Der erste Tag vom Rest meines Lebens - Lorenzo Marone - E-Book
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Der erste Tag vom Rest meines Lebens E-Book

Lorenzo Marone

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Beschreibung

Cesare Annunziata hat sich immer arrangiert. Mit seinem Job als Buchhalter, seiner eher geduldeten als geliebten Ehefrau, der Distanz zu seinen Kindern. Mit dem Leben eben. Jetzt ist er 77 und hat plötzlich keine Lust mehr, seine Zeit zu verschwenden. Er beschließt, endlich mal etwas Sinnvolles zu tun, aktiv zu werden, wieder in Kontakt zu den Menschen zu treten. Er akzeptiert seinen schwulen Sohn, interessiert sich für die Ehekrise seiner Tochter, führt eine Frau zum Essen aus, deren Dienste er bisher nur gegen Geld in Anspruch nahm. Und er beginnt, sich in das Leben seiner jungen Nachbarin einzumischen. Er lernt vieles: Wie wichtig Liebe und Akzeptanz im Leben sind, wie schön die Welt auch mit Ende siebzig noch sein kann, wie wertvoll Freundschaft und Familie sind. Und dass man nie die anderen retten kann, sondern immer nur sich selbst.

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Für die zerbrechlichen Seelen,welche lieben, ohne sich selbst zu lieben.

Übersetzung aus dem Italienischenvon Esther Hansen

Die italienische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel»La tentazione di essere felici« bei Edizione Longanesi.

ISBN 978-3-492-97148-5August 2016© Lorenzo Marone, 2014Published & translated by arrangement with Meucci Agency – MilanDeutschsprachige Ausgabe:© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015 Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin, unter Verwendung der Fotos von Tim Pannell/Corbis, sorendls/iStockphoto und Stockbyte/Getty ImagesDatenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

VORWEG

Mein Sohn ist schwul.

Er weiß es. Ich weiß es. Obwohl, gesagt hat er es mir nie. Aber das macht nichts. Es gibt viele Menschen, die erst den Tod der Eltern abwarten, bevor sie sich entspannen und frei die eigene Sexualität auszuleben beginnen. Nur mit mir wird das nicht gehen: Ich habe nämlich die Absicht, noch lange zu leben, mindestens zehn Jahre. Wenn Dante sich also befreien will, wird er das ohne Rücksichtnahme auf mich tun müssen. Ich denke gar nicht daran, für seine sexuellen Vorlieben das Zeitliche zu segnen.

CESARE ANNUNZIATA

Nur das Ticken des Weckers leistet mir Gesellschaft. Um diese Zeit schlafen die Leute. Es heißt ja, der Schlaf der frühen Morgenstunden sei der beste, das Gehirn befindet sich in der REM-Phase, man träumt, der Atem geht wieder schneller und die Augäpfel bewegen sich hektisch hin und her. Nicht gerade ein vergnüglicher Anblick, den man da bietet, eher das Bild eines Besessenen.

Ich träume nie. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Vielleicht, weil ich wenig schlafe und früh aufwache. Oder weil ich zu viel trinke. Oder einfach, weil ich alt bin und alte Menschen irgendwann nicht mehr träumen. Das Gehirn hat ein Leben lang die sonderbarsten Phantasien produziert, da können ihm mit der Zeit schon mal die Ideen ausgehen. Die Kreativität erreicht im Leben eines jeden Menschen einen Höhepunkt, von dem aus es dann unaufhaltsam bergab geht, und am Ende deiner Tage kannst du dir nicht mal mehr eine Sexszene vorstellen. Dabei fängt man als Teenager genau da an, man phantasiert sich unglaublich leidenschaftliche Nächte mit dem jeweils angesagten TV-Sternchen zusammen, mit der Banknachbarin in der Schule oder, ausgerechnet, mit der Lehrerin, die aus irgendeinem Grund den Wunsch hegt, sich in die Arme eines Milchbarts mit Pickelbeilage zu werfen. Natürlich treibt die Vorstellungskraft auch früher schon ihre Blüten, bereits bei den Kleinsten, trotzdem glaube ich, dass das Onanieren im Jugendalter erhebliche Auswirkungen auf die kreative Entwicklung hat.

