Der Engel mit den Eisaugen - Douglas Preston - E-Book

Der Engel mit den Eisaugen E-Book

Douglas Preston

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Beschreibung

Im italienischen Perugia wird die britische Studentin Meredith Kercher brutal in ihrer Wohnung ermordet. Hauptverdächtige sind ihre amerikanische Mitbewohnerin Amanda Knox und ihr italienischer Freund Raffaele Sollecito. In einem spannungsgeladenen Indizienprozess werden die beiden zu extrem hohen Haftstrafen verurteilt. Zwei Jahre später spricht ein Berufungsprozess die beiden frei. Douglas Preston und Mario Spezi rollen den spektakulären Fall Amanda Knox neu auf. Bisher unveröffentlichte Details, Interviews mit involvierten Juristen und die Aufdeckung der dubiosen Machenschaften des italienischen Staatsanwalts, Giuliano Mignini, garantieren eine atemberaubende Lektüre, die es mit jedem Thriller aufnehmen kann.

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Ähnliche


Douglas Preston / Mario Spezi

Der Engel mit den Eisaugen

Deutsch von Kathrin Wolf und Maria Zybak

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Einleitung von Preston SpeziAm 2. November 2007 wurde [...]Die Geschichte von Mario SpeziKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Nachwort von Douglas PrestonKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Chronologie des Mordfalls KercherDouglas Preston & Lincoln Child Romane
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Einleitung von Preston Spezi

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Am 2. November 2007 wurde in der schönen alten Stadt Perugia, umgeben von den Hügeln der Toskana, eine junge Engländerin namens Meredith Kercher ermordet in dem Haus aufgefunden, das sie sich mit mehreren anderen Studentinnen teilte. Die halbnackte Leiche lag unter einer Daunendecke auf dem Boden ihres Zimmers. Man hatte Meredith die Kehle durchgeschnitten, es gab Anzeichen für sexuelle Gewalt und Raub. Dies war einer der spektakulärsten Mordfälle, den Perugia seit mehr als dreißig Jahren erlebt hatte, und er beherrschte die Titelseiten der italienischen Zeitungen. Vier Tage später, am 6. November, verkündeten Polizei und Staatsanwaltschaft triumphierend auf einer Pressekonferenz in Perugia, dass der Fall gelöst sei und man die drei Mörder verhaftet habe; einer habe bereits ein Geständnis abgelegt. »Der Fall ist aufgeklärt«, hieß es. Die Nachricht ging um die Welt.

Einige Tage später wurde gemeldet, dass eine amerikanische Studentin namens Amanda Knox mit zwei anderen Personen in den Mord verwickelt sei, den die Staatsanwaltschaft als eine Art sexuell-satanisches Ritual unter Drogeneinfluss bezeichnete. Am 12. November erschien in der New York Times ein Artikel mit der Überschrift »Grausiger Mord hält italienische Universitätsstadt in Atem«. In dem Artikel hieß es unter anderem:

»Es hat Ms. Knox nicht geholfen, dass sie laut Darstellung des Richters ihre Aussage mehrmals änderte. Zuerst erzählte sie der Polizei, sie sei in der Nacht, als Ms. Kercher starb, vom 1. auf den 2. November, mit Mr. Sollecito in dessen Wohnung gewesen … Beim Verhör gab sie an, sie habe sich in der Küche des gemeinsam bewohnten Hauses aufgehalten, Ms. Kerchers Schreie gehört, … habe sich die Ohren zugehalten, das Haus fluchtartig verlassen und erinnere sich sonst an nichts. Vergangenes Wochenende behauptete sie erneut, sie sei an jenem Abend gar nicht in dem bewussten Haus gewesen.«

Als ich das las, dachte ich, wie vermutlich die meisten Amerikaner, dass Amanda Knox schuldig sei. Ich speicherte den Mord als eines dieser grausigen, sinnlosen Verbrechen, wie sie psychisch gestörte, vermutlich unter Drogen stehende Menschen begehen.

Einige Tage später rief mich ein Mann namens Tom Wright an, und seine tiefe, sonore Stimme bebte geradezu vor Empörung. Wright stellte sich mir als Freund der Familie Knox vor; seine Tochter und Amanda seien enge Freundinnen. Er sei felsenfest überzeugt, versicherte er, dass Amanda nicht fähig sei, einen Mord zu begehen. Er habe sich mit der Sache beschäftigt und sofort gespürt, dass da etwas nicht stimmte. Das Geständnis, sagte er, sei nach einem vierzehnstündigen Verhör erfolgt, bei dem die Polizei Amanda physisch und psychisch unter Druck gesetzt habe. Der italienischen Presse werde eine Menge falscher, nachteiliger Informationen zugespielt, was die Öffentlichkeit gegen Amanda einnehme. Genau diese Informationen würden von der amerikanischen Presse aufgegriffen, wodurch sich auch in ihrem Heimatland die öffentliche Meinung gegen sie wende. Die italienischen Anwälte der Familie, berichtete Wright weiter, hätten ihnen verboten, mit Journalisten zu sprechen, und so werde ihre Seite der Geschichte gar nicht bekannt. Es müsse etwas getan werden, um diese Flut an falschen Informationen zu stoppen und einer unschuldigen jungen Frau, die zu Unrecht des Mordes beschuldigt wurde, zu helfen.

Ich fragte Wright, warum er gerade mit mir Kontakt aufgenommen habe.

Es herrschte kurzes Schweigen in der Leitung, und dann sagte er: »Weil Oberstaatsanwalt Giuliano Mignini mit diesem Fall befasst ist. Er treibt mit Amanda das gleiche Spiel wie mit Ihnen und Mario Spezi.«

Bis zu diesem Moment hatte ich gar nicht gewusst, dass Mignini mit der Sache befasst war. Ich nahm Wright keineswegs sofort alles ab, was er vorbrachte. Natürlich würden Amandas Familie und ihre Freunde sie verteidigen, ganz gleich, wie die Beweislage aussah. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich mir die Sache näher anschauen sollte, um mir eine eigene Meinung zu bilden.

