalle, bis sie sich schließlich schweißgebadet und außer Atem in einer Maschine der Royal Air Maroc in ihren Sitz fallen ließ. Nur eine halbe Stunde trennte sie zeitlich noch von Marrakesch, und dann würde sie Rede und Antwort stehen müssen, würde ihrem sterbenden Vater gegenübertreten. Würde die Stunde des Wiedersehens neue Auseinandersetzungen bringen? Sie spürte einen leichten Druck in den Ohren, als das Flugzeug in Marrakesch aufsetzte, das Tempo drosselte und dann in seine Parkposition ausrollte. Die Motoren schwiegen, und erst jetzt bemerkte Katja, wie laut sich die Leute im Flugzeug unterhielten, arabische und französische Sprachfetzen schwirrten durch die Luft. Sie stand auf, streckte sich und holte ihre Tasche aus dem Fach über ihrem Sitz. Dann folgte sie den anderen Passagieren aus der Maschine, die Treppe hinunter auf das Rollfeld. Das laute Weinen eines Kindes ließ sie den Kopf wenden, und sie sah ein hübsches dunkelhaariges Mädchen, das sich ängstlich an den langen Rock einer jungen Araberin klammerte. Ein großgewachsener Mann im Burnus, der Katja bereits in Frankfurt aufgefallen war, beugte sich zu ihm hinunter und wollte es mit zärtlichen Worten trösten, die Katja nicht verstand. Doch das Weinen des Kindes wurde heftiger, der Mann lächelte, strich ihm über die Wange und redete jetzt lauter, und zwar in französischer Sprache: »N'aie pas peur, ma petite! N'aie pas peur, ma petite fille!«

Die Reisetasche entglitt Katjas Hand und fiel auf den Boden. »Ma petite, ma petite fille. Ma fille.« Wie in Trance hob sie die Tasche wieder auf, sah hinauf in einen noch hellen Abendhimmel und spürte den warmen, weichen Wind, der sich in ihren Haaren verfing und ihr über die Wangen strich. »Ma fille, ma petite fille.«

Und plötzlich war die Erinnerung da. Es war Abend gewesen, ein warmer Wind hatte sich in ihren langen Zöpfen verfangen, eng hatte sie sich an ihre Mutter gedrückt und ängstlich zu dem Mann hochgesehen, der sich über sie beugte. »Ma petite, ma petite fille.«

Doch der Mann, der sie Tochter nannte, war nicht ihr Vater gewesen.

Eine nie gekannte Erregung erfasste Katja, als sie mit den anderen Passagieren die Halle des Flughafens betrat. Obwohl die Reisenden bereits in der Maschine Formulare ausgefüllt hatten, musste Katja noch in einer endlos langen Warteschlange stehen, bis sie die Passkontrolle und die Zollformalitäten erledigt hatte. Und dann war es so weit.

Kapitel 4

Den ganzen Tag verbrachte Lauren am Bett ihres Vaters. Jürgen Bachmann war zu schwach für eine Unterhaltung, so lächelte er ihr nur manchmal zu, und Lauren spürte, es war nicht wichtig, dass sie redeten, es war nur wichtig, dass sie da war und seine Hand hielt. Gegen fünf Uhr nachmittags ging June, die amerikanische Schwester, aus dem Zimmer, versicherte aber, im Haus zu bleiben, bis gegen sechs die arabische Pflegerin sie ablösen würde. Lauren blieb allein bei ihrem Vater, strich ihm immer wieder zart über die Stirn, erzählte ihm dann leise von Leslie, die so erfolgreich war und in Oxford für ein Studium angenommen worden war, weshalb sie auch nicht mitgekommen sei. Noch während sie sprach, veränderten sich die Gesichtszüge ihres Vaters, und sie glaubte, tiefe Enttäuschung zu erkennen, obwohl seine Augen geschlossen blieben, als würde er schlafen. Schnell wechselte sie das Thema: »Wer ist Tariq Benaissa?«

Gestern Abend hatte er sie in ein kleines Zimmer im zweiten Stock gebracht und ihr mit dem Gepäck geholfen. Und heute Morgen war er bereits im Haus gewesen und hatte ihr Kaffee gekocht. Wohnte er in der Nähe, war er ein enger Freund oder, wie Lauren vermutete, eine Art Butler?

