Der Eismann - Silja Ukena - E-Book

Der Eismann E-Book

Silja Ukena

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Beschreibung

Tödliche Kälte, eiskalte Morde — und ein unverzeihliches Verbrechen ...

Hauptkommissar Bruno Kahn ist genervt: Der Berliner Winter ist sibirisch kalt. Zudem reißen ihn zwei Todesfälle, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, aus seiner vorweihnachtlichen Trägheit. Ein Rentner aus Lichtenberg wird in seinem Schrebergarten auf grausame Art gefesselt und ermordet. Eine Opernsängerin stürzt aus ihrer Altbauwohnung. Der einsame Wolf Bruno Kahn würde am liebsten durch Berlin flanieren, um in Ruhe Witterung aufzunehmen. Doch seine Kollegin Laura Conti und der neue Workflow der 7. Mordkommission machen Kahns Alleingang einen Strich durch die Rechnung. Als schließlich die Presse Wind bekommt, scheint alles drunter und drüber zu gehen. Dann taucht eine dritte Leiche auf …

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Der Eismann

KRIMINALROMAN

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Dieses Buch erhebt keinen Faktizitätsanspruch.

Sämtliche Handlungen und Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Die beschriebenen Begebenheiten, Gedanken und Dialoge sind fiktiv.

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1. Auflage

© Silja Ukena, vertreten durch Literarische Agentur Michael Gaeb

© der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Die Zitate in diesem Buch stammen aus folgenden Ausgaben:

»Sieh jene Kraniche …«: Bertold Brecht: Die Liebenden (1928), in: Bertolt Brecht: Hundert Gedichte 1918–1950. Aufbau-Verlag Berlin, 3. Auflage 1998, S. 35 »Sein Blick ist im Vorübergehen …«: Rainer Maria Rilke: Der Panther, Im Jardin des Plantes, Paris (1907), in: Rilke-Archiv (Hg.): Rainer Maria Rilke – Sämtliche Werke: Gedichte, Erster Teil, Insel Verlag Frankfurt am Main, 1. Auflage 1987, S. 505 »Alle glücklichen Familien …«: Leo N. Tolstoj: Anna Karenina. Neuer Kaiser Verlag – Buch und Welt, Hans Kaiser Klagenfurt, 1978, S. 5

Der Brief des Paulus an die Römer, Kap. 5, Vers 20. Die Bibel, übersetzt von Martin Luther, Ausgabe von 1984

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

ISBN 978-3-641-15959-7

www.blanvalet-verlag.de

Still ist mein Herz und harret seiner Stunde …

Gustav Mahler: Das Lied von der Erde – Der Abschied

Berlin, im Dezember 2005

1

Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie den Garten ihres Nachbarn noch besser einsehen. Jetzt im Winter sogar bis zu den Fenstern der Laube. Gardinen hatte er nicht. Seit einigen Tagen bereitete der Nachbar Hertha dennoch keine Freude. Er ließ sich nicht blicken. Sie reckte das Kinn.

»Nich ma Holz hata jemacht«, stellte sie fest.

»Na, und wenn schon«, sagte ihr Mann ohne großes Interesse. Der Nachbar war nicht sein Bereich. Hier, wie so oft, war er nur der Stichwortgeber. »Wird er noch jenuch Holz haben.«

»Nee, Erich. Ick wees, wie et is. Außerdem«, der Triumph ließ ihre Stimme ansteigen, »hata nich’ jeheizt.«

»Wird er eben nicht da sein. Was mischste dir da ein. Dit jeht uns nüscht an.«

»Ick jehe rüber.«

»Wirst ihn bloß aus sein jammeliget Bett holen, Hertha. Dit jeht uns nüscht an. Hertha … nun warte wenigstens dit Mittach ab.«

Eine flauschige Strickjacke um ihre voluminöse Gestalt gezurrt, war die Alte zur Tür marschiert. »Man hat ja ooch Pflichten unta Nachbarn.«

Erich murmelte etwas Unbestimmtes und ruckelte sich in seinem Sessel zurecht. Was ihn anging, war die Mittagsruhe jedenfalls noch nicht vorbei. Das Letzte, was er hörte, bevor er in einen sanften Schlaf glitt, war ein Schrei, der von sehr weit her zu kommen schien.

2

Grußlos betrat Bruno Kahn die kleine Café-Bar. Er fror. Es war zu früh am Morgen.

»Wie immer?«, fragte die Blonde hinter dem Tresen. Sie hieß Iris.

Kahn nickte.

»Was macht die Kunst?«, fragte er mit einem kleinen Lächeln. Doch da hatte er einen wunden Punkt getroffen.

»Wenn sie was machen würde, stünde ich dann noch hier?«, blaffte sie zurück. Und dann, versöhnlicher: »Ich hab nächste Woche ein Vorspiel in Halle. Staatskapelle.« Iris spielte Harfe und war, seit Kahn sie kannte, auf der Suche nach einer Festanstellung. Den Job im La Tazza bezeichnete sie als Provisorium, aber die hielten ja oft am längsten.

Kahn prostete ihr mit seinem Kaffeebecher zu. »Toi, toi, toi.«

»Abwarten«, murmelte sie und wandte sich dem nächsten Gast zu.

Als er das La Tazza verließ und auf die Straße trat, schien es ihm kälter als zuvor. Die Sonne hatte sich noch nicht die Mühe gemacht, über Berlin aufzugehen, und es war unwahrscheinlich, dass sie es heute überhaupt tun würde. Die Hände in den Taschen vergraben, stampfte Kahn missmutig Richtung S-Bahn. Mit hochgezogenen Schultern bog seine massige Gestalt in die Friedrichstraße ein. Ein Dampfer, der sich gegen die Wellen stemmt. Die Schaufenster ignorierte er, Shopping interessierte Kahn nicht. Er hob den Kopf zum Himmel und betrachtete die blinkenden Sternschnuppen, die sich über die Straßenflucht spannten. Jedem sein eigenes Bethlehem, dachte er, dafür wird ein bisschen elektronischer Aufwand doch wohl gerechtfertigt sein. Frierend beschleunigte er seine Schritte.

Erst als er am Bahnhof Zoo einfuhr, wurde ihm leichter. Der Anblick von Zügen nach Paris oder Moskau gab ihm immer ein Gefühl von Weite. Eine Weite, die er in Deutschland bisweilen vermisste. Aber man könnte immer noch wegfahren, morgen in Paris frühstücken! Die Ahnung einer fast verlorenen Erinnerung überkam ihn. Doch bevor er sie fassen konnte, betrat er seine Dienststelle. LKA 1, Keithstraße 30 in Berlin Tiergarten, Abteilung für Delikte am Menschen. Es war Montagmorgen, acht Uhr.

»Sauwetter heute«, grüßte er den Dienst habenden Kollegen am Eingang.

