Der Erbe von Pimpton Place - Maurice Decmont - Thomas Körbel - E-Book

Der Erbe von Pimpton Place - Maurice Decmont E-Book

Thomas Körbel

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Beschreibung

Lady Isabel Decmont findet in einem der leerstehenden Zimmer des Familienbesitzes Pimpton Place in Widowster, Cornwall, ein altes Familiengemälde, auf dem neben ihrem Gatten Vincent und seiner Schwester Anne ein unbekannter Junge abgebildet ist. Sie entdecken ein altes Familiengeheimnis. Ihr Sohn Maurice kehrt nach langer Zeit in das ihm zur Heimat gewordene Cornwall zurück, doch es kommt zwischen ihm und seinem Vater zu einem unerwarteten Zerwürfnis, denn er beschuldigt Maurice eines Verbrechens. Verwirrt besucht Maurice seinen Freund und Anwalt Colin Brenton und geht mit ihm und Freunden in ein Pub. Dort trifft er zufällig wieder auf Constantin van der Hilst, der beruflich ein paar Tage in Cornwall verbringt und in den er sich verliebt hatte. Sir Vincent verbirgt aber noch ein weiteres Geheimnis.

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Seitenzahl: 324

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Thomas Körbel

Der Erbe vonPimpton Place

Ein Rapsblütenroman über ein doppeltesFamilienportrait, eine unkonventionelleLiebe und wahre Freundschaft

© 2018 Thomas Körbel

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7469-7178-0

Hardcover:

978-3-7469-7179-7

e-Book:

978-3-7469-7180-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

für Heinz

(1964-2017)

ohne Dich hätte es Pimpton Place und Maurice nie gegeben

1. Eis mit heißem Model

Es war der bisher heißeste Tag des Jahres 2014, Pfingstsonntag, gegen drei Uhr nachmittags. Es mussten knapp vierzig Grad sein, die Luft am Main wurde jedoch von einer leichten Brise gekühlt.

Ein lärmendes Boot mit einem wagemutigen Wasserskiläufer rauschte flussabwärts an der Stadt vorbei. Er surfte immer wieder quer über die starken Wellen, die schließlich gegen die mit groben Steinen befestigte Böschung platschten, so dass ein Entenpaar laut protestierend die Flucht in die Luft ergriff.

Frisch gemähtes Heu duftete, es veranlasste Constantin van der Hilst zu einem Niesen.

Er hatte sich vor wenigen Minuten auf einer Bank am Mainufer niedergelassen, um unter den Bäumen im Schatten zu sitzen. Seine kurzen, glatten Haare waren schon leicht grau an den Schläfen. Das karierte, kurzärmelige Markenhemd stand an den obersten beiden Knöpfen offen, Brustbehaarung war sichtbar und er war mit seinen vierundvierzig Jahren leicht übergewichtig, oder wie er sagte: zu schwer für seine Größe. Mit seinen 1,84 m war er jedoch nicht gerade klein zu nennen.

Sein Blick folgte dem Verlauf des heimatlichen Flusses in Richtung der beiden hoch aufragenden Villen, in denen entfernte Verwandte wohnten. Es handelte sich um Nachkommen seines in der Stadt recht bekannten Urahnen Christopher Ballenberg aus dessen zweiter Ehe. Er war der Großvater von Constantins Großmutter gewesen. Constantin war letztes Jahr zu einem großen Verwandtentreffen in diese Villen eingeladen gewesen. Die Familie lebte in einem beeindruckenden Park. Ein Stück Land mit mehreren Äckern, die nur durch den frisch gemähten Damm und den Flutgraben vom Main getrennt waren.

Constantin kaufte seine Kleidung im familieneigenen Modehaus Pickmann, seine Bücher und Zeitschriften in der familieneigenen Buchhandlung Ballenberg und im Gutshof-Naturkostladen seiner Verwandten die Lebensmittel, da er Wert auf gesundes Essen legte. Er hatte einen guten Kontakt zu ihnen, er mochte sie irgendwie. Und natürlich waren sie auch Kunden bei ihm, er leitete eine Software-Firma und schrieb die Kundenverwaltungsprogramme. Gerne traf er sich mit Michael Ballenberg, seinem zwölf Jahre älteren, entfernten Cousin, der den Bio-Bauernhof betrieb und mit dem Constantin schon seit seiner frühesten Jugend aus der kirchlichen Jugendarbeit gut befreundet war.

Sie gingen gelegentlich aus. Anfangs zu viert, mit den Frauen. Er und Sonja kannten sich seit der Schule, und als alle anderen aus der Clique verheiratet waren, landeten sie, wie schon früher immer wieder mal, miteinander im Bett. Es lag nahe, zu heiraten und so taten sie es. Die Ehe hielt nur fünf Jahre, kinderlos gingen sie auseinander und lächelten einander beklommen an, wenn sie sich in der Stadt trafen oder bei den Geburtstagsfesten oder anderen Anlässen in der Clique. Ganz schlimm fühlten sich beide bei Tauffeiern. Und trotz ihrer Scheidung hatte es sie oft genug nach solchen Feiern wieder ins Bett gezogen, als ob sie nur auf eines aus wären: Kinder.

Seit Constantins Scheidung vor vier Jahren trafen sich die Freunde zum Männerabend, einmal monatlich mit anderen Freunden. Die Gespräche drehten sich um den Alltag, die Zukunft, um das Leben, um die Familie und um Religion. Ja, meinte Michael oft mit tiefsinnigem Blick, jeder in der Familie habe seine ihm von Gott gegebene Aufgabe. Er war ein überaus frommer Mann. Auch Constantin würde seinen Lebenssinn und seine Aufgabe noch finden, sagte Michael. Und wenn nicht, könne er auch so glücklich werden. Er würde eines Tages wieder eine Frau finden, wenn Gott das wolle. Und wenn nicht, gäbe es etwas anderes zu tun.

Constantin hielt das für etwas überzogen.

Andererseits beeindruckte es ihn auch.

Doch er war sich nicht sicher, ob er eine Frau suchte; es war keine glückliche Ehe gewesen.

