Der ehemalige Tote - Corinna Blum - E-Book

Der ehemalige Tote E-Book

Corinna Blum

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Beschreibung

Von einem unheimlichen Alten bekommt die private Ermittlerin Jess Bontempi eine merkwürdige Taschenuhr geschenkt. Nur wenig später stößt sie mit dem Anwalt Cedric Katz zusammen. Ihr wird schwindlig, alles wird dunkel – und Jess sieht den Anwalt tot daliegen. Was hat das alles zu bedeuten? Zum ersten Mal in ihrer Detektivlaufbahn beginnt Jess, in einem Mordfall zu ermitteln – ein Mord, der erst noch geschehen wird. *** "Der ehemalige Tote" ist ein Kriminalroman mit einem guten Schuss Science Fiction. Die Geschichte spielt in einer fiktiven Stadt am Meer. Dort arbeitet Jess Bontempi seit einigen Jahren als Privatdetektivin. Ihre Aufträge ähneln sich meist: Sie soll verschwundene Haustiere wieder finden und Ehepartner auf ihre Treue überprüfen. "Sie sehen gar nicht aus wie eine Detektivin." Jess' Erscheinungsbild ist so unauffällig, dass es vielen ihrer Gesprächspartnern schwerfällt, ihr zunächst zu glauben. Perfekte Voraussetzungen für ihre Ermittlungen. Auf ihrem alten Fahrrad namens Pepe stellt Jess Nachforschungen an. Nach dem folgenschweren Zusammenstoß mit dem Anwalt Cedric Katz will sie mehr über dessen baldigen Tod in Erfahrung bringen und gleichzeitig den Anwalt davor warnen. Doch dieser glaubt ihr nicht. Schließlich kann niemand die Zukunft vorhersagen. Oder etwa doch?

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Seitenzahl: 227

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Corinna Blum

Der ehemalige Tote

Corinna Blum

DER EHEMALIGE TOTE

Kriminalroman

3. Auflage 2024

Texte, Umschlagfoto und -gestaltung: © Corinna Blum

Verlag: Corinna Blum | Zaungasse 4 | 88299 Leutkirch

buch.corinnablum.de

Druck und Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Auch als E-Book erhältlich.

»Haltet die Uhren an.

Vergesst die Zeit.

Ich will euch Geschichten erzählen.«

(James Krüss)

Kapitel 1

P

apierkram. Jess hasste Papierkram. Manchmal zumindest. Wer hätte auch gedacht, dass sie beinahe die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit ihm verbringen würde? Weshalb hatte ihr das niemand vorher gesagt? Stattdessen hatten sie gesagt »Ein Detektivbüro – und das meinst du wirklich ernst?« und »Darf ich Wetten annehmen, wie lange du durchhältst?«.

Die Leute hatten keine Ahnung.

Sie hielt nun, entgegen aller Wetten, seit beinahe fünf Jahren durch; mal besser, mal schlechter, doch das war schließlich normal. Insgesamt kam sie über die Runden in dem Job, den sie liebte, und das war die Hauptsache. Sogar den Papierkram fand sie meist erträglich. Nur manchmal war er zäh und ermüdend.

Genervt schnaubte Jess aus, raffte den an diesem Tag äußerst zähen Papierkram zusammen und stand auf. Sie brauchte eine Pause. Und sie war hungrig. Es war Dienstag; wenn sie Glück hatte, würde sie in ihrer Lieblingsbäckerei noch auf Babette treffen. Jess kannte Babettes Arbeitszeiten genau und wusste, dass sie dienstags immer in der Frühschicht arbeitete, von 6 bis 14.30 Uhr.

Der Blick auf ihr Smartphone verriet, dass es bereits halb zwei war. Da kam Jess in Fahrt. Sie verließ ihr Büro so hastig, dass sich die alten, wurmstichigen Holzdielen unter ihren Turnschuhen knarrend beschwerten.

***

Babette war noch da, sie stand hinter der Verkaufstheke. Jess konnte ihre langen, rotblonden Locken durchs Schaufenster erkennen, während sie selbst in einem feinen Nieselregen auf die kleine Bäckerei zusteuerte. Sie begann zu lächeln und spürte, wie meist, wenn sie Babette sah, wie ihr Lächeln eine Spur breiter wurde als bei anderen Menschen.

Sie trat ein. Das Glöckchen über der Ladentür klingelte freundlich.

»Hallo, Babette. Schön, dich zu sehen«, begrüßte sie die Backwarenverkäuferin, und als Babette von ihrer Arbeit aufsah, lächelte diese ebenfalls.