Als Erstes rief ich Mario Spezi an. Spezi und ich haben zusammen das Buch Die Bestie von Florenz geschrieben, in dem es um einen Serienmörder geht, der zwischen 1974 und 1985 in den Hügeln der Toskana junge Liebespaare umbrachte. Diese Mordserie wurde bis heute nicht aufgeklärt. Unser Buch hatte bei ebenjenem Staatsanwalt Giuliano Mignini, der die Ermittlungen damals teilweise leitete, heftigen Unmut erregt. Als Mignini erfuhr, worüber wir schrieben, ließ er mich zur Vernehmung vorladen, die in Italienisch und ohne Anwalt durchgeführt wurde. Bei dieser Vernehmung beschuldigte er mich der Beihilfe zu diesen Morden und forderte mich auf, ein Geständnis abzulegen. Als ich erklärte, dass ich kein Verbrechen gestehen würde, das ich nicht begangen hätte, beschuldigte er mich des Meineids, der Behinderung der Justiz und anderer Vergehen. Dann bedeutete er mir, dass ich am besten möglichst schnell ausreisen solle, andernfalls müsse ich mit einer Verhaftung rechnen. Nachdem ich Italien mit meiner Familie fluchtartig verlassen hatte, ließ Mignini Mario Spezi verhaften und ins Gefängnis werfen mit der Begründung, er sei in die Morde des Monsters von Florenz verwickelt. Nach internationalen Protesten sah Mignini sich gezwungen, Spezi auf freien Fuß zu setzen und die Beschuldigungen gegen mich fallenzulassen. (Die ganze Geschichte ist in Die Bestie von Florenz nachzulesen.) Mignini brachte sein Vorgehen bei den Morden von Florenz eine Anklage wegen Amtsmissbrauchs und anderer Vergehen ein.

All das bewirkte, dass ich jeden Fall, in den Mignini involviert war, mit äußerst skeptischen Augen betrachtete. Ich fragte Spezi, ob er denn etwas über den Kercher-Mord wisse. Spezi erwiderte, er habe sich ursprünglich nicht als Journalist für den Fall interessiert, doch als er erfuhr, dass Mignini die Untersuchung leitete, habe er die Hände vors Gesicht geschlagen und aufgestöhnt: »Mein Gott, was wird er jetzt wieder anrichten? Welchen armen, unschuldigen Menschen wird er jetzt wieder ins Gefängnis bringen?«

Mario und ich nahmen uns nun den Fall professionell vor, als Journalisten. Je weiter unsere Recherchen gediehen, desto weniger konnten wir das Ganze nachvollziehen. Es begann schon damit, dass man »Fall aufgeklärt« verkündete, ehe überhaupt die Spuren vom Tatort ausgewertet worden waren. Eigenartig. Zum anderen erklärten Polizei und Staatsanwaltschaft von Perugia, man brauche gar keine Spuren auszuwerten, um zu wissen, dass Amanda Knox und ihr Freund Raffaele Sollecito schuldig seien. »Wir konnten die Schuld nachweisen«, erläuterte Kommissar Edgardo Giobbi, »indem wir die psychischen und verhaltensmäßigen Reaktionen der Verdächtigen während der Verhöre genau beobachteten. Andere Ermittlungsmethoden erübrigen sich, da diese Methode uns in kürzester Zeit zu den Schuldigen geführt hat.«

Als dann die Ergebnisse der Spurensicherung vorlagen, zeigte sich, dass sie keineswegs auf die in Haft befindlichen Verdächtigen hinwiesen. Es gab nicht eine einzige DNA-Spur von Amanda Knox, ihrem Freund und einer dritten Person, die mit ihnen verhaftet worden war. Stattdessen war der Tatort geradezu gepflastert mit DNA-Material einer vierten Person, eines von der Elfenbeinküste stammenden Herumtreibers, Kleinkriminellen und Drogendealers namens Rudy Guedé. Seine DNA wurde außen am Opfer gefunden, in dessen Vagina und im Portemonnaie, aus dem Geld genommen worden war. Blutige Fingerabdrücke von Guedé fanden sich an den Wänden, Fäkalien von ihm in der Toilette, wo nicht nachgespült worden war. Nach der Tat hatte sich Guedé nach Deutschland abgesetzt. Er wurde nach Italien zurückgebracht, wo er eine völlig unglaubhafte Geschichte erzählte: dass er mit dem Opfer einvernehmlich Sex gehabt habe und dann ins Bad gegangen sei. Während er ein paar Meter entfernt die Toilette benützte, sagte er, und auf seinem iPod Musik hörte, sei jemand anders in die Wohnung eingebrochen und habe das Opfer ermordet. Er habe wegen der Ohrstöpsel nichts gehört. Als er herauskam, habe er den Mörder überrascht und mit ihm gerungen, doch der Mann konnte flüchten. Aus Angst, dass man ihm selbst die Schuld zuschieben könnte, habe er sich aus dem Staub gemacht; währenddessen erstickte das Opfer an seinem eigenen Blut. Später ging er noch in einer Disco tanzen, ehe er nach Deutschland flüchtete.

Für mich war nach Lektüre dieser Aussage klar, dass Guedé der alleinige Täter war, dass Amanda und Raffaele zu Unrecht in Haft saßen. Es war ein banaler Raub, bei dem das Opfer anschließend vergewaltigt und ermordet wurde.

Doch die Polizei hatte Amanda und Raffaele nicht freigelassen. Vielmehr hatte sich Mignini offenbar eine Geschichte aus den Fingern gesogen, dass Amanda Knox und Raffaele Sollecito sich mit Guedé – den sie überhaupt nicht kannten – zusammengetan hätten, um an Halloween unter Drogeneinfluss einen sexuell-satanischen Ritualmord durchzuführen. Für diese verrückte, rein hypothetische Spekulation schien es keinerlei Beweise zu geben.

Es war mir ein Rätsel, warum Mignini und die Polizei von Perugia unbedingt zwei unschuldige Menschen unter Mordanklage stellen wollten, obwohl sie den Mörder doch schon hatten. Das ergab überhaupt keinen Sinn. Was ging da vor? Je intensiver Mario Spezi und ich uns mit diesem seltsamen Fall befassten, desto klarer schien uns, dass mehr dahintersteckte. Allem Anschein nach bemühten sich die dortige Polizei und Staatsanwaltschaft – und insbesondere Giuliano Mignini – weder um Wahrheitsfindung noch um Gerechtigkeit. Ihr Vorgehen schien von anderen Motiven bestimmt. Aber von welchen? Und warum?