Das Heu veranlasste Constantin van der Hilst zu einem weiteren Niesen. Seit einigen Jahren plagte ihn ein leichter Heuschnupfen. Fast alle seiner Bekannten litten an einer leichten Allergie und übertrumpften sich mit Ratschlägen, wie man den Körper mit medizinisch anerkannten Giftstoffen von der alljährlichen Pollenbelastung befreien könne. Doch er selbst neigte zu der Ansicht, dass der Körper dann einem weiteren belastenden Stoff ausgesetzt sei und zog es vor, sein kleines Leiden nicht behandeln zu lassen.

„Gesundheit“, hörte Constantin eine junge, tiefe Stimme fröhlich hinter sich.

„Danke“, Constantin wandte sich um – und war wie umgewandelt.

Da stand ein großer, schlanker und junger Mann von knapp 1,90 m vor ihm, mit gesundem, sonnengebräunten Teint, haselnussbraunen schulterlangen Haaren, die ihm an der Stirn ein wenig in das schmale, feingeschnittene und lächelnde Antlitz fielen und die er eben, mit einer ebenso charmanten wie diskreten Bewegung aus dem Gesicht strich, während er die Sonnenbrille abnahm. Sein halb aufgeknöpftes rosafarbenes Hemd – die Fachbezeichnung des Farbtons wäre Pflaume 1 gewesen, doch Constantin wusste das nicht – zeigte eine wohl geformte Brust. Er trug Slipper an den bloßen, sehr gepflegten Füßen und die Beine steckten in eleganten, hellen Shorts. Er hielt die Sonnenbrille nun mit zwei Fingern in der Hand.

„Es ist wunderschön hier“, sagte der junge Mann und steckte die Gläser mit einer schnellen Bewegung in die Brusttasche. „Absolute lovely, wie man zuhause in Cornwall sagen würde. Darf ich?“ Eine fragende Geste deutete auf die Sitzbank.

„Oh, yes“, brachte Constantin überrascht hervor. „Bitte setzen Sie sich doch. Ja, wunderschön, das ist es. Ist es. Sie, äh, Sie sind also aus Cornwall?“

„Ja, genauer gesagt aus Widowster. Paul Wagner“, lächelte der junge Mann und reichte ihm die Hand.

„Constantin van der Hilst. Mit kleinem Vau. Sagen Sie, kann es sein, dass ich Ihr Gesicht aus der Werbung kenne?“ – ‚Nicht nur aus der Werbung‘, dachte Constantin wehmütig, der am Abend zuvor im Biergarten saß, als dieser junge Mann, leichtbekleidet mit einigen anderen jungen Leuten, die ebenfalls viel Haut zeigten und schön anzusehen waren, den Biergarten eroberte und auf einen reservierten Tisch zusteuerte. Hugo, der Wirt, erschien persönlich und nahm die Bestellung auf, er servierte sofort eine Runde Deckenburger Bergschnaps als Geschenk des Hauses.

„Das ist möglich, und für Sie ein visuelles Vergnügen, hoffe ich. Abgesehen von der katastrophal überflüssigen Papierverschwendung.“

Constantin zuckte kurz zusammen. Das war eine ungewöhnlich scharfsinnige, ökologisch korrekte Reaktion. „Aber natürlich, es sind wunderbare Bilder. Sie sind sehr fotogen. Ihr Gesicht sieht übrigens in Wirklichkeit noch umwerfender aus als ihre mit Photoshop bearbeiteten Bilder. Wenn ich das sagen darf, ohne aufdringlich oder gar beleidigend zu wirken.“

Umwerfend. Ja.

Das fand Constantin am Abend zuvor auch schon. Er hätte nie gedacht, dass er diesen jungen Mann, den er aus einem Modekatalog kannte, einmal wirklich live sehen und sogar erkennen würde. Er hatte am Nebentisch gesessen, und dann und wann kreuzten sich ihre Blicke. Es war Paul anzusehen gewesen, dass er schon deutlich genug getrunken hatte.

Heute wirkte er noch leicht angeschlagen.

„Danke“, lachte Paul und seine Selbstsicherheit schwand ein wenig. „Ich werde das Lob an meine Fotografen weitergeben. Was wissen Sie denn sonst noch alles über mich?“

„Ach, nichts, um Himmels willen. Ich bin, wie Sie an meiner Kleidung sehen können, kein Mann, der sich an Mode erfreut – oder an Bildern junger Männer. Das, äh, das ist Zufall, und eine Überraschung, Sie hier zu sehen.“

Der junge Mann registrierte das Markenhemd des Anderen und die bescheidene Zurückhaltung und strahlte ihn wieder mit umwerfendem Charme und fröhlich blitzenden Augen an.

Constantin wurde es sehr warm ums Herz.

Gestern, als Constantins Freunde schon gegangen waren und er sich mutig und über sich selbst hinauswachsend zu der heiteren Runde hinzugesellte, in der auch schon Hugo saß und den mittlerweile ständig kichernden, leicht lallenden, also gänzlich angesäuselten Paul ganz nahe an sich herangezogen hatte, hatte Constantin es das erste Mal gespürt, diese Wärme im Herzen.

Hugo hatte gerufen, man solle Constantin noch ein Bier und einen Schnaps bringen und ihm zugeblinzelt. „Das ist Constantin“, hatte Hugo sie einander vorgestellt. „Und das hier ist der hübsche Paul. Er ist übrigens ein echter Deckenburger Junge, was er jedoch niemals zugeben würde.“

„‘Llo Conssstin“, hatte Paul gelallt und gekichert, weil er, als er Constantin die Hand geben wollte, sie verfehlte.

Ob er sich erinnerte?