»Hallo, Jess. Wie immer?«

Jess nickte nur, legte das Geld, das sie auf dem Weg zur Bäckerei bereits passend aus dem Portemonnaie zusammengesucht hatte, auf die Theke und nahm, während Babette sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte, einen tiefen Atemzug. Sie liebte den Geruch in der Bäckerei. Neben dem Duft nach knusprigen Brötchen und aromatischen Broten, Brezeln direkt aus dem Ofen und frisch gebrühtem Kaffee roch es hier auch immer nach Gemütlichkeit und Geborgenheit. Fast so, als wäre dieser winzige Laden mit den zwei Stehtischen und den schummrigen Deckenlampen ein Ort, an dem die Zeit stillstand und an dem sich die Gäste von den Strapazen der Welt dort draußen erholen konnten.

»Hier, lass es dir schmecken.«

Babettes Worte weckten Jess aus ihren Gedanken. Sie reichte ihr einen doppelten Espresso und einen Teller mit dem belegten Brötchen, auf dem sich seit geraumer Zeit stets zwei Scheiben Mozzarella mehr befanden als auf den Brötchen für die anderen Kunden.

Wie gewohnt begab sich Jess mit ihrer Mahlzeit zu ihrem Stammplatz, dem hinteren Stehtisch, um dort während des Essens gelangweilt in der Tageszeitung zu blättern und mit Babette zu plaudern.

Doch kaum hatte sie einen ersten Bissen von ihrem Brötchen genommen, ertönte erneut das Glöckchen über der Ladentür und ein Mann trat ein. Er war recht klein und sein Gesicht war übersät mit Falten und Runzeln. Jess hätte ihn spontan auf hundertzwanzig Jahre geschätzt. Sein hellgrauer Mantel war sichtlich abgenutzt, wirkte aber sauber. Auf dem Kopf trug er eine dunkle Tweedmütze und sah damit aus wie ein Junge, der im London des vorletzten Jahrhunderts durch die Straßen lief und »Extrablatt! Extrablatt!« rief.

Der Alte bestellte bei Babette eine Tasse Kaffee. In seiner Stimme klang ein leichter Akzent mit, den Jess nicht einordnen konnte. Alles in allem war er eine interessante Erscheinung, fand Jess.

Mit zitternden Händen balancierte der Mann seinen Kaffee durch den Verkaufsraum. Die große Tasse wackelte und rutschte auf der Untertasse umher. Vor ihrem geistigen Auge sah Jess bereits eine Kaffeefontäne quer durch die Bäckerei schießen und die Tasse auf dem Boden zerschellen. Doch der Kaffee blieb, wo er war, und die Tasse blieb ganz.

»An deinen Zukunftsprognosen musst du definitiv noch arbeiten«, merkte Jess’ innere Stimme im selben Moment an, in dem sich der Alte ohne ein Wort zu ihr an den Tisch gesellte, als ob es in der Bäckerei keinen zweiten Stehtisch gäbe. Perplex und auch ein bisschen pikiert betrachtete die Detektivin den Mann. Er hatte ihr mit seinem Auftauchen nicht nur die Gelegenheit genommen, mit Babette allein zu sein, sondern auch die Ruhe und Privatsphäre, die sie beim Essen gerne hatte.

„Guten Tag“, kam es aus ihr heraus; ein Automatismus. Ihren Eltern war Höflichkeit stets sehr wichtig gewesen.

Der Alte erwiderte nichts, mehr noch, er schien überhaupt keine Notiz von Jess zu nehmen. Er hatte die große, dampfende Tasse vor sich auf den Stehtisch gestellt und sich selbst auf den Barhocker gesetzt. Dort kramte er in den Taschen seines Mantels und legte nach wenigen Sekunden etwas neben die Kaffeetasse auf die gelbe Plastiktischdecke. Es war eine silbern glänzende und elegant anmutende Taschenuhr ohne Deckel, jedoch mit einer dünnen, ebenfalls silbern glänzenden Gliederkette. Auf der billigen Tischdecke und überhaupt in dieser Bäckerei wirkte die Uhr völlig deplatziert. Und irgendetwas störte Jess an der Taschenuhr. Was das war, vermochte sie jedoch nicht zu sagen.

Jess fühlte sich durch die Taschenuhr zwanzig Jahre in der Zeit zurückversetzt. In der Gastwirtschaft ihrer Eltern hatte es eine Gruppe von alten Männern gegeben, die regelmäßig zum Stammtisch gekommen war, alle in der einen Hosentasche eine Taschenuhr und in der anderen ein – meist kariertes – Stofftaschentuch. Die Taschenuhr holten sie im Laufe eines Abends einmal pro Stunde hervor, um die Zeit zu überprüfen; das Stofftaschentuch kramten sie hingegen sieben Mal pro Stunde hervor, um geräuschvoll hineinzurotzen. Das waren keine Schätz-, sondern Durchschnittszahlen, Jess hatte die Männer genauestens beobachtet. Menschen zu beobachten hatte bereits zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gezählt, als sie noch ein kleines Kind war. Daran hatte sich bis heute nicht viel geändert.

