Der erste Kaffee am Morgen - Diego Galdino - E-Book

Der erste Kaffee am Morgen E-Book

Diego Galdino

4,4
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Massimo ist Besitzer einer kleinen Bar im Herzen Roms und war noch nie im Leben richtig verliebt. Jeden Morgen schlendert er durch die noch schlafende Stadt, freut sich auf seinen ersten Kaffee und auf die Stammkunden, die nach und nach eintrudeln. Zufrieden mit seinem Leben, findet Massimo, dass es ihm eigentlich auch allein recht gut geht. Das alles ändert sich schlagartig, als eines Tages die junge Französin Geneviève die Bar betritt. Der Barista ist fasziniert von der schönen Fremden, kann sich ihr aber nicht verständlich machen, was zur Folge hat, dass sie keine fünf Minuten später den Inhalt einer Zuckerdose auf den Tresen kippt, ihm die Tür vor der Nase zuschlägt und ihn mit heftig pochendem Herzen zurücklässt. Doch die Frau mit den grünen Augen wird bald in die Bar Tiberi zurückkehren: Denn sie hat ein Geheimnis, das sie genau an diesen Ort bindet und von dem Massimo nichts ahnt. Vergeblich versucht der verliebte Barista ihr mit den Mitteln den Hof zu machen, die er am besten beherrscht: mit Espresso, Cappuccino und langen Spaziergängen durch das nächtliche Rom. Trotz aller Geheimnisse und des unglücklichen Umstands, dass die Angebetete nur Rosentee mag, gibt Massimo die Hoffnung nicht auf, irgendwann den ersten Kaffee des Morgens mit dieser Frau zu trinken. Und zwar jeden Morgen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
4,4 (12 Bewertungen)
7
3
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Für Großmutter Landa, Giuseppe Selvaggi und Francesco Vinci

Übersetzung aus dem Italienischen von Gabriela Schönberger

ISBN 978-3-492-96527-9 Mai 2015 © 2013 Sperling & Kupfer, Mailand Titel der italienischen Originalausgabe: »Il primo caffè del mattino« Deutschsprachige Ausgabe: © Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, München und Wien 2014 Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin, nach einem Entwurf von Christina Krutz Design, Biebesheim am Rhein Covermotiv: Mark Owen/Trevillion Images Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Prolog

Meine Liebe,

ich kann dir nicht sagen, was die Zukunft bringen wird, ich kann dich auch nicht bitten, mich zu verstehen.

Doch ich kann versuchen, dir zu erklären, weshalb ich diese Entscheidung getroffen habe. Es gibt Augenblicke im Leben, da muss man Opfer bringen. Ich weiß, dass du mich nie verlassen würdest. Deshalb muss ich gehen, damit du die Chance auf ein besseres Leben hast. Mit mir wärst du nie frei, ohne mich wirst du es sein.

Ich weiß, ich habe versprochen, immer auf dich achtzugeben, aber du kannst sicher sein, dass ich dich niemals, nicht für einen Moment, aus den Augen lassen werde.

Ich bereue nichts, denn ich weiß, dass wir dennoch für immer zusammenbleiben und zusammengehören werden – so wie schwarzer Tee mit Rosenblüten.

Ich sage nicht Lebewohl, da ich stets an deiner Seite sein werde.

M.

ERSTER TEIL

1

Die letzte Reise

Viele Menschen waren gekommen, und trotzdem war es seltsam still. Die Trauernden schienen sich jedes Wort, jede Bewegung und sogar jeden Seufzer genau zu überlegen.

Nur der Maurer hantierte mit raschen, geübten Handgriffen: eine dünne Schicht Mörtel, ein Ziegelstein, immer weiter, bis wieder eine Reihe fertig war. Schließlich bearbeitete er mit einem Meißel den letzten Ziegel, um ihm die richtige Größe zu geben, ehe er die Überreste mit der Kelle beiseiteschob.

Nie war einem Maurer größere Aufmerksamkeit zuteilgeworden, es war fast so, als wäre er der Priester dieser letzten Zeremonie.

Innerhalb weniger Minuten war der Sarg nicht mehr zu sehen und die Ruhestätte vollends geschlossen. Der endgültige Grabstein würde noch eine Weile auf sich warten lassen, aber bereits diese dünne Trennwand genügte, um die unwiderrufliche Grenze zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt zu markieren.

Was ist überhaupt der Sinn des Lebens, fragte sich Massimo. Es waren die üblichen Fragen angesichts des Todes. Sie mochten banal sein, aber in solchen Momenten brachen sie sich Bahn und warfen einen zurück in eine stockfinstere Welt, die keinen Anhaltspunkt bot. (Aus diesem Grund ließ Massimo auch stets ein kleines Nachtlicht in der Steckdose brennen. Nicht aus Angst vor der Dunkelheit, sondern aus Furcht, die Orientierung zu verlieren.)

Die Männer des Bestattungsunternehmens verließen den Friedhof mit schweren Schritten. Massimo murmelte ihnen etwas Unverständliches zu, einen Abschiedsgruß, den die Männer mit ebenso unverständlichen Worten erwiderten.

Dann erwachte das Grüppchen aus seiner Versteinerung und setzte sich langsam in Bewegung. Ein Trauergast nach dem anderen trat an die Grabstätte, umarmte Massimo und entfernte sich mit knirschenden Schritten über den Kiesweg.

Außer den Freunden waren selbstverständlich alle Stammgäste der Caffè-Bar Tiberi gekommen.

»Es sind immer die Besten, die gehen müssen«, sagte Tonino, der Automechaniker (verlängerter Espresso).

»Ja, ja, und wir müssen dableiben!«, fiel Pino, der Friseur (Espresso im Glas), ein.

Auch Luigi, der Schreiner (Espresso Corretto Sambuca), hatte seinen Kommentar abzugeben. »Der verflixte Oberschenkelhals! Wie bei meiner armen mamma, möge sie in Frieden ruhen.«

Nach und nach zogen sie alle an Massimo vorbei: Lino (Espresso mit Ginseng) und sein unvermeidlicher Hund Junior, Alfredo, der Bäcker (Espresso im Glas mit viel Schaum), Gino, der Metzger (Espresso Macchiato im Glas), und Rina, die Blumenhändlerin (Espresso im Glas und ein Extra-Glas Wasser).

Dario (Espresso extrastark in angewärmter Tasse), der Massimo in der Bar zur Hand ging, bildete das Schlusslicht dieser merkwürdigen Prozession. »Ich warte im Auto auf dich«, sagte er. Er wusste mit Formalitäten nicht viel anzufangen.