»Ostwind. Kommt direkt aus Sibirien.«

Unter Sibirien hatte Kahn sich nie etwas vorstellen können. Er war ein sehr südlicher Mensch.

Seine Morgenrunde fiel kurz aus, denn es war niemand da. Also ging er zu der einzigen Person, die verlässlich an ihrem Schreibtisch saß. Polizeimeisterin Violetta Wendtland, die stets gut informierte Sekretärin der Mordkommission. Es gab nichts, das sie nicht über einen der Mitarbeiter gewusst oder erfahren hätte. Mit einem schier unerschöpflichen Vorrat an Kaffee, Schokolade, Taschentüchern und Lebenserfahrung war sie so etwas wie die Mutter der Kompanie.

»Wo sind die anderen?«

»Guten Morgen, Herr Hauptkommissar.« Violetta drehte sich zu ihm herum, und ihr großer Busen wogte. »Wir haben ab heute Bereitschaft, schon vergessen? Die anderen sind bei der Übergabe. Wenn Sie sich beeilen, fällt es nicht weiter auf. Der große Chef ist auch schon da.«

Kahn besaß ein sehr schlechtes Gedächtnis für Termine und Verabredungen. Manchmal war ihm das unangenehm. Im Großen und Ganzen aber war er der Meinung, dass solche Details den Menschen nur vom Denken abhielten. Seine Frauen hatte das immer zur Weißglut gebracht. Möglich, dass dies einer der Gründe war, weshalb sie alle sich nur vorübergehend in seinem Leben aufgehalten hatten. »Junikäfer« hatte Kahns Neffe Jakob die kurzlebigen Freundinnen seines Onkels treffend getauft.

So gelang es ihm auch immer wieder, die inzwischen schon ziemlich alte Anordnung des Dezernatsleiters zu vergessen, nach der der zweiwöchige Bereitschaftsdienst einer Mordkommission stets mit einer gemeinsamen Besprechung zu beginnen hatte. Die Anordnung hatte den Begriff »Workflow« enthalten. Kahn hielt überhaupt nichts von Besprechungen. Seine Auffassung von Im-Fluss-Bleiben fand bei der Arbeit statt, auf dem Weg von einem Toten zu seinem Mörder.

Als er nun den Kopf durch die Tür steckte, war Hauptkommissar Marc Jessen gerade dabei, irgendetwas auf einen Flipchart zu schreiben. So leise es ihm mit seinem großen Körper möglich war, glitt Kahn auf einen freien Stuhl.

Jessen, der wie Kahn eine der sieben Berliner Mordkommissionen leitete, strahlte die Selbstgewissheit eines Mittdreißigers aus, für den Karriere allein eine Frage von Fleiß war. Kahn fand ihn in höchstem Maße langweilig. Hinter halb geschlossenen Lidern beobachtete er seine Mannschaft, die mehr oder weniger konzentriert Jessens Bericht lauschte, der im Grunde von nichts handelte.

Es gab nichts zu berichten. Sie alle hatten seit Wochen kaum etwas zu tun gehabt.

Sein Blick fiel auf Laura Conti. Mit vorgebeugtem Oberkörper saß sie da, schien an den Ausführungen ihres Kollegen hochinteressiert und schrieb eifrig mit. Kahn wusste, dass sie in Wahrheit ihren Wocheneinkauf plante. Eines Montags hatte er – fassungslos darüber, dass die jungen Menschen heutzutage, anstatt ihr Gedächtnis zu schulen, immer alles mitschreiben mussten – einen neugierigen Blick in Laura Contis Sitzungsprotokoll geworfen und dabei Folgendes gelesen: »Tortelli con salsa di noci. Scaloppine alla milanese. Risotto di pesce.« Unter »Tortelli con salsa di noci« konnte er sich nichts vorstellen, aber es klang verlockend.

Heute war Kahn fast erleichtert über diese Entdeckung, die der bis dahin geradezu unheimlich makellosen Oberfläche der neuen Kollegin einen gewissen Sprung zugefügt hatte, der sie sympathischer machte. Denn ab heute sollte Laura Conti Teil seines Teams werden. Kahn hatte sich ausbedungen, dass es vorerst nur auf Probe sein sollte. Er hatte lange gebraucht, um seine Mannschaft zusammenzustellen. Eine eingeschworene Truppe, die vom Chef des Morddezernats mit Argwohn betrachtet wurde. Kollegen gegenüber verhielt sie sich äußerst schweigsam, Transparenz war ihre Sache nicht. Dennoch galt die 7. Mordkommission wegen ihrer nicht wegzuredenden Erfolge allgemein als unantastbar. Kahn war sicher, dass Laura Conti nicht zufällig zu ihm versetzt worden war, und er fragte sich, ob sie für das ruhige Fahrwasser, in das er sich in den vergangenen Jahren hineinmanövriert hatte, eine Gefahr darstellte.

*

Die folgenden Stunden verbrachte Kahn in seinem Büro. Er las sich in die Ermittlungsakten der laufenden Fälle ein – ein toter Jugendlicher im Stadtteil Neukölln (Messerstecherei zwischen Angehörigen zweier arabischer Clans), eine Leiche im Landwehrkanal (vermutlich Suizid), eine Frau im Koma (versuchter Totschlag, Tathintergrund unklar) – und wartete ab. Aus Warten bestand ein Großteil seiner Tage. Warten auf einen neuen Fall, auf Laboranalysen, darauf, dass Zeugen sich erinnerten, dass Täter Fehler machten, denn das taten sie früher oder später. Manchmal kam sich der wartende Kahn vor wie ein Schauspieler, der stundenlang in Kostüm und Maske ausharrte, um dann vor die Kamera zu treten und kurz und prägnant seine Rolle zu geben. Und ähnlich wie bei einem Schauspieler waren auch in Kahns Beruf das Warten und die Geduld etwas, das die Öffentlichkeit nicht sah.

Es dämmerte bereits, als Kahns Telefon klingelte. Am Apparat war Mathis Matthisen, im Team der Spezialist für Tatortanalyse. Mathis – »der Wikinger« – war ein strenger norddeutscher Hüne mit flammend rotem Haar, der sich in Sprache wie Gedanken jeden Umweg sparte. Hinter seiner hohen glatten Stirn herrschte die reine Klarheit. Kahn schätzte ihn ungemein.

»Die Zentrale hat angerufen«, sagte Mathis. »Sie haben in Lichtenberg einen Toten in einer Schrebergartenlaube gefunden. Der Kollege sagt, der ist für uns.«

Vor den Laternen unten auf der Keithstraße tanzten Schneeflocken. Die Aussicht, jetzt an das andere Ende der Stadt fahren zu müssen, bereitete Kahn keine Freude.

»Sicher?«

»Der Mann wurde auf einen Stuhl gefesselt.«

Kahn gab nach. »Wir sehen uns am Mordbus.«

Der Mordbus war das Einsatzfahrzeug der Tatortsicherung. Kahn selbst ließ sich für gewöhnlich mit einem Dienstauto hinterherfahren. Daran, dass er einen Führerschein besaß, erinnerte sich kaum noch jemand.