Zu ihrer stummen Gesellschaft hier in der Bäckerei passte die Uhr wiederum sehr gut. Jetzt, da sie sich an die Stammtischbrüder von damals erinnerte, befand Jess, dass der verrunzelte Mann neben ihr perfekt in die Runde gepasst hätte.

»Was, wie?«, stammelte der Alte unvermittelt und sah sich verwundert um, als wäre er soeben aus einer anderen Welt zurückgekehrt. Jess hatte durch ihren gedanklichen Ausflug in die Vergangenheit bereits wieder vergessen, was sie zu ihm gesagt hatte, und blinzelte nachdenklich.

»Guten Tag«, fand sie da ihre Höflichkeitsfloskel wieder, dieses Mal etwas freundlicher.

Der Alte musterte sie und begann erstaunt und glücklich zu lächeln, als ob er sie auf einmal erkannte. Dabei entblößte er ein schauderhaft gelb und grau verfärbtes Gebiss. Schnell rammte Jess wiederum ihre Zähne in ihr belegtes Brötchen. Eine Kurzschlussreaktion, um das scheußliche Gebiss nicht länger ansehen zu müssen; der Appetit war ihr beim Anblick der Zähne des Alten sofort vergangen.

»Es freut mich«, antwortete der Mann und strahlte noch immer; seine Stimme klang rau und aufgebraucht. »Möchtest du die Uhr haben?«

Beinahe verschluckte sich Jess an dem Bissen in ihrem Mund.

»W-waff?«

»Die Taschenuhr. Du hast sie dir lange angesehen.«

Jess kämpfte mit dem Bissen, würgte ihn mehr herab als dass sie ihn ordentlich aß, und erwiderte zögerlich: »Sie hat mich nur an meine Kindheit erinnert. Ich selbst trage keine Taschenuhren.«

Das Lächeln des Manns nahm einen wissenden Zug an.

»Ich schenke sie dir«, sagte er. Seltsamerweise brach ihr bei diesen Worten der Schweiß aus.

»Das … ist nett, danke, aber nicht nötig.«

»Nimm sie.« Mit einem Mal klang er sehr bestimmt.

»Ich …« Jess’ Blicke suchten nach Babette, doch die Verkaufstheke war verwaist. Überhaupt schienen sie und der alte Mann allein in der Bäckerei zu sein. Wahrscheinlich war Babette in der Küche oder in der Backstube.

»Wie gesagt, es ist wirklich nicht –«

»Das war keine Bitte.«

Jess’ Augen wurden groß. Instinktiv witterte sie einen Fall hinter dem alten Mann und der Taschenuhr. Dennoch starrte sie unschlüssig auf die Taschenuhr. Dieser Fall betraf sie nicht als Detektivin, sondern sie selbst als Privatperson. Sie wusste genau, dass sie nun irgendwie reagieren musste, und konnte sich gleichzeitig nicht zu einer Reaktion durchringen.

Es war nur eine Uhr, kam ihr da ein Gedanke. Sie konnte sie nehmen und später entsorgen. Der Alte würde es nie erfahren und sie konnte sich stolz auf die Schulter klopfen ob ihrer Deeskalationsfähigkeiten.

»Nimm sie, sonst lässt der Alte bestimmt keine Ruhe«, meldete sich auch ihre innere Stimme zu Wort. »Na los!«

Zaghaft griff Jess nach der Taschenuhr und betrachtete sie nachdenklich. Da erkannte sie, was sie an ihr gestört hatte.

»Warum hat die Uhr nur einen Zeiger?«

Sie blickte auf. Der runzelige Mann begann zu lachen, leise und heiser, wissend und spöttisch. Es klang garstig und gleichzeitig voller Freude. Abrupt trank Jess den Espresso in einem Zug aus und flüchtete aus der Bäckerei.

Kapitel 2

E

s hatte aufgehört zu nieseln. Den ganzen Nachhauseweg über grübelte Jess fieberhaft, weshalb der Alte so überzogen reagiert hatte – dieses scheinbare Erkennen, dieses grauenhafte Lachen – und weshalb sie selbst so zögerlich, ja, beinahe furchtsam auf die Taschenuhr reagiert hatte. Es war nur eine Uhr. Noch dazu eine, die kaputt war; immerhin besaß sie nur einen Zeiger. Über sich selbst den Kopf schüttelnd steuerte Jess den nächsten öffentlichen Mülleimer an, die Taschenuhr dabei fest im Blick, und prallte mit jemandem zusammen.