»Ist gut«, entgegnete Massimo, dessen Kommunikation sich bisher darauf beschränkt hatte, die tröstlichen Schulterklopfer der Trauergäste zu erwidern. »Ach, und sag den anderen, dass sie heute Abend kurz vor Schluss noch mal in der Bar vorbeischauen sollen. Wir wollen auf sie anstoßen!«

Massimo ging vor dem Grab der Signora Maria in die Hocke und strich mit der Hand über den Marmorsockel.

Er schloss die Augen und tauchte in die Vergangenheit ein, auf der Suche nach Erinnerungen. Es waren so viele, dass ein ganzer Tag nicht ausgereicht hätte, sie Revue passieren zu lassen.

Deshalb versuchte er, aus dem Strom der Erinnerungen ein besonderes Bild herauszufischen. Das erste, das ihm in den Sinn kam, war eine Momentaufnahme von der Hochzeit seiner Schwester Carlotta.

Die Signora Maria hatte damals so viele Tränen vergossen, dass der Tiber um ein Haar über seine Ufer getreten wäre. Als beste Schneiderin in Trastevere und Umgebung bekannt, hatte sie eigenhändig das Brautkleid für Carlotta angefertigt. Eigentlich, so dachte man, hatte sie bereits bei der letzten Anprobe alle ihre Tränen vergossen. Aber dem war dann doch nicht so, denn sie hatte noch eine erstaunliche Menge Tränen in Reserve – genug jedenfalls, um die Kirche Santa Maria in Trastevere, das Restaurant, in dem der Hochzeitsempfang stattfand, und den Bürgersteig davor unter Wasser zu setzen, als das Brautpaar sich schließlich draußen vor der Tür in die Flitterwochen verabschiedete.

Man kann sich vorstellen, was passierte, als Carlotta kurz darauf nach Kanada auswanderte, um ihrem Mann zu folgen, einem Universitätsassistenten, der das klassische Angebot erhalten hatte, das man nicht ablehnen konnte.

Mit einem Wort, ein Wasserfall an Tränen.

Massimo hingegen war unfähig, auch nur eine Träne zu vergießen. Er war ein Mann, und irgendeine geheimnisvolle Kraft hinderte ihn daran, sich gehen zu lassen. Und dabei hätte er der Signora Maria so gern jede einzelne ihrer Tränen zurückgegeben. Wenn es jemanden gab, der dies verdient hätte, dann sie, diese rundliche, fröhliche, großzügige, einfache, warmherzige Person.

Massimo öffnete die Augen und dachte an Carlotta, die zur Beisetzung nicht hatte kommen können. Er hatte sie seit Dezember nicht mehr gesehen, seit ihr Mann sich wundersamerweise für eine Woche von seiner Arbeit hatte loseisen und Carlotta ihn dazu hatte überreden können, Weihnachten zu Hause zu verbringen.

Vor zwei Tagen hatten sie telefoniert und Carlotta hatte ihm zwischen zwei Schluchzern versprochen, noch vor Ende des Sommers ihren Mann mit seinen Forschungsarbeiten allein zu lassen und nach Rom zu fliegen, um mindestens zwei Wochen mit ihrem Bruder zu verbringen.

Massimo bekreuzigte sich, führte eine Hand an die Lippen und berührte kurz das Grab, um seinen Kuss zu hinterlegen.

Dann stand er auf und ging mit gesenktem Kopf auf das Friedhofstor zu, aber bereits nach wenigen Metern fiel ihm etwas ein, und er kehrte wieder um.

»So was Dummes! Jetzt hätte ich doch fast deine Lieblingstasse vergessen, liebste Freundin«, sagte er leise und vergewisserte sich mit einem raschen Blick aus den Augenwinkeln, dass niemand in der Nähe war.

Behutsam zog er eine Espressotasse aus der Jackentasche und strich mit dem Ärmel rasch über das Porzellan, ehe er sie neben den Kaktus stellte, den Lino mitgebracht hatte und der die Signora Maria vor den Magnetfeldern der Handys schützen sollte (bei jeder anderen Gelegenheit hätte er sich damit Frotzeleien ohne Ende eingehandelt, aber nicht heute und nicht hier).

Auf der Tasse, die einen feinen Sprung hatte, waren außer dem Schriftzug PARIS auch die stilisierten Umrisse des Eiffelturms zu erkennen. Diese Tasse gehörte zu einer speziellen Serie, die sich Massimo vor nicht allzu langer Zeit für die Signora Maria ausgedacht hatte.

Massimo seufzte tief.

Wie hatte Luigi, der Schreiner, gesagt? Ein Oberschenkelhalsbruch ist die Mutter allen Unheils. Im Fall der Signora Maria war allerdings nicht klar, ob der Oberschenkelbruch Folge eines Sturzes oder ob der Sturz auf den Bruch des Oberschenkelknochens zurückzuführen war. Tatsache war jedoch, dass die Signora Maria nach der Operation, den langen Tagen im Krankenhausbett und dem Aufenthalt in der Reha-Klinik in einem Zustand nach Hause zurückgekehrt war, den mit elend zu beschreiben noch optimistisch gewesen wäre.

Doch trotz allem hatte sie nie ihr Lächeln verloren.

Ziemlich bald war jedem klar, dass die Signora Maria ihre Wohnung (dritter Stock, ohne Aufzug) nur noch unter größten Schwierigkeiten würde verlassen können. Da konnte sie sich noch so sehr darüber lustig machen. »Ja, ja, es wird mir sicher schwerfallen, auf meine Reisen ins Ausland zu verzichten!« Dazu muss man wissen, dass die Signora Maria in ihrem ganzen Leben Rom kaum je verlassen hatte.

Und so hatte Massimo bei seinem Lieferanten kurzerhand eine Serie von Espressotassen mit den Namen und Sehenswürdigkeiten der berühmtesten Städte der Welt in Auftrag gegeben.

Er freute sich wie ein Kind, als die Tassen schließlich bei ihm eintrafen. Nachdem er die Plastikverpackung entfernt hatte, konnte er es kaum erwarten, der Signora Maria endlich ihren gewohnten Kaffee zu bringen. Aber ungeduldig wie er war, hatte er eine Viertelstunde zu früh an ihre Tür geklopft. Zum Glück hatte sie bereits gegessen, denn sonst wäre jener erste Espresso der Sonderedition ein großer Reinfall geworden, da die Signora Maria ihren Kaffee am liebsten kochend heiß trank.

»Schau mal, wohin ich dich heute entführe!« Mit diesen Worten überreichte er ihr die Barcelona-Tasse, die ein buntes Bild von Miró schmückte.