Jürgen Bachmann bewegte seinen Kopf leise und öffnete die Augen.

»Er ist …« Hier stockte er einen Moment und schien zu überlegen. »… ein Freund«, flüsterte er dann. »Ein guter Freund, der mir Tag und Nacht zur Seite steht, er wohnt … hier … Jetzt …«

Die Stimme ihres Vaters wurde schwächer und klang so unsicher und verzweifelt, dass Lauren zutiefst erschrak.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie hochfahren, und ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es Zeit war, mit Tariq zum Flughafen zu fahren, um ihre Schwester abzuholen.

Warum holte er Katja nicht allein ab, warum musste sie mitfahren? Aber dann erhob sie sich rasch, denn sie konnte sich diese Frage selbst beantworten: Weil ihr Vater es so wollte und sie vielleicht immer noch sein »kleines Mädchen« war. Noch einmal strich Lauren ihm zart über das Gesicht, und sie war selbst erstaunt, wie leicht es ihr fiel, ihrem todkranken Vater diese einfachen Gesten der Liebe zu gewähren. Nur schwer löste sie sich von dem Bett des Vaters und ging aus dem Zimmer. Hinter Tariq stieg sie die Treppe hinunter, sagte June Bescheid, dass sie jetzt gehen würde, und verließ das Haus. Während sie auf der Straße wartete, bis Tariq mit seinem alten Peugeot um die Ecke bog, schaltete sie ihr Handy an und sah, dass auf der Mailbox eine Nachricht für sie gespeichert war. Sie kam von Tony.

»Ich habe kurz mit Leslie gesprochen. Es tut mir sehr leid, dass es deinem Vater so schlechtgeht. Richte ihm Grüße von mir aus! Vielleicht schafft er es doch noch einmal. Man hört so viel von Leuten, die dem Tod von der Schippe gesprungen sind. Übrigens«, hier war ein verlegenes Räuspern zu hören, »ich wohne nicht im Plaza, falls du schon versucht hast, mich zu erreichen, ich bin bei den Johnsons draußen in Long Island. Ich muss noch ein paar Tage bleiben … Also dann, alles Gute! Ich melde mich …«

Laurens Hand sank herab. Warum hatte sie so ein eigenartiges Gefühl, ein Ahnen, dass Tony log, dass irgendetwas nicht stimmte? Wieder überfiel sie ein Gefühl der Panik, das Gefühl einer drohenden Katastrophe. Aber wahrscheinlich war sie nur überreizt und verängstigt wegen ihres Vaters, sicher hatten ihre düsteren Ahnungen nichts mit Tony zu tun. Nein, es war alles in Ordnung. Es musste einfach alles in Ordnung sein.

***

Tariq fuhr sehr schnell zum Flughafen, und wäre Lauren nicht so sehr in ihren Gedanken versunken gewesen, hätte sie einige Male entsetzt aufgeschrien, denn hier auf den Straßen schien es keine Verkehrsregeln zu geben. Zwischen stinkenden Autos und Eselskarren schlängelten sich Mopeds, auf denen bis zu vier Personen saßen, mit waghalsigen Manövern durch die verstopften Straßen. Diesmal hatte sie darauf bestanden, dass beide Fenster geschlossen blieben.