»Verzeihung«, stotterte sie automatisch.

»Mach halt die Augen auf!«, erwiderte der Mann vor ihr barsch, doch Jess beachtete ihn kaum. Vielmehr starrte sie auf ihre rechte Hand, in der es seit dem Zusammenprall kribbelte. Die Uhr. Sie vibrierte anhaltend und klang dabei wie ein riesiger Maikäfer. Jess spürte die Vibrationen bis in ihren Ellbogen. Der einzelne Zeiger drehte sich rasend schnell um den Mittelpunkt.

Was geschah hier? Was sollte das? Der Zeiger drehte unermüdlich Runde um Runde um den silbernen Zeigerknopf. Das Vibrieren wurde immer stärker, und Jess spürte ein seltsam schwammiges, panikartiges Gefühl in sich aufsteigen.

»Was ist das?«, fragte der Mann, mit dem sie zusammengeprallt war. Jess war nicht mehr in der Lage zu antworten, denn im selben Moment ertönte aus der Uhr ein »Klick!« und die Welt vor Jess’ Augen begann sich zu drehen. Ihr wurde schwindelig. Auch der Mann neben ihr schien zu torkeln. Alles verschwamm und wurde kurz dunkel, dann wurde es wieder hell.

***

Die Welt um Jess kam allmählich zum Stillstand, und mit dem Gefühl, als hätte sich ihr Magen umgestülpt, erfasste Jess drei Dinge:

Sie hielt noch immer die Taschenuhr in der Hand, doch diese vibrierte nicht mehr. Auch der Zeiger hatte aufgehört, sich zu drehen.

Sie stand nicht mehr in der Altstadt mit ihrem Kopfsteinpflaster und den hohen, buntverblassten Häuserreihen an den Straßenseiten, sondern offenbar in einem Garten. Im wilden, ungepflegten Garten eines Hauses, das auf den ersten Blick ebenfalls recht ungepflegt aussah.

Und der Mann, mit dem sie zusammengeprallt war, lag mit geschlossenen Augen vor ihr auf dem Boden. Blut war überall. Im Gesicht des Manns. An seinen Handflächen. Auf seinem hellblauen Hemd. Ein großer roter Fleck von Brust bis Bauch.

Dieses Szenario überstieg Jess’ Gehirnkapazitäten. Rasch drehte sie sich um, um den Inhalt ihres Magens nicht über dem offensichtlich toten Mann zu entleeren. Ihre Würgegeräusche widerten sie an. Sie spürte den Schmerz, der sich hinter ihren Schläfen pochend bemerkbar machte, einem unnachgiebigen, immer gleich bleibenden Technobeat ähnelnd. Gleichzeitig spürte sie erleichtert, wie es ihr etwas besser ging.

Mit feinen Schweißperlen auf der Stirn drehte sie sich wieder zu der Leiche um. Wie konnte das sein? Wie konnte dieser Mann in der einen Sekunde noch leben und in der nächsten tot vor ihr liegen? War sie ohnmächtig geworden? Was hatte sie verpasst?

Vorsichtig kauerte Jess sich neben den Toten und begutachtete ihn, darum bemüht, ihren noch immer rebellierenden Magen, das schmerzende Pochen in ihrem Kopf und die Überforderung angesichts des toten Menschen vor ihr zu verdrängen.

Das Hemd des Manns war in der Magengegend zerfetzt. Ein Messerstich? Totschlag? Mord? Jess hatte keinerlei Erfahrung mit Mordfällen. Ihre Aufträge als private Ermittlerin bestanden hauptsächlich aus dem Observieren von möglicherweise untreuen Ehepartnern sowie dem Wiederfinden von vermissten Haustieren und wertvollen Gegenständen. Ihr aufregendster Fall bisher war die Überführung eines Serieneinbrechers gewesen. Und nun ein Mord, bei dem sie selbst anwesend und dennoch keine Zeugin war?

Moment, war der Mann tatsächlich tot? Instinktiv beugte Jess sich über ihn und tastete vorsichtig nach seiner Halsschlagader, um den Puls zu fühlen. Doch kaum hatten ihre Finger seine Haut berührt, spürte sie ein Kribbeln in ihrer Hosentasche. Die Taschenuhr. Anscheinend hatte sie sie unbewusst eingesteckt. Mit großem Unbehagen richtete Jess sich auf, angelte die vibrierende Uhr aus der Hosentasche und erlebte ein Déjà-vu: Der einzelne Zeiger hatte erneut begonnen, schnell und unermüdlich um den Knopf in der Mitte zu kreisen. Auch die Welt begann abermals, sich vor ihren Augen zu drehen. Alles verschwamm, wurde dunkel, wurde hell und kam zum Stillstand.