Ich war sehr kreativ.

Ich entschließe mich, die Augen zu öffnen. Von Schlaf kann unter diesen Umständen ohnehin keine Rede sein. Im Bett unternimmt das Gehirn die verrücktesten Reisen. Ich zum Beispiel denke an die Wohnung meiner Großeltern. Ich sehe sie noch genau vor mir, kann sie betreten, von Zimmer zu Zimmer gehen, die Gerüche aus der Küche einatmen, das Quietschen der Schranktür im Esszimmer hören oder das Vogelgezwitscher auf dem Balkon. Sogar die Möbel sehe ich vor mir, ich erinnere mich an jedes Detail, selbst an den Nippes. Und wenn ich die Augen schließe, sehe ich mich als Kind im Spiegel der Großmutter. Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich nicht mehr träume, doch ich meinte damit im Schlaf. Im Wachzustand kann ich das durchaus noch.

Ich schiele auf die Uhr und fluche in meine Bettdecke. Es wäre vielleicht fünf, hatte ich gedacht, doch es ist erst Viertel nach vier. Draußen ist es dunkel, weit entfernt hört man die Sirene eines Autoalarms, die Konturen verschwimmen in der feuchten Luft, und die Katzen haben sich unter die parkenden Wagen verkrochen.

Das Viertel schläft, nur ich liege wach und grüble.

Ich drehe mich auf die andere Seite und zwinge mich, die Augen wieder zu schließen. In Wahrheit kann ich im Bett keine Minute stillhalten, ich gebe die am Tag angestaute Energie ab, ähnlich wie das Meer im Sommer die Hitze des Tages sammelt und sie dann an die Nacht abtritt. Meine Großmutter hat immer gesagt, dass man ganz stillhalten muss, wenn der Körper nicht zur Ruhe kommen will; nach einer Weile kapiert er dann, dass Widerstand zwecklos ist, und beruhigt sich. Nur dass es für diese Vorgehensweise Selbstbeherrschung und Geduld braucht, zwei Dinge, die mir schon seit Längerem abhanden gekommen sind.

Ich merke, wie ich auf ein Buch neben mir auf dem Nachttisch starre. Obwohl ich sein Cover nicht zum ersten Mal sehe, fallen mir Sachen auf, die mir bisher entgangen sind. Irgendetwas irritiert mich, bis mir klar wird, was es ist: Ich kann aus nächster Nähe lesen. Das kann keiner in meinem Alter, nirgendwo. Die Technik hat im letzten Jahrhundert ungeheure Fortschritte gemacht, doch die Altersweitsichtigkeit bleibt eins der großen Geheimnisse der Wissenschaft. Ich fasse mir ins Gesicht und erkenne den Grund für die plötzliche Wunderheilung: Ich habe mir bereits die Brille aufgesetzt, eine ganz automatische Bewegung.

Jetzt ist der Moment gekommen aufzustehen. Ich gehe ins Bad. Vielleicht spricht man nicht über so was, aber ich bin alt und tue, was ich will. Also: Ich pinkle im Sitzen, wie eine Frau. Und das nicht etwa, weil meine Beine mich nicht mehr tragen, sondern weil ich sonst mit meiner Spritze die Kacheln gegenüber wässern würde. Was soll ich tun, das Ding da unten führt eben ab einem gewissen Alter ein Eigenleben. Genau wie ich (und fast alle alten Leute) hört es auf niemanden, der ihm erklären will, wie der Hase läuft, sondern folgt seinem eigenen Schädel.

