Der Egochrist - Boris David Seidl - E-Book

Der Egochrist E-Book

Boris David Seidl

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Beschreibung

Das Buch der "Der Egochrist" schildert den Konflikt zwischen Philosophie und Religion in Form einer historisch-biblischen Neuerzählung eines jungen Mannes, der seinerseits sein Leben lang stark in den Sog von Instinkt, Verstand und christlicher Wertvorstellungen gezogen wird. 2017: Man feiert den Befreier Martin Luther und das Reformationsjubiläum. Eine extensionale Erlösung der religiösen Unterdrückung. 500 Jahre später legt der Roman "Der Egochrist" die innere Reformation eines Gläubigen in Form einer Geschichte, welche mit Bibelversen von Martin Luther versehen ist, offen. Das Werk ist besonders für an religiösen Themen Interessierte, aber auch für Menschen ohne religiösen Hintergrund von Interesse, es inspiriert zum Um- und Nachdenken in existentiellen Fragen des Lebens.

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Seitenzahl: 185

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Der

Egochrist

Boris David Seidl

Kyniker Verlag

Boris David Seidl

Der Egochrist

Impressum

Alle Rechte, insbesondere die des Nachdrucks, der Übersetzung, des Vor-trags, der Radio- und Fernsehsendung und der Verfilmung sowie jeder Art der fotomechanischen Wiedergabe, der Telefonübertragung und der Spei-cherung in Datenverarbeitungsanlagen und Verwendung in Computer-programmen, auch auszugsweise, vorbehalten.

Bestellung und Vertrieb – Nova MD GmbH, Vachendorf.

Druck: Sowa Sp. z o.o.ul. Raszynska 1305-500 Piaseczno, Polska

© Kyniker Verlag

ISBN: 9783961116461

1. Auflage, 2017

Boris David Seidl

Der Egochrist

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Inhalt

Zugang zum Dilemma. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7

Einleitung: Die Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9

Die Ambivalenz der Moral: Jesus – Judas Erzählung reloaded . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

«Du kamst auf diese Welt vollkommen, ich habe mit Defiziten begonnen» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

«Du hast gepredigt, ich wurde belehrt» . . . . . . . . . . . . . . 54

«Du hast Blinden das Licht gebracht, mich haben Blinde sehend gemacht» . . . . . . . . . . . . . . . . 71

«Du gingst übers Meer, ich ging unter». . . . . . . . . . . . . . 79

«Du hast geheilt, ich bin krank geworden» . . . . . . . . . . . 88

Ausklang: Indien und Sai Baba. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Der Engel und Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Nachwehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

7

Zugang zum Dilemma

Zuerst im Licht, Klarheit, dann im Schatten, trüb,

vielleicht reingewaschen, heilig, eher scheinheilig.

Dann dunkel, dann hell, dann wieder dunkel, tiefstes Dunkel, plötzlich wieder kurz hell, dann aber ganz dunkel, dunkler als dunkel – Finsternis.

...dann sozial, pseudosozial – langweilig, aber sicher (in Gemeinschaft)

Nach oben orientiert, nach unten orientiert, dann wieder nach oben

...auch liberal geworden, sehr liberal, sündig liberal, extrem liberal – nicht mehr konservativ

...dann allein (aus Gemeinschaft)

trotz der guten Freunde, die man Jahre zuvor gelernt hat zu lieben

nun ignorant, esclusivo, nicht mehr gesellig, fremd, doch beschäftigt

mitleidig nachdenklich, Anstieg, intensiv, dann radikal nachdenklich

nur mein Ego und meine Denkfreiheit – Ich selbst geblieben (durch Gemeinschaft)

«Krist» sagte: «Egoismus, Egoichmuss, Egomichmuss»

Ich, Egochrismuss

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Einleitung: Die Veränderung

Es war Ende Oktober 2001 nach Christi Geburt. Es war erst ein neues Jahrtausend angebrochen und die Menschheit noch immer verharrend im bösen Zeitalter des Kali Yuga. Ju-gendlich, im Hier, im Glaubensglück, den moralisch Urteilsver-mögenden zu gehören, ein großes Glück, ein Schatz im Himmel.