***

In Jess drehte sich noch immer alles. Mehrmals kniff sie die Augen zusammen und merkte erst allmählich, dass sie sich wieder in der Altstadt befand und auf dem Gehsteig saß, mit dem Rücken an eine Hauswand gelehnt. Vor ihr hatte sich ein Mann zu ihr herabgebeugt und sagte in diesem Moment, als habe er sie bereits mehrmals angesprochen: »Herrschaftszeiten, jetzt kommen Sie endlich zu sich, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!«

Sein Gesicht zeigte deutlich, dass er für Mitmenschen, die möglicherweise Hilfe brauchten, nichts übrig hatte. Es war der Mann, mit dem sie zusammengeprallt war – und der Mann, der vor nur wenigen Sekunden tot vor ihr gelegen hatte. Wie war das möglich?

Jess’ Augenlider zuckten unkontrolliert. In ihrem Gehirn tobte ein Gewitter, vielleicht das schlimmste, das sie je erlebt hatte. Sie spürte, wie sie einer erneuten Ohnmacht nahe war. Ihr System drängte auf einen Neustart, um wieder klar denken zu können. Hinter ihren Schläfen wütete der Kopfschmerz wie ein gereizter Stier, wild und ziellos – und vor allem zerrte das Bild der Leiche an ihrem inneren Auge. Die grauenvolle Erinnerung packte und schüttelte sie, und sie war kurz davor, dem Drang, der in ihr herrschte, nachzugehen, die ganze Stadt zusammenzukreischen und im Anschluss tobend und schluchzend zusammenzubrechen. Ihr Atem ging schnell. Sie presste die Augen aufeinander, bis sie im Dunkel weiße Blitze sah.

»Brauchen Sie einen Arzt?«, drang die Stimme des Manns in ihr Dunkel. Trotz des Gewitters in ihrem Gehirn hörte Jess deutlich heraus, dass sie bloß nicht auf die Idee kommen sollte, mit Ja zu antworten. Seine Frage schob die Wolken für einen kurzen Moment beiseite. Eine winzige Pause für Jess’ Kopf, die ihr dabei half, die Panikattacke allmählich von sich zu schieben. Jess atmete langsamer.

»Nein, nein, es geht schon«, ächzte sie brav.

»Gut. Ich muss weiter. Passen Sie auf sich auf.«

Bereits beim zweiten Satz bewegte er sich von ihr weg. Jess erwiderte nichts. Er hätte ihre Entgegnung ohnehin nicht mehr gehört. Abgeschlagen sah sie ihm hinterher.

Es war ihre bekannte Umgebung, in der sie sich nun wieder befand. In etwa dreißig Metern konnte sie bereits die Einmündung sehen, an der es links in ihre Straße ging.

Sie hatte soeben mit einem Mann gesprochen, der erst in der Innenstadt lebendig gewesen war, dann auf einem begrünten Grundstück tot dagelegen hatte und anschließend wieder in der Innenstadt lebendig vor ihr gestanden hatte. Während sie versuchte, diese Geschehnisse zu verstehen, machte die Taschenuhr in ihrer Hand abermals auf sich aufmerksam. Zwar vibrierte sie nicht, und auch der Zeiger drehte sich nicht wild um den Knopf, doch er pendelte hin und her. Mal ruhiger, dann wieder stärker.

Als ob ihr die Uhr etwas sagen wollte. Als ob sie Jess darauf hindeuten wollte, dass …

»Als ob ich ihm hinterher gehen soll«, entfuhr es Jess leise und mit großen Augen. Tatsächlich erschien ihr der Zeiger wie der visuelle Empfänger eines Peilsenders. Unschlüssig starrte sie die Straße hinab. Der Mann war längst außer Sichtweite. Und Jess spürte, wie ihr noch immer übel war. Als sie tief einatmete, klang es wie ein Schluchzen. Sie war erschöpft.

Kapitel 3

Es musste ihre innere Stimme sein, die ihr trotz der Erschöpfung befahl, dem Mann hinterherzugehen. Allerdings, wie sollte sie ihn überhaupt wiederfinden? Mit jeder Sekunde, in der sie mit leergefegtem Kopf auf dem Gehsteig stand, wurde sein Vorsprung größer.