Nun begann Mario Spezi, sich ernsthaft mit diesem Fall zu befassen. Und was er herausfand, war echter Sprengstoff.

Vier Jahre später wurden Amanda Knox und Raffaele Sollecito im Berufungsverfahren von der Mordanklage freigesprochen und aus der Haft entlassen. Das Berufungsgericht befand, dass sie aufgrund falscher Beweise verurteilt worden seien. Der erste Prozess war ein so ungeheuerlicher Hohn auf die Gerechtigkeit gewesen, dass elf Parlamentsabgeordnete einen Protestbrief an den italienischen Staatspräsidenten schrieben und eine Untersuchung forderten. Diese Untersuchung fand niemals statt. Bisher waren die Hintergründe dieser Justizfarce nicht bekannt.

Hier, in Der Engel mit den Eisaugen, kommt nun endlich die erschreckende Wahrheit ans Licht.

Mario Spezi hat in den vergangenen vierzig Jahren über etliche der spektakulärsten Verbrechen in der modernen italienischen Geschichte berichtet: über Delikte mit terroristischem Hintergrund, über Verbrechen im Umfeld der Mafia, über Sekten- und Serienmorde. Er zählt auf diesem Gebiet zu den bekanntesten Journalisten Italiens. Dank seines Informantennetzes, das er im Laufe vieler Jahre innerhalb der Polizei, der Carabinieri und des Justizapparats aufgebaut hatte, konnte er besser als jeder andere der Wahrheit auf die Spur kommen. Es ist eine fesselnde Geschichte, packend erzählt und manchmal derart absurd, dass man sie kaum glauben mag – doch jedes Wort ist wahr.

Dieses Buch bringt ans Licht, wie es zuging, dass Amanda Knox und Raffaele Sollecito zu den Mördern von Meredith Kercher gemacht wurden.

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Die Geschichte von Mario Spezi

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Kapitel 1

Auf die Frau mit dem stark geschminkten Gesicht, der auffallenden Kleidung und dem zerzausten, blondgefärbten Haar, die am Morgen des 3. November 2007 in einem dicken Mercedes aus Rom ankam, dürfte die Stadt nicht wesentlich anders gewirkt haben als auf Charles Dickens, der sie vor ungefähr 150 Jahren beschrieb: »Das durch Natur und menschliche Kunst stark befestigte Perugia, das unvermittelt aus der Ebene emporsteigt …«

Nach Perugia kommt niemand durch Zufall.

Der Autor von Oliver Twist hatte sich zum Colle del Sole begeben – der Anhöhe, aus der Perugia emporsteigt –, um seinen Reisebildern aus Italien ein weiteres Kapitel hinzuzufügen. Der Grund, aus dem die Frau in dem Mercedes dorthin fuhr, war sehr viel spezieller – Gott führte sie.

Auch wenn das Motiv für eine Reise nach Perugia normalerweise kein so gewichtiges sein dürfte, begibt man sich doch nur mit einem besonderen Anliegen dorthin, denn die Stadt liegt weitab von allen üblichen Verbindungswegen. Ganz allein mitten in Umbrien, der einzigen Region, die nicht ans Meer grenzt, war Perugia von jeher isoliert. Und dies im Zentrum Italiens, eines Landes, umgeben vom Mittelmeer, einer großen Brücke zwischen unterschiedlichen Kulturen. Seit Jahrhunderten führen die italienischen Hauptverkehrsstraßen weit an Perugia vorbei, und zwar mit allem, was sie transportieren: Menschen, Dinge, Ideen. Nach dem gleichen Prinzip wurden später Eisenbahnen gebaut und schließlich Autobahnen. Seit Jahrhunderten läuft alles um Perugia herum, ohne die Stadt je zu berühren, ja, es ist fast, als würde sie gemieden, allein gelassen mit ihrer Vergangenheit und mit Geistern, die noch in der Gegenwart fortleben.

Gott hatte die Frau in dem Mercedes mit einer Mission von größter Wichtigkeit betraut: Von ihr hing nicht nur die Rettung eines einflussreichen Mannes ab, sondern gar die Rettung des italienischen Staates selbst. Und die Zeit, die Gott ihr gegeben hatte, war schrecklich kurz. So gesehen, konnten der Mann und Italien von Glück sagen, dass es möglich ist, Perugia von Rom aus in weniger als zweieinhalb Stunden zu erreichen.

Das eigentlich Außergewöhnliche war, dass die Nachricht ihr nicht wie sonst durch die Seele des vor einigen Jahren verstorbenen Pater Gabriele gesandt worden war, und auch nicht durch die Madonna von Fátima, mit der die Frau inzwischen bestens vertraut war. Nein, sie kam direkt von IHM.

Gabriella Carlizzi, eine Römerin aus gutbürgerlichem Haus, noch nicht ganz sechzig, hatte die himmlische Botschaft vor ein paar Tagen im Morgengrauen erhalten, und da es ihr dank ihrer ungewöhnlichen, übernatürlichen Fähigkeiten gelungen war, etwa siebzig Anhänger um sich zu scharen, machte sie sich umgehend daran, die Neuigkeiten in ihrem Blog lagiustainformazione.it zu veröffentlichen, über den sie seit einigen Jahren mit ihrer Fangemeinde kommunizierte.

In den frühen Morgenstunden des 1. November, an Allerheiligen, schrieb sie in einer etwas verqueren Syntax: »Dies ist die Botschaft von heute Morgen, drei Uhr, vom Himmel gesandt und von mir ins Schriftliche übertragen: … Meine Kinder, in den letzten Tagen ist der Kampf gegen das Böse härter geworden denn je, und Satan dürstet nach Blut. Er will das Blut der Justiz trinken, und deshalb bitte ich euch, die Wächter des einen, der seine Robe noch nicht besudelt hat, das überaus lobenswerte Werk, das ihr vollbringt, so schnell fortzuführen wie nur irgend möglich, damit Mein (!) Giuliano mit eurer Hilfe vor das Schwurgericht treten kann, welches auch auf Erden dazu auserkoren ist, über die Lebenden und die Toten zu urteilen, ausgestattet mit Beweisen, welche all jene der Justiz ausliefern sollen, die mit nur einem Ziel weiter töten – um die Wissenden, die bereit sind, sich voller Gelassenheit in den Zeugenstand zu begeben, zum Schweigen zu bringen. Auch über Mein mutiges Geschöpf, das euch diese Nachricht als Meine Vermittlerin überbringt, wurde ein sehr kurzfristiges Todesurteil verhängt, wobei sie versuchen werden, diesen Tod als Verkehrsunfall erscheinen zu lassen. Aus diesem Grund, liebe Kinder, müsst ihr euer Bestes geben und dabei immer daran denken, dass das Böse keine Ferien macht, schon gar nicht an Feiertagen wie heute, an denen ein Lob auf Gott und all jene angestimmt wird, die bereits auf Erden die Herrlichkeit des Himmels erlangt haben. Mein Giuliano kann nur auf euch zählen … Seid also wachsam, dies sind die Tage, lasst euch nicht ablenken, seid auf der Hut, damit diese Robe, die dem Staat zu so viel Ehre gereicht, nicht mit dem Blut eines weiteren Märtyrers gewaschen wird.