»Informier du die anderen!«, sagte er zu Mathis. »Ich gebe oben Bescheid und komme dann mit Frau Conti zusammen nach.« Oben, das waren der Dezernatsleiter und die Staatsanwaltschaft.

»Ach, und Mathis: Im Osten heißt es Datsche.«

Kaum zehn Minuten später verließen Kahn und Laura Conti das Gebäude und gingen auf ihren Dienstwagen zu. An der Seite seiner neuen Kollegin fühlte Kahn sich wie ein Riese, der schwerfällig neben einem federnden Energiebündel in Turnschuhen und zu engen Jeans daherstapfte. Mit lautem Türenknallen bestieg Laura Conti den alten A100 und legte den Rückwärtsgang ein. Kahn hatte gerade noch Zeit, sich anzuschnallen.

Ab der Leipziger Straße schleppte sich dichter Verkehr durch den grauen Schneematsch. Kahn schwenkte einen Espresso to go in der Hand und betrachtete gedankenverloren die blinkende Cola-Reklame auf einem der Hochhäuser am Spittelmarkt, die mit jeder Ampelwelle ein wenig näher rückte. Die Conti kaute Kaugummi und schwieg ebenfalls. Kahn genoss die Stille und den Stau, der ihnen ein wenig Ruhe vor dem bescherte, was dort in der Laube auf sie wartete. Ausnahmsweise war Kahn den Berlinern dankbar für ihre Hartnäckigkeit, mit der sie darauf bestanden, die Hauptstraßen zu befahren, gleich wie mühselig und zeitraubend es sein mochte. Eine Nebenstraße kam für den Berliner nicht infrage. Das Ausharren, das stoische Abwarten, hatte sich über Generationen bewährt, im Westen wie im Osten der Stadt. Laura Contis Fahrstil hingegen schien ihrem italienischen Temperament zu entsprechen. An der Jannowitzbrücke holte sie das Blaulicht heraus und trat aufs Gaspedal.

»Aber er ist doch schon tot«, murmelte Kahn besänftigend.

*

Kolonie Eden stand über dem schmiedeeisernen Eingangstor. Ein schnurgerader Weg führte ins Dunkel hinein. Die Beete waren leer und schwarz, die Lauben mit ihren geschlossenen Fensterläden öde und verlassen. Kahn machte einen Schritt zurück und sah sich um. Wer auch immer dieser Kleingartensiedlung ihren Namen gegeben hatte, war entweder ein großer Optimist oder schon vor sehr langer Zeit gestorben. Eingekeilt zwischen der vierspurigen Hauptstraße und einer Bahntrasse, behaupteten die liebevoll umzäunten Grundstücke eine Idylle, die einem selbst die dichteste Hecke nicht hätte vorgaukeln können. Kahn versuchte vergeblich, sich die Gärten im Sommer vorzustellen.

Parzelle 76 lag am Ende des Weges. Überrascht stellte Kahn fest, dass die Gartenhäuschen in diesem Teil der Kolonie aus Stein waren. Säuberlich verputzt und mit Schornsteinen, wie die Miniaturausgaben gewöhnlicher Einfamilienhäuser. Er hatte nicht gewusst, dass es so etwas gab.

Die Kollegen hatten bereits Scheinwerfer aufgestellt, vor dem Flatterband fror ein sehr junger Streifenpolizist. Seiner Gesichtsfarbe nach war dies sein erster Toter. Als Kahn durch die Hecke trat, blickte er auf eine vertraute Szene. Menschen in weißen Overalls und Handschuhen, Fotoblitzlichter, durchsichtige Plastikbeutel, in denen mögliche Beweisstücke verwahrt und nummeriert wurden. Das grelle Licht der Tatortleuchten gab diesem Ort etwas Künstliches. Ihm kam es so vor, als betrachte man durch ein Vergrößerungsglas hindurch einen Ausschnitt aus dem Leben eines Fremden. Es war das immer gleiche Bild, der gleiche Vorgang, die gleiche Routine von Menschen, die mehr gesehen hatten als andere und für die der Tod eine Aufgabe darstellte und keinen Schrecken mehr. Allein der Hintergrund wechselte.

Diesmal blickte Kahn auf ein müdes weißes Häuschen, dem man ansah, dass sich seit Längerem niemand mehr darum gekümmert hatte. Ein paar erfrorene Äpfel hingen noch in den Bäumen. Kahn musste plötzlich an seine alte Liebe Nell denken, auch so ein Junikäfer. Sie war Gärtnerin, eine Freundin seiner Schwester. Er hatte sich in diese zierliche Person verliebt, als sie mit Gummistiefeln und Latzhose bekleidet im Garten seiner Schwester einen Apfelbaum gepflanzt hatte.

Ein schepperndes Geräusch holte Kahn in die Gegenwart zurück. Als er sich umblickte, stand Laura Conti in der Tür der Datsche und winkte ungeduldig nach ihm.

Es sah nicht gut aus. Ganz und gar nicht. In der Mitte des großen Raumes saß auf einem roten Holzstuhl die Leiche eines abgemagerten alten Mannes. Er war völlig nackt und mit groben Stricken an den Stuhl gefesselt. Jemand hatte ihm dickes Klebeband über Mund und Augen gewickelt. Es roch kalt und feucht, süßlich und dumpf nach Urin. Unter dem Stuhl war eine angetrocknete Pfütze. Der Alte hatte gepinkelt, bevor er starb. Kahn zwang sich genau hinzusehen, um das ganze Bild in sein Gedächtnis aufzunehmen, das keine Aufnahme des Tatorts später würde wiederherstellen können. Er sah den Mann auf dem Stuhl neben einem quadratischen Esstisch, Holzbeine schauten unter einem rot-weißen Wachstuch hervor. Da war ein Bett rechts an der hinteren Wand. Es war gemacht. Eine graue Militärdecke lag zusätzlich auf dem Deckbett. Vor dem Bett streckte sich ein kleiner bunter Läufer. Daneben stand ein schmaler Kleiderschrank, dann der Ofen. Ein Bad schien es nicht zu geben. Die Toilette vermutete Kahn außen am Haus. Links war eine Küchenzeile. Ein alter Gasherd, Aluwaschbecken, Warmwasserboiler. Eine hölzerne Anrichte aus den 1960er-Jahren, braun lackiert. Hier und da war der Lack abgeschlagen. Darunter sah man rote und weiße Farbschichten, Erinnerungen an andere Zeiten, die dieser Küchenschrank schon erlebt hatte. Auf der Spüle standen Kaffeekanne und Filter aus Porzellan und eine weiße Porzellantasse mit Blumenmuster und passendem Untersetzer. Alles war alt, aber sauber abgespült und ordentlich zum Abtropfen aufgestellt. Der Raum strahlte die heruntergekommene Ordnung eines Menschen aus, der schon lange aufgehört hatte, sich neue Dinge anzuschaffen, und die alten mit peinlicher Genauigkeit weiterbenutzte – bis einer von ihnen zuerst aufgab.