„Meiner heutigen Kleidung nach zu urteilen“, lächelte Paul, der nicht an Zufälle glaubte, „bin ich sicher auch kein modebewusstes männliches Model. Wir Briten wussten zwar schon immer Kleidung zu zelebrieren, doch was ich heute trage, nennt man Freizeitkluft, hörte ich. Models own street style. Straßenklamotten. Wenn auch nicht ganz die aktuellen Trends, die mehr in Richtung Clochard gehen. Doch ich fürchte, man würde mich in dieser Stadt etwas seltsam betrachten, hätte ich einen dieser Mäntel für Obdachlose, die gleichzeitig als Schlafsäcke dienen.“

„So etwas gibt es?“

Paul war es plötzlich peinlich so viel zu reden. „Oh ja. Nun, Sie leben sicher hier in Deckenburg, Constantin? Ich darf Sie doch Constantin nennen?“

Constantin antwortete auf Englisch: „Natürlich, Paul. Ja. Ich lebe hier und bin hier geboren. Deckenburger Urgestein in der vierten Generation, aber niederländischer Herkunft, wie sie unschwer an meinem Namen erkannt haben dürften. Und Sie sind also Engländer? Sie sprechen astreines Deutsch, mein Kompliment.“

Paul wurde nochmals für einen Moment verlegen, was Constantin als schüchtern auslegte. „Das wäre dann das zweite. Sie machen mich reichlich verlegen, Constantin. Mein gutes Deutsch ist sicher auf meine Erziehung zurückzuführen. Meine Eltern sprechen ihre so exakte, wunderbare Sprache fließend.“

„Das klingt nach High Society.“

„Tut es das, ja? Es liegt wohl eher daran, dass meine Urgroßeltern aus Deutschland kamen. Sie wurden aus dem Ostpreußischen vertrieben, soweit ich weiß.“ Paul verschwieg – ohne sich darüber klar zu sein, warum – die Tatsache, dass er ebenfalls in Deckenburg aufgewachsen war.

„Ich habe wohl vergessen, dass Engländer Wert auf Traditionen legen“, lächelte Constantin freundlich und entschuldigend.

„Das scheinen die Deutschen in der Tat anzunehmen, ja“, grinste Paul. „Klischees vereinfachen unsere komplizierte Welt und haben meist einen wahren Kern. Wir Engländer erfüllen mit unserem Lebensstil viele Klischees, doch nicht aus Selbstzweck, sondern aus Überzeugung und Tradition. Da stimme ich Ihnen zu.“

Constantin lachte. „Was tun Sie hier, Paul? Arbeiten Sie hier?“

Er fragte sich sofort, warum er das fragte. Aus den kichernden, lallenden Antworten der Gruppe hatte er entnommen, dass sie für die Werbung des heimischen Modekaufhauses Fotos aufgenommen hatten. Aus den Modekatalogen wusste er, dass Paul schon im dritten Jahr für die Firma arbeitete. Er hatte die Bilder zuhause gesammelt und aus einem ihm nicht wirklich schlüssigen Grund immer wieder angesehen. Nun begann Constantin zu ahnen, warum …

„Oh, ja. Ich posierte gerade für den Katalog eines der Pickmann-Labels. Ich sollte wissen für welches. Es sind nur acht oder zehn Linien. Aber um ehrlich zu sein …“, Paul seufzte. „Es ging um eine Winterkollektion für Herren. Nur dass es trotz Klimaanlage entschieden zu heiß für so etwas wie Winterjacken und dicke Stoffhosen ist. Wir arbeiteten gestern bis in den späten Abend hinein und wurden sogar fertig. Dann gingen wir in diesen Biergarten am Berg, der Fotograf, die Assistenten und die drei anderen Models. Es gab ein kaltes Bier, und, weil wir so spät waren, eine Art Brotzeit. Es könnten dann auch drei oder fünf Bier geworden sein. Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung mehr, wie viele es wirklich waren. Das war insgesamt auch alles sehr lustig, besonders dieser Wirt. Wir sind jedes Jahr im Biergarten bei ihm. Und er freut sich immer außerordentlich. Hugo heißt er, nicht wahr?“

„Hugo kennt hier in der Stadt jeden, und jeder kennt Hugo. Ein liebenswertes, stockschwules Original. Er erbte das Hotel von seiner Großmutter und führte den Biergarten schon als Jugendlicher, also mittlerweile seit fast 50 Jahren. Er flirtet gerne mit seinen männlichen Kunden, was niemanden zu stören scheint. Besonders natürlich mit den gutaussehenden und jungen Kerlen. Er ist ein wunderbarer Mensch, die halbe Stadt liebt ihn, die andere mag ihn zumindest. Ich kenne ihn recht gut. Wir haben unseren monatlichen Stammtisch bei ihm. Er, äh …“ – … fand gestern statt.

Warum in aller Welt erzählte Constantin nicht davon?

„Er, äh … er ist, Hugo ist sogar ein entfernter Verwandter von mir. Wir haben einen gemeinsamen Ahnen im 19. Jahrhundert gefunden. Er hat Sie vermutlich herzzerreißend angehimmelt?“

Warum, fragte er sich, fragte er das nur? Er hatte doch zugesehen, wie Hugo mit dem jungen Mann flirtete und sowohl ihm als auch Constantin immer wieder zublinzelte. Als ob …

Ja, als ob was?

„Oh ja, und wie“, strahlte Paul. „Ich genoss das sehr, müssen Sie wissen. Er saß mit uns am Tisch, gab zwei oder drei Runden irgendwelcher Schnäpse aus, es könnten auch sechs oder sieben Runden gewesen sein. Er drückte mich ebenso an sich wie den anderen Jungen, was Hugos Lebensgefährten, der uns bediente, wohl nicht sonderlich gefiel.“

„Oh“, murmelte Constantin vergnügt und erinnerte sich.

Ob Hugo und der Kellner wirklich ein Paar waren, wusste in der Stadt niemand so genau, doch es kam Constantin immer wieder so vor, als wolle das auch niemand so genau wissen.

„Es war dennoch ein lustiger, wunderschöner Abend. Also, ich muss schon sagen, Ihr Verwandter ist ein faszinierender Mensch. Lustig, und spendabel. Ich ging dann irgendwann zurück in mein Hotel. Nein, ich torkelte wohl eher. Nun, um ehrlich zu sein, ich erinnere mich überhaupt nicht mehr. Ich muss jedenfalls irgendwie in mein Bett gekommen sein. Dort erwachte ich vorhin.“

Erinnerte Paul sich wirklich nicht? Das war schade.

Constantin wusste noch sehr genau, wie.

Die jungen Frauen und der Assistent des Fotografen waren bereits zu Bett gegangen, der Biergarten war leer, da endete der Abend etwas abrupt. Hugo wollte eben ein weiteres Bier holen, da der Kellner weit hinten im Garten aufräumte. Doch als Hugo sich erhob, fiel der zweite junge Mann von der Bank.

Constantin, der mittlerweile Paul gegenübersaß, konnte Paul gerade noch halten, sonst wäre auch er abgerutscht und so hielten sie sich plötzlich in den Armen.

Hugo rief nach dem Kellner und sie verfrachteten den anderen Jungen irgendwohin.