Ich segne euch.«

Unterschrieben war die Botschaft von niemand anderem als dem »Gerechten Gott« persönlich.

Die Anhänger der Frau wie auch jeder andere in Italien, der sich für die neuesten, bizarren Entwicklungen im Fall des sogenannten Monsters von Florenz interessierte – dem berühmtesten Justizfall Italiens, der es seit nunmehr drei Jahrzehnten regelmäßig in die Schlagzeilen schaffte –, sie alle also konnten keinen Zweifel hegen: Die Robe, die Gefahr lief, in Kürze mit Blut gewaschen zu werden, gehörte Giuliano Mignini, dem bekanntesten Staatsanwalt Perugias, dem Justizbeamten, der zirka sieben Jahre zuvor unter großem Aufsehen die Ermittlungen zum Monster von Florenz wieder aufgenommen hatte – wobei er sich schon damals auf die Enthüllungen ebenjener Frau aus dem Mercedes stützte. Und das Ziel des als Verkehrsunfall getarnten Attentats waren demnach der Staatsanwalt und die Frau selbst. Sie betrachtete sich als Hauptzeugin, wenn es darum ging, die überaus wichtigen Erkenntnisse des Chefanklägers aus Perugia vor das Schwurgericht zu bringen und die geheimnisvollen, übermächtigen Mörder zu verurteilen, die Hintermänner des Monsters von Florenz.

Nun hatte sich Gabriella Carlizzi also entschlossen, Mignini persönlich von der schrecklichen Prophezeiung zu unterrichten. Doch zwischen dem Erhalt der Botschaft und ihrem Aufbruch nach Perugia war das Verbrechen bereits geschehen. Allerdings nicht das, bei dem der Justizbeamte und sie ums Leben kommen sollten, sondern ein anderes.

Tags zuvor, am Morgen des 2. November 2007, den die katholische Kirche dem Totenkult widmet und an dem die Italiener mit Chrysanthemen in den Händen und Gebete murmelnd auf die Friedhöfe strömen, um ihrer verstorbenen Lieben zu gedenken, wurde der feine, kalte Nebel, der Perugia umhüllte, von beharrlichen Stimmen durchdrungen. Es gab Leute, die sagten, ein grauenvoller Mord – etwas völlig Außergewöhnliches in dieser ruhigen Stadt – sei in einer kleinen Villa aufgedeckt worden. Diese befinde sich unweit der Università per Stranieri, der bekanntesten Universität Italiens, die es schaffte, achttausend Studenten hinter die Mauern von Perugia zu locken, einem Ort, der insgesamt nicht mal 170000 Einwohner zählt.

Eine junge Engländerin, so das Gerücht, die erst vor kurzem in Perugia eingetroffen war, sei ermordet in dem Haus aufgefunden worden, das sie sich mit anderen Studentinnen teilte. Inner- und außerhalb der Universität überstürzten sich die Berichte, und es war schwierig zu sagen, was stimmte und was nicht: »Sie wurde vergewaltigt und dann mit Messerstichen getötet« – »Wer denn überhaupt, und wie ist das passiert?« – »Die Polizei ist unten in der Via della Pergola, hinter einer kleinen Villa« – »Es heißt, man habe ihr die Kehle durchgeschnitten, und sie soll in einer riesigen Blutlache liegen« – »Aber warum denn nur? Warum mit zwanzig so sterben?« – »O Gott, es wird doch nicht Mez sein?« – »Welche Mez? Doch nicht die, die sich an Halloween als Vampir verkleidet hat?«

Zwei Nächte zuvor, zwischen dem 31. Oktober und dem 1. November, hatten viele der ausländischen Studenten Halloween gefeiert, um des Todes zu gedenken und ihn vielleicht auch zu exorzieren, eine Tradition, die sich nicht im Geringsten von der katholischen oder italienischen unterscheidet. Irgendjemand erinnerte sich schließlich, dass ein englisches Mädchen, das sich Mez nannte, in einem langen schwarzen Mantel mit hohem Kragen, der sie wie ein Vampir aussehen ließ, auf einem der Feste gesehen worden war. Und dass sie in einem Haus in der Via della Pergola wohnte, wo sich das Verbrechen zugetragen haben sollte. Viele der jungen Ausländer, vor allem die weiblichen, standen unter Schock: Ein bisschen betraf es sie alle.

Die Einwohner von Perugia hingegen waren der Meinung, dass dieser Tod sie nichts anginge. Das sei »die Angelegenheit« der anderen. Er hatte nichts mit ihnen zu tun, war die logische Folge der Lebensweise dieser Jugendlichen, die so anders war als ihre eigene. Eine Folge ihrer seltsamen Gewohnheiten, zu großer Freiheiten und auch eines Festes wie Halloween, das die katholische Kirche ja aus gutem Grund verurteilte.

Die Fremden bringen Arbeit und Geld, doch in Perugia schätzt man Fremde nicht. Und das hier war ein »Krimi«, den es auf absurden Wegen in ihre Stadt verschlagen hatte, eine absolute Ausnahme, die man wie ein unbeteiligter Zuschauer betrachten konnte.

Und natürlich musste es sich um eine sonderbare Begebenheit handeln. Eine sehr sonderbare.