»Danke, du bist wirklich ein lieber Junge. Aber in meinem Alter ist eine solche Reise viel zu aufregend. Hoffentlich macht mein Herz das mit!«, erwiderte sie lächelnd.

»Keine Sorge, das hält es schon aus. Barcelona ist eine wunderbare Stadt. Riechst du die Meerluft, die unten von den Ramblas heraufsteigt? Wir gehen ins Picasso-Museum, schauen uns die Häuser von Gaudí an …«

»Ach, wie schön.« Signora Maria schloss die Augen und stieß einen leisen Seufzer aus. »Ich kann es mir genau vorstellen. Und alles, ohne dass ich aus dem Haus gehen muss. Und dass mir die Handtasche gestohlen wird, riskiere ich auch nicht! Danke, Massimo, lass dich umarmen! Aber eins sage ich dir – zum Stierkampf will ich nicht! Den finde ich nämlich abscheulich.«

»Wie du willst, Maria. Keinen Stierkampf. So etwas müsste man wirklich verbieten. Nein, wir gehen lieber Tapas essen und schlendern durch das Barri Gòtic. Vielleicht machen wir auch einen Abstecher zur Sagrada Familia, was meinst du? Und denk daran, das ist erst der Anfang. Von heute an solltest du immer deine Tasche gepackt haben!«

Und so unternahmen sie jeden Tag eine andere Reise. Als Fremdenführer gab Massimo die üblichen Gemeinplätze über die betreffende Stadt zum Besten, worüber sich die beiden köstlich amüsierten. Sodann überreichte die Signora Maria ihm die leere Espressotasse, und der junge Besitzer der Bar Tiberi kehrte schweren Herzens wieder auf seinen Posten hinter dem Tresen zurück.

Immer ist man in Eile, dachte er jedes Mal. Nie hatte man Zeit für die Menschen, die es wirklich bräuchten.

Eines Tages kam die Reihe auch an Paris. Eigentlich eine Stadt wie jede andere, sollte man meinen, aber dieses Mal betrachtete die Signora Maria die kleine weiße Tasse, auf der an jenem Tag der Eiffelturm zu sehen war, länger als üblich, und ein rätselhaftes Lächeln glitt über ihre Züge. Etwas in ihrem Blick erregte Massimos Aufmerksamkeit. Noch nie hatte er sie so abwesend und nachdenklich erlebt.

Als sich die alte Dame anschickte, die Tasse an ihren jungen Freund zurückzugeben, verharrte sie mit zitternder Hand mitten in der Bewegung, so als erinnerte sie sich an etwas, das vor langer, langer Zeit geschehen war.

Nach einem tiefen Blick in Massimos Augen drückte sie die Tasse einen Moment an ihre Brust, als wäre ihr noch etwas eingefallen.

»Ah, Paris! Wie gern würde ich dorthin reisen …« Sie seufzte. Dann griff sie nach dem kleinen Löffel und klopfte an den Tassenrand, als wolle sie die Qualität des Porzellans prüfen. » Also, diese Tasse ist mir eindeutig die liebste! Bravo, mein Mino … Du weißt, wie du mich glücklich machen kannst!«, rief sie und gab sich alle Mühe, einen fröhlichen Eindruck zu erwecken.

»Meine Rede: Die Wege des Kaffees sind unergründlich!«, deklamierte Massimo.

Aber die Signora Maria lächelte nicht. Wieder trat dieser verlorene Ausdruck in ihre Augen. Und dann begann sie zu erzählen. Ihre warme, facettenreiche Stimme ließ Massimo immer an ein altes Riff denken (er hätte jedoch nicht zu sagen gewusst, woran das lag, vielleicht an dem Wechsel aus schroffen und sanften Klängen).

»Weißt du, Massimo, ich hatte einmal eine Cousine, die alle nur Teresina nannten, weil sie so klein war. Sie war viel jünger als ich und fast wie eine Tochter für mich, aber wir waren unzertrennlich. Eines schönen Tages, wie man so schön sagt – nun ja, schön war dieser Tag gewiss nicht –, erzählte sie mir, dass ihre Familie wegziehen würde, nach Paris, wie sie von ihrem Vater erfahren hatte. Damit war natürlich klar, dass auch sie weggehen musste, aber wir schoben jeden Gedanken daran beiseite. Es kam mir so ungerecht vor, dass uns niemand nach unserer Meinung gefragt hatte. In dieser Zeit hingen wir wie die Kletten aneinander und unternahmen alles zusammen. Wir waren ja noch Kinder und bildeten uns ein, dass es für immer so bleiben würde. Ich redete mir ein, dass es nicht sein könne, dass Teresa sich irgendwie verhört haben müsste. Doch ich hatte nicht den Mut, eine Erklärung von meinem Vater oder gar von meinem Onkel zu verlangen. Schließlich sind sie tatsächlich weggezogen, und ich blieb allein zurück. Ich tat nichts, um den Kontakt zu Teresa aufrechtzuerhalten, und auch später, in den darauffolgenden Jahren, habe ich nichts unternommen. Vielleicht saß tief in mir die Angst, dass sie mich vergessen haben könnte. Und das hätte ich nicht ertragen. In den schillerndsten Farben malte ich mir ihr neues Leben in Paris aus, einer Stadt, die mir sehr exotisch und geheimnisvoll vorkam, mit einer fremden Sprache, die ich nicht verstand … ich weiß auch nicht so recht, warum mir nie der Gedanke in den Sinn gekommen ist, dass ich Teresina hätte suchen oder wenigstens ein Lebenszeichen von mir hätte geben können.«

Die Signora Maria schüttelte den Kopf, warf Massimo einen raschen Blick zu und wandte sich dann wieder ab. »Wenn ich es doch nur gewusst hätte …«, murmelte sie, »hätte ich damals gewusst, dass …« Sie verstummte.

In diesem Moment glitt ihr die Paris-Tasse aus der zitternden Hand und fiel klirrend in das Schweigen.

»Oh nein«, jammerte sie unglücklich. »Jetzt habe ich auch noch die schöne Tasse zerbrochen. Meine Fehler verfolgen mich wohl bis heute!«

Massimo bückte sich und hob die Tasse auf. »Aber was sagst du denn da, Maria? Die Tasse hat doch nur einen Sprung, schau mal!« Er lächelte. »Irgendwie ist sie jetzt sogar noch ein bisschen schöner, weil sie die Patina hat, die ihr vorher fehlte!«

Die Signora Maria lächelte auch, dann seufzte sie.