Mit lautem Quietschen hielt Tariq schließlich vor dem Flughafengebäude und erklärte Lauren, dass er beim Auto auf sie und ihre Schwester warten würde. Lauren zögerte, zuerst wollte sie ihn bitten mitzukommen, doch dann atmete sie tief durch und betrat das Gebäude. Unruhig hastete sie umher und suchte die Toilette, um ihr Make-up aufzufrischen und sich kurz mit einem Blick in den Spiegel zu vergewissern, dass sie gut aussah und ihrer jüngeren Schwester unbedenklich entgegentreten konnte. Sie trug ein schmales enges Kleid, das ihre überschlanke Figur betonte, und dazu hohe Sandaletten. Als Lauren in die Halle zurückkehrte, sah sie auf der Anzeigetafel, dass die Maschine bereits gelandet war. Doch es dauerte, bis endlich die Glastür aufging und die ersten Passagiere herauskamen. Unter den vielen Menschen erkannte Lauren sofort ihre Schwester. Katja blieb einen Moment stehen, dann hob sie zögernd die Hand und winkte ihr zu.

Sie benimmt sich, als wäre nie etwas geschehen, dachte Lauren erbittert. Als Katja auf sie zukam, sah Lauren, wie sich zwei Männer nach ihrer Schwester umdrehten, und sofort entstand in ihr ein beklemmendes Gefühl der Minderwertigkeit.

Katja trug eine große Tasche über der Schulter, die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Dafür ist sie ja wohl nicht mehr jung genug, schoss es Lauren durch den Kopf. Doch sie musste zugeben, wie sehr diese Frisur das schöne, ebenmäßige Gesicht und die topasfarbenen Augen zur Geltung brachten. Katja trug Jeans und eine schlichte, weiße Hemdbluse, dazu flache schwarze Schuhe. Sie besaß eine selbstverständliche Eleganz, eine natürliche Schönheit. Aber welchen Eindruck hatte Katja wohl von ihr, einer nicht mehr jungen Frau, überschlank, teuer gekleidet, die halblangen blonden Haare perfekt frisiert und das Make-up makellos?

Lauren fühlte sich unbehaglich und zu gestylt für den traurigen Anlass, der sie beide zusammenführte. Jetzt stand Katja direkt vor ihr und streckte ihr die Hand entgegen. Lauren ergriff sie mit einem frostigen Lächeln, zog die ihre aber nach einer leichten Berührung sofort wieder zurück. Kein Makeup, nur ein wenig Wimperntusche, ein wenig Gloss auf den Lippen und ein Hauch von Parfum, registrierte sie.

»Hallo, wir sollten uns beeilen. Vater möchte dich noch begrüßen, bevor er schläft.«

Lauren setzte ihr konventionelles Allerweltslächeln auf, das Katja aber nicht erwiderte, und Lauren kam es vor, als sehe sie Mitleid in den Augen ihrer Schwester. Sie hatte es gewusst. Nichts hatte sich geändert. Auf der Fahrt vom Flughafen zum Haus des Vaters schwiegen die Schwestern, und Tariq konzentrierte sich auf seine halsbrecherische Fahrt und schien an einem Gespräch mit den beiden nicht interessiert zu sein. Vor dem Haus hielt er direkt hinter einem großen BMW

»Das ist Said Benaji, der Arzt Ihres Vaters«, erklärte Tariq beunruhigt, während er schnell das Auto verließ. »Es ist ungewöhnlich, dass er um diese Zeit noch einmal kommt.«

In stummem Erschrecken sahen sich Katja und Lauren an, bevor auch sie rasch aus dem Auto stiegen und hinter Tariq ins Haus eilten.

Oben an der Treppe stand die arabische Pflegerin in ihrer schwarzen Djellabah und rief Tariq laut auf Arabisch einige Sätze entgegen. Tariq wandte sich an Katja und Lauren: »Der Zustand Ihres Vaters hat sich dramatisch verschlechtert.«

Kapitel 5

Leslie drückte sich in der Kosmetikabteilung von Harrods herum, bis sie stehen blieb und zusah, wie ein asiatisch aussehendes Mädchen geschminkt wurde.