Wenig später, noch am Morgen des 2. November, bestätigten Radio- und Fernsehkanäle die Meldung und brachten erste Einzelheiten: »Das ermordete Mädchen heißt Meredith Kercher. Die Polizeibeamten haben sie erstochen im Schlafzimmer ihrer Wohnung in der Via della Pergola vorgefunden. Meredith Kercher, die in London geboren wurde, wäre Ende Dezember 22 Jahre alt geworden. Im August war sie über das Bildungsprogramm Erasmus zum Studieren nach Perugia gekommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde sie in der Nacht von Donnerstag auf Freitag ermordet.«

»Die Polizisten haben gut zehn Personen aus Merediths näherem Umfeld vernommen. Noch ist nicht klar, ob es ihre amerikanische Mitbewohnerin war, die sie zuletzt lebend gesehen hat …«

»Das Opfer könnte seinen Mörder auf einer Halloween-Party kennengelernt haben … Die Autopsie wird unter anderem darüber Aufschluss geben, ob die Studentin ein Opfer sexueller Gewalt wurde. Ihre Leiche wurde halbnackt auf dem Boden ihres Schlafzimmers gefunden. Um die Ermittler in die Irre zu führen, könnte der Mörder versucht haben, nach dem Mord einen Diebstahl vorzutäuschen …«

Der Gerechte Gott hatte Gabriella Carlizzi leider nicht darauf hingewiesen, dass eine englische Studentin namens Meredith Kercher in dem Haus, das sie mit der Amerikanerin Amanda Knox teilte, erstochen werden würde.

Dies nun hätte eigentlich jeden irritieren müssen. Nicht aber Gabriella Carlizzi: Innerhalb kürzester Zeit löste sie das Problem, indem sie die falsche Prophezeiung, die nicht etwa eine englische Studentin, sondern Mignini und sie selbst als nächstes Opfer auswies, einfach korrigierte und ihre ganz persönliche Wahrheit in Versalien in ihrem Blog kundtat: »DIES IST DIE GESCHICHTE DES MONSTERS VON FLORENZ, DIE SICH IN GESTALT EINER ANDEREN PERSON FORTSETZT, WELCHE SICH VON DEN ›VIER HINTERMÄNNERN‹ UNTERSCHEIDET, AUF DIE WIR UNS BEZIEHEN, WENN WIR VON DEN VERBRECHEN VON FLORENZ SPRECHEN. DOCH LEIDER BEFINDEN WIR UNS IN DER GLEICHEN GESCHICHTE, UND SIE IST SEHR GEFÄHRLICH. DER IN DIESEM FALL ERMITTELNDE LEITENDE STAATSANWALT SOLL HERAUSGEFORDERT WERDEN, UND DAS ZIEL DES MÖRDERS IST DIE OPFERGABE WEIBLICHEN BLUTES.«

Das Datum, so Gabriella Carlizzi weiter, sei nicht zufällig gewählt worden. Halloween – die Nacht der Hexen, der Untoten, die Nacht abgründiger, satanischer Rituale und Menschenopfer.

Für sie war und blieb Mignini Zielscheibe des obskuren Monsters. Und einer der Hintermänner, behauptete sie, sei ausgerechnet ich, der im Vorjahr von ebenjenem Staatsanwalt festgenommen und nach beinahe einem Monat vom Obersten Kassationsgerichtshof entlastet worden war. Ein weiterer Verschworener sei mein Freund Douglas Preston, ein Mittelsmann finsterer amerikanischer Mächte. Doug wurde als mein Komplize beschuldigt und schließlich zurück nach Amerika geschickt, um eine Haftstrafe zu vermeiden. Ich hingegen wurde – obgleich ich mich inzwischen wieder auf freiem Fuß befand – nicht mehr nur der Irreführung bezichtigt, sondern des Mordes und einer langen Reihe schwerwiegender Verbrechen. Von der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung war die Rede und sogar von Leichenschändung.

Während Gabriella Carlizzi keine Hemmungen hatte, ihrer überirdischen Logik zu folgen, war es Giuliano Mignini natürlich nicht möglich, eine Ermittlung zu leiten und dabei offen zuzugeben, dass er an ihre Behauptungen glaubte.

Also bewahrte er Stillschweigen, und es existieren keine Dokumente, denen sich entnehmen lässt, wie vielen himmlischen Offenbarungen er tatsächlich gelauscht haben könnte. Doch schon wenig später äußerte er sich zu den Ermittlungen im Fall Kercher und dessen prompter Aufklärung, die zur Festnahme von Amanda Knox und ihrem italienischen Freund geführt hatte. Und diese Stellungnahme erwies sich als exaktes Echo der Prophezeiungen der Carlizzi: Halloween, ein satanischer Ritus, eine Orgie mit viel Sex und Blut.

Dieselben Argumente – uralte, satanische Sekten, die aus einflussreichen Mitgliedern bestanden, obszöne rituelle Handlungen mit Leichenteilen junger Frauen, Satanskult –, all dies hatte der Staatsanwalt bereits bei Untersuchungen zum Monster von Florenz verwendet, die er zur gleichen Zeit geführt hatte und die sich ebenfalls auf Aussagen der Carlizzi stützten.

Ohne diese Vorgeschichte ist es nicht möglich, die Ereignisse der kommenden vier Jahre in Perugia vollständig zu begreifen. Denn genau diese Vorgeschichte ist es, die der Irrationalität, der Magie, dem Satanismus und einer neuen Variante archaischer Hexenjagden bei Gericht Tür und Tor geöffnet hat.

Im Fall Kercher gibt es keine Zeugenaussagen, die Gabriella Carlizzi gegenüber Giuliano Mignini gemacht hätte. Doch da er sie zuvor oft als Zeugin verhört und dies während meiner eigenen Gerichtsverhandlung auch laut kundgetan hatte, weiß ich mit Sicherheit, wie sehr er die römische Hellseherin schätzte, die laut seinen Worten »von vielen verunglimpft wird, aber nicht von mir!«.

Als der Staatsanwalt von den Verbrechen des Monsters von Florenz sprach, zu denen er Untersuchungen anstellte, und dabei auf Motive verwies, die mit Satanismus, dunklen Riten oder mysteriösen, mächtigen Geheimsekten zu tun haben sollten, stellte niemand seine Glaubwürdigkeit in Frage. Man räumte ihm eine gewisse Autorität ein – und das, obwohl seine Theorien die Ergebnisse überaus angesehener, kriminalistischer Methoden negierten, die sich auf die Datenbank des amerikanischen FBI und des deutschen Bundeskriminalamts stützten.