»Du bist so lieb, Massimo. Immer findest du die richtigen Worte, um mich aufzumuntern. Jetzt aber wieder an die Arbeit. Nein, warte! Versprich mir eines: Wenn es in deinem Leben einmal etwas geben sollte, das dir wirklich wichtig ist, dann versprich mir, keine halben Sachen zu machen. Versprich mir, dass du kämpfen und nicht zulassen wirst, dass Ängste oder Zweifel dich von deiner Entscheidung abbringen. Sonst wirst du dir dein Leben lang Vorwürfe machen. Ich weiß nicht, ob du verstehst, was ich meine … Aber versprichst du mir das?«

Massimo nickte. Bevor er ging, umarmte er die alte Frau. Ihre Tränen hinterließen feuchte Spuren auf seinen Wangen.

Während er sich vom Grab der Signora Maria entfernte, dachte Massimo an das, was sie damals gesagt hatte: Meine Fehler verfolgen mich bis heute! Welche Verfehlung konnte ein so sanftmütiges Wesen wie sie schon auf sich geladen haben? Eine Person, die niemals unbefugt den Rasen betreten oder ein Fitzelchen Papier auf den Boden geworfen hätte. Eine feinfühlige Frau wie sie, die sich stets zurückgenommen hatte, um den Bedürfnissen anderer besser gerecht zu werden. Vielleicht hätte er sie das fragen sollen an jenem Tag, und sie hätte ihm irgendein harmloses Vergehen gebeichtet, das im Laufe der Jahre immer gigantischere Ausmaße für sie angenommen hatte! Aber leider hatte er sie nicht gefragt.

Nun, die Sache hatte sich so oder so erledigt. Welche Sünde die Signora Maria auch begangen haben mochte, sie war ihr sicher bereits verziehen. Und jetzt war sie ohnehin auf dem Weg ins Paradies (ob man sich wohl noch das Vergnügen gönnt, auf einen kurzen Sprung bei der eigenen Beerdigung vorbeizuschauen, ehe man die letzte Reise antritt?).

Massimo war so erschöpft, dass er am liebsten sofort wieder ins Tiberi gegangen wäre. Denn gegen die Traurigkeit gibt es kein besseres Heilmittel als das Geplänkel und Geplauder in einer Bar.

Dario wartete schon im Wagen auf ihn. In der Gegenwart dieses Mannes musste er nichts sagen. Wenn Signora Maria Massimos Ersatzmutter gewesen war, dann war Signor Dario sein Ersatzvater. Abgesehen davon war er ein guter Freund, der einen Spaß verstand, aber er wusste auch genau, wann es besser war, den Mund zu halten. Massimo lehnte sich im Sitz zurück, betrachtete Dario von der Seite und lächelte. Wäre Dario kein Mann gewesen, der noch dazu am Steuer saß, hätte Massimo ihn jetzt umarmt. An Tagen wie diesen tat eine Umarmung immer gut.

2

Wenn Priester heiraten dürfen

Und wieder war es an der Zeit, aufzustehen. Unzählige Morgen waren diesem Morgen vorausgegangen. Und wenn ich eines Tages beschließe, mich auf die andere Seite zu drehen und weiterzuschlafen, dachte Massimo, was dann? Stattdessen beeilte er sich, aus dem Bett zu kommen, um gar nicht erst in Versuchung zu geraten. Doch wenn er diesen einen schläfrigen Moment überwunden hatte, genoss er die Stille des Morgens. Dann kam es ihm so vor, als würde er, während alle anderen noch schliefen, die Welt für eine Weile für sich haben. Doch wer einmal um halb fünf Uhr morgens an einem Werktag durch die Straßen Roms spaziert, der wird sich wundern, wie viele Menschen bereits an der Arbeit sind. Um diese Uhrzeit sind alle Geräusche lebendiger, die Realität scheint geneigter, ihre Geheimnisse preiszugeben. Zumindest kam es Massimo so vor: Er war überzeugt davon, dass im ersten Licht des Tages, in diesen ersten Strahlen des Morgenlichts bestimmte, sonst verborgene Bedeutungen zum Greifen nahe waren.

Seit der Beisetzung der Signora Maria waren mehr als zehn Tage vergangen. Trotzdem hatte Massimo noch immer die Angewohnheit, einen Blick nach oben auf ihre Fenster zu werfen, wenn er seine Bar aufschloss oder zusperrte. Der Anblick der geschlossenen Fensterläden versetzte ihm jedes Mal einen Stich. Ein merkwürdiges Gefühl. Es war fast so, als würde die Signora Maria jeden Tag aufs Neue sterben.

Massimo versetzte dem eisernen Rollladen einen Stoß, und dieser rumpelte mit lauterem Quietschen als gewöhnlich nach oben. Da muss wohl jemand dringend geölt werden, dachte er mit einem Gefühl fast zärtlicher Zuneigung, mit dem er das Mobiliar und die anderen Gegenstände in der Bar bedachte, so als wären sie liebe, schweigsame Freunde.

Er tippte sich an die Stirn, um das Schwarz-Weiß-Foto mit den beiden Baristas zu grüßen, das hinter der hölzernen Theke mit der Platte aus Edelstahl hing. Auf dem Foto sah man eben genau diese Theke, darüber dieselben Regalbretter. Auch die Flaschen mit ihren altmodischen Etiketten waren genauso angeordnet wie die in seinem Regal. Einige standen tatsächlich seit Urzeiten auf den obersten Ablagen und dienten nur noch der Dekoration. Nur die Tapete an der Rückwand war im Lauf der Jahre ein paar Spiegeln gewichen, die der kleinen Espresso-Bar Weite verliehen und dem Barista ermöglichten, das Treiben in der Bar unauffällig im Auge zu behalten.

Es gab nicht einen Gast, der beim Anblick der Fotografie aus den sechziger Jahren nicht die Frage gestellt hätte, ob er jener Junge mit der weißen Weste und der schwarzen Fliege sei. Massimo musste jedes Mal lächeln, denn der Junge war sein Vater, aber die beiden glichen einander in der Tat wie ein Tropfen Wasser dem anderen.

Jeden Morgen hielt Massimo einen Moment inne, um seinem Vater zuzulächeln. Anschließend folgte der obligatorische Stopp vor den Nighthawks von Hopper: Dieses Bild passte so gut zur Morgendämmerung, dass Massimo stets eine kurze Pause davor einlegte, um seine Gedanken zu sortieren. Er besaß viele Reproduktionen berühmter Gemälde. Die meisten hingen bei ihm zu Hause, aber dieses Bild hier hatte er für die Bar ausgewählt, weil es die Einsamkeit des Baristas inmitten der schwatzenden Gäste so gut widerspiegelte. Denn auch in Massimos Brust wohnten zwei Seelen – die eine einsam und ein bisschen melancholisch, die andere heiter und fröhlich.