Mathis und der Gerichtsmediziner, die leise in einer Ecke miteinander gesprochen hatten, kamen zu ihm herüber. Der Arzt war noch jung, Kahn hatte ihn erst ein paar Mal flüchtig gesehen. Sie unterließen es, sich mit Latexhandschuhen die Hand zu geben, sondern nickten einander nur zu.

»Koberg«, stellte der Arzt sich vor. Es war einer der Momente, in denen Kahn bemerkte, dass die Zahl der neuen Kollegen größer wurde, die derjenigen, die vor ihm da gewesen waren, hingegen schrumpfte.

»Und?«, fragte Kahn.

»Der Mann ist schon länger tot. Die Leichenstarre hat sich bereits wieder gelöst. Bei den niedrigen Temperaturen hier drinnen deutet das auf einige Tage hin. Andererseits war er nicht mehr der Jüngste, und bei älteren Menschen ist die Leichenstarre oftmals nicht mehr so stark ausgeprägt.«

Kahn fühlte sich unangenehm berührt. Ab wann war man nicht mehr der Jüngste?

»Mit anderen Worten: Sie können noch gar nichts dazu sagen.«

»Ich würde mich jedenfalls noch nicht festlegen wollen.«

»Todesursache?«

»Er scheint nicht an den Folgen der äußeren Gewaltanwendung gestorben zu sein. Angesichts der Umstände tippe ich auf Unterkühlung. In Kombination mit einer schwachen Verfassung kann so etwas sehr schnell gehen. So um die zehn Stunden, dann tritt der Tod ein.«

Kahn gab auf. »Sind die Kollegen so weit fertig?« Mathis, der gerade einen vertrockneten Laib Brot untersuchte, nickte kurz. »Dann auf mit ihm in die Charité. Wo ist die Conti?«

»Spricht mit den Kollegen, die zuerst hier waren.«

»Apropos«, sagte Kahn. »Wer hat die eigentlich hergeholt?«

»Die Nachbarn. Haben ihn auch identifiziert. Werner Gröber. Papiere habe ich noch keine gefunden.«

Da der Wikinger in seiner spröden, wortkargen, ja eigentlich vollkommen unkommunikativen Art für jede Zeugenbefragung unbrauchbar war, machte Kahn sich allein auf die Suche nach Laura Conti. Er fand sie draußen vor der Hecke, als sie gerade die beiden Streifenbeamten verabschiedete.

»Na, die Jungs schlafen heute nicht gut. Wenigstens haben sie sich korrekt verhalten und nichts angefasst.« Sie winkte fröhlich mit ihrem Notizbuch. Kahn hatte noch nie erlebt, dass ein Tatort jemanden aus seinem Team so wenig zu beeindrucken schien. Er fragte sich, ob ihre aufgeräumte Stimmung die Unsicherheit nur verbergen sollte.

»Chef, gehen wir, die Nachbarn warten!« Und schon war sie in der nächsten Parzelle verschwunden. »Knopp«, stand auf dem Gartentor. Daneben verkündete ein Schäferhund: »Hier wache ich.« Kahn, der Hunde nicht leiden konnte, lief zögerlich hinterher.

Bullige Wärme schlug ihnen entgegen. Vor einem gekachelten Kohleofen saß das Ehepaar Knopp an einem niedrigen Couchtisch und stärkte sich mit Obstbrand für die Dinge, die da kommen sollten. Ihre Skepsis gegenüber der Polizei war so greifbar wie die überhitzte Luft im Raum. Kahn schielte nach dem Hund, konnte ihn aber nicht entdecken. Hertha Knopp zog eine flauschige Jacke fester um die Schultern. Weder sie noch ihr Mann standen auf. Kahn beschloss, ihre Ablehnung zu ignorieren. Er zog den Wintermantel aus und balancierte seinen großen Körper vorsichtig auf die Kante eines niedrigen Polstersessels. »Also, dann erzählen Sie mal.«

Erich Knopp, ein dünnes Männchen, setzte ein Ich-habe-nichts-damit-zu-tun-Gesicht auf und sah seine Frau an. Hertha Knopp spielte aufgeregt mit ihrem Schnapsgläschen. Ihre runden Wangen glühten vor Sensationslust. Kahn sah ihr an, dass sie nur darauf wartete, jemandem ihre Meinung zu diesem Fall zu sagen. Nur dieser Jemand würde bestimmt kein Polizist sein. »Wir können Ihnen da gar nich’ weiterhelfen, Herr Kommissar. Ick habe zu Erich jesacht, dass da wat nich’ stimmt bei dem, nich’, Erich? Wir ham nur unsere Pflicht jetan.«

»Liebe Frau Knopp«, sagte Kahn, »bitte berichten Sie doch von Anfang an. Wie war das, als Sie den Toten entdeckt haben?«

»Den Herrn Gröber«, fiel Laura Conti vermittelnd ein.

»Es war aba nich’ abjeschlossen! Das hab ick Ihren Kollegen schon jesacht. Ick habe nur meine Pflicht jetan. Weila doch nich’ jeheizt hat.«

Kahn verspürte einen Anflug von Müdigkeit, wie immer in letzter Zeit, wenn Zeugen nicht gleich auf seine Fragen antworteten. Er versuchte es noch einmal. »Wann haben Sie, oder einer von Ihnen, Herrn Gröber zuletzt gesehen?«

»Oh, dit muss bald vierzehn Tage her sein.«

»Und erst heute ist Ihnen der Gedanke gekommen, dass etwas nicht stimmen könnte?«

»Na, weil wa nich’ da waren, wa. Wir waren doch bei unsera Tochter in Cottbus«, schnappte Hertha Knopp. »Wir ham nämlich ein neues Enkelchen. Und da sind wir jleich hinjefahren und haben uns ’n bisschen nützlich jemacht. Und denn sind wa erst am Donnerstach zurückjekommen.«

Laura Conti musste an Kahns Gesichtsausdruck erkannt haben, dass es an Zeit war, dieses Zeugenverhör in ein anderes Fahrwasser zu bringen. Mit der inbrünstigen Begeisterung der an allen Familienfragen interessierten Italienerin begann sie, Hertha Knopp sämtliche Details zu Tochter und Enkelkind zu entlocken, betrachtete diverse Fotos und entspannte so die ahnungslose Frau vollständig. Leise stand Kahn auf und sah sich um. Durch das große Sprossenfenster, das zum hell erleuchteten Nachbargarten hinausging, konnte er die Kriminaltechniker bei der Arbeit beobachten. Zwei Fahrer der Gerichtsmedizin trugen gerade den Leichensack aus dem Haus. Ihre roten Jacken leuchteten im Dunkeln. Sogar Mathis im Inneren des Häuschens war gut zu erkennen, wie er mit ruhigen Schritten umherging und jedes Detail des Ortes in sich aufnahm. Plötzlich bemerkte Kahn, dass Erich Knopp neben ihm stand. Sie schwiegen eine Weile zusammen, dann sagte Erich sehr leise: »So steht se ooch immer da, die Hertha.« Mit dem Kopf schwenkte er leicht zu seiner Frau hinüber. »Das wär nicht so ausjejangen mit dem Gröber, wenn wa nicht vareist jewesen wärn.«

Kahn überdachte diesen Satz. »Wo ist eigentlich Ihr Hund?«, fragte er dann.