Warum bin ich nicht so hübsch wie sie?, überlegte Leslie mit einem Gefühl des schmerzhaften Bedauerns, als sie sich in dem großen Spiegel sah, vor dem das Mädchen saß. Ihre ganze Erscheinung wirkte farblos, die hellen Augen betonten den blassen Teint, und die dünnen blonden Haare fielen ihr glanzlos auf die Schultern. Ihre scharfe Nase verlieh ihrem Gesicht Strenge, und auch der schmale Mund wirkte abweisend und lud keinen jungen Mann ein, sich in Leslie zu verlieben. Während sie noch den Visagisten beobachtete, der mit einem dicken Pinsel Rouge auf die Wangen des Mädchens auftrug, griff sie nach einem dunkelroten Lippenstift und zog sich die Lippen nach. Als sie bemerkte, dass sie nicht den Tester genommen hatte, stellte sie den Stift hastig wieder an seinen Platz zurück. Das war so typisch für sie. Alles machte sie falsch. Fehlte nur noch, dass eine Verkäuferin sie beobachtet hatte und sie zwang, den Lippenstift zu kaufen. Leslie hatte keinen Penny in der Tasche, auch keinen Ausweis, nichts, nur ihren Schlüssel. Vor einer Stunde war sie aus der Wohnung geflüchtet, weil sie die Stille und das Warten auf einen Anruf ihrer Mutter nicht mehr ertragen konnte.

Jetzt tauchte sie in einer Reisegruppe von älteren Amerikanerinnen unter und ließ sich mit ihnen bis zu einer Rolltreppe schieben. Sie fuhr hinauf in die Designerabteilung und schlenderte ziellos und unkonzentriert durch die Gänge. Sollte sie sich etwas kaufen, das sie schöner machen würde, das sie elegant aussehen ließ, so dass sie sich neben ihrer Mutter nicht ständig als hässliches Entlein fühlen musste? Doch dann fiel ihr ein, dass sie ja auch keine Kreditkarte dabeihatte. Außerdem sah sie nichts, was ihr gefiel, nur manchmal ließ sie ihre Hände zerstreut über den Stoff eines Kleides gleiten, oder sie griff nach einem ausgefallenen Oberteil. Es war alles so sinnlos geworden, seit sie mit der Todesnachricht rechnen musste. Vor zwei Tagen war ihre Mutter nach Marrakesch geflogen, gestern war Katja dort eingetroffen, und Lauren hatte sie nur kurz angerufen, um ihr zu sagen, dass es Großvater sehr schlechtgehe und er nicht mehr ansprechbar sei. Fast schien ihre Mutter darüber erleichtert, denn in dieser Situation würde es keine Gespräche und keine erzwungene Versöhnung mit der verhassten Schwester geben. Auch keine unliebsamen Enthüllungen, die aus dem Nebel der Vergangenheit ans Licht gezerrt wurden. Wenn Leslie ehrlich zu sich war, hatte sie nie besonderes Interesse an den Zerwürfnissen der Familie gehabt. Auch das »gewisse Buch« hatte sie nicht gelesen, sie war einfach zu beschäftigt mit ihrem eigenen Leben. Während sie sich vor einem großen Spiegel eine schwarze Lederjacke anhielt, üb legte sie, warum sitz ihr Vater aus New York nur ein einziges Mal gemeldet hatte. Sie hatte ihm von ihrem sterbenden Großvater erzählt, doch das schien ihn nicht besonders erschüttert zu haben. Seine Stimme hatte nervös und abgespannt geklungen, und er hatte die kurze Unterhaltung beendet, bevor Leslie nachfragen konnte. Und seit diesem Gespräch war sein Handy abgestellt. Das entsprach so gar nicht dem zuverlässigen Tony Madsen, der sonst auf allen Reisen zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar war. Beunruhigt hängte Leslie die Jacke wieder zurück auf den Ständer, fuhr mit der Rolltreppe ins Erdgeschoss und schlenderte unlustig dem Ausgang zu. Es wurde bereits dunkel. Unentschlossen blieb sie neben einem Blumenstand stehen, nur einige Meter vom Eingang zur Underground entfernt. Und da sah sie ihn.