Doch darüber konnte er wohl kaum mit Antonio, dem Klempner (koffeinfreier, verlängerter Espresso), sprechen, der fast immer als Erster in die Bar kam.

Jeden Morgen gab es das gleiche Ritual: er, Massimo, der noch dabei war, sich mit dem halb geschlossenen (oder, je nach Standpunkt, halb geöffneten) Rollladen zu plagen, und Antonio, der mit einem scheppernden Geräusch von außen gegen das Metall hämmerte.

»Ich sperre erst um halb sechs Uhr auf!«, rief Massimo dann.

»Ja, ich weiß, aber hier draußen ist es so kalt, dass die halbe Stunde auch keine Rolle mehr spielt«, lautete die stets gleiche Antwort.

Manchmal war es auch so heiß, dass die halbe Stunde keine Rolle spielte. Oder so windig. Auf jeden Fall gab es immer einen Grund, warum die halbe Stunde zu vernachlässigen war, sodass Massimo sich schließlich gezwungen sah, Antonio hereinzulassen und ihm seinen koffeinfreien, verlängerten Espresso zuzubereiten.

Und das alles nur, weil Antonio, der Klempner, an Schlaflosigkeit litt, dies aber unter keinen Umständen zugegeben hätte.

»Mann, du kannst es dir nicht vorstellen, aber heute Nacht hat mich ein verliebter Kater mit seinem Geschrei völlig verrückt gemacht. So ein blödes Vieh. Von zwei bis vier habe ich mich wie ein Kreisel im Bett gewälzt, dann bin ich schließlich raus und an die frische Luft. Danach war der Bursche ruhig, aber wer kann da wieder einschlafen?«

Es war immer wieder schön, wie Antonio (ein alles andere als schöner Mann) jeden Morgen bis in alle Einzelheiten seine durchwachten Nächte beschrieb und mit wahrem Feuereifer die verschiedenen Ursachen schilderte, die ihn am Schlafen gehindert hatten.

Darin ähnelte er jenen Hypochondern, die mit großer Liebe zum Detail ihre körperlichen Gebrechen schilderten (die in der Regel nur eine Ursache haben, nämlich die eigene Einbildung), und das alles in dem festen Glauben, dass nichts für ihre Mitmenschen interessanter sein könnte als ihre Wehwehchen. Auch Antonio ging diesem Zeitvertreib mit größter Hingabe nach.

Und während der Klempner vor sich hin monologisierte (denn bei aller Liebe, um diese Uhrzeit neigte Massimo nicht dazu, sich allzu sehr zu verausgaben, schließlich musste er noch bis acht Uhr abends durchhalten, und wenn möglich lebendig), betraten wie jeden Morgen die Müllmänner die Bar und krähten im Chor: »Dann nimm doch endlich mal ’ne Schlaftablette, Antonio, so schwer kann das doch nicht sein.«

Wie alle humorlosen Menschen war auch der arme Antonio ein willkommenes Opfer endloser Frotzeleien. Zu seinem Glück bekam er meistens nichts davon mit, oder er machte gute Miene zum bösen Spiel und tat so, als wäre nichts, doch in den meisten Fällen kapierte er es einfach nicht, wenn die anderen ihn auf den Arm nahmen.

So wie das eine Mal, als er die Schuld an seiner schlaflosen Nacht einem tropfenden Wasserhahn gegeben hatte und sich plötzlich eine Stimme aus dem Chor der Müllmänner erhob: »Du musst ja wirklich ein begnadeter Klempner sein, Antonio … Hast du vielleicht mal ’ne Visitenkarte für mich?«

»Klar doch. Hier nimm. Du kannst mich jederzeit anrufen«, hatte Antonio ganz ernsthaft geantwortet und ihm in dem allgemeinen Gewieher, das nun ausbrach, seine Karte mit Namen und Telefonnummer überreicht.

Wenn Massimo hinter der Theke stand und seine Kunden bediente, beschränkte er sich gewöhnlich auf ein Nicken und versuchte von seinem Hocker aus den Überblick zu behalten. Das mag einfach erscheinen, doch wenn man eine gut besuchte Caffè-Bar führt (und wenn sie nicht gut besucht ist, führt man sie nicht mehr lange), gibt es nur wenige Momente der Ruhe. Genau in diesen seltenen Augenblicken jedoch verspüren die wenigen anwesenden Gäste zumeist den Drang, einen als Beichtvater zu missbrauchen. Ergebnis: Man kommt nie zur Ruhe, nicht einmal eine Sekunde.

Dessen ungeachtet gefiel Massimo das Leben in der Bar: Es war wie im Theater, nur dass man keinen Eintritt zahlen musste.

Während also an jenem Morgen Antonio und der Chor der Müllmänner (früher als üblich) miteinander beschäftigt waren, kontrollierte der Barista den Druck der Espressomaschine (er ließ sie die ganze Nacht über eingeschaltet, da es ihn sonst eine halbe Stunde gekostet hätte, sie wieder in Betrieb zu nehmen). Sorgfältig spülte und erwärmte er die Filter, schaltete den Tassenwärmer ein und bereitete den ersten Kaffee des Tages zu, den er, wie es die Tradition verlangte, gleich wieder wegkippte, um anschließend einen Espresso für sich zu machen. »Tut mir leid, Jungs, aber der Erste ist immer für mich. Sonst weiß ich ja nicht, ob er schmeckt. Außerdem mache ich eigentlich erst in einer halben Stunde auf. Ich weiß nicht, ob sich das schon bei euch rumgesprochen hat.«

»Es hat sich rumgesprochen, keine Angst. Unser Fachmann für Straßentiger schildert gerade das Liebesleben sämtlicher Katzen im Viertel … Man vertreibt sich eben die Zeit so gut man kann.«

»Du wirst doch dieser Schlafmütze nicht glauben, was er erzählt. Auf dem Gebiet gibt es nur eine Autorität: die Katzenmutter.«

»Schon möglich, aber mit der redest gefälligst du! Für mich ist die Frau eine Hexe!«

Massimo ließ die Männer schwatzen, nahm eine große Packung Haiti Roma aus dem Regal – der Kaffee stammte aus einer kleinen traditionsreichen römischen Rösterei und war ein besonders erlesener und aromatischer Kaffee, es gab nicht Besseres, wie Massimo fand – und bereitete eine Runde Kaffee zu, bevor er hinausging, um draußen die Tische einzudecken.