Ich wachte auf und mir lief sogleich der Film vom Vorabend herunter und ich wollte glauben, dass dies nur ein schlechter Traum gewesen sei. Leider war es die Realität und das wurde mir erst klar, als die Visite kam: «Na, da haben wir unseren Mini-Rambo.» Daraufhin nahm der Arzt mehrmals Blut ab und fragte mich, welche Drogen ich mir am Vorabend reinge-schmissen hätte. Ich antwortete: «Keine.» Aber das glaubte mir zu diesem Zeitpunkt verständlicherweise niemand. Mein gan-zer Körper war zerschürft und von Dornen übersäht, sodass ich die Blutabnahme nicht im Ansatz spürte, obwohl ich eine Nadelphobie habe.

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Als die Ärzte wieder den Raum verließen, kamen mir die Details meines nätchlichen Fiaskos in den Sinn und ich wünschte mir einfach vom Erdboden verschluckt zu werden. Ich dachte nach, wie ich das meiner Familie und der Polizei erklären sollte? Dann kam mir der Gedanke, es wäre besser gewesen wenn ich am Vor-abend doch verreckt wäre. Da aber dies nicht geschehen war, fiel mir ein, dass ich an diesem Abend in höchster Not einen Hilfeschrei zu Gott sandte, bei dem ich gelobte, falls ich diese Nacht überleben sollte, mich für die Armen aufzuopfern und die gesamte Heilige Schrift zu lesen, da ich ja im christlichen Glauben aufgewachsen war.

Ich beschloss vom Krankenbett aufzustehen, aber ich spürte meinen Körper nicht mehr. Im ersten Moment dachte ich, dass ich nun querschnittsgelähmt wäre, aber dies war zum Glück nicht der Fall. Ich raffte meine letzten Kräfte zusammen und stieg aus dem Bett um duschen zu gehen. Da bemerkte ich, dass ich kaum noch gehen konnte. Mit etwa fünf Zentimeter gro-ßen Schritten begab ich mich in Richtung Badezimmer. Meine drei Zimmergenossen, die mir allesamt als Schwerstalkoho-liker erschienen, starrten mich verwundert an. Es verschlug ihnen die Sprache als ich nach einigen Minuten im Badezim-mer angelangt war. Als ich das Wasser aufdrehte und es mei-nen Körper berührte, musste ich sehr laut schreien, da dies äußerst schmerzhaft war. Nach dem Duschen zitterte ich am ganzen Leib und bewegte mich mit einem Schüttelfrost wieder sehr langsam zurück in mein Bett. Meine drei Zimmerkollegen schauten mich wieder sehr verwundert an, bis mich einer an-sprach und meinte: «Du bist ein wilder Typ!» Dann fragte mich ein anderer Zimmerkollege, was denn mit mir los sei und mit

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mir gestern passiert wäre. Ich wusste nicht wo ich anfangen sollte, aber ich begann einfach zu erzählen:

…also, ich spielte mit meinem Bruder und meinen Glaubens-freunden ein Fußballturnier mit unserem damaligen Hobby-club «T-96», den unser Freund Werner mit uns fünf Jahre zuvor gründete. Wir gewannen ein kleines Fass Bier und überlegten, wo wir diesen Erfolg feiern könnten. Ebenso hatten Moritz und ich gleichzeitig Zivildienstabschluss und wir beschlossen, am selben Tag mit meinem Bruder und Benedikt ins Wochenend-haus meiner Großeltern zu fahren, um dort zu feiern. Moritz besaß als einziger von uns ein Auto und wir fuhren gemeinsam los, aufs Land. Zufällig war an diesem Abend auch ein sehr ent-scheidendes WM-Qualifikationsspiel gegen Israel. Wir leerten das kleine Fass Bier im Eilzugstempo und hatten zu Spielbeginn schon einen etwas erhöhten Alkoholspiegel. Dann begann dieses verrückte Fußballspiel, wo in den ersten 80 Minuten nichts passiert war. Dann bekam unsere Nation einen Freistoß am Strafraum zugesprochen und ich war komplett nervös und wollte, dass wir uns die Hände dabei halten, damit wir Israel besiegen würden, aber das wollte mein Bruder nicht. Samuel und ich fingen an heftig zu streiten, währenddessen Herzog das 0:1 schoss. Die Auseinandersetzung zwischen meinem Bruder und mir spitzte sich zu. Nach unserem Streit war trotzdem die Freude über das Tor so groß, dass wir beide kurz darauf wieder Frieden schlossen und alle zusammen einen darauf tranken und den Sieg feierten. Der Abend verlief ausgelassen und wir schütteten uns nieder bis Samuel und Moritz irgendwann weg-kippten. Benedikt und ich standen in der Küche und machten eine Flasche Weißwein auf, tranken ein Glas nach dem anderen