»Hund? Welcher Hund?« Erich schien irritiert. Dann sagte er: »Ach so, nee. Dit ist nur zur Abschreckung. Der Tabor, der is schon zwanzig Jahre tot.«

Es war nach acht, als Kahn und Laura Conti an diesem Abend die Kolonie Eden verließen. Es schneite noch immer. »Morgen um neun machen wir weiter. Fahren Sie mich noch irgendwohin, von wo ich alleine nach Hause finde?«

»Claro«, sagte sie und hielt ihm galant die Wagentür auf. Sie fuhren durch die dunklen Straßen Richtung Friedrichshain. Erst an der Warschauer Straße bemerkte Kahn, dass er noch die weißen Tatort-Überschuhe trug, die wie Duschhauben aussahen. Peinlich berührt streifte er sie ab.

Vom Alexanderplatz aus ging er zu Fuß. »Im Gehen kommt man am weitesten«, hatte sein Vater immer gesagt. Eine Lebensweisheit, die seine Familie begleitet hatte, solange Kahn zurückdenken konnte. Vor dem Krieg war Heinrich Kahn Postbote gewesen. Als sein Sohn geboren wurde, trug er schon lange keine Briefe mehr aus, sondern hatte die Straße gegen ein Büro in der Berliner Postdirektion getauscht. Zu Hause hatte der Vater nie von der Arbeit gesprochen, aber in Kahns Vorstellung war er auch dort den ganzen Tag mit großen Schritten auf und ab gewandert. Kahn dachte nicht mehr oft an den Alten, der schon so lange tot war. Auch weil er dann nicht so oft an sich selbst denken musste. Aber immer, wenn er zu Fuß ging, fühlte er sich seinem Vater innerlich verbunden.

Der Wind zwischen den Hochhäusern trieb den Schnee jetzt fast waagerecht vor sich her. Kahn musste die Augen zusammenkneifen und schlug den Kragen so hoch es ging. Wenn das Wetter so blieb, würden sie draußen bis auf Weiteres keine Spuren mehr finden. Kahn bog in die Memhardstraße ab, und dann tauchte er ein in den Schutz der engen Straßen von Berlin-Mitte, die den Achsenwahn zweier Diktaturen und einen Weltkrieg überstanden hatten. Er ging langsam die Münzstraße entlang, die Neue Schönhauser, die Sophienstraße, die Große Hamburger und bog dann in die Auguststraße ein. An der Ecke Tucholskystraße winkte er im Vorbeigehen dem gleichnamigen Wirt des Chez Louis zu, bei dem er mindestens zweimal die Woche zu Abend aß.

Vor einem hohen hölzernen Tor holte er die Schlüssel heraus. Er wohnte hier seit 1994. Nach einem halben Leben im Westen war er plötzlich unruhig geworden. Immer häufiger hatte er das Gefühl, von seiner Charlottenburger Warte aus die neue Stadt nicht mehr richtig zu verstehen. Und so hatte Kahn eines schönen Sommertags unter den skeptischen Blicken von Hausmeisterin Romy Krause seine Möbel in die vierte Etage des Eckhauses Tucholskystraße/Auguststraße hinaufgewuchtet, mitten im ehemaligen Osten. Drei Zimmer, Küche, Bad in einem Altbau mit hohen Decken, deren feine Stuckränder der junge Münchner Erbe, dem das Haus nun wieder gehörte, unter einer Schicht Fichtenholzvertäfelung freigelegt hatte.

»Sie glauben gar nicht, wie die hier gewohnt haben!«, hatte der Vermieter ausgerufen, als er Kahn durch die schneeweiß sanierten Räume führte. »Überall Blümchentapete, die Decken auf zwei zwanzig abgehängt, und dann so eine Auslegeware. Ich meine, sehen Sie sich diese Dielen an, so was finden Sie in München nur unter der Hand. Wie kann man denn da Teppichboden drauflegen!«

Von den alten Mietern waren mit der Zeit nur noch Romy Krause und ihr steinalter rotbrauner Kater im Erdgeschoss übrig geblieben, und die neuen Nachbarn schienen im Zeitraffer zu wechseln. Kahn dachte jetzt manchmal daran wegzuziehen, hätte aber nicht gewusst, wohin.

Oben angekommen, stellte er fest, dass er am Morgen wieder einmal vergessen hatte, die Heizung einzuschalten. Die Wohnung war eiskalt. Unschlüssig tappte Kahn von einem Raum zum anderen. Zum Kochen war es ihm zu ungemütlich. Mit einem Glas Rotwein und einem Käsebrot landete er schließlich an einem der großen Fenster zur Straße. Durch die alten Doppelscheiben sah er das Leben unter sich immer ein wenig verschwommen. Kahn nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Auch der Wein war zu kalt. Er legte seine großen Hände um den Bauch des Glases und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was er heute gesehen hatte.

Augenscheinlich war es einfach. Jemand hoffte, bei dem Alten etwas Geld zu finden. Die Laubenkolonie lag quasi verlassen da, eine günstige Gelegenheit. Der Alte wurde gefesselt und geknebelt und anschließend zurückgelassen. Entweder, weil der oder die Täter glaubten, es werde ihn schon jemand finden. Oder, und das war die weniger schöne Variante, weil es ihnen gleichgültig war. Verbrechen dieser Art kamen immer wieder vor, und Weihnachten machte die Menschen entgegen aller christlichen Absicht auch nicht gerade friedfertiger. Im Gegenteil. Erst am Tag zuvor hatte in Charlottenburg ein Mann versucht, seine Frau mit dem Christbaumständer zu erschlagen.

Aber bei dem Alten in der Laubenkolonie war etwas anders. Es hatte zu wenig nach Zufall ausgesehen, zu wenig nach blinder Aggression. Kahn rief sich das Bild des gefesselten Mannes ins Gedächtnis. Da war etwas Kaltes, Arrangiertes in dieser Szene. Aber er hätte nicht sagen können, was es war. Auch die nächsten beiden Gläser Wein halfen ihm nicht weiter. Reglos stand Kahn am Fenster, unten schlitterten Passanten durch den frischen Schnee. Morgen würde Mathis die Fakten präsentieren, vielleicht war doch alles ganz einfach.