Er war es. Es gab keinen Zweifel. Er trug seinen Burberry, hatte den Kragen hochgeschlagen, über der Schulter einen Rucksack, in der Hand eine Reisetasche.

»Daddy«, schrie Leslie aus Leibeskräften. »Daddy ...«, und rannte los.

Sie schob die Leute beiseite und drängte sich zur Rolltreppe vor, die vollbesetzt in doppelter Reihe die Menschen nach unten brachte. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als sie neben der Rolltreppe die Stufen nach unten hastete, doch der Mann im Burberry war verschwunden. Er musste es sehr eilig gehabt haben, oder ... es war wirklich ihr Vater gewesen, der sie gesehen und ihre lauten Rufe gehört hatte, bevor er sich schnell aus dem Staub gemacht hatte. Aber warum? Was machte das für einen Sinn? Enttäuscht stieg Leslie die Treppe wieder nach oben, nicht ohne sich mehrmals umzudrehen. Doch der Mann schien wie vom Erdboden verschluckt. Es ist absurd, entschied sie in Gedanken. Offensichtlich hatte sie in der aufkommenden Dunkelheit einen Fremden für ihren Vater gehalten, und das schien nichts Ungewöhnliches, denn schließlich trugen in London viele Männer einen hellen Trenchcoat. Ihr Vater besaß auch keinen Rucksack und keine billige Nylonreisetasche, Tony Madsens Gepäck bestand aus einem mehrteiligen teuren Set. Sie musste sich geirrt haben, denn ihr Vater fuhr zudem nie mit der U-Bahn, da er eine tiefsitzende Angst vor Menschenansammlungen hatte. Sie war ihrem Wunschdenken erlegen, wollte einfach, dass ihr Vater zurückkam, sie in die Arme nehmen und ihr sagen würde, dass alles gut sei.

Es fing zu regnen an, und Leslie, die ohne Schirm losgezogen war, hastete am Hyde Park entlang, rannte an der französischen Botschaft vorbei bis zu dem hohen Haus, in dem die Madsens eine geräumige Wohnung besaßen. In der Eingangshalle ging sie geradewegs zum offenen Lift und fuhr in den fünften Stock.

Warum war ihr Vater vor dem Abflug nach New York so nervös gewesen? Leslie erinnerte sich plötzlich daran, dass er in den vergangenen Tagen oder vielleicht schon seit Wochen schlecht ausgesehen hatte, dass er mit sich selbst sprach, konfus reagierte und zusammenschrak, wenn das Telefon oder sein Handy klingelte. Ihrer Mutter war das natürlich nicht aufgefallen. Aber auch Leslie hatte dem schlechten Aussehen ihres Vaters wenig Beachtung geschenkt, denn sie war zu sehr mit ihrer Zukunft beschäftigt gewesen und musste sich auf die wichtige Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule vorbereiten.