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und redeten über frühere Zeiten. Dann überkam mich irgend-wie ein Rappel und ich beschloss mit dem Auto von Moritz den nächsten Wirt aufzusuchen, um dort etwas in Gesellschaft zu sein. Daraufhin fuhren Benedikt und ich im Unwissen von Sa-muel und Moritz los, da diese bereits schon fest schliefen. Wir suchten zu später Stunde ein Wirtshaus auf und bestellten ei-nige Biere. Als die Kellnerin uns verkündete, dass Sperrstun-de wäre und wir nun bezahlen müssten, bemerkten wir, dass wir beide kein Geld dabei hatten. Daraufhin holte sie den Wirt und ich meinte spaßhalber, obwohl der Wirt schon einen eher sauren Eindruck auf mich machte, ob wir denn nicht unsere Zeche beim Abwasch begleichen könnten. Er wurde wütend, schmiss uns raus und es kam nach den niveaulosen Beschimp-fungen vom Wirt draussen noch zu einer heftigen Diskussion. Benedikt und ich gingen nun zum Auto und er rief uns aus der Entfernung zu: «Wenn ihr noch ins Auto steigt, dann ruf ich die Polizei an!» Benedikt sagte: «Nein, nein wir gehen zu Fuß nach Hause!» Nach einigen Metern wurde ich etwas unruhig und wollte mir das nicht gefallen lassen. Ohne zu zögern beschloss ich das Auto doch zu holen. Benedikt wollte mich noch davon abhalten, schließlich ging er aber dann alleine die Straße ent-lang, in Richtung Wochenendhaus.

Da der Parkplatz vom Gasthaus an ein Hirschgehege grenz-te, welches meterhoch umzäunt war, kam mir der Gedanke in das Gehege hinein zu steigen, um so unbemerkt zum Auto zu gelangen. Ich kletterte über den Zaun und fiel dabei in einen kleinen Tümpel oder vielleicht in die Tränkstelle der Hirsche. Als ich nun endlich von der verdeckten Seite zum Auto ge-langte, entledigte ich mich meiner nassen und schmutzigen

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Kleidung, da ich die Sitze in Moritz’ Auto nicht beschmutzen wollte. Ich zog mich aus und legte das nasse Gewand auf den Fußabtreter des Beifahrersitzes. Die Schuhe legte ich ebenfalls dazu, da die Strecke ja nicht so lang war. Ich startete den Motor, dabei drehte ich den Song «Psycho Circus» von der Band «Kiss» voll auf und fuhr schnell vom Parkplatz weg. Währenddessen legte Benedikt bereits mehr als die Hälfte der Strecke zurück und begegnete dabei der Polizei. Diese fragte ihn, ob er einen Golffahrer gesehen hätte. Er antwortete kollegialerweise: «Ja, der ist gerade vorbei gefahren.»

Die Beamten bedankten sich und wollten in diesem Moment in ihr Auto zurückgehen. Da hörten sie von der Entfernung laute Musik und gleichzeitig ein Auto hupen. Benedikt erzähl-te mir später, dass er in diesem Augenblick gehofft hatte, dass das nicht ich sein möge, obwohl sich Sekunden später seine Befürchtung bewahrheitete. Ich kam aus einem Waldstück und lenkte in die Kurve ein, wo ich etwa siebzig Meter entfernt, im Scheinwerferlicht Benedikt und die Polizei erkannte. Sofort zog ich die Handbremse und sprang nackt, nur mit einer Unterhose bekleidet, aus dem Fahrzeug. Dabei hörte ich einen der Polizei-beamten: «Bleib stehen du Arschloch!», und sie rannten mir nach. Es ging alles so schnell und ich sprang die Böschungen hinunter und flüchtete in den dunklen Wald. Aus Angst, dass mich die Polizei fassen würde, lief ich sehr tief in den Wald hi-nein. Dabei stürzte ich viele Male, rannte gegen Bäume und fiel sogar in einen kleinen Bach. Völlig zerschlagen und tranceartig landete ich irgendwo im tiefen Wald. Ich hatte keine Ahnung, wo ich eigentlich war, denn ich sah nicht einmal meine eigene Hand vor den Augen, da es Nacht und der Wald äußerst dicht

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war. Es war Ende Oktober in einer ländlich, bergigen Gegend, wo mir nach kurzer Zeit äußerst kalt wurde. Zum einen, da ich nur mit meiner Unterhose bekleidet war und zum anderen, da es an diesem Abend vielleicht nur wenige Grade Celsius über Null hatte.