Dabei fiel sein Blick auf den Terracotta-Topf mit den Klebsamen. Sogar einer wie er, der von Pflanzen nicht das Geringste verstand (Rina, die Blumenfrau, hatte ihm sein mangelndes floristisches Talent mehrfach bestätigt), konnte nicht übersehen, dass es dem immergrünen Gewächs nicht gut ging. Ich muss dieses Ding wieder aufpäppeln, bevor Carlotta kommt, dachte Massimo. Falls sie mal wiederkommt. Es war nämlich seine Schwester gewesen, die darauf bestanden hatte, dass Massimo das Straßencafé mit ein paar Pflanzen belebte. Wieder kam ihm das Telefongespräch in den Sinn, das sie am Abend vor ihrem Abflug nach Kanada geführt hatten. Wie immer hatte Carlotta ihn mit hartnäckigen Fragen nach seinem Liebesleben gequält und ihm die unvermeidliche Gardinenpredigt gehalten, ehe sie auflegte (es war im Übrigen dieselbe Diskussion, die er früher mit seiner Mutter, Gott hab sie selig!, geführt hatte).

»Wirklich, Massimo, ich frage mich, warum es nicht möglich ist, dass du endlich mal ein nettes Mädchen findest? Und dabei heißt es doch, dass es weniger Männer als Frauen auf der Welt gibt. Und so nette Männer wie dich gibt es noch weniger, muss ich sagen.«

»Das ist wirklich zu freundlich von dir, aber vielleicht siehst du mich aus der Ferne etwas verklärt«, hatte er geantwortet.

»Wieso auch nicht? Du bist doch ein gut aussehender Bursche, und das weißt du auch. Aber hier liegt vielleicht genau das Problem: Die Frauen machen es dir zu leicht, und deswegen engagierst du dich zu wenig. Du willst lieber dein Vergnügen als eine ernsthafte Beziehung. Aber hör auf deine kleine Schwester: Diese Jahre sind schneller vorbei, als du denkst, und das, was dir ein treuer Mensch an deiner Seite geben kann, gibt dir sonst niemand.«

»Das glaube ich dir aufs Wort! Nur habe ich die Richtige eben noch nicht gefunden …«

»Dann streng dich mal ein bisschen an! Du bist nämlich der ideale Mann zum Heiraten. Wenn du nicht mein Bruder wärst, hätte ich dich geheiratet! Dann hätte ich nicht in die Fremde auswandern müssen und könnte jetzt gemütlich zu Hause sitzen und dir bei der Arbeit helfen.«

»Ah, Carlotta, liebste Carlotta! Du weißt ganz genau, wo der Hase im Pfeffer liegt! Es ist ja nicht so, dass ich keine finde oder keine finden will. In Wahrheit ist es so, dass man als Besitzer einer Bar das Leben eines Priesters führt. Alle schütten einem ihr Herz aus. Ein Barista kann unmöglich einem Menschen allein gehören, er gehört allen.«

»Was soll das heißen? Und was war dann mit Papa?«

»Na, das waren andere Zeiten damals. Die Frauen waren anders. Die Welt hat sich verändert. Und jetzt Schluss mit diesem Thema. Wenn ich eine Frau zum Heiraten gefunden habe, mache ich die Bar eine Woche zu und fliege sofort zu dir, um sie dir vorzustellen, das verspreche ich dir!«

»Mit anderen Worten, es wird nie dazu kommen … Seit wie vielen Jahren führst du jetzt schon die Bar?«

»Seit fünfzehn Jahren. Und drei Monaten, um genau zu sein.«

»Und wie viele Arbeitstage hast du in dieser Zeit verpasst?«

»Nun, die Antwort ist einfach: Nicht einen!«

»Aha! Und wann willst du also die Bar für eine Woche zumachen?«

»Wenn Priester heiraten dürfen!«

»Ach, du bist unmöglich … Va bene, bis dann, Bruderherz. Und versprich mir, dir bald ein Mädchen zu suchen.«

»Das mach ich. Grüß mir Luigi und sag ihm, er soll nicht so viel nachdenken und sich das Hirn zermartern, davon bekommt man nur Kopfschmerzen … Wann bekommt er denn jetzt endlich seinen Nobelpreis?«

»Mach dich nicht darüber lustig. Am Ende bekommt er ihn tatsächlich!«

»Steht er zufälligerweise neben dir? Sag ihm, dass man nicht alles haben kann. Der eine hat die Schönheit, der andere das Hirn.«

»Wie? Denkst du dir jetzt schon Sprichwörter aus?«

»Das steht in meinem Personalausweis. Beruf: Erfinder von Sprichwörtern. Jetzt sollten wir aber besser Schluss machen, bevor wir noch etwas sagen, wofür wir uns später schämen müssen …«

Massimo stellte nachdenklich ein Schälchen mit Zuckertüten auf einen der Tische. In der letzten Zeit hatten seine Schwester und er öfter miteinander telefoniert, um über die Signora Maria zu reden. Unweigerlich war man dabei jedes Mal auf das leidige Thema seiner noch ausstehenden Heirat zu sprechen gekommen. Darüber hatte sich auch die Signora Maria ständig die größten Sorgen gemacht. Die beiden Frauen schienen keinen anderen Gedanken im Kopf zu haben, als ihn unter die Haube zu bringen.

Massimo hob den Kopf. Mit einem Mal lag ein köstlicher Duft nach frischem Gebäck in der Luft, breitete sich auf dem kleinen Platz aus, zog in die umliegenden Gassen und durch die Fenster, die man weit geöffnet hatte, um die kühle Morgenluft hereinzulassen, und holte Massimo wieder in die Wirklichkeit zurück. Franco, der Bäcker, grüßte ihn mit einem Nicken. Er war pünktlich wie immer, und gemeinsam entluden sie die großen Bleche voller Cornetti und Brioches.

Es war ein Sommertag wie viele andere. Die zaghafte morgendliche Brise täuschte. Bereits um sieben Uhr morgens, als Signor Dario die Bar Tiberi betrat, um seinen Dienst zu beginnen, war klar, dass ihnen ein weiterer höllisch heißer Tag bevorstand.

»Als ob diese Affenhitze allein nicht schon genügen würde«, brummte Signor Dario und strich sich unwillig über die Stirn, »ich meine, die ist schon schwer genug zu ertragen … aber dann immer noch dieses blödsinnige Gerede, dass dieser Sommer mal wieder der heißeste seit wer weiß wie vielen Jahren ist! Ich hör schon gar nicht mehr hin. Wenn ich mir das ganze Gejammer anhören muss, wird mir nur noch heißer.«

Wunderbar. Heute war also auch Signor Dario ganz offensichtlich bester Laune. Und wie heißt es so schön? Ein guter Tag fängt morgens an.