Als sie die Wohnung betrat; war es nur ein Hauch – ein Hauch des Rasierwassers ihres Vaters. Oder bildete sie sich das jetzt ein? Alles war still, und gegen alle Vernunft rief Leslie »Daddy?« in die Dunkelheit. Doch es rührte sich nichts, und Leslie machte hastig das Licht an, blieb kurz an der Tür stehen, sah sich um und steuerte dann auf die kleine japanische Kommode zu, auf der das Telefon stand. Keine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Niemand hatte angerufen. Sie verharrte einen langen Moment, um angestrengt zu lauschen, doch sie hörte nur den Regen und das ferne Rauschen des Verkehrs. Es war lächerlich, Angst zu haben! Sie war einfach nur überdreht, angespannt durch den nahenden Tod ihres Großvaters. Sicher befand sich ihr Vater noch in New York. Sie musste sich um ihn keine Sorgen machen. Sie war nur überreizt gewesen, und in dem diffusen Licht der Dämmerung hatte sie einen fremden Mann für ihren Vater gehalten. Das war alles. Sie ging durch alle Räume, drehte überall Licht an und blieb schließlich in der Küche stehen. Das hohe Bogenfenster reichte bis zum Boden, und sie erinnerte sich daran, wie sehr sie sich als Kind gefürchtet hatte, durch die riesige Scheibe nach unten zu sehen, auf Knightsbridge, auf die Menschen, die dort entlanghasteten und so klein aussahen. Sie lehnte ihre Stirn an die Scheibe und weinte. Sie weinte, weil ihr Großvater im Sterben lag, sie weinte über die Endgültigkeit des Todes, und sie weinte um sich selbst, um ihr eigenes Leben, in dem es so wenig Liebe und Geborgenheit gab.

Es wurde ganz dunkel, der Regen hörte auf, und Leslie sah hinunter auf die Lichter der Autos, der Geschäfte und auf die Lichter im gegenüberliegenden Haus, die nach und nach in jedem Stockwerk aufflammten. Sie fröstelte, immer wieder kehrten ihre Gedanken zu dem sterbenden Großvater zurück. Hatte er Angst vor dem Tod? Würde der Todeskampf lange dauern, oder würde er im Schlaf in ein anderes Leben hinübergleiten? Leslie dachte an die Worte ihrer Mutter, dass Großvater seit Uhren in Marrakesch allein gelebt hatte. Vielleicht saß auch jetzt niemand neben ihm, der ihm die Hand hielt oder ihm zärtlich über die Stirn strich. Oder ihm zuflüsterte, wie sehr er geliebt wurde und wie sehr man um ihn weinen wird. Denn ihre Mutter würde das nicht tun, das konnte sich Leslie einfach nicht vorstellen. Sie sah den sterbenden Mann vor sich, an seinem Bett seine beiden Töchter. Lauren, die Gefühlskalte, die ihr Lebensziel im Geldausgeben sah, um sich passend in Szene zu setzen. Und Katja? Würde sie ihren Vater zärtlich streicheln, ihm versichern, dass sie ihn lieb habe, dass sie alles bereue? Wohl kaum, dazu war der Bruch zu endgültig gewesen, die Entfremdung innerhalb einiger Tage nicht mehr zu kitten.

Langsam löste sich Leslie von dem Fenster. Sie musste sich entscheiden. Es war Zeit, dass sie erwachsen wurde. Es war Zeit zu erkennen, was ihr im Leben wichtig war. Und da ahnte sie, es war nicht die Schauspielschule, und es war auch nicht ein Leben als Schauspielerin. Zumindest jetzt nicht. Noch nicht.

Sie ging zum Telefon, wählte und reservierte ein Flugticket nach Marrakesch für den nächsten Abend. Nach einem kurzen Moment erklärte ihr die freundliche Dame, dass leider ihre Kreditkarte nicht angenommen werde, ob sie noch eine andere habe? Leslie wurde ungeduldig, sicher lag ein Irrtum vor. Sie überlegte kurz, dann schlug sie vor, das Ticket zwei Stunden vor Abflug am Flughafenschalter abzuholen und bar zu bezahlen. Die Dame war damit einverstanden.

Ohne weiter darüber nachzudenken, legte Leslie den Hörer auf, und während sie in ihr Badezimmer ging, löste sie bereits ihre Haare, die sie im Nacken zusammengebunden trug. Sie drehte den Hahn auf, goss Lavendelöl in das Badewasser und sog den vertrauten Duft ein. Sie liebte Lavendel, und sie freute sich jetzt auf dieses Bad. In ihrem Schlafzimmer zog sie sich aus und ging nackt zurück. Da läutete es an der Tür, einmal, zweimal, heftig und aufdringlich. Dann wurde es still.