Zeitgleich ereignete sich etwas entfernt von mir ein weiteres Fi-asko. Wie bereits erwähnt, schliefen Samuel und Moritz bereits eine Weile und wussten bis dato gar nichts von dem, was bereits geschehen war. Plötzlich stürmten mehrere bewaffnete Polizis-ten mit Spürhunden in das unverschlossene Wochenendhaus. Die beiden wurden sofort aus dem Schlaf gerissen und waren völlig perplex. Dabei fragte einer der Beamten meinen Bruder, wo denn die Drogen versteckt wären. Samuel antwortete: «Wir haben keine Drogen!» Darauf meinte einer der Polizisten: «Wie ist das bitte erklärbar, dass einer von euch nackt im Wald her-um irrt, ohne etwas genommen zu haben?» Samuel und Moritz erschraken, als sie dies hörten. Samuel erkannte die gefährli-che Situation, suchte sofort eine Taschenlampe und nahm eine Decke mit, um mich suchen zu gehen. Während dessen kom-binierte aber ein etwas älterer Beamter, dass er glaube, dass hier Schnaps im Spiel gewesen sein müsste, denn aus eigener Erfahrung wusste er, dass man sich dabei oft der Kleidungsstü-cke entledigen würde.

An einem anderen Schauplatz, an dem sich Benedikt aufhielt, forschten die Beamten über das Kennzeichen des Autos von Moritz die Nummer seiner Mutter aus und riefen sie kurzer Hand an. Sie kontaktierten per Telefon irrtümlicherweise die

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Mutter von Moritz, dass ihr Sohn nackt aus dem Auto gesprun-gen wäre und Fahrerflucht begangen hätte. Einige Wochen spä-ter erfuhr ich von Moritz, dass seine Mutter dabei fast in Ohn-macht gefallen wäre, als sie dies hörte.

Ich war zu diesem Zeitpunkt der eisernen Kälte ausgeliefert und verloren im dunklen, kalten Wald. Ich irrte stundenlang im Nichts herum und suchte verzweifelt nach einem Ausweg, allerdings ohne Erfolg. Die finstere Nacht und die Dichte der Bäume lies nicht einmal zu, dass mir der Mond oder die Ster-ne etwas Licht spendeten. Es war stockdunkel und meine Ver-zweiflung wurde nun größer. Ich schrie laut: «Hilfe, helft mir!! Hilfe, Hilfe! Hört mich denn niemand?» Aber meine Rufe waren vergebens. Es herrschte eine Totenstille und mein Gebrüll ging in die Leere. Meine Blindheit und meine Verlassenheit führte mir die Ausweglosigkeit vor und ich wurde stumm und haderte mit mir selbst, warum ich in meiner Blödheit in das Dickicht geflüchtet war. Irgendwann gab ich mich selbst auf und glaub-te nicht mehr an ein Entrinnen aus der Abgeschiedenheit, da ich nach über einer Stunde Umherirren ständig gegen Bäume rannte und dabei oft auch hinfiel und noch immer nicht wuss-te, wo ich mich eigentlich befand. Wieder schrie ich mehrmals aus größter Verzweiflung: «Hilfe! Ist da wer? Hilfe!», aber keiner konnte mich hören. Dann begann ich, heulend aus Leibeskräf-ten zu brüllen, dem Tode nahe, aber es hörte mich niemand, da ich verloren war. Gleichzeitig sah ich nichts, nicht einmal die eigene Hand vor den Augen. Die Kälte wurde massiver und diese wurde der größte Faktor meiner Verzweiflung und ich freundete mich bereits mit dem Tod an. Dann bekam ich Hal-

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luzinationen und redete viel Persönliches mit mir selbst und flehte abermals bei Gott um Hilfe und entschuldigte mich für all meine Sünden, die ich je begangen hatte. Ich fing an, jäm-merlich zu weinen und es tat mir alles so leid, was ich je zuvor falsch gemacht hatte. Ich hatte große Angst zu sterben und dabei betete ich laut zu Gott und versprach ihm: «Herr Gott, bitte hilf mir! Bitte spende mir Licht und zeig mir den Weg aus dieser Finsternis! Bitte hilf mir! Falls du mir den Weg aus dem Wald zeigst, dann möchte ich mich für die armen Menschen in Indien einsetzen und ein persönliches Bibelstudium beginnen! Ich verspreche es dir, aber führe mich hier raus oder sonst wer-de ich sterben!» In diesem Augenblick verspürte ich Todesangst.