Wer sich über das Alter beklagt, ist bekloppt. Oder nein, blind trifft es meiner Meinung nach besser. Einer, der nicht über seine eigene Nasenspitze hinausgucken kann. Denn es gibt ja nur eine Alternative, und die scheint mir wenig erstrebenswert. Es ist doch ein riesiger Glücksfall, es überhaupt so weit geschafft zu haben. Das Beste aber ist: Wir Alten können machen, was wir wollen. Wir dürfen alles. Wenn ein Tattergreis beim Stehlen im Supermarkt erwischt wird, erntet er nachsichtige, mitleidvolle Blicke. Ein junger Mann in der gleichen Situation wird wie ein gemeiner Dieb behandelt.

Ich heiße Cesare Annunziata, bin siebenundsiebzig Jahre alt und habe zweiundsiebzig Jahre und einhundertelf Tage meines Lebens verplempert. Aber jetzt endlich habe ich es begriffen: Ich werde von meinen mühsam erworbenen Einsichten profitieren und endlich damit anfangen, das Leben in vollen Zügen zu genießen.

NUR EINS UNTERSCHEIDET UNS

Heute Morgen hat meine Tochter Sveva angerufen, meine Älteste.

»Papà?«

»Hallo.«

»Sag mal, kannst du mir einen Gefallen tun?«

Ich hätte nicht ans Telefon gehen sollen. Wozu nutzt einem seine Lebenserfahrung, wenn man dann doch wieder und wieder dieselben Dummheiten macht? Ich habe offenbar nichts aus der Vergangenheit gelernt und handle unverbesserlich spontan.

»Könntest du Federico von der Schule abholen? Ich habe eine Verhandlung und schaffe es nicht rechtzeitig.«

»Kann Diego das nicht machen?«

»Nein, er hat keine Zeit.«

»Verstehe …«

»Du weißt, dass ich dich nicht fragen würde, wenn ich eine andere Möglichkeit hätte.«

Ich habe meine Kinder gut erzogen, so viel steht fest. Aber ich gehöre nicht zu den Großvätern, die ihre Enkel abholen. Den Anblick dieser armen Alten vor der Schule, die den Verkehr aufhalten, finde ich grauenhaft. Ja, ich weiß, sie machen sich nützlich, anstatt in ihren Ohrensesseln zu vermodern, aber ich kann nicht anders, ein »sich nützlich machender Großvater« ist für mich wie ein Kleinbildfilm, eine Telefonzelle oder eine VHS-Kassette – Dinge aus vergangenen Zeiten, die keinen Zweck mehr erfüllen.

»Und wo soll ich ihn hinbringen?«

»Zu dir, oder ihr kommt zu mir in die Kanzlei. Ja, mach das doch bitte, bring ihn hierher.«

Nun stehe ich also vor der Schule und warte auf mein Enkelkind. Ich klappe meinen Kragen hoch und versenke die Hände in den Manteltaschen. Ich bin zu früh, eine der Angewohnheiten, die ich mir mit fortschreitendem Alter zugelegt habe. Wie zum Beispiel die Tage durchzuplanen. Himmel, nicht dass es da viel zu planen gäbe, aber das Wenige mag ich schön eins nach dem andern.

Svevas Anruf hat meine Pläne durcheinandergeworfen. Eigentlich wollte ich zum Friseur gehen, heute Abend habe ich ein Rendezvous mit Rossana. Sie ist eine Prostituierte. Ja, ich gehe zu den Huren, na und? Ich habe eben noch Lust in mir, die befriedigt werden will, und niemanden an meiner Seite, dem ich Erklärungen schulde. Aber ich habe übertrieben, ich reiße mir nicht täglich eine auf der Straße auf, auch weil das mit öffentlichen Verkehrsmitteln eher schwierig ist; mein Führerschein ist abgelaufen, und ich habe ihn nicht erneuern lassen. Rossana ist eine alte Freundin, die ich vor Zeiten kennengelernt habe, als sie noch zu Patienten nach Hause ging und ihnen Spritzen setzte. So stand sie irgendwann auch in meinem Wohnzimmer. Sie kam jeden Morgen in aller Frühe, piekste mir in den Hintern und ging wieder, ohne ein Wort zu sagen. Dann blieb sie immer öfter auf einen Kaffee, schließlich schaffte ich es, sie unter meine Bettdecke zu locken. Wenn ich so daran zurückdenke, war es nicht besonders schwer. Dass die Pseudokrankenschwester nicht meinem hübschen Lächeln erlegen war, begriff ich erst nach einer Weile, als sie mit ernster Miene verkündete: »Du bist zwar nett und siehst gut aus, aber ich habe ja auch einen Sohn zu unterstützen!«