Sein Bett kam ihm dann wieder einmal zu groß und zu kalt vor, und er fragte sich, warum es ihm eigentlich nie gelungen war, dauerhaft jemanden zu finden, der es mit wärmte. Aber wahrscheinlich, dachte Kahn kurz vor dem Einschlafen, war schon die Frage falsch gestellt. Er hatte Frauen gefunden, die bereit gewesen wären zu bleiben. Aber es hatte immer den Moment gegeben, an dem er begonnen hatte, sie mit Julie zu vergleichen, und wer hielt schon den Vergleich mit einem Phantom aus. Als Kahn gerade eingenickt war, schreckte ihn das Piepsen des Handys auf. »Kommst du Freitag zum Essen? S.« S. – Das war Susanna, seine Schwester.

3

Am Morgen war es auf eine seltsame Art hell im Zimmer, trotz seiner wie immer sorgfältigen Bemühungen, die Vorhänge möglichst dicht zu schließen. Kahn, noch weit davon entfernt, wach zu sein, ahnte, dass das nichts Gutes bedeutete. Vorsichtig tappte er über die nackten Dielen zum Fenster. Tatsächlich hatte es in der Nacht weiter geschneit. Die Stadt war mit einer zaghaft leuchtenden weißen Schicht überzogen.

Von unten drang ein schabendes Geräusch herauf. Vor dem Haus konnte er Romy Krause erkennen, sie trug ihre russische Pelzmütze und schippte Schnee. Kahn öffnete die Fenster und atmete die kalte Luft ein. Sie war klar und trocken. Fast sein ganzes Leben lang, von den Jahren in Paris abgesehen, hatte diese Luft seine Winter begleitet. Nur die rußige Schärfe der Kohlenöfen, die ungeachtet der Mauergrenzen immerzu über der ganzen Stadt gehangen hatte, war irgendwann daraus verschwunden.

Kahn duschte heiß und kalt, trank seinen Espresso im Gehen und schaffte es gerade noch, seiner eigenen Anordnung entsprechend um neun Uhr im Besprechungsraum zu erscheinen. Die anderen waren schon da. Ganz vorne saß Laura Conti, studierte bereits irgendeinen Bericht und zwirbelte dabei angestrengt eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern. Daneben Mathis, der mit aller Bedächtigkeit vier Löffel Zucker in seinen Kaffee schaufelte, und dann noch Adam Lukas, der mit aufgestütztem Kinn in das unendliche Silbergrau des Himmels vor dem Fenster blickte. Seine etwas abwesende Art konnte einen leicht dazu verleiten, ihn für unkonzentriert zu halten, doch das Gegenteil war der Fall. Niemand eignete sich deshalb besser für kritische Verhöre als er, der sein ahnungsloses Gegenüber entweder nachlässig oder aggressiv machte. Einzige Voraussetzung dafür, dass er zu guter Form auflief: Es musste sich genügend Nahrung in greifbarer Nähe befinden.

Am Fenster stand Violetta, wie immer ihr Handy griffbereit, um eine SMS an eine ihrer Töchter zu schicken. Sie hatte vier davon, und folglich gab es eine Menge zu tun. Kahn war es rätselhaft, was es so viel zu schreiben gab, wo man sich doch ohnehin täglich sah. Aber was wusste er schon von Teenagermädchen? Da fiel ihm ein, dass er seiner Schwester nicht geantwortet hatte. Er suchte Susannas Nachricht, tippte »Ja« und eröffnete die Runde.

»Also, was haben wir?«

Mathis räusperte sich und setzte zu einer verhältnismäßig langen Rede an. »Werner Gröber, geboren am 18. August 1925 in Neubrandenburg. Habe im Küchenbord seinen Personalausweis gefunden, der ist allerdings schon seit vier Jahren abgelaufen. Als Wohnadresse steht dort die Frankfurter Allee, bin aber noch nicht dazu gekommen, das zu prüfen. Das war’s. Bisher keine eindeutig identifizierbaren Spuren von unbekannten Dritten. Wir haben ein paar Proben mitgenommen, und die Kollegen von der Technik sind heute noch mal draußen. Was seltsam ist: Es gibt keine persönlichen Gegenstände in dem Haus. Ein bisschen Kleidung, Waschzeug und so weiter. Aber keine Bücher, keine Fotos, keine Briefe, nicht mal Unterlagen von Banken oder Versicherungen, nichts.«

»Kein Bankkonto? Ist es möglich, dass der oder die Täter alles haben mitgehen lassen?«, fragte Kahn.

Mathis hob die Schultern. »Sieht nicht so aus.«

»Dann vielleicht an der Wohnadresse. Prüfen wir das bitte gleich, auch, ob es Angehörige gibt.«

Laura blätterte in ihrem Notizbuch. »Die Nachbarin sagt, dass er einsam lebte, er hatte nie Besuch und ist nur ganz selten mal ausgegangen.«

»Na, die muss es wissen. – Das Klebeband?«

»Nichts«, sagte Mathis. »Handelsübliches Gaffer-Tape. Kannst du in jedem Baumarkt kaufen. Wegen der DNA ist das Labor dran.« Kahn spürte schlechte Laune in sich aufsteigen. Das hier begann mühsam.

»Gut«, sagte er und klatschte kurz in die Hände, hauptsächlich um sich selbst in Schwung zu bringen. »Sehen wir zu, dass wir den Routinekram schnell erledigen. Vor allem müssen wir herausfinden, ob wirklich niemand etwas gesehen hat. Frau Conti, dieser Kleingartenverein hat doch bestimmt einen Vorsitzenden. Lassen Sie sich eine Liste aller Laubenpieper im Garten Eden geben. Vielleicht war zufällig einer von denen in der vergangenen Woche draußen. Ich gebe Ihnen Bescheid, falls die Gerichtsmedizin den Tatzeitraum besser eingrenzen kann. Und fragen Sie die Leute bitte auch, ob sie sonst irgendetwas zu dem Toten sagen können. Mathis und Adam, Ihr kümmert Euch um die Wohnung in der Frankfurter Allee und die Verwandtschaft, falls vorhanden. Ich fahre in die Charité. Weiß man schon, wen die Herren Staatsanwälte zur Leichenschau schicken?«

Violetta blickte von ihrem Block auf. »Eine Dame. Die neue Kollegin aus Hamburg wird kommen.« Kahn dachte, dass der Tag nicht besser wurde.

*

Staatsanwältin Dr. Nicole Lafrentz war blond und 1,84 Meter groß. Von ihren männlichen Kollegen wurde die Hanseatin »Eisente« genannt. Selbst jetzt, mitten im Berliner Winter, trug sie nichts anderes als knielange Röcke und flache dunkelblaue Schuhe zu hautfarbenen Nylonstrümpfen.