Ich glaubte nicht mehr daran, dass mir Gott helfen würde und wollte mir daher einen Ast in das Herz rammen, um sterben zu können. Die erbarmungslose, frostige Nacht fühlte sich scharf wie eine Klinge an und wurde so schmerzhaft, dass ich mein Le-bensende herbei sehnte. Darauf überkam mich eine Gleichgül-tigkeit und ich lehnte mich mit meinem Körpergewicht gegen den spitzen Ast und flehte wieder zu Gott, jedoch schaffte ich es einfach nicht, mir das Leben zu nehmen. Dann hielt ich den Atem sehr lang an, um mich zu ersticken, aber nach einigen Minuten nahm ich wieder einen tiefen Luftzug und atmete die eiskalte Luft ein. Ich kannte diesen Schmerz der Kälte zuvor nicht. Diese Qual wurde schier unerträglich, da ich mich über mehrere Stunden nahezu unbekleidet, einer Temperatur um den Nullpunkt selbst ausgeliefert hatte. An diesem Abend war ich mir so sicher, dass dies mein letzter sein würde. Ich hasste mich selbst für diesen dummen Alleingang. Dann legte ich mich

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nach einigen Stunden zwischen den Bäumen am Waldboden nieder, da ich nach langer verzweifelter Suche nach einem Aus-weg einfach um nichts weiter gekommen war. Es war mir so kalt, dass ich sogar auf meine Beine urinierte, damit sie sich für einen kurzen Moment wieder aufwärmen würden. Ich kam mir vor wie ein elender Wurm, verloren im blinden Nirgendwo. Es war der schrecklichste Zustand meines Lebens und ich sah den Tod so nahe vor Augen wie nie zuvor. Ich sehnte mich nach der Erlösung von den peinigenden Schmerzen und der Tod wurde mir mehr und mehr zum Freund. Innerhalb weniger Stunden durchlebte ich die intensivste Wesenswandlung, von der ju-gendlichen Unbekümmertheit hin zur Lebenskrise. Ich befand mich in einem besonderen Ausnahmezustand, zwischen To-desangst, Rausch und Trance. Mein Zeitgefühl verschwand, in diesem Moment befand ich mich in einer traumähnlichen Pha-se, dabei ging mein Unterbewusstsein auf Reise und mein Ver-stand durfte dabei zusehen, sofern sich dieser erinnern konnte. Die Inder würden es vielleicht als «Nirvikalpa Samadhi» be-zeichnen, eine mentale Bewusstseinsebene die sich mit dem höherem Selbst vereint, bei der die Unterscheidung zwischen Erkennendem, Erkenntnis und Erkanntem verschwimmt, wie Wellen im Meer, die im Wasser verschwinden und nur mehr an der Oberfläche weißen Schaum hinterlassen. Trotz der totalen Finsternis begann ich zu sehen.

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Die Ambivalenz der Moral: Jesus – Judas Erzählung reloaded

«Du kamst auf diese Welt vollkommen, ich habe mit Defiziten begonnen»

Ein Geschöpf, das zwischen Himmel und Erde lebt – es ist kein Engel, noch viel wunderbarer und schöner, welches mein Herz bewegt.

Nie zuvor hab ich solch liebliche Gestalt gesehen – es muss etwas Höheres geben, ansonst könnt dieses traumhafte Geschöpf hier nicht bestehen.

Unergründlich tief in glanzvolle Augen eingebettet – sieht man Freud, Leid, faszinierende Einfühlsamkeit, überzeugte Selbstentschlossenheit.

Formvollendet, ästhetisch, stilvoll und gar bescheiden –

bezaubernd in weicher Gemütsart, Andere mit Liebe zu kleiden.

Das Wort, die Sprache und die Schreibe selbst, ist unsagsam für dieses bildhübsche Wesen – sie ist die Essenz,

Ich hasse dich!