„Das’ss schön“, seufzte Paul und Constantin hatte das Gefühl, der Junge schmiegte sich an ihn. Doch vermutlich war er nicht mehr Herr seiner motorischen Funktionen.

„Na“, hörte er plötzlich. „Da hat es ja ord-entlich gefunkt.“ – Oder hatte Hugo „doch endlich gefunkt“ gesagt?

„Conny, bringst du Paul bitte in sein Hotel?“, bat Hugo lächelnd, da die beiden sich immer noch aneinander festhielten und nun gerade küssten. „Er wohnt selbstverständlich im ‚Englischen Hirten‘. Schafft ihr es, zu gehen? Oder soll ich euch ein Taxi rufen?“

Selbst unfähig, klar zu denken, nickte Constantin, murmelte „gehen“, und dann schleppte er, ebenfalls mit zu viel Alkohol schwer auf den Beinen, einen kaum noch gehfähigen Paul quer durch die Stadt.

Er hatte nicht mehr auf die Uhr gesehen, doch es war sicher schon nach 2 Uhr morgens.

Unterwegs plapperte Paul vieles, kicherte, wankte und wäre sicher etliche Male umgefallen, hätte Constantin ihn nicht immer wieder eng an sich gezogen und sich nach und nach einen Reim auf die Äußerungen gemacht.

Einen Reim, der sich nicht ganz zu reimen schien …

Der Nachtportier und Constantin hatten den mittlerweile nahezu völlig weggetretenen Paul zusammen in die „Decmont-Suite“ geschleppt, ihm noch die Schuhe ausgezogen. Das offene Hemd hatte sich schon unterwegs vom Körper gelöst, als Paul sich übergeben hatte.

Constantin traute sich nicht, direkt zu sagen: ‚Das war ich. Ich habe dich in dein Zimmer gebracht.‘ Warum um Gottes Willen nur?

„Wohnen Sie denn nicht im Berghotel?“

„Nein“, lachte Paul. „Die anderen sind dort untergebracht worden, nachdem in meinem Hotel fast alles ausgebucht war. Ich übernachte natürlich immer im ‚Englischen Hirten‘.“

„Aber natürlich. Wie konnte ich nur etwas anderes vermuten? Verzeihen Sie bitte.“

„Nun“, kicherte Paul. „Mir war nach dem Erwachen irgendwie seltsam dumpf. Ich hatte einen Kater, denke ich, und blieb daher liegen. Nun habe ich ausgeschlafen, eine Kopfschmerztablette genommen, etwas Obst gegessen, fühle mich wieder lebendig genug und war eine Weile hier am Mainufer spazieren. Sagen Sie, Constantin, da gibt es doch irgendwo in der Stadt ein gutes italienisches Eiscafé. Ich hätte Lust auf einen Espresso und einen traditionellen italienischen Eisbecher. Ich hoffe sehr, Sie möchten mich dahin begleiten?“

„Ein Eis mit einem heißen Model? Aber gerne“, zwinkerte Constantin fröhlich.

Paul wirkte auf Constantin überglücklich, als sie im italienischen Café Ristorante Montini am Kirchenplatz saßen. „Das ist etwas sehr Köstliches, finden Sie nicht? In der Sonne sitzen, Menschen beobachten, eine leckere Eiscreme genießen. Das ist für mich ein Hauch von Urlaubsstimmung. Ich muss mir die kurzen Gelegenheiten der Erholung suchen, da mein Beruf wenige Möglichkeiten für einen längeren Urlaub bietet. Allerdings ist so ein leckerer Eisbecher während einer Pause etwas, bei dem ich mich sehr gut entspannen kann. Ansonsten bleiben mir nur Minuten der Meditation während der Aufnahmen. Aber heute ist Sonntag. Die Fotos sind im Kasten. Ich habe frei, so etwas wie einen Urlaubs-Anfangs-und-Ende-Tag. Morgen geht es schon weiter, nach London.“

Er schaute sich um. „Sagen Sie, Constantin. Von dort hinten müsste ich doch in die Stadt gekommen sein, oder? Das ist doch die Bergstraße, die zum Biergarten führt. Ich … Ach, aber genug von mir und meinem Rausch. Erzählen Sie mir bitte von sich, Constantin“, bat Paul liebevoll, fast flirtend. So sprach er mit vielen Menschen.

Constantin seufzte. „Von mir? Paul, Ihr Leben dürfte weitaus interessanter sein. Sie kommen herum in der Welt, ich komme höchstens mal in eine andere deutsche Stadt. Ich bin ein langweiliges Exemplar Mensch. 44, geschieden. Ein alter Mann also“, lachte Constantin verlegen.

„Damit halten Sie sich für einen alten Mann? Sie sind gerade mal neunzehn Jahre älter als ich. Das macht Sie um neunzehn Jahre Lebenserfahrung interessanter als mich.“

„Vielen Dank. Aber ich könnte theoretisch Ihr Vater sein.“

„Ja? Na und?“ Paul hielt inne. Er nahm aus purer Verlegenheit einen Schluck Espresso und strahlte den anderen dann wieder an. „Was machen Sie beruflich?“

„Naja, Abi. Studium Computertechnik. Ich bin Programmierer geworden. Heute arbeite ich in einer kleinen Softwarefirma. Wir bieten komplexe und weitgehend automatische Lösungen für mittlere bis große Firmen, Archivierungs- und Kundenverwaltungsprogramme. Ich sagte ja, langweilig. Ich studierte auch vier Semester in London, übrigens.“

„Ach, daher sprechen Sie so gut Englisch“, lobte Paul.

„Danke. Nun machen Sie mir also ein Kompliment?“

Paul lächelte verlegen und löffelte Eis in sich.

„Sie müssen wissen, Paul, sonst bin ich noch kaum aus Deckenburg herausgekommen, wie ich bereits sagte. Ich ernähre mich gut und gesund, esse oft und reichlich, lese gerne am Feierabend, alles, von Sachbüchern bis Romanen, schaue Rosamunde Pilcher Filme“, da lachte er kurz. „Das musste jetzt sein, wegen Cornwall.“

Paul kicherte fröhlich.