Auch schien er zu ignorieren, dass noch nirgendwo auf der Welt eine satanische Sekte entdeckt worden war, in der sich sogenannte »normale« Menschen dem Ritualmord verschrieben hätten, um ihre Opfer Satan darzubringen. Sofern sich der Zusammenschluss tatsächlich als Sekte bezeichnen ließ, hatte er immer aus extrem unangepassten, durchgeknallten Menschen bestanden, wie zum Beispiel der »Familie« von Charles Manson, die Sharon Tate, die Frau des Regisseurs Roman Polański, massakriert hatte.

Innerhalb der Staatsanwaltschaft oder von Seiten des Gerichts wurde dem Chefankläger keinerlei Hindernis in den Weg gelegt, niemand bremste ihn. Ein wenig lag das sicher auch daran, dass viele Justizbeamte aus Perugia von denselben Vorstellungen durchdrungen waren. Vor allem aber fühlten sie sich wohl zu einer Art eiserner Solidarität verpflichtet, weshalb niemand es wagte, einen Kollegen in Schwierigkeiten zu bringen und beispielsweise seinen Antrag abzulehnen.

Die Lokaljournalisten unterstützten Mignini nach Kräften, und wenn es doch einmal passierte, dass einer von ihnen Kritik oder einfach nur Zweifel äußerte, warf ihm der unerschütterliche Staatsanwalt sogleich Behinderung der Justiz vor und forderte ihn auf, sich einen Anwalt zu nehmen. Eine Angelegenheit, die für den Betroffenen schon allein in finanzieller Hinsicht kostspielig geworden wäre.

Mignini ist groß und korpulent, er entstammt einer der reichsten Familien der Stadt, ist sehr katholisch und trägt gerne sportliche und dennoch elegante Sakkos. Mit der obligatorischen Pfeife im Mund wirkt er wie ein gentleman farmer, ein Großgrundbesitzer aus vergangenen Zeiten. Seine grauen, gekräuselten Haare lassen die Stirn zur Gänze frei, die Augen sind hell, und das Lächeln wirkt höflich. Seine Ermittlungen hatten ihn in Perugia zu einem bekannten Mann gemacht. Zufrieden mit seiner neuen Popularität, war er langen, ausgiebigen Spaziergängen nicht abgeneigt – Spaziergängen auf dem Corso Vannucci, wo sich die ganze Stadt trifft, benannt nach dem berühmtesten Renaissancemaler Perugias, der auf der Collina del Sole geboren wurde.

Der Vater dreier Töchter (die jüngste ist erst vor wenigen Jahren zur Welt gekommen) galt allgemein als besonders religiös. Es hieß sogar, seine Religiosität grenze an Fanatismus, sei durchtränkt von einem nicht nur vorkonziliaren, sondern geradezu mittelalterlichen Katholizismus. Er gehöre, so sagte man, einem mächtigen katholischen Geheimbund an (vielleicht Opus Dei, vielleicht aber auch einer anderen, unbekannten Organisation) und genieße den Schutz einflussreicher Persönlichkeiten, die nicht genannt werden dürften. Zugleich wurde etwas Ähnliches und dennoch diametral Entgegengesetztes, etwas völlig Widersprüchliches von ihm behauptet, etwas, das die Leute aus Perugia wichtigen Persönlichkeiten ihrer Stadt gerne nachsagen – nämlich, dass sie einer der zahlreichen Freimaurerlogen angehörten, die sich über den Colle del Sole verteilen.

In der speziellen Weltsicht von Mignini, so fügte man noch hinzu, sei die Arbeit als Chefankläger nicht so sehr ein Dienst am Staat als vielmehr eine Mission gegen das Böse, das sich vor allem im Sex manifestiere. Natürlich schien das alles nur Gerede, das jeglicher Grundlage entbehrte: »Enthüllungen«, die einem, wie es in der Provinz oft der Fall ist, fast schon hinter vorgehaltener Hand zugeraunt werden; Geheimnisse, von denen man angeblich erfahren hat, um die anderen glauben zu machen, man kenne wichtige Leute.

Doch Mignini hat im Internet zwei Spuren hinterlassen, die alle Verdachtsmomente bestätigen. Sein Name taucht auf zwei katholischen Internetseiten auf, eine davon fundamentalistisch und eine andere – wie die Verantwortlichen selbst eingeräumt haben – »reaktionär«. Letztere geht sogar so weit, sich den Kirchenstaat zurückzuwünschen, wie er vor der Einigung Italiens, die »ein Werk des Teufels« sei, existiert habe – samt der Restauration des österreichisch-ungarischen Reichs und der Wiederherstellung der vorrevolutionären Zustände in Frankreich.

Der Name von Staatsanwalt Mignini tauchte am 8. Oktober 2012 auf der Seite der ultra-fundamentalistischen Vereinigung Associazione Legittimista Trono e Altare auf, als deren Mitglieder den hundertsten Todestag von Carlos María de Borbón begingen, den sie als den legitimen König von Spanien ansahen. »Sehr zahlreich die Teilnahme unserer Freunde«, heißt es auf der Seite, »unter ihnen und vielen anderen – die es entschuldigen mögen, wenn wir ihre Namen nicht nennen – auch der bedeutende Minister aus Perugia, Giuliano Mignini.« Hier wurde offensichtlich »pubblico ministero« (Staatsanwalt) mit »ministro« (Minister) verwechselt.

Da der Chefankläger hinter dem Mord an Meredith Kercher satanische Motive vermutet, die mit Halloween in Verbindung stehen, ist die Lektüre eines Artikels auf der Seite der Associazione Legittimista Trono e Altare besonders interessant. Der Autor, Priester Don Marcello Stanzione, rät allen jungen Leuten, »in keiner Form an Halloween teilzunehmen, damit die Offensive des Teufels abgewehrt werden kann, dessen Schlachtrösser die Esoterik und der Okkultismus sind. Halloween ist geeignet, labile Menschen mit Hang zum magischen Okkultismus zu manipulieren und zu versklaven.«