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Im Anfang war der Zwiespalt. Der gottgleiche Glaube einer ein-maligen Liebe, als stärkste Kraft im Universum und benachbart eine innere Zerrissenheit, ein Hadern mit sich, der Umgebung und dem Kosmos. Er erwachte aus seinem tiefen Schlaf, seine Gedanken kreisten noch vom Vorabend in seinem Kopf und er wollte glauben, dass dies nur ein schlechter Traum gewesen sei. Jedoch war es die Realität, als seine geliebte Maria zu ihm trat und nun Josef mitteilen musste, dass sie schwanger wäre. Grundsätzlich wäre Josef über diese Nachricht erfreut gewe-sen, da er Maria über alles liebte und sich über ein gemeinsam gezeugtes Kind gefreut hätte, jedoch hatte er nie Verkehr mit ihr und ebenso mit keinem anderen Weibe und verspürte einen tiefgreifenden seelischen Schmerz, den vor allem Maria kaum nachvollziehen konnte. Er verharrte im falschen Glauben, dass Maria ihn ebenso sehr liebte, wie er es tat. Sie schenkte ihm zwar einfühlsames Gehör, jedoch konnte sie seine Worte der Schmerzen nie wirklich verstehen, da sie überzeugt war vom «Herr» selbst, anders ausgedrückt vom heiligen Geist, schwan-ger geworden zu sein. Sie behauptete, dass sie allzeit Jungfrau gewesen sei, allerdings konnte sie es nach dieser hingebungsvol-len Nacht mit dem «Herrn», Joseph nicht mehr bezeigen, und die Reinheit der unverdorbenen Liebe zwischen den beiden war befleckt. Die Jungfrau Maria sprach zu Josef: «Du musst bitte verstehen, der Herr hat mich auserwählt. Ich habe nichts Böses getan, es ist einfach passiert! Es war ein göttliches Wunder! Wa-rum sorgst du dich in dieser Angelegenheit um mich, ich tat dies nicht mit Absicht. Ferner geht es in einer wahren Beziehung um viel mehr als nur Sinnenreiz. Du hast schon so viel erlebt, bist talentiert in der Zimmermannskunst und hast Besitz von deinen

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Eltern bekommen. Auch stehe ich in keiner Schuld zu dir, da ich frei geboren wurde und dir ebenbürtig bin!» Er antworte-te: «Deine Worte sind nicht förderlich. Handwerkliche Talente und materielle Dinge sind in dieser Angelegenheit nicht ver-gleichbar. Du glaubst frei geboren zu sein, hast dich aber noch nie mit den Sittengrenzen beschäftigt. Wahre Liebe hat etwas mit Unbescholtenheit und Reinheit zu tun!» Maria erwiderte: «Ich kann nichts dafür! Ich bin unbescholten, es war der Herr selbst!» Maria war sich in dieser Affäre sehr sicher, dass sie sich mit dem heiligen Geiste eingelassen hätte, jedoch wusste sie nie wirklich, wie dieser Vorgang praktisch von statten ging. Maria traf keine Schuld, da sie selbst in diesem Moment von ihren un-bekümmerten Gefühlen nahezu getrieben war und ihr Verstand zu schwach war um zu widerstehen, den Herrn mehr liebte als ihren Josef. Somit sollte von nun an die Beziehung auf andere Fundamente bauen als Jungfräulichkeit, Romantik, Treue und Unverdorbenheit. Die Problematik wurde Joseph erst klar, als der Engel in der Nacht zu ihm sagte: «Joseph, hab keine Furcht, der heilige Geist hat sich an deiner Verlobten vergangen.» Dar-auf antwortete Joseph in seinem Traum, da ihm bekannt war, dass sie sehr freundlich und lebenslustig war und es genoss von anderen Männern begehrt zu werden: «Diese Hure, sie hat ihre Jungfräulichkeit an den Satan verkauft und besitzt die Skrupel-losigkeit, nun etwa den heiligen Geist vorzuschieben!» Der Engel hatte gewisses Verständnis für ihn, dennoch kam er als Bot-schafter Gottes und nicht als Seelentröster und sprach: «Wieso nennst du sie eine Hure? Sie hatte einmaligen Verkehr und dies mit dem Herrn selbst.» Joseph sprach: «Einmal? Sie hat sich mit einem Mann eingelassen, den ich zu kennen glaube! Es war ein

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römischer Soldat (zu dieser Zeit regierte Herodes und die Sol-daten hatten daher viele Freiheiten) und nicht der heilige Geist und nun möchte ich von ihr weggehen, da sie befleckt ist! Sie ist kein wertvolles Geschöpf mehr! Mir fällt es schwer sie zu ehren und aufrichtig zu lieben.» Darauf sprach der Engel: «Wenn du denkst, dass sie nun befleckt sei, da sie der Herr beschenkte, dann möchte ich behaupten, dass du in deiner Schlussfolge-rung und Denkweise falsch liegst. Wenn ich deine starre An-sicht nun vertreten müsste, dass, wenn eine Frau mit mehre-ren Herrn der Liebeslust frönt, dann müssten wir behaupten, wenn