Einem Impuls folgend und ihre Kopfschmerzen ignorierend lief Jess den restlichen Weg nach Hause. Im Hinterhof des alten, hässlichen Gebäudes, in dem sie wohnte und arbeitete, stand ihr ebenso altes und hässliches, aber auch liebenswürdiges und wunderbar hellblaues Fahrrad namens Pepe. Die Taschenuhr legte sie in den kleinen, engmaschigen, verrosteten Drahtkorb an der Lenkstange und behielt sie im Blick, als sie losfuhr. Es funktionierte einfacher als gedacht.

Nach kurzer Zeit zeigte der Zeiger der Taschenuhr konstant geradeaus. Jess radelte mittlerweile im verkehrsberuhigten Bereich der Altstadt, die in Reiseführern als so malerisch beschrieben wurde, dass sie in den Sommermonaten mehr Touristen als Einheimische zählte. Doch für wie lange sollte sie geradeaus fahren? Wann oder wo musste sie anhalten? Der Mann, den sie suchte, würde vermutlich nicht den ganzen Tag durch die Gegend spazieren.

Jess wurde langsamer, stieg schließlich von Pepe ab, schob ihn ein paar Meter, blieb dann ratlos stehen. Nieselregen setzte ein, ganz seicht, wie so oft in den vergangenen Stunden und Tagen. Die kühle Luft tat ihr gut. Die Kopfschmerzen waren verschwunden. In Jess’ Magen jedoch regierte hungrige Leere und in ihrem Mund ein widerlicher Geschmack.

Etwa zwanzig Meter weiter vorn, nach den steinernen Arkaden, die das Ende der Altstadt markierten, gab es einen Kiosk, an dem Jess, wenn sie in der Gegend war, gern die Überschriften der aktuellen Zeitungen überflog und einen schnellen Imbiss zu sich nahm. Müde schob sie Pepe bis zu den Arkaden und lehnte ihn an eine der Steinsäulen. In der Hosentasche nach Kleingeld kramend steuerte sie auf den Kiosk zu und stutzte. Mit dem Rücken zu ihr am Kioskfenster stand der Mann, der erst vor kurzer Zeit äußerst lebendig in sie hineingelaufen war, dann tot vor ihr gelegen und im Anschluss wieder gelebt hatte – der ehemalige Tote.

Instinktiv huschte sie zurück zu den Steinsäulen und beobachtete in deren Schutz den Mann. Er war groß und schlank, hatte hellbraunes, kurzes Haar und trug sportlich-elegante Kleidung. Soeben nahm er seine Bestellung entgegen – eine kleine Flasche Limonade und ein in Alufolie gewickeltes Brötchen – und entfernte sich vom Kiosk. Zügig steuerte er auf ein Gebäude an der linken Straßenecke zu und verschwand darin.

Vorsichtig näherte sich Jess dem Gebäude. Es war ein vierstöckiges, altes Haus, das sich stilistisch einwandfrei ins Ambiente der restlichen Häuser in der Altstadt einfügte. Die Wände waren einst vielleicht in einem schönen, satten Löwenzahngelb erstrahlt, doch irgendwann war daraus ein unansehnliches Senfgelb mit Graustich geworden. An vielen Stellen blätterte die Farbe ab, und dort, wo die Fassade auf den Bordstein traf, wuchsen Kräuter und Unkräuter fröhlich in die Welt hinein, Kamille und Spitzwegerich, Klee und Löwenzahn.

Links neben der wuchtigen Eingangstür war über unzähligen Klingelknöpfen ein modernes Schild aus Milchglas angebracht, auf dem »Schmitz & Katz – Anwaltsbüro« stand.

War der Mann Anwalt? Er hatte recht seriös ausgesehen. Das musste zwar nichts bedeuten, doch für gewöhnlich hatte Jess ein gutes Gespür bei diesen Dingen. Trotzdem kamen ihr mit einem Male Zweifel. Was tat sie hier eigentlich? Spionierte einem fremden Mann hinterher und bekam nicht einmal Geld dafür. Arbeitszeit verlor sie hier. Mit einem Mal kam ihr alles so absurd vor.

»Und doch hast du gesehen, wie er tot vor dir lag«, mahnte ihre innere Stimme. »Wenn du herausfinden willst, was dahintersteckt, dann gehst du da jetzt endlich rein.«

Während Jess zweifelnd vor der Haustür stand, sauste hinter ihr mit einem Klingeln ein Fahrrad heran. Ein gelb-schwarz bekleideter Mann stieg ab und öffnete seine ebenso gelbe Satteltasche. Er nickte Jess zu, kramte in der Tasche, trat mit einem Bündel an großen und kleinen Briefumschlägen an die Tür und drückte auf den Klingelknopf unten rechts.