Obwohl sich die Associazione gegen den Vorwurf des Antisemitismus verwahrt, verficht sie die Authentizität der Protokolle der Weisen von Zion, die ihr zufolge auf einem »langfristig angelegten Plan« fußen, den der Bankier Amschel Mayer Rothschild einer Gruppe präsentiert haben soll, die sich 1773 in seinem Haus in Frankfurt traf. Laut der Associazione wurde der Plan tatsächlich in die Tat umgesetzt. Im Zuge dessen seien nach 1773 der Darwinismus, der Marxismus und der Nietzscheanismus verbreitet worden. »Hier wird ferner dargelegt«, behauptet die Associazione weiter, »wie der politische Zionismus angewandt werden müsse, um den Zielen (der Weltherrschaft) derer zu dienen, die (nach 1773) die internationale revolutionäre Bewegung angeführt haben … die Illuminati.«

Migninis Name taucht noch auf einer anderen katholisch-»fundamentalistischen« Webseite auf, und zwar auf der der Alleanza Cattolica. Sie zählt vierhundert Mitglieder, unter denen sich eine große Anzahl von Universitätsprofessoren, Soziologen, Politikern und Journalisten befindet. So etwa auch Alfredo Mantovano, der aus der neofaschistischen Partei MSI kam und Untersekretär des Innenministeriums im vierten Kabinett Berlusconis war, sowie der Soziologe Massimo Introvigne, der vielleicht bekannteste italienische Experte auf dem Gebiet satanischer Sekten. Die Cristianità, das Organ der Vereinigung, propagiert katholische Werte und wendet sich aufs schärfste gegen Homosexualität, Abtreibung, Empfängnisverhütung und Ehescheidung. Das World Social Forum bezeichnen sie als »Laboratorium der Subversion«.

Giuliano Mignini hat für die Alleanza Cattolica einen langen Artikel mit dem Titel Viva Maria! geschrieben. Darin befasst er sich mit dem toskanisch-umbrischen Aufstand von Einwohnern aus Arezzo und der Region des Trasimener Sees und des Tiber-Hochtals im Jahr 1799 – Gebieten, die dem Kirchenstaat angehörten. Es geht also um den Volkswiderstand gegen den Export von Idealen der Französischen Revolution durch napoleonische Truppen nach Umbrien und in die Toskana. Dabei liegt man politisch ganz auf einer Linie mit der Associazione Legittimista Trono e Altare, die meint: »Nach 1870 wurden die Päpste ihres legitimen Rechts der Ausübung weltlicher Macht beraubt, da ihre Territorien von einem jungen, illegitimen Usurpator besetzt waren.«

Trono e Altare und die Alleanza Cattolica haben viele Berührungspunkte: Das Wappen ist dasselbe – das heilige Herz Jesu und darüber das Kreuz, das Emblem der Gegenrevolutionäre im französischen Département Vendée. Beiden Vereinigungen gehören neben Mignini auch Lehrkräfte der Universität von Perugia an, so etwa Dianella Gambini, Professorin für spanische Literatur, und Paolo Caucci von Saucken, Dozent für spanische Literatur und Leiter der Confraternita di San Jacopo di Compostella. Sie ist als einzige italienische Institution berechtigt, einen Pilgerpass auszustellen, ein unentbehrliches Dokument für alle, die zu den heiligen Orten Santiago de Compostela, Rom oder Jerusalem pilgern wollen.

Der Vorsitzende der Alleanza Cattolica trägt den Titel »Regent«. Der Präsident wäre damit wohl die Madonna selbst.

In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass Mignini im Sommer 2011, dem Sommer, der dem Freispruch von Amanda und Raffaele vorausging, Brigitta Bulgari verhaften ließ und sie etwa zwei Wochen in einer Zelle festhielt. Bulgari ist eine Lapdance-Tänzerin und trat zu diesem Zeitpunkt in einem Lokal in der Nähe von Perugia auf. Mignini machte die junge Frau dafür verantwortlich, dass sich eine Gruppe Minderjähriger Zutritt zu der Diskothek verschafft hatte, wo sie ihre Vorstellung gab. Nun liegt es eigentlich auf der Hand, dass es nicht die Aufgabe der Tänzerin war, zu kontrollieren, wer das Lokal betrat, und viele fanden es übertrieben, sie deshalb ins Gefängnis zu stecken. Diese »vorbeugende« Inhaftierung durch Mignini wirkte wie die unnötige Bestrafung einer jungen Frau mit allzu freizügigem Lebenswandel.

Sein guter Ruf wurde Mignini auch in landesweit ausgestrahlten Fernsehbeiträgen bestätigt, ebenso wie in Zeitungsartikeln, die über seine Ermittlungen im Fall des Monsters berichteten und nicht zuletzt über aktuelle Entwicklungen im Hinblick auf die bedeutenden Leute der Stadt. Und je überraschender diese Entwicklungen waren, desto glaubwürdiger erschienen sie den Menschen in Perugia (und nicht nur ihnen), selbst wenn keinerlei Beweise vorlagen. In einer Stadt, in der fast jeder jeden kennt, gefiel es den Provinzlern, zuzuschauen, wie man unerreichbare Personen in den Medien massakrierte.

Am Ende erreichten die Ermittlungen dieselbe Quote wie eine sehr erfolgreiche Fernsehserie, in der es von Vampiren, Geistern und unsagbaren Mysterien nur so wimmelte.

Und Perugia schien der perfekte Schauplatz für diese Art Story.

Die Jahrtausende haben auf dem Colle del Sole einiges aufgeschichtet: riesige, dunkle, von den Etruskern behauene Steinmassen, Blöcke aus weißem Travertin, aus denen die Bögen und Tore der römischen Mauern gefertigt sind. Dazu kamen gewöhnlicher Stein, Marmor, ockerfarbene Backsteine und rote Ziegel für mittelalterliche Gebäude und enge, dunkle Straßen wie die Via delle Streghe oder die Via Scura. Auch ein kleiner Platz, der sich ganz plötzlich auftut und auf den Namen del Drago getauft wurde, ist mit den charakteristischen Ziegeln gepflastert, ebenso ein anderer mit einem wunderschönen Renaissance-Brunnen in der Mitte. Schlichte, streng anmutende Gebäude wurden daraus errichtet, so etwa der Palazzo dell’Inquisizione und der Palazzo del Capitano del Popolo, wo eine sehr grausame Justiz ihre Urteile vollstreckte, und zwar häufig im Namen des Herrn, denn Perugia war schon immer Teil des Kirchenstaats. Als man im Jahr 1540 den Versuch unternahm, sich gegen die römische Macht aufzulehnen, exkommunizierte Papst Paul III., ein Spross der mächtigen Familie Farnese, kurzerhand die ganze Stadt und ließ sie militärisch besetzen. Von mehr als einhundert Wohngebäuden, Häusern, Kirchen, Straßen und Plätzen, die der Familie Baldoni gehörten, den Anführern der Revolte, sollten die Dächer abgerissen und die Häuser mit einer Ziegelschicht zugemauert werden, um als Fundament für die Errichtung der Festung Rocca Paolina zu dienen.