Direkte Menschen fand ich schon immer gut, und seitdem sind wir befreundet. Sie ist mittlerweile knapp sechzig, aber sie hat immer noch riesige Titten und einen schönen, wohlgeformten Po. Mehr braucht es in meinem Alter nicht. Man verliebt sich hauptsächlich in die kleinen Makel, sie machen alles glaubwürdiger.

Jetzt kommt Federico. Wenn die Leute hier wüssten, dass der alte Herr, der da mit seinem Enkel weggeht, noch vor einer Minute an die Titten einer Hure gedacht hat, wäre die Empörung groß, und die Eltern der Kleinen wären schnell verständigt. Das verstehe, wer will, warum ein alter Mensch keine Lust mehr aufs Vögeln haben darf.

Wir nehmen ein Taxi. Es ist erst das dritte Mal, dass ich meinen Enkel von der Schule abhole, aber Federico hat seiner Mutter schon signalisiert, dass er es gut findet, von mir nach Hause gebracht zu werden. Er sagt, der andere Opa wolle immer zu Fuß gehen, und dann komme er nass geschwitzt zu Hause an. Mit mir hingegen fährt man Taxi. Das wäre ja noch schöner! Ich bekomme eine ansehnliche Rente, muss keine Hochzeitstage feiern, und meine beiden Kinder sind erwachsen. Ich kann mein Geld für alle Taxis und Rossanas dieser Welt ausgeben. Aber der Fahrer ist diesmal ein Rüpel. So was kommt leider vor. Er flucht, hupt grundlos, gibt Gas und bremst ruckartig, schimpft auf Passanten, fährt über Rot. Wie gesagt, das Schöne am dritten Lebensalter ist, dass du machen kannst, was du willst. Es wird kein viertes geben, um irgendetwas zu bereuen. Also beschließe ich, dem Mann einen Denkzettel zu verpassen. Ich will mir den Tag nicht vermiesen lassen.

»Sie sollten langsamer fahren!«, rufe ich.

Er reagiert nicht.

»Haben Sie gehört?«

Schweigen.

»Okay, fahren Sie rechts ran und zeigen Sie mir Ihren Führerschein.«

Der Taxifahrer dreht sich um und sieht mich verblüfft an.

»Ich bin pensionierter Carabinieri-Feldwebel. Sie fahren zu schnell und gefährden Leib und Leben Ihrer Mitfahrer.«

»Bitte, Maresciallo, Sie müssen entschuldigen, aber heute ist einfach nicht mein Tag. Private Sorgen. Bitte, ich fahre jetzt langsamer.«

Federico schaut mich an und will den Mund aufmachen. Ich drücke seinen Arm und zwinkere ihm zu.

»Was für Sorgen?«, frage ich.

Mein Gegenüber neigt kurz den Kopf und lässt dann seiner überschäumenden Phantasie freien Lauf: »Meine Tochter sollte bald heiraten, aber nun hat der Ehemann seinen Job verloren.«

»Verstehe.«

Als Ausrede in Ordnung, kein Problem. Nichts von einer Krankheit oder dem Tod eines Angehörigen, so ist es glaubwürdiger. Als wir Svevas Kanzlei erreichen, will der Mann kein Geld nehmen. Wieder eine Fahrt spendiert von einem neapolitanischen Rüpel. Federico sieht mich lachend an, ich antworte mit einem erneuten Augenzwinkern. Er kennt solche Szenen schon von mir, letztes Mal habe ich mich als Zollfahnder ausgegeben. Ich mache das aus Spaß, nicht um das Geld zu sparen. Und ich habe rein gar nichts gegen Taxifahrer im Allgemeinen.