„Und“, fuhr Constantin amüsiert fort, „und ich liebe Science Fiction. Das gehört zu unserer Branche wohl dazu. Ich trinke gerne italienischen Rotwein, gehe ab und an mit Freunden hier eine Pizza oder ein Eis essen oder ein Bier trinken, bei Hugo …“

Ob Paul sich vielleicht doch erinnerte?

„Sind Sie denn gerade mit einem Freund aus Cornwall ein Eis essen?“, flirtete Paul.

„Das fühlt sich so an, wenn ich das sagen darf, ohne fordernd zu sein.“

„Ich bitte darum“, strahlte Paul wieder. „Ich mag Sie, Constantin.“

Sie schwiegen und schauten einander für einige lange Sekunden an.

Da klingelte Pauls Handy, es war die Melodie eines aktuellen Popsongs. Eine Sorgenfalte schlich sich auf seine Stirn. „Eine unbekannte Nummer aus London? Entschuldigen Sie bitte“, bat er und wischte kurz über das Display.

„Yes?“, begann er zögernd – und englisch. „Oh, Simon? Welch eine seltene Überraschung. Woher hast du diese Nummer? … So, hat er. Ich werde ihn dafür in den Tower stecken lassen.“ Paul grinste, wurde dann aber ernst und hörte einen Moment zu. „Ab Morgen bin ich in London. Ich kenne den Zeitplan noch nicht, aber es wird sicher eine Möglichkeit geben, uns zu sehen. … Oh, aber natürlich, das werde ich. Auf dieser Nummer? … Ich melde mich. Grüße Gwyneth bitte von mir, Simon, ja? … Oh, das freut mich. Meinen Glückwunsch. Bis dann, Simon.“

Paul betrachtete sein Mobiltelefon unentschlossen und blickte dann hilflos zu Constantin.

„Schlechte Nachrichten?“

„Nein, nun, ich weiß nicht … Überraschende zumindest. Mein Cousin Simon bekommt Nachwuchs und möchte mich in London treffen. Es sei geschäftlich, sagt er. Wir haben nicht sehr viel Kontakt, müssen Sie wissen. Nun, auch wenn ich das für unwahrscheinlich halte, womöglich möchte er mich als Paten gewinnen?“

Paul grinste und wechselte das Thema, doch er hatte noch nicht die bisherige jugendliche Selbstsicherheit. „Constantin, was wäre wohl der schönste Platz in Deckenburg, den sie mir zeigen könnten? Ist es der Berg, die Aussicht von dort oben? Darf man eigentlich hinauf? Ich hörte, er sei für die Öffentlichkeit gesperrt.“

„Er war früher lange gesperrt, ja.“

„Die Aussicht muss wunderbar sein.“

„Das ist sie hier auch“, lächelte Constantin.

„Danke“, strahlte Paul wieder.

Sie schauten einander noch einige Sekunden länger an.

Constantin hatte zwar gemeint, dass es schöne Ecken auch in der Stadt gäbe, gewiss kühlere als ein Berg, den man erst noch ersteigen müsste. Doch nun war er sich nicht mehr sicher, ob er nicht doch den gutaussehenden jungen Mann an seinem Tisch gemeint hatte. Er fühlte sich so überaus wohl in dessen Gegenwart, schon gestern.

So fühlte er sich selten.

„Und die Aussicht auf … auf dem Berg?“ Paul musste seinen Blick senken. Sein Herz klopfte laut, der andere musste es hören. „Ist sie wirklich so wunderbar, wie man sagt?“

„Das wäre sie. Aber es ist ein heißer Tag und eine Stunde zu Fuß bräuchten wir von hier, bis wir oben sind. Man soll körperliche Anstrengungen bei solch einem Wetter vermeiden, heißt es.“ Was war verlockender? Eine kühle Ecke in der Stadt, oder zu zweit einen schattigen Fleck im Bergwald zu genießen? „Wir könnten kühlere Plätze in der Stadt suchen oder einen der kleinen Touristenbusse auf den Berg nehmen. Der nächste dürfte in etwa zehn Minuten hier vor dem Café abfahren.“

„Oh bitte, der Berg? Ich war noch nie oben.“

„Silvana, die Rechnung“, rief Constantin.

Wieder strahlte Paul, seine Augen leuchteten voller Vorfreude und er machte sich begeistert wie ein Kind über den Rest des Eises her.

2. Constantins Hamsterrad

„Das ist wirklich unglaublich“, flüsterte Paul ergriffen, als er auf der alten Burgruine auf dem Berg bei Deckenburg stand und eine Weile in die Umgebung geschaut hatte. „Fast so schön wie in Cornwall“, er zwinkerte mit seinen Augen Constantin zu.

Der lachte kurz und höflich. „Da unten sehen Sie das Schloss. Es ist etwas über hundert Jahre alt. Wir hätten dorthin gehen sollen. Es wäre deutlich kühler“, Constantin tupfte sich mit einem Taschentuch Schweiß von der Stirn. „Wollen wir unten im Schatten der Bäume etwas spazieren gehen?“, schlug er vor.

Paul warf einen Blick nach unten. „Kann man in diesem kleinen See schwimmen? Ich höre Stimmen von dort unten.“

„Das ist Privatgrund der fürstlichen Familie. Da sollten wir nicht hin.“

„Oh, schade.“

Paul fühlte sich in Wahrheit ein wenig erleichtert. Nach seiner Ankunft in Deckenburg hatte er der fürstlichen Familie bereits seine Aufwartung gemacht.

Das gehörte sich so.

Der Fürst war immer sehr erfreut, Paul zu sehen, wenn er in der Stadt war. Sie tranken Tee, was auch im fürstlichen Schloss üblich war und er blieb gewöhnlich zum Abendessen, bevor er am nächsten Tag „offiziell“ anreiste und die Kollegen traf.

Eine Begegnung, nun mit Constantin, wäre vermutlich peinlich geworden. Paul war sich nur nicht sicher, wem?

Wenig später setzten sie sich nicht weit weg in den Schatten der Bäume.

„Ah, das tut gut“, stöhnte Paul und legte sich der Länge nach hin. Er hatte sein Hemd nun völlig aufgeknöpft und lag neben Constantin, der auf der Wiese saß und ins Tal schaute.