Fünfzehn Meter darunter ist auf einer Länge von über einem Kilometer noch immer der Geist einer unterirdischen, verlassenen Stadt mit Straßen, Fenstern, Geschäften, Terrassen und Portalen spürbar, die man jahrhundertelang nur mit Fackellicht begehen konnte und die erst seit einigen Jahren richtiggehend beleuchtet wird. Sicher, die Burg stellt eine finstere touristische Kuriosität dar, aber sie ist vor allem auch das unfreiwillige Symbol der Unterdrückung durch eine blinde, religiöse Macht. Ein plastisches Bild für eine Stadt, die eine obskure, geheime, dunkle Seite besitzt.

Abgesehen davon gilt Perugia in Italien als Sitz vieler Freimaurerlogen und ritueller Veranstaltungen, die manchmal auch miteinander konkurrieren. Aus diesem Grund glauben viele, Machtausübung gestalte sich in dieser Stadt anders, als es bei Tage besehen vielleicht den Anschein hat: dass Macht nämlich in Wirklichkeit das Ergebnis mysteriöser Komplotte sei.

Andererseits besitzt die umbrische Stadt landesweit die höchste Todesrate beim Konsum harter Drogen, vor allem von Kokain – ein trauriger italienischer Rekord, gegenläufig zu allen anderen Städten, einschließlich Metropolen wie Rom oder Mailand.

Während eine große Zahl junger Leute Perugia auf der Suche nach mehr Anregung verlässt, kommen viele andere aus allen Teilen der Welt hierher. Die Universität von Perugia, 1308 gegründet, ist eine der ältesten, und im Jahr 1925 »erfand« die Stadt noch dazu die erste Universität für Ausländer, die für einen Großteil des Jahres fast achttausend junge Leute aus etwa hundertdreißig Ländern innerhalb ihrer Mauern vereint.

Dann gibt es noch eine Menge Einwanderer. Viele kommen aus Nordafrika – aus Tunesien, Marokko, Algerien –, und viele von ihnen sind jung. Sie verrichten einfache Arbeiten, die die Italiener verschmähen, und nicht wenige von ihnen dealen mit Drogen, vor allem mit Kokain.

»Nein, ich verkaufe nichts an die jungen Studenten aus der Uni, die ›rauchen‹ nur und fertig. Die richtig harten Drogen konsumieren die Leute aus Perugia, und zwar alle. Der Anwalt und seine Sekretärin, der Apotheker und sein Sohn, der Fischverkäufer und seine Kundin, der Klempner und seine Mutter. Hier arbeitet es sich gut. Ich verticke bis zu sechzig Kilo ›Stoff‹ im Monat.« So hat es mir Kamel erzählt, ein junger tunesischer Pusher, nachdem mich Staatsanwalt Giuliano Mignini in den Carcere di Capanne, ein Gefängnis bei Perugia, geworfen hatte.

Die Einwohner der Stadt und die ausländischen Studenten bilden zwei Gruppen, die strikt voneinander getrennt sind, und das ist auch deutlich sichtbar: Wenn die Dämmerung einsetzt, strömen junge Leute, die alle möglichen Sprachen sprechen, auf die wunderschöne Piazza IV Novembre mit dem phantastischen Brunnen, der Fontana Maggiore. Sie setzen sich auf die sogenannten scallele, die zierlichen Stufen des Brunnens oder des Doms, gehen spazieren oder begeben sich in die kleinen Lokale entlang der engen Straßen, die aus den mittelalterlichen Mauern zum Palazzo Gallenga Stuart, dem Sitz der Università per Stranieri, hinabführen.

Die Einwohner Perugias hingegen bleiben lieber oben innerhalb ihrer Mauern, und zur Abenddämmerung beginnt der struscio, ein rituelles Flanieren, wie es überall in der italienischen Provinz zum Stadtbild gehört. Zwischen der Piazza IV Novembre und dem Corso Vannucci, eingerahmt von modischen Geschäften und eleganten Cafés, schreiten sie auf und ab wie auf einer langen Bühne, wo man jeden Abend Markenkleidung, einflussreiche Freunde, Vorzeige-Frauen, Geld und alles, was sonst noch damit zu tun hat, zur Schau stellen kann.

Ein Theater, das nur für die Leute aus Perugia aufgeführt wird.

Wenn man den Corso Vannucci einmal hinter sich hat, erreicht man den Belvedere naturale, einen grünen Aussichtspunkt, der sich auf der gegenüberliegenden Seite der Università per Stranieri und neben dem Palazzo della Provincia befindet. Von hier aus geht es zu Fuß eine kleine Straße hinunter, streckenweise auch ein paar Stufen, die sich Via Circo nennt. Sie führt gut zehn Meter weiter hinunter auf die Piazza Partigiani, eigentlich eher eine breite Straße. Auf der Schmalseite des Platzes aus weißem Travertin befindet sich ein fünfstöckiges Gebäude, dem man die Zeit des Faschismus noch ansieht, und genau dieses Gebäude ist der Sitz der Staatsanwaltschaft. Hier, im Eckbüro im dritten Stock, arbeitet der stellvertretende Staatsanwalt Giuliano Mignini.

Am Morgen des 3. November 2007 hielt er sich in diesem Zimmer auf, doch er fühlte sich alles andere als entspannt. Und das lag nicht unbedingt daran, dass der Fall der jungen Engländerin, die man am Morgen zuvor erstochen in ihrer Wohnung aufgefunden hatte, ausgerechnet ihm zugeteilt worden war. Vielmehr fühlte er sich seit zwei Wochen bedrängt, ohne jedoch sagen zu können, woher die Gefahr drohte. Ganz im Gegensatz zur Carlizzi, die in wenigen Minuten bei der Staatsanwaltschaft eintreffen sollte, galt seine Sorge nicht so sehr seiner körperlichen Unversehrtheit als vielmehr seinen Ermittlungen im Fall des Monsters.