Sveva ist noch nicht da. Wir machen es uns in ihrem Büro bequem, Federico auf dem Sofa, ich hinter ihrem Schreibtisch, auf dem ein Foto von ihr mit Mann und Sohn prangt. Ich mag Diego nicht besonders, dabei ist er ein netter Kerl, keine Frage, aber zu nett kann halt auch langweilen, da kann man nichts machen. Und ich glaube, Sveva hat inzwischen auch die Nase voll; immer mürrisch, immer in Eile und nur mit der Arbeit beschäftigt. Das komplette Gegenteil von mir heute, aber vielleicht gar nicht so unähnlich zu mir früher. Ich glaube, sie ist unglücklich, aber mit mir spricht sie nicht darüber. Vielleicht hat sie das mit ihrer Mutter getan. Ich bin wohl nicht der Richtige, um anderen Menschen zuzuhören.

Es heißt, um ein guter Partner zu sein, muss man nicht wer weiß welche Ratschläge geben, es reicht, aufmerksam und verständnisvoll zu sein, mehr wollen die Frauen gar nicht. Ich kann das nicht. Nach kurzer Zeit ereifere ich mich, sage, was ich denke, und rege mich schrecklich auf, wenn mein Gegenüber nicht auf mich hört und nach eigenem Gutdünken handelt. Das war auch mit meiner Frau Caterina ein ewiger Streitpunkt. Sie wollte sich einfach nur Luft machen, während ich nach zwei Minuten schon an einer Lösung feilte, die ich ihr anbieten konnte. Zum Glück ist mir das Alter zu Hilfe gekommen: Ich habe begriffen, dass es für meine Gesundheit besser ist, Familienprobleme zu ignorieren. Lösen darfst du sie ohnehin nicht.

Der Raum hat eine schöne, breite Fensterfront zur Straße, die nur so von Passanten wimmelt, und stünde gegenüber ein Wolkenkratzer und kein heruntergekommenes Gebäude aus Tuff, könnte ich fast glauben, in New York zu sein. Nur dass es in der amerikanischen Metropole keine Quartieri Spagnoli gibt, mit ihren den Hügel überziehenden Gassen, keine dem Verfall überlassenen Häuser, zwischen denen über vollgehängte Wäscheleinen Geheimnisse ausgetauscht werden, keine mit Schlaglöchern übersäten Straßen und mitleiderregende Bürgersteige, kreuz und quer zugeparkt mit Autos, die sich zwischen Poller und Kirchentür quetschen. In den Seitenstraßen New Yorks verbirgt sich keine im eigenen Schattenreich verlorene Welt, und man sieht nicht in lauter säuerliche Gesichter.

Während ich so über die Unterschiede zwischen Big Apple und Neapel nachdenke, sehe ich Sveva aus einem schwarzen SUV steigen und auf den Hauseingang zuhalten. Vor dem Tor bleibt sie stehen, holt die Schlüssel aus der Handtasche, dann geht sie zurück und steigt noch einmal in den Wagen. Von hier oben kann ich nur ihre von dunklen Seidenstrumpfhosen bedeckten Beine sehen. Sie beugt sich zum Fahrer, vielleicht um sich zu verabschieden, und der legt ihr eine Hand auf den Schenkel. Ich rolle mit dem Stuhl näher ans Fenster und stoße mit dem Kopf an die Scheibe. Federico lässt seine Spielfigur sinken und starrt mich an. Ich lächle ihm zu und wende mich wieder der Szene dort draußen zu. Sveva steigt aus und betritt das Gebäude. Das Auto fährt weg.

Ich starre in den Raum hinein, ohne etwas zu sehen. Vielleicht war alles nur Einbildung und der Mann vielleicht Diego. Welcher aber bei genauerer Betrachtung keinen Geländewagen besitzt. Vielleicht war es ein Kollege, der sie mitgenommen hat. Aber legt ein Kollege dann seine Hand auf ihren Schenkel?