„Aaah“, seufzte Paul nochmals wohlig und reckte sich. „Das ist das einzig Richtige bei solch einem Wetter, im Schatten liegen und sich ausruhen, finden Sie nicht auch? Jetzt fehlt nur noch was Kühles zu trinken.“

„Das gibt es unten im Biergarten. Hugo würde sich sicherlich freuen, Sie wiederzusehen“, bemerkte Constantin trocken und wünschte sich dorthin. Was tat er hier nur, neben diesem traumhaft aussehenden jungen Mann? Er konnte ihn schließlich nicht die ganze Zeit anschauen.

Hugo kannte da nichts, er flirtete mit jedem, was das Zeug hielt. Constantin traute sich das nicht so offensiv.

Nein. Er traute sich das gar nicht.

Aber er genoss es, bei Hugo zu sitzen und zu sehen, dass andere etwas wagten.

Doch gestern? Was war das?

Gestern hatte er sich getraut.

Wegen Paul?

Constantin wünschte, er wüsste, warum er gestern den Mut hatte, im Biergarten zu bleiben und sich zu Hugo und diesen jungen Leuten an den Tisch zu setzen. Was auch immer es war, heute traute er sich nicht, es anzusprechen.

Michael hatte ihn angeschaut, gelächelt und ihm „einen schönen Abend“ gewünscht, als er sich mit den Freunden verabschiedete. „Das wird der Abend, an dem dich deine Aufgabe finden wird, mein Freund. Ich fühle es. Du tust das Richtige.“

Was mochte er nur um Himmels willen damit gemeint haben?

„Was bedeutet es, das Richtige zu tun?“, überlegte Constantin halblaut.

„Bitte?“

„Oh, ich denke laut. Verzeihen Sie.“

„Keine Ursache. Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich denke über etwas nach. Was ist richtiges, was ist falsches Handeln? Tun Sie immer das Richtige?“

Paul überlegte, stützte sich auf die Ellenbogen und richtete sich halb auf. „Ich hoffe es. Warum fragen Sie?“

„Ach, wenn ich hier sitze, wirkt das da unten alles so klein, so niedlich wie Spielzeug und so belanglos. Und später, wenn wir wieder dort unten, mitten in unseren Leben, angekommen sind, ist alles anders, bedeutsam, wichtig und es fesselt uns.“

„Wir alle leben vermutlich in einer Welt, in der der Schein wichtiger ist als das Sein. In meinem Beruf ist das definitiv so. Du siehst gut aus, wirst fotografiert, der Computer macht dich noch schöner. Es ist der Look, der zählt, nicht das Wesen.“

„In meinem Beruf zählt nur das Funktionieren. Kannst du diese oder jene Programmiersprache? Gut. Mach mal! Da, ein Softwarefehler, repariere das mal. Es ist ein Hamsterrad, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint.“

Paul schwieg eine Weile, dann setzte er sich ganz auf, um seinen Gesprächspartner von der Seite anzusehen. „Es scheint mir, als ob wir dazu erzogen würden, der Richtige zu sein und entsprechend zu handeln. Wir haben den Erwartungen anderer zu entsprechen, Eltern, Freunde, Auftraggeber. Sind wir nicht brav und folgsam, werden wir gnadenlos zurechtgewiesen. Wenn ich nicht richtig posiere, blafft mich garantiert einer an, der unter einem ähnlichen Druck steht. Er muss perfekte Bilder abgeben, damit sich die entsprechende Marke verkauft. Gelingt ihm das, ist sein nächster Auftrag relativ sicher. Der äußere Schein und die hochstilisierte Makellosigkeit geben uns allen Halt, damit wir nicht in einen tiefen Abgrund aus Selbstzweifel und Scham fallen, denke ich. Denn eines ist doch klar. Wir haben hier auf dieser Welt nicht viel mehr als nur ein paar Augenblicke. Und statt sie zu genießen, lassen wir zu, dass andere und wir selbst uns unterdrücken.“

Constantin war beeindruckt. „Setzen wir uns denn freiwillig diesem Druck aus, den andere auf uns ausüben?“

„Wir wollen dazugehören, nehme ich an. Wir überleben nicht ohne das Rudel. Das war früher auch so. Doch heute? Wir hören die richtige Musik, fahren das richtige Auto, ziehen die angesagten Klamotten an und umgeben uns mit den Menschen, die ‚in‘ sind. Damit stehlen wir die Aufmerksamkeit anderer und geben sie uns als Bedeutsamkeit. Wir werden akzeptiert, was nur bedeutet, wir fallen nicht unangenehm auf und bekommen keinen Ärger und halten das auch noch für gemocht oder gar geliebt werden. Wir warten dann, bis unser Stück der Jagdbeute uns zugeteilt wird und nennen es Sicherheit, ‚unser Leben‘, und merken nicht, wie wenig authentisch wir dabei sind, wie wenig ‚richtig‘ das ist. Wir sind fremdgesteuert und wissen nicht mal, wer wir selbst sind.“

„Dann gibt es einen Unterschied zwischen dem, was uns bestimmt, und dem, was richtig ist, oder?“

„Ja, ich denke schon. Wir halten das Bild von uns aufrecht und halten das für ‚richtig‘, weil es belohnt wird, so zu sein, so ‚falsch‘ zu sein.“

„Sie reden von Ihrem Beruf?“

„Eigentlich nicht, nein. Ich bin ausgebrochen, als ich Model wurde“, bemerkte Paul nachdenklich. „Ich musste raus aus einem Hamsterrad, in dem ich schon als Kind war, um etwas zu tun, was in mir war und ich habe die große Gelegenheit, an Orte zu reisen, wo viele niemals hinkommen, faszinierende Menschen kennenzulernen. Künstler, Unternehmer, Stars. Aber was Bestand hat und mir Ruhe gibt, ist eine leise, innere Stimme, mein Gewissen, mein Schutzengel, mein höheres Selbst. Das können Sie nennen, wie Sie wollen. Diese Stimme sagte mir: Lass dich fotografieren! Unterschreibe den Vertrag mit der Agentur! Gehe auf diese oder jene Party, oder bleib weg. Nimm den Auftrag von Pickmann-Moden an! Und daher bin ich mir recht sicher, dass ich immer das Richtige tue. Ausbrechen zu können war bereits ein Privileg für mich. Ich hatte den Willen und die Freiheit dazu. Gewöhnlich ist jeder Versuch sich zu ändern eine Gefahr für die bestehenden sozialen Verhältnisse der Familie oder des jeweiligen Rudels. Daher werden alle das Mögliche tun, den Ausbrechenden in seiner Rolle zu halten. Viele meiner Freunde hatten gar nicht den Anspruch, auszubrechen.“

Das fühlte sich für Paul auf einmal und zum ersten Mal wie Sehnsucht an, fast wie Heimweh.