Als Kahn die Invalidenstraße entlangging, sah er sie schon von Weitem vor dem Eingang des Leichenschauhauses. Wie sie da stand, im dunkelblauen Mantel auf erstaunlich dünnen Beinen, eine gewaltige schwarze Tasche über die hochgezogenen Schultern geworfen, erinnerte die Staatsanwältin Kahn tatsächlich an einen Vogel, wenn auch einen recht großen.

Solange die Leiche noch geschlossen war, ruhten Kahns Augen auf dem Gesicht des Alten. Die Klebestreifen über Mund und Augen waren verschwunden. Kahn entdeckte kräftige Brauen über den geschlossenen Lidern und einen überraschend weichen Mund. Ein paar schüttere graue Strähnen hingen vom Schädel herab. Früher waren sie sicher mit großer Sorgfalt quer über den kahlen Kopf gekämmt worden. Kahn konnte sich die Geste vorstellen, die eine Hand kämmte, die andere strich nach. Wer aber war Werner Gröber zu Lebzeiten wirklich gewesen? Nackt und tot empfand Kahn die Menschen als erschreckend gleich. Aus Kobergs Sicht war das natürlich etwas ganz anderes. Dem erzählte jede Leiche eine ganze Lebensgeschichte. Zumindest körperlich wurden hier auf dem nüchternen Edelstahl alle Geheimnisse eines Menschen gelüftet.

Kahn lauschte dem gleichmäßigen Singsang des Mediziners, der kühl und genau war wie eine kunsthistorische Bildbeschreibung, und fühlte nichts Besonderes. Dann aber begannen Koberg und sein Assistenzarzt einen gleichmäßigen Schnitt von den Schlüsselbeinen bis zur Scham zu ziehen und sich den Weg zu den inneren Organen zu bahnen. Dies war wie immer der Moment, von dem an Kahn sich fest auf einen Punkt hinter dem Toten konzentrieren musste. Trotz der Kälte im Saal begann er zu schwitzen und hoffte, dass niemand es bemerken würde. Mit den Jahren hatte er das Gefühl, jede Kachel und Fuge in diesem Raum einzeln zu kennen, dazu die feinen Risse, die er studierte, um das Geräusch der Knochensäge nicht mit einem Bild verbinden zu müssen.

Aus den Augenwinkeln beobachtete er die Staatsanwältin. Sie hatte eine scharfkantige Brille aufgesetzt und die Arme vor der Brust verschränkt. Mit zwei Fingern trommelte sie ungeduldig auf ihrem Arm herum. Kahn dachte, dass Fälle wie dieser ihr wahrscheinlich zu unspektakulär waren. Mit ausgeraubten Rentnern ließ sich keine Karriere machen.

Nach zwei quälend langen Stunden beendete Koberg mit einem letzten Stich und einem trockenen »So!« seine Arbeit an Werner Gröber. Dann sagte er: »Nun«, und dann nichts mehr. Der Assistent räumte die Geräte auf. Kahn, der sich bemühte, weiterhin nicht durch die Nase zu atmen, wollte keine unnötige Luft verschwenden und sagte ebenfalls nichts.

»Todeszeitpunkt?«, schnappte die Staatsanwältin und hüpfte in der Kälte ungeduldig von einem Bein aufs andere. Vor seinem geistigen Auge sah Kahn plötzlich eine Kolonie Marabus, wie sie mit staksigen Beinen und ausgebreiteten Flügeln auf ihren Nestern herumturnten. Doch Koberg, der Wissenschaftler, unempfindlich gegenüber jeglichem Geflatter, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Jede Todeszeitschätzung ist ein Versuch, Frau Staatsanwältin. Der Versuch, einen zeitlichen Zusammenhang zwischen den äußeren Bedingungen und dem Zustand einer Leiche herzustellen. Dabei gilt es, eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen. Die Interpretation ihres Zusammenwirkens stellt sich im konkreten Fall als durchaus heikel dar. Zumal keine tödliche Gewalt angewendet worden ist, was den Übergang zwischen Leben und Tod betrifft. Deshalb kann hier biologisch nur von einem Todeszeitraum gesprochen werden. Ich möchte also den Vorbehalt meiner Einschätzung deutlich betonen.« Die Staatsanwältin verharrte einen Moment lang sprachlos. So sanft wie möglich ging Kahn dazwischen.

»Fassen Sie doch bitte für uns zusammen.«

Koberg räusperte sich: »Ich fange von hinten an, die Details können Sie dann dem Protokoll entnehmen. Dieser Mann ist mit Sicherheit über vierzig Stunden tot, vermutlich nicht länger als fünf Tage. Der Tod trat durch akute Unterkühlung ein. Bei den Temperaturen, wie wir sie im Moment haben, kann das in einer ungeheizten Hütte eine Frage von wenigen Stunden sein, zumal unbekleidet. Alter um die achtzig, leicht unterernährt, Gebiss in eher schlechtem Zustand – da war länger kein Zahnarzt mehr dran. Früher war er mit Sicherheit starker Raucher. Ansonsten unauffällig, keine Anzeichen schwerer Erkrankungen, gesundes Herz. Ein für sein Alter körperlich noch gut erhaltener Mann.« So wie das Haus, dachte Kahn, für sein Alter ganz gut erhalten, und sonst lässt sich nichts weiter dazu sagen. Das war es, was von einem Leben übrig blieb. Ihn fröstelte.

Nachdem Kahn die Gerichtsmedizin verlassen hatte, lief er eine Weile ziellos geradeaus und bog dann in die Chausseestraße ein. Nach dem Schnee war die Sonne herausgekommen und wärmte seine klammen Finger. Handschuhe besaß er keine.

Nach all den Jahren solltest du den Toten gelassener gegenübertreten können, sagte er sich. Stattdessen hatte er das Gefühl, immer durchlässiger zu werden, angreifbarer. Als sei ihm seine eigene Sterblichkeit erst jenseits der vierzig bewusst geworden. Gerade passierte Kahn die hohen Ziegelmauern des Dorotheenstädtischen Friedhofs, als Laura Conti anrief.

»Hallo, Chef. Conti hier. Kommen Sie mit zu den Kleingärtnern?«

»Wo sind Sie jetzt?«

»Im Vereinsbüro. Wir haben jetzt die Liste aller Mitglieder.«

»Ich komme.«

Kahn steuerte den nächstgelegenen Bahnhof an und stieg in die S75 in Richtung Wartenberg. Von unterwegs rief er Violetta an, um zu erfahren, wo er aussteigen musste. Die Kleingartensiedlung lag in einem Teil Berlins zwischen dem Bahnhof Ostkreuz und dem Heizkraftwerk Klingenberg, der bis vor wenigen Jahren hauptsächlich aus Brachland, Industrie und ehemaligen NVA-Kasernen bestanden hatte. Kahn kannte sich dort nicht gut aus. Wenn es aber jemanden gab, der Berlin überblickte, dann war es Violetta. Direkt hinter ihrem Schreibtisch hing der größte Stadtplan, den er je gesehen hatte, und sie hatte das Talent, sich jeden Straßennamen merken zu können.