»Hallo, Pà.«

»Hallo.«

»Da ist ja mein Süßer!«, kreischt sie, packt Federico unter den Armen und bedeckt ihn mit Küssen.

Bei dieser Szene sehe ich sofort ihre Mutter vor mir. Sie war genauso mit ihren Kindern. Überströmend vor Liebe, überpräsent, überfürsorglich, übergriffig. Vielleicht ist Dante deswegen schwul. Wer weiß, ob seine Schwester es weiß.

»Ist Dante schwul?«, frage ich.

Sveva dreht sich überrascht um, mit Federico auf dem Arm. Dann setzt sie ihn aufs Sofa und sagt mit frostiger Stimme: »Woher soll ich das wissen. Warum fragst du ihn nicht selbst?«

Er ist schwul. Und sie weiß es.

»Wie kommst du überhaupt darauf?«

»Nur so. Wie war die Verhandlung?«

Sie geht weiter in die Defensive.

»Warum?«

»Darf ich das nicht fragen?«

»Du hast dich noch nie für meine Arbeit interessiert. Hast du nicht immer gesagt, Jura hätte mein Leben versaut?«

»Ja, das habe ich gesagt, und das glaube ich immer noch. Hast du dich mal angeschaut?«

»Ach, Pà, das ist heute echt nicht der Tag für deine sinnlosen Reden. Ich muss arbeiten!«

Meine Tochter hat in ihrem Leben schon viele falsche Entscheidungen getroffen: Studium, Beruf und zuletzt Ehemann. Wenn man all diese Irrtümer mit sich herumschleppt, kann man nicht einfach lächeln und so tun, als ob nichts wäre. Dabei bin ich bestimmt selbst niemand, der immer alles richtig gemacht hat. Ich habe eine Menge Dummheiten begangen, beispielsweise Caterina zu heiraten und mit ihr zwei Kinder zu zeugen. Nicht wegen Dante und Sveva, Gott bewahre, sondern weil man keine Kinder auf die Welt setzen sollte mit einer Frau, die man nicht liebt.

»Wie läuft’s mit Diego?«, frage ich.

»Alles gut«, erwidert sie beiläufig, während sie eine Akte aus der Tasche nimmt und auf den Schreibtisch legt. Auf dem Titel steht: Sarnataro gegen Eigentümer Via Roma.

Ich begreife nicht, wie man aus freien Stücken seine Arbeitszeit mit fruchtlosen Zankereien verbringen kann, als gäbe es im Leben nicht sowieso schon genug zu streiten, ohne dass man sich noch die Fehden der anderen aufbürdet. Aber Sveva mag das. Zumindest redet sie es sich ein, wie ihre Mutter. Caterina konnte allem etwas Positives abgewinnen, während ich mich nie damit abfinden konnte, noch der miesesten Situation ein Quäntchen Schönes abzutrotzen.

»Was soll die ganze Fragerei?«

»Nur so, wir reden so selten …«

Doch sie ist schon im Flur, ihre Absätze hallen geschäftig durch die Büros, während sie kurz mit einer Mitarbeiterin einen Fall durchspricht. Sie reden über eine strittige Versicherungssache. Schon wieder, wie langweilig!

Ich betrachte meinen Enkel, der mit einer Art Drachen spielt, und lächle. Letztlich sind wir zwei uns ganz ähnlich, wir tragen beide keine Verantwortung und sind mit nichts Wichtigerem beschäftigt, als zu spielen. Federico spielt mit Drachen, ich mit Rossana und allerhand anderen Bagatellen. Nur eins unterscheidet uns: Er hat das Leben noch vor sich und tausend Pläne, ich habe nur noch wenige Jahre und viele schmerzliche Erinnerungen.