Er war schon länger als ein Jahr nicht mehr zu Hause gewesen.

Auf einmal fühlte er sich sehr, sehr dankbar.

„Aber das Schöne und Ungewöhnliche ist, mein Umfeld gestattete es mir. Und ich liebe diese Menschen dafür, meine Freunde und meine Familie.“

Constantin fühlte sich seit längerem nicht mehr wohl in seinem Beruf. Aber er hatte keine Idee, was er tun könne und wusste auch nicht, ob er den Mut aufbringen würde, etwas Neues zu wagen. „Ist es wichtig, einmal im Leben ausgebrochen zu sein?“

„Was ist schon wirklich wichtig?“, seufzte Paul. „Model zu sein ist vielleicht wichtig. Für manche. Aber ich denke nicht, dass es auch bedeutsam ist. Es ist kein Job für ein ganzes Leben. Das ist mir bewusst und ich habe Alternativen aufgebaut. Wenn ich aufhöre, gibt es zehn neue Typen, die darum anstehen, meinen Platz einzunehmen. Es ist für mich der Moment, der zählt. Wie hier. Wissen Sie, wir sitzen hier auf der Wiese, zwei einander Fremde, und doch dem gleichen Rudel zugehörig. Wir lernen uns erst kennen und sind doch schon in diesem Moment einfach füreinander und miteinander da. Das ist das gleiche Gefühl wie auf dem Laufsteg oder vor der Kamera, im Studio oder im Freien. Ich bin da. Ich bin in Kontakt mit mir. Ich bin ich.“

„Das klingt leicht spirituell“, lächelte Constantin zur Seite.

„Ich habe mal einen Meditationskurs besucht bei Rafael, einem sehr guten Freund in London. Ab und an gehe ich noch hin. Wir reden, denken nach, trinken Wein, halten Stille. Ruhe zu finden tut mir gut. Natur tut mir gut. Das Neue zu finden tut mir gut.“

Beinahe hätte Paul noch ergänzt: ‚Sie tun mir gut, Constantin.‘

„Vielleicht ist es das, was mir vor dem Bildschirm und im Büro fehlt“, murmelte Constantin und senkte den Kopf. „Da passiert nichts Neues, nichts Stilles und schon gar nichts, was sehr mit der Natur zu tun hätte.“

„Warum tun Sie es?“

Constantin zuckte mit den Schultern. „Ich habe mit Freunden die Firma gegründet. Wir hatten Erfolg. So nennt man das wohl, wenn man Kunden gewinnt. Wir haben etliche Kunden gewonnen. Also, was ich sagen will, ich verdiene mein Geld damit.“

„Ist das der Grund? Sie könnten Ihr Geld mit etwas anderem verdienen? Bei Hugo im Biergarten kellnern, Fremdenführer für Engländer in Deckenburg spielen, was auch immer.“

„Sicher. Aber ich habe keine wirklich stimmige Idee, womit sonst und komme auch kaum zum Nachdenken. Mein Freund Michael sagt, der Gedanke käme irgendwann und wenn nicht, könnte man auch so ein glückliches Leben haben.“

„Sie haben einen Freund?“, kam es leise von der Seite.

„Natürlich. Haben Sie keinen Freund? Sprachen Sie nicht eben von Ihrem Freund in London?“ Constantin blickte erstaunt zur Seite und begriff. „Oh, einen Freund, keinen Partner, wenn Sie das meinen?“ Er klang in seinen eigenen Ohren fast ein wenig zu hoffnungsvoll.

„Ich bin auch mit niemandem zusammen, wenn Sie das meinen?“, grinste Paul.

„Das tut mir leid zu hören, ich …“ Constantin wusste nicht weiter.

Eigentlich fühlte er so etwas wie Freude und Erleichterung, und Erwartung und Dankbarkeit und Hoffnung und Zugehörigkeit und den Wunsch nach Nähe, mehr Nähe.

Hatte er sich wirklich verliebt?

War das die Aufgabe, die Michael angedeutet hatte?

Doch noch war er nicht bereit, sich das wirklich bewusst einzugestehen und die Konsequenzen auf sich zu nehmen.

„Sehen Sie?“, lachte Paul. „Sie freuen sich und sagen das Gegenteil. Wir wollen immer das Richtige tun und sagen. Damit widersprechen wir unseren Erwartungen genauso wie den Forderungen, die andere an uns und unser Verhalten stellen. Und dann und wann funktioniert unser Rollenspiel nicht mehr. Weil wir aussteigen. Oder weil wir sowieso anders sind als wir dachten und völlig anders als andere von uns erwarteten. Könnten wir nicht beide hier auf der Wiese sitzen und uns freuen, dass jemand da ist, der diesen wunderschönen und einmaligen Moment mit uns teilt?“

„Ist Ihr Meditationslehrerfreund Buddhist?“

„Ich weiß es nicht. Ist der Papst katholisch? Ist Liebe eine universelle Energie jenseits religiöser Lehren und Bilder? Er nennt sich spirituell, aber damit kann ich nichts anfangen. Ist das nicht jeder, irgendwie? Wieso fragen Sie? Interessieren Sie sich für spirituelle Fragen?“

„Michael tut es, er ist fromm. Katholisch, wie fast die ganze Stadt. Er sagt, jeder habe eine Aufgabe. Mich macht das immer nur nachdenklich, manchmal melancholisch.“

Und seit eben jetzt machte es ihn glücklich.

„Ich nehme an, Sie hegen daran gewisse Zweifel, so wie Sie das sagen. Ich spüre gemischte Emotionen in Ihnen. Und Sie wissen nicht, was Ihre Aufgabe ist.“

„Hm“, brummelte Constantin, und es klang zustimmender, als es ihm lieb war.

„Ach“, seufzte Paul theatralisch fröhlich. „Jetzt hoffte ich, jemand der neunzehn Jahre älter ist als ich könnte mir weiterhelfen, meine Lebensaufgabe zu finden. Und nun?“

„Sind Sie enttäuscht?“, fragte Constantin verwirrt.