Kapitel 6

Schwer lastete die Müdigkeit auf Lauren und verursachte ihr starke Rückenschmerzen. Trotzdem blieb sie kerzengerade auf ihrem Bett sitzen. Kaum wagte sie zu atmen, während sie nach draußen horchte, denn Katja war beim Vater.

Nachdem sie das Haus betreten hatten, warteten Katja und sie beklommen vor dem Zimmer des Vaters, bis Said Benaji herausgekommen war. Der Arzt hatte ein paar nichtssagende Worte mit ihnen gewechselt. Er könne nicht genau sagen, wann Jürgen Bachmann wieder ganz zu sich komme, auf die Spritze hin würde er sicher die nächsten Stunden tief schlafen, aber er werde insgesamt immer schwächer. Lauren hatte ihm kaum zugehört, denn sie war fassungslos gewesen, als Katja es gewagt hatte, das Sterbezimmer des Vaters zu betreten, einfach so, ohne sie, Lauren, um ihr Einverständnis zu bitten.

Und nun war Katja bei ihrem Vater, und auch Said war zurück zu dem Sterbenden geeilt. Als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, war Lauren ratlos vor dem Zimmer stehen geblieben und hatte gehofft, der Arzt würde wiederkommen und auch sie bitten, zu ihrem Vater hineinzugehen. Doch die Tür öffnete sich nicht, und so war sie langsam zu ihrem Zimmer hochgegangen. Immer wieder hatte sie sich umgedreht, aber niemand hatte nach ihr gerufen.

***

Voller Angst und Zweifel näherte sich Katja dem Bett ihres Vaters. Still blieb sie stehen und sah betroffen auf einen Mann hinunter, dessen Existenz nur noch auf einen abgemagerten und gequälten Körper reduziert schien.

Tränen der Fassungslosigkeit stiegen ihr in die Augen, als sie an den attraktiven, eleganten Mann zurückdachte, der Jürgen Bachmann einmal gewesen war. Regungslos verharrte sie, scheu griff sie schließlich nach der Hand des Vaters, der ihr immer fremd geblieben war. Seine Atemzüge gingen ruhig und regelmäßig, und Katja ging leise um sein Bett herum, um die zweite Nachttischlampe anzuknipsen, denn das diffuse Abendlicht im Zimmer ängstigte sie. Als sie an dem offenen Fenster vorbeikam, blieb sie stehen und sah staunend in einen Nachthimmel hinauf, an dem Tausende von Sternen funkelten und leuchteten. Versunken in diesen Anblick, fuhr sie erschrocken herum, als sie angesprochen wurde. Dr. Benaji, der ihr gefolgt war, stand auf der anderen Seite des Bettes.

Erst in diesem Augenblick nahm Katja sein dunkles Gesicht wahr, den schön geschwungenen Mund und die mandelförmigen Augen, deren Blick sie nicht loslassen wollte. Der Arzt sah Katja unverwandt an, als er ihr seine Hand über das Bett hinweg entgegenstreckte.

»Ich habe vergessen, mich Ihnen vorzustellen. Said Benaji.« Fasziniert lauschte sie seiner tiefen warmen Stimme.

»Ich weiß«, flüsterte sie, und bevor es ihr bewusst wurde, verfiel sie bereits deren weichem Klang. Krampfhaft lächelnd suchte sie nach Worten, damit Dr. Benaji nicht bemerkte, wie verwirrt sie war, während sein Blick forschend auf sie gerichtet blieb, als erwartete er in ihrem Gesicht, in ihrem Lächeln etwas, das ihm eine Antwort auf eine Frage geben könnte. Und Katja wusste nicht, dass ihm ihre Augen bereits diese Antwort gegeben hatten.

***