DIE KATZENDAME

Als ich aus dem Aufzug trete, treffe ich auf Eleonora mit einer mir unbekannten Katze auf dem Arm. Ihre Wohnungstür steht offen, und der Gestank aus ihrem Appartement hat bereits den ganzen Hausflur verpestet. Ich weiß nicht, warum sie das nicht merkt und wie sie ihr Leben in diesem ekelerregenden Mief verbringen kann. Eleonora ist eine dieser alten Damen, die mit ihren Papptellerchen auf der Straße zwischen den parkenden Autos kauern und ihre Wohnung zum Hospiz für notleidende Katzen machen. Ehrlich gesagt kamen mir die wenigen Tiere, die ich bisher gesehen habe, immer kerngesund vor, aber da sie behauptet, sie müsste sie wegen Krankheiten und Verletzungen mit nach Hause nehmen, mische ich mich lieber nicht ein. Jedenfalls versuchen die Kreaturen immer mal wieder, in die Freiheit zu entkommen und vor der egoistischen Liebe ihrer Gefängniswärterin zu fliehen.

Manchmal rieche ich schon beim Betreten der Eingangshalle unten, dass ein paar Etagen höher Eleonoras Wohnungstür offen steht. Natürlich musste von allen infrage kommenden Stockwerken sich ausgerechnet meines diese dusselige und liebesbedürftige alte Witwe aufhalsen.

Mein Gesicht ist noch von Ekel erfüllt, während sie mich herzlich begrüßt.

»Hallo, Eleonora«, sage ich und krame in der Manteltasche nach meinem Schlüsselbund.

Ich versuche, nicht zu atmen, und mein Leben hängt davon ab, wie schnell ich den Wohnungsschlüssel hervorziehe und in meiner Wohnung verschwinde. In meinem Alter kann ich nur wenige Sekunden die Luft anhalten. Doch dann geschieht das, was ich gerade verhindern wollte: Eleonora spricht mich an, und ich muss notgedrungen Luft holen, um ihr zu antworten.

»Das ist Gigio«, sagt sie lächelnd und zeigt mir das Kätzchen, das sich genauso unwohl zu fühlen scheint wie ich.

Ich runzle die Stirn, um meine Nasenflügel vor den ungesunden Ausdünstungen zu schützen, und antworte: »Ein neuer Gast?«

»Ja«, antwortet sie prompt, »der letzte Neuzugang. Der Arme, er wurde von einem Hund angefallen, der ihn fast totgebissen hätte! Ich habe ihn vor dem sicheren Tod gerettet.«

Ich sehe mir die Katze an, die friedlich ins Leere starrt, und frage mich, ob sie schon einen Fluchtplan schmiedet. Im selben Moment kommt ein Pärchen um die fünfzig, sie mit gefärbten Haaren und aufgespritzten Lippen, er kahl und mit dicken Brillengläsern, die ihm von der Nase rutschen, aus Eleonoras Wohnung und grüßt mich, bevor sie meiner Nachbarin die Hand geben und sie herzlich schütteln. Die ihrerseits weder die Abschiedsworte noch den Händedruck ordentlich erwidert.

Man sieht, wie die zwei sich tapfer um ein freundliches Lächeln bemühen, dabei sind sie entsetzt von dem, was sie gerade gesehen haben. Mit einem letzten ängstlichen Blick auf den Flur und auf mich schlüpfen sie in den Aufzug. Vielleicht fragen sie sich, wie ich eine Freundschaft mit dieser Katzendame und vor allem ihre Nachbarschaft aushalte. Am überraschtesten von uns bin aber ich; in all den Jahren habe ich noch nie jemanden aus Eleonora Vitaglianos Wohnung kommen sehen, außer vor Ewigkeiten ihren Ehemann. Schon gar nicht junge Menschen, oder zumindest jüngere. Und definitiv niemanden, der nicht als Schutzmaßnahme gegen den Gestank die Miene verzieht. Darin machte allerdings auch das Pärchen keinen Unterschied.

»Wer war das?«, frage ich neugierig, als sie weg sind.

Soweit ich weiß, hat Eleonora niemanden, der sich um sie kümmert. Ganz sicher keine Kinder, ihr Mann ist schon lange tot, und Verwandte habe ich nie gesehen.

»Was?«

Eleonora Vitagliano ist mehr oder weniger in meinem Alter und stocktaub, sodass