„Nur in meiner Ansicht bestärkt, dass Alter etwas völlig Irrelevantes ist, was das Leben angeht. Sie sind genauso ein Anfänger im Leben wie ich, wenn ich das sagen darf, ohne beleidigend und arrogant zu klingen.“ Paul lächelte fröhlich.

„Oh“, amüsierte sich Constantin, der sich zitiert sah. „Machen Sie sich jetzt gerade von meinem Bild von Ihnen abhängig?“

Paul lachte. „Der Punkt könnte an Sie gegangen sein.“

„Wieso könnte?“, lachte Constantin mit.

„Weil es irrelevant ist.“

Beide lachten sich an.

„Wenn ich so offen und direkt sein darf?“ Paul holte Luft und sagte: „Wenn Sie eine Frau wären, würde ich Sie nun fragen, ob Sie mit mir schlafen möchten.“

Constantin war selbst überrascht, als er sich sagen hörte: „Wenn Sie ein Mann wären, würden Sie trotzdem fragen.“

Das machte Paul sprachlos.

„Bitte entschuldigen Sie“, flüsterte Paul dann. „Ich habe mich wohl völlig falsch ausgedrückt. Ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht beleidigt. Ich dachte nur gerade …“ – ‚an Kinder‘. Das konnte er jetzt keinesfalls sagen. – „Ich meinte nur, ich mag Sie sehr gerne und … würde Sie gerne noch viel näher kennenlernen als es uns bislang möglich war, Constantin“, sagte Paul dann, beugte sich vor und küsste den Mann auf den Mund. Dann legte er ihm die Arme um den Hals, zog ihn an sich, fühlte, wie sich Constantins Arme um ihn legten und hörte sein Herz schlagen.

„Das ist neu“, flüsterte Constantin, nachdem sich Pauls Lippen wieder ein wenig, zu weit, von den seinen entfernt hatten. Constantins Hand lag auf Pauls Wange, streichelte

sanft über seine Lippen, strich ihm eine Strähne aus der Stirn. Es war eine zarte Liebkosung, eine freundschaftliche Geste und sie fühlten beide, dass es noch weitaus mehr werden würde.

„Echt? Du willst sagen, du hast noch nie …?“

„Nein, Paul, das will ich ganz bestimmt nicht sagen. Ich habe. Das ist lange her. Es war nicht schön. Aber das jetzt, das war … Ja, das war einfach ‚wow‘ und …“ – und er dachte ‚und das war es gestern Nacht schon, als wir beide betrunken waren.‘

„Danke“, strahlte Paul und Constantin strahlte zurück.

„Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch, Paul.“

„Wollen wir bei Hugo was trinken?“, schlug Paul nach weiteren, sanft-vorsichtigen Küssen vor. „Und so langsam hab ich Hunger. Außer Obst und Eis, Luft und Liebe gab es heute noch nichts. Obwohl ich nicht schon wieder eine Schnaps-Orgie vertrage.“

Constantin schaute auf seine Armbanduhr. „Ja, wenn wir den nächsten Bus nehmen sind wir deutlich vor der abendlichen Füllung des Biergartens unten.“

Paul stand auf und hielt Constantin die Hand hin. „Aber ernsthaft. Könntest du Hugo irgendwie davon abhalten, mir wieder Schnaps einzuflößen?“

„Naja, ich könnte ihm sagen: ‚Finger weg, das ist mein Junge‘ oder so etwas“, lachte Constantin als er nach der Hand griff und sich hochhelfen ließ. „Paul, du knöpfst das Hemd besser zu, sonst fällt Hugo in Ohnmacht.“

„Das war gestern auch den ganzen Abend offen“, antwortete Paul unschuldig lächelnd.

Constantin lächelte wissend.

Er hatte seinen Blick ebenfalls kaum von Paul abwenden können. Und er hatte den Eindruck, Paul habe es gestern schon genossen, angeschaut zu werden.

„Und du wunderst dich, dass er dich betrunken machen will?“

„Nein, eigentlich nicht. Küss mich nochmal, bitte.“

Constantin zögerte. „Warte bitte, da kommen Leute.“

Er bedauerte sofort, es gesagt zu haben. Es fühlte sich beklemmend an, fremdbestimmt und gegenüber dem jungen Mann an seiner Seite ungehörig. „Bitte entschuldige, es ist nur alles sehr ungewohnt. Ich muss gerade erst mal irgendwie grundsätzlich damit klarkommen, dass ich was mit einem Mann habe. Vierundvierzig Jahre überwiegend Hetero, die legt man nicht mal eben beim Sonntagsnachmittagsspaziergang ab.“

„Du hast was mit mir?“, lächelte Paul. „Das hätte ich aber doch irgendwie merken müssen, oder?“

„Oh, nein, ich, ich …“, stammelte Constantin, dann sah er das Paul ihn fröhlich anstrahlte und ihm zublinzelte. Er schaute verlegen zur Seite und lächelte dann den anderen an. „Ich vermute, mein Versprecher ist irrelevant?“

Paul lächelte glücklich. „Ich möchte dich nicht überfordern, Constantin. Doch diese freudsche Formulierung ist für mich alles andere als bedeutungslos. Sie war im Gegenteil sogar prächtig hoffnungsvoll und bedingungslos relevant. Es scheint, du küsst selten Männer in der Öffentlichkeit. Das gefällt mir.“

Wenig später standen sie am Eingang zum Biergarten.

Paul blieb zögernd stehen und schaute sich um. „Hier ist ja schon allerhand los“, stellte er enttäuscht fest. Der Biergarten war wirklich sehr voll, die Schlange an der Theke schätzte er auf etwa zehn Meter. „Ob wir da noch einen ungestörten Platz finden, um in Ruhe zu essen? Ich habe Hugo noch nicht gesehen.“ Er reckte suchend den Kopf und schaute über die Menge der an den Biertischen sitzenden Leute.

„Ich könnte uns auch bei mir zuhause etwas zubereiten“, schlug Constantin überraschend vor. „Wir wollten gestern eigentlich bei mir grillen und sind dann doch in den Biergarten gegangen.“

Das war Michaels Vorschlag gewesen. Zusammen mit der Bemerkung bei der Verabschiedung und Hugos aufmunterndem Lächeln und diesem Tag mit Paul, ergab das alles langsam einen Sinn.