»Ja bitte?«, erklang nach ein paar Sekunden eine ältere, weibliche Stimme durch die Gegensprechanlage.

»Die Post«, erwiderte der Zusteller schlicht.

Als eine Antwort summte der Türöffner. Jess nutzte die Gelegenheit und trat hinter dem Postboten ins Gebäude.

***

Im Hausinneren sprach sie den Zusteller an, der bereits damit begonnen hatte, die Briefkästen zu füllen.

»Falls Sie Post für das Anwaltsbüro haben – die kann ich mitnehmen. Ich bin auf dem Weg dorthin.«

Er musterte sie von der Seite. Jess versuchte, so arglos wie möglich auszusehen. Sie wusste durchaus, dass er eigentlich das nicht durfte. Allerdings wusste ja der Postbote wiederum nicht, dass sie das wusste. Einen Versuch war es wert.

»Na gut«, sagte er, es klang wie eine Frage. »Moment …« Er blätterte durch die Umschläge und reichte ihr ein paar davon. »Vielen Dank.«

»Nicht dafür.«

Sie sah auf. An der Wand rechts der Treppe hing ein Schild mit der Aufschrift »Anwaltsbüro Schmitz & Katz – Eingang 1. Stock«. Zügig entfernte sie sich von dem Zusteller, der sich in seine Arbeit vertieft hatte. Auf dem Treppenabsatz, außer Sichtweite, hielt sie kurz inne und blätterte schnell die Briefumschläge in ihrer Hand durch. Was sie sich davon versprach, konnte sie selbst nicht sagen – sie sah nur, dass die Umschläge entweder an den einen oder den anderen Anwalt adressiert waren, keiner führte beide Namen.

Im ersten Stock klopfte sie an die Tür, neben der erneut ein Hinweis auf die Anwälte stand, wartete jedoch nicht auf eine Antwort, sondern trat einfach ein. Der Empfangsbereich des Anwaltsbüros war schlicht, aber elegant gehalten. Am Empfang saß ein junger Mann, den sie auf maximal achtzehn Jahre schätzte.

»Guten Tag.« Jess nickte ihm freundlich zu. Der junge Mann blickte weitaus weniger freundlich, dafür umso gelangweilter zurück. Sein Gesicht war eine Aknelandschaft, das Blau seiner Haare war ausgebleicht. Seine Ohren standen vom Kopf ab.

»Ja? Haben Sie einen Termin?«, fragte er.

»Nein, aber Ihre Post«, erwiderte Jess und streckte ihm die Briefe entgegen. Er ergriff sie, ohne eine Miene zu verziehen.

»Kann ich Ihnen sonst weiterhelfen?«

Der Junge war nicht nur gelangweilt, sondern auch hörbar genervt. Vielleicht bedingte das eine das andere. Offenbar hatte er bei seiner Arbeit aktuell nichts zu tun.

»Hoffentlich«, erwiderte Jess. »Ich suche einen Mann. Er ist vor wenigen Minuten in dieses Gebäude gegangen. Ich muss dringend mit ihm sprechen. Er trägt kurze, hellbraune Haare, ein dunkelgraues Jackett, ein hellblaues Hemd, dunkle Jeans und weiße Sneaker, und ich denke, er könnte einer der beiden Anwälte dieser Kanzlei hier sein. Können Sie das bestätigen? Es ist sehr wichtig.«

Der Junge musterte sie misstrauisch.

»Sie kennen ihn nicht, müssen aber unbedingt mit ihm reden?«

Jess nickte nachdrücklich.

Stumm sahen sich die beiden an. Der Junge schien nicht gewollt zu sein, ihr überhaupt irgendetwas zu sagen.

»Hören Sie«, sagte Jess und trat näher an den Empfang. »Sie ahnen nicht, wie wichtig das ist. Es geht um ein Menschenleben. Und nun sagen Sie mir bitte«, sie legte großen Nachdruck auf dieses Wort, »ob dieser Mann einer Ihrer Chefs ist. Ich muss, wie gesagt, unbedingt mit ihm reden.«

Unerwartet wandte sich der Junge wieder an seinen Computerbildschirm, tat so, als tippte er etwas auf der Tastatur und sagte lapidar: »Natürlich ist er mein Chef.«

Beinahe fiel Jess ein Stein vom Herz.

»Welcher von beiden?«

»Ist es denn wirklich so wichtig?«

Jess seufzte. Offensichtlich befand sie sich mittlerweile auf demselben Genervtheitslevel wie der junge Mann.

»Raus jetzt mit der Sprache, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, ignorierte sie seine Frage. »Schmitz oder Katz?«

Der Junge zögerte und wirkte damit noch jünger. Mittlerweile schätzte Jess ihn auf maximal sechzehn Jahre.