Massimo bereitete seinem Mitarbeiter den üblichen doppelt starken Espresso in der vorgewärmten Tasse zu. Dario liebte es, wie ein Gast behandelt zu werden, auch wenn er eigentlich in die Bar kam, um zu arbeiten. Massimo senkte den Kopf und lächelte. Wie sagte Dario so oft? Die Arbeit eines Baristas ist keine Arbeit, sondern eine Leidenschaft. Dario jedenfalls fand es wunderbar, sich in seinem Alter noch nützlich machen zu können. So etwas hält jung.

3

Auch du, Brutus!

An jenem Morgen geschah es. Es traf Massimo nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Man kann aber auch nicht sagen, dass er Zeit gehabt hätte, sich darauf vorzubereiten. Sagen wir lieber, die Ereignisse schlichen sich heran wie tanzende Schneeflocken, obwohl die an einem heißen Sommertag natürlich schwerlich zu finden sind.

Der Vormittag war bereits zur Hälfte vergangen, die erste Welle der Kunden, die vor der Arbeit vorbeischauten, war abgeebbt und die Mittagspause noch in weiter Ferne. Die Bar Tiberi schmachtete träge mitsamt ihren Stammgästen auf der sonnenbeschienenen Piazza vor sich hin.

Gewöhnlich gönnte Massimo sich um diese Zeit einen kleinen Imbiss im Hinterzimmer. Nachdem er sein Panino gegessen hatte, rückte er seinen Denker-Hocker, den Ort seiner Pausen, an die Wand, lehnte sich zurück und schloss für ein paar Minuten die Augen. Das mag wenig erscheinen, aber ihm genügte diese kurze Zeitspanne, um den Geist zu leeren und die Batterien wieder aufzufüllen.

Mit Krümeln auf der Hemdbrust und weißem Staub auf dem Rücken kehrte er wenig später in die Bar zurück. Dario schnalzte tadelnd mit der Zunge, ganz so, als wäre er sein Vater, und entstaubte ihn mit ein paar kräftigen Schlägen auf die Schultern.

An jenem Tag fühlte Massimo sich merkwürdig schläfrig und träge. Die Ellbogen abgestützt, das Kinn in der Hand, verharrte er hinter dem Tresen und beobachtete durch die Auslage die sonnige Piazza. Und da bemerkte er sie. Sie saß neben dem Brunnen und trank mit großen Schlucken aus einer Thermoskanne. Dann stand sie auf, machte ein paar unentschlossene Schritte erst in die eine, dann in die andere Richtung, ehe sie schließlich wieder den Platz überquerte, zu dem Brunnen zurückging und sich an dessen Rand niederließ, ganz so wie ein erschöpfter Schwimmer, der endlich eine Boje erblickt, an der er sich einen Moment festhalten kann, um nach Luft zu schnappen.

Sie unterschied sich in nichts von den anderen Touristen, die tagtäglich die kleine Piazza in Trastevere und die ganze Stadt bevölkerten. Dennoch sah Massimo von seinem Platz aus nur sie, so als hätten sich all die bunten Rucksäcke, die Schirme, die grässlichen Baseballkappen in Luft aufgelöst, um die Bühne ganz dieser jungen Frau in ihrem roten Kleid zu überlassen.

Die Ellbogen noch immer auf der Theke abgestützt, starrte Massimo wie gebannt durch die Scheibe.

Nach einer Weile stand die junge Frau wieder auf. Der dünne Rock umspielte ihre Beine. Unschlüssig und fast ein wenig erschrocken sah sie sich um, als sie sich jetzt mit ihrer schon etwas abgewetzten ledernen Umhängetasche und einem Koffer in der Hand in Bewegung setzte und dabei wirkte wie jemand, der nicht wusste, wohin er sich wenden sollte. Massimo sah zu, wie sie Schritt für Schritt aus seinem Blickfeld verschwand. Er verspürte den unsinnigen Drang, hinauszulaufen und ihr zu folgen. Aber er tat nichts. Er verharrte reglos und starrte auf den leeren Fleck, den sie hinterlassen hatte. Es waren nur ein paar Sekunden, aber sie hatten genügt, um das Bild dieser hochgewachsenen, schlanken, in Rot gekleideten jungen Frau mit dem hellen, gewellten Haar und den Ponyfransen für immer auf seine Netzhaut zu brennen. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass er vorübergehende Passanten studierte und versuchte, sich ihr Leben auszumalen, aber diese Frau hatte etwas an sich, das anders war. Massimo war selbst überrascht von der Intensität des Eindrucks, den sie bei ihm hinterlassen hatte. Deshalb setzte sein Herzschlag verständlicherweise fast aus, als er sie plötzlich am Eingang seiner Bar stehen sah. Als hätte er sie mit der Kraft seiner Gedanken herbeigelockt.

Aus der Nähe war sie sogar noch schöner (kein unwichtiges Detail, denn es gibt viele Frauen, die aus der Ferne schön erscheinen, sich aus der Nähe aber dann als ziemlich hässlich erweisen).

Aber was heißt schon schön, dachte Massimo. Es gibt unterschiedliche Arten von Schönheit. Diese hier gehörte zu jenen Frauen, deren Schönheit sich erst auf den zweiten Blick offenbart. Sie war kein cooles, langbeiniges Fotomodell, auch keine kurvenreiche Orientalin oder aufreizende Mittelmeerschönheit. Sie war ein unentdeckter Schatz, der hinter einem Paar grüner Augen und einer Handvoll Sommersprossen gehoben werden wollte. Auch das leichte Sommerkleid, das fast kindlich an ihr wirkte und wenig dazu beitrug, ihre körperlichen Qualitäten zu betonen, sondern nur zart andeutete …

Massimo löste sich von der Theke, um den neuen Gast zu begrüßen. Die junge Frau hatte sich, nachdem sie ihren Koffer abgestellt hatte, an einen kleinen, etwas abseits stehenden Tisch gesetzt, um nicht zu sagen, sich dort versteckt.

»Sie wünschen?«, fragte Massimo und fragte sich sofort, warum er nicht etwas Netteres zur Begrüßung hatte sagen können. Etwas wie »Herzlich willkommen!« oder »Ist es nicht ein schöner Tag?«. Aber nein. Stattdessen war ihm nur diese dumme, förmliche Kellner-Standard-Frage herausgerutscht.