»Also, Sie fahren entweder zum Nöldnerplatz. Da können Sie gleich sitzen bleiben. Oder Sie fahren bis zum S-Bahnhof Rummelsburg, das ist näher. Dann müssen Sie aber am Ostkreuz umsteigen in die S3 nach Erkner.«

Kahn entschied, dass Rummelsburg interessanter klang. Als er aber beim Umsteigen feststellte, dass er zwanzig Minuten auf den nächsten Zug warten müsste, beschloss er, von hier aus zu Fuß zu gehen. Er irrte eine Weile auf dem alten Bahnhof Ostkreuz herum, der seit Kaiser Wilhelms Zeiten nicht mehr erneuert, sondern nur noch beschädigt worden war, und staunte wieder einmal darüber, dass mitten am Tag so viele Menschen gleichzeitig unterwegs sein konnten. Die meisten trugen Ohrstöpsel und Kopfhörer, oder sie telefonierten.

Man muss sich abstöpseln, dachte Kahn, sonst hält man so viele Fremde auf einmal gar nicht aus.

Mit dem Strom der anderen ließ er sich schließlich über eine provisorische Stahltreppe zum Ausgang spülen und fand sich auf der Neuen Bahnhofstraße wieder. Am Ostkreuz-Grill überlegte er kurz, ob er Hunger hatte, aber dann beließ er es doch bei einem Kaffee. Was war von einem halben Hühnchen zu erwarten, das gerade mal 2,50 Euro kostete?

»Entschuldigung, wie komme ich denn von hier nach Rummelsburg?«, fragte er den dünnen Mann hinter der Theke, dessen Haare am Kopf klebten, als sei er selbst morgens ins Frittierfett getaucht.

»Seh’ ick aus wie’n Stadtplan?«, raunzte der Fettige.

Kahn zuckte die Schultern und wandte sich ab. Den lauwarmen Filterkaffee ließ er stehen. Im Gehen wählte er erneut Violettas Büronummer und ließ sich von ihr lotsen. Als er schließlich das schmiedeeiserne Tor mit der Aufschrift Kolonie Eden erreichte, begann es bereits wieder zu dämmern. Kahn betrachtete das schwindende Licht. Dabei fangen wir doch gerade erst an, dachte er.

4

»Okay«, sagte Kahn und hob beide Hände. »Wir brauchen die Presse.« Die Zeit lief ihnen davon. Schon zwei Tage waren vergangen, und sie hatten nichts. Außer diesem alten Mann, den jemand auf eine unauffällige, aber äußerst brutale Weise hatte sterben lassen.

Voller Unbehagen dachte er an den gestrigen Tag zurück. Die Hausverwalterin der Frankfurter Allee 27 konnte sich nicht an einen Mieter mit Namen Werner Gröber erinnern, der Mietvertrag war bereits 1992 beendet worden. Keiner der Kleingartenpächter hatte in den vergangenen zwei Wochen seinen Garten aufgesucht. Selbst diejenigen, die wie Hertha und Erich Knopp dort ihren festen Wohnsitz hatten, waren als Zeugen nicht hilfreich gewesen. Die beiden Ehepaare, deren Parzellen unmittelbar an Werner Gröbers Grundstück grenzten, hielten sich bis Ende Februar in der Türkei auf.

»Wir überwintern hier jedes Jahr. Wie die Zugvögel«, hatte eine äußerst beschwingte Frau Kahn am Telefon erklärt. Im Hintergrund waren Wind und Geplätscher zu hören gewesen. »Haben Sie denn jetzt noch Fragen? Die Aquafitness geht nämlich gleich los.«

Rentner müsste man sein, hatte Kahn neidvoll gedacht. Violetta, die das Gespräch vorsichtshalber aufgezeichnet hatte, hatte gemeint: »Die Türkei ist jetzt groß in Mode. Was früher Mallorca war. Meine Mutter fährt auch jedes Jahr im Winter dorthin. Es ist günstig, sie hat es warm für ihre Knie und lernt noch neue Leute kennen.«

Dafür fühlte Kahn sich dann doch noch zu jung.

Wieder einmal konnte kein Einziger etwas Besonderes über diesen Toten sagen. Wie oft hatte er das schon gehabt? Da stirbt einer, und rundherum fällt niemandem etwas dazu ein. Außer, dass er irgendwie immer da war und – in diesem Fall – seine Hecke vorschriftsmäßig stutzte. Der Vorstand der Kleingärtner hatte nie etwas zu bemängeln gehabt am Zustand der Parzelle 76. Ehefrau, Kinder, Geschwister, enge Freunde – nichts hatten sie gefunden. Er hatte keine Rente bezogen, und nicht einmal ein Bankkonto hatte er gehabt. Die Pacht für den Kleingarten hatte er dem Vereinsvorsitzenden, der daran nichts Besonderes finden konnte, einmal im Jahr in bar überreicht. Woher das Geld kam, ließ sich nicht klären.

Jetzt würde die Polizei also offiziell die Bevölkerung um Mithilfe bitten. Ein etwas verwaschenes Foto des jährlichen Sommerfestes der Schrebergärtner, das Werner Gröber bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen zeigte, sollte dabei helfen. Ein besseres Bild hatten sie nicht auftreiben können. Kahn war nicht ganz glücklich damit, aber es wirkte dennoch lebendiger als das Foto des abgelaufenen Personalausweises, auf dem ein älterer Herr blicklos in die Kamera schaute.

»Das bringt doch nichts, oder?«, sagte Adam Lukas leise, als sie vor dem Fahrstuhl aufeinandertrafen. Er zeigte auf die Pressemeldung in Kahns Hand. Adam hatte dreißig Jahre Kriminalpolizei hinter sich und würde bald pensioniert werden. Altersmäßig war er Kahn von allen Kollegen der Truppe am nächsten, etwas, das sie verband, aller Unterschiede im Charakter zum Trotz.

»Sicher nicht. Wir werden nur wieder jemanden abstellen müssen, der dem ganzen Wahnsinn von Hinweisen nachgeht, und damit viel Zeit verlieren. Aber ich würde den Fall gerne noch eine Weile offen halten.«

»Warum?«

»Mich stört da irgendetwas.«

»Und was?«, fragte Adam und kratzte sich den bereits kahlen Schädel.

»Ich finde diesen Tod nicht plausibel«, sagte Kahn. »Jeder Mord hat eine Logik. Dieser hier auch, und ich will wissen, welche.« Adam widersprach nicht. Aber an seinem skeptischen Blick erkannte Kahn, dass er mit seinem Gefühl allein war. Zu fein war die Spur. Wie ein kleiner unanständiger Geruch, den offenbar nur er wahrnahm.

ENDE DER LESEPROBE