»Katz«, erwiderte er schließlich.

»Ist er da?«

Der Junge nickte kaum sichtbar.

»Ich muss mit ihm sprechen.«

»Das geht jetzt nicht.«

»Ich muss.«

»Wie gesagt, das geht jetzt nicht. Bitte gehen Sie. Herr Katz ist in einem Mandantengespräch.«

»Ah«, lächelte Jess verständnisvoll. »Wer kennt es nicht, das klassische Mandantengespräch mit einem belegten Brötchen und einer Flasche Fanta.«

Sie und der Junge taxierten sich für ein paar Sekunden ohne Worte. Jess sah, wie es in seinem Kopf arbeitete, und fragte sich, weshalb er aus einer einfachen Mittagspause seines Chefs eine Staatsaffäre machte. War dem Anwalt namens Katz sein Kioskbrötchen so heilig, dass er um keinen Preis gestört werden wollte? Oder war er neben dem Essen mit anderen Dingen beschäftigt, von denen niemand etwas wissen durfte?

»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte der Junge abrupt. »Sie scheinen meinen Chef beobachtet und verfolgt zu haben. Das werde ich ihm melden.«

Schon griff er zum Telefon, das schräg vor ihm stand. Da sah er Jess schmunzeln und zog die Hand zurück.

»Beinahe hätten Sie mich gehabt«, gab er grimmig zu. »Trotzdem hat mein Chef jetzt keine Zeit. Wenn Sie etwas von ihm wollen, rufen Sie ihn an.«

Er wies auf einen schmalen Visitenkartenständer, der links von ihm auf dem Tresen stand. Weiterhin lächelnd, mittlerweile milde, nahm Jess sich eine der Karten und steckte sie ein, ohne sie anzusehen.

»Ist denn Herr Schmitz zu sprechen, oder ist er ebenfalls in einem Mandantengespräch? Vielleicht in einem mit Fischbrötchen und einer Flasche Cola?«

Der Blick des Jungen wurde noch eine Spur genervter.

»Der ist nicht da. Urlaub.«

Offenbar war der junge Mann auch zu schnelleren Auskünften in der Lage. Stumm nickte Jess dem Jungen zu und ging.

***

Draußen bei den Löwenzähnen rekapitulierte sie kurz das Gespräch. Immerhin wusste sie jetzt, wer der Mann war, den sie heute bereits in verschiedenen Bewusstseinszuständen erlebt hatte. Doch was nun?

Jess war von analytischer Natur. Sie fand Wissenschaft faszinierend und war ein Fan von Fakten. Von Esoterik, Mystik und Übernatürlichem hielt sie nicht viel. Vielleicht hatte ihr Gehirn ihr einen Streich gespielt, nachdem sie mit dem Anwalt zusammengeprallt war; einen sehr derben Streich. Zwar konnte sie sich nicht daran erinnern, sich den Kopf gestoßen und deshalb diese Halluzinationen erlebt zu haben. Dennoch musste es eine schlüssige Erklärung für alles geben. Gleichzeitig spürte Jess, dass ein Teil von ihr sich darüber nicht so sicher war, und das beunruhigte sie. Über ihren inneren Zwiespalt hinweg beschloss sie, das zu tun, was sie in ihrer Arbeitszeit ohnehin hauptsächlich tat: warten.

Am Kiosk kaufte sie ein Käsebrötchen und eine Flasche Wasser. Während sie aß, überflog sie wie immer die Überschriften der aktuellen Zeitungen. Besonders das Lokalblatt interessierte sie. Von einem Fabrikbrand über Schmuggelware bis hin zu einem verunglückten Boot voller Touristen war alles mit dabei. Außerdem sah sie sich die Visitenkarte aus der Kanzlei an.

»Bertram Schmitz und Cedric Katz«, las sie halblaut und mit vollem Mund vor. Das Aufeinandertreffender beiden Konsonanten am Ende des Vor- und zu Beginn des Nachnamens von Cedric Katz verursachte ihr beim Aussprechen phonetische Schmerzen. Abgesehen davon fand sie »Cedric« schön.

Noch während sie am letzten Bissen des Brötchens kaute, sah Jess aus den Augenwinkeln eine Person an der Außenseite der Arkaden entlanggehen, die ihr ziemlich bekannt vorkam. Es war der Anwalt namens Katz. Nach ein paar Metern verschwand er zwischen den Steinsäulen in Richtung Altstadt.

»Der hat heute anscheinend nicht viel Arbeit«, murmelte sie mit der Faust vor ihrem Mund und schluckte den Bissen hinab.