Eine leichte Röte zog sich über ihr Gesicht. Stumm und verlegen begann sie, mit der linken Hand an einer Haarsträhne zu spielen, die sich zwischen Ohr und Schläfe kringelte.

Wahrscheinlich eine Ausländerin, dachte Massimo und zwang sich, die wenigen Brocken Englisch hervorzukramen, zu denen er fähig war (bekanntlich ist der Italiener an sich ja ein Meister der Verständigung, sodass er auf fundierte Englischkenntnisse gut und gern verzichten kann).

»Ecco … ähem … Can I helpe you? You wante something to drink? Maybe a coffee?«

Schlagartig herrschte Stille in der Bar, und alle Augenpaare waren auf Massimo gerichtet.

»Désolée, ich nicht spreche gut Italienisch«, antwortete die junge Frau mit starkem französischem Akzent.

»Da bist du nicht die Einzige!«, brüllte Tonino, der Automechaniker, der heute offenbar nicht viel zu tun hatte und bereits die dritte Pause einlegte.

Schallendes Gelächter erscholl, während sich der Ausdruck in den Augen der Frau unmerklich veränderte. Man sah ihr an, dass sie mit großer Schüchternheit zu kämpfen hatte. Abermals überzog eine leichte Röte ihr sommersprossiges Gesicht.

»Vous avez la carte?«, fragte sie nun mit leiser Stimme auf Französisch.

»Karten?«, krähte Tonino, der offensichtlich ermutigt war von seinem anfänglichen Erfolg. »Um was zu spielen? Briscòl?«

Die junge Frau ignorierte seinen Zwischenruf, und ihre Schüchternheit schien nun einer gewissen Verstimmung Platz zu machen. Nur weiter so, dachte Massimo und wandte sich wütend zu Tonino und den anderen um. Wenn Blicke töten könnten!

»Verzeihung«, sagte er dann rasch, »meine verehrten Stammgäste schaffen es sogar, einen Engel wie Sie zur Weißglut zu bringen …«

Die Französin senkte den Blick und nahm einen erneuten Anlauf, sich verständlich zu machen. »Menu?«, fragte sie, und sie sagte es so zweifelnd, dass sogar Massimo Mühe hatte, das idiotische Grinsen zu unterdrücken, das sich gerade auf seinem Gesicht ausbreiten wollte.

»Eine Speisekarte haben wir nicht, leider«, beeilte er sich zu versichern. »Aber auf der Tafel hinter der Theke steht, was es bei uns gibt. Wir haben eine große Auswahl an Kaffees, und dann natürlich noch Panini, Tramezzini, Toast, Kartoffelchips. Was man in einer Bar eben so alles bekommt.«

Massimo hatte den Verdacht, dass die Fremde nicht ein Wort von dem verstand, was er sagte. Dennoch plapperte er weiter, um ihr die Scheu zu nehmen und das peinliche Schweigen mit Worten zu füllen, bevor Tonino einen weiteren seiner dummen Kommentare zum Besten gab.

Die Frau sah ihn mit unergründlicher Miene an, sie blickte ihm direkt in die Augen, und dieser Blick war unendlich lang und gleichzeitig viel zu kurz, fand Massimo, dann seufzte sie und hauchte schließlich ihre Bestellung: »Un thé noir de rose …«

Massimo wusste nichts damit anzufangen. »Schwarzer Tee mit Rosenblüten?«, übersetzte er. »Also, ich fürchte … ich fürchte, den haben wir nicht! Dario? Schwarzer Tee mit Rosenblüten?«

Dario breitete die Arme aus und verzog den Mund. Tonino konnte sich eine weitere Bemerkung nicht verkneifen und rief: »Schwarzer Tee mit Rosenblüten! Gar keine schlechte Idee! Ja, mach ein Altenheim aus deiner Bar und gib allen Tattergreisen im Viertel eine Runde Tee aus. Von denen haben wir hier schließlich mehr als genug!«

»Und wen meinst du damit?«, mischte Dario sich ein. »Schwarzer Tee mit Rosenblüten, dass ich nicht lache! Damit spülen die Alten in Trastevere nicht mal ihr Geschirr, hahaha!«

Waren die beiden erst einmal in Fahrt, schaukelten sie sich gegenseitig hoch, und ein Witz jagte den nächsten. Massimo gelang es beim besten Willen nicht mehr, sein Lachen zu unterdrücken, so sehr er sich auch bemühte. Es war einfach stärker als er, vielleicht auch wegen der Nervosität, die sich in jenen wenigen, unwirklich anmutenden Minuten in Gegenwart der sommersprossigen jungen Frau, die ihn nicht aus den Augen ließ, in ihm angestaut hatte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass es nichts Ansteckenderes gibt als ein herzhaftes Lachen.

Doch das änderte natürlich nichts an der Tatsache, dass die schöne Touristin wohl nicht ein Wort des gesamten Schlagabtausches verstanden hatte und sich vielleicht gerade deswegen umso stärker auf den Arm genommen fühlte. Hilfesuchend drehte sie den Kopf in Richtung Bar, ehe ihr Blick zu Massimo zurückkehrte.

Wie Julius Cäsar. Genau so schaute sie ihn an. In den folgenden Wochen sollte Massimo noch oft an diesen Blick denken und sich sagen, dass auf dem Gesicht des römischen Kaisers zweifellos derselbe Ausdruck gelegen haben musste, als er unter seinen Mördern auch den eigenen Stiefsohn erkannte. Doch die Enttäuschung wird ihm wahrscheinlich nur kurz durch den Kopf geschossen sein, denn danach hatte der Mann andere Probleme. Zum Beispiel jene dreiundzwanzig Messerstiche, die seinen Leib durchbohrten.

Die junge Frau hingegen hatte Massimo bereits mit einem einzigen Blick durchbohrt. Er war vernichtend und gab ihm das Gefühl, ein erbärmlicher Wurm zu sein.

Sie stand abrupt auf, und der Stuhl fiel krachend zu Boden. Mit einem Mal war es mäuschenstill in der Bar, und der Lärm des fallenden Stuhls dröhnte Massimo in den Ohren. Die junge Frau nahm ihren Koffer, trat vor ihn hin und starrte ihn aus vor Zorn sprühenden grünen Augen an. Dann griff sie mit beiden Händen nach der Zuckerdose und kippte deren Inhalt kurzerhand auf die Edelstahloberfläche der Theke. Ohne sich noch einmal umzudrehen, stürmte sie aus der Bar.

»Tja, je weiter nördlich man kommt, desto freundlicher sind die Leute, was?!«, lautete Darios ironischer Kommentar, während er ein paar Tassen von der Theke einsammelte.

Ende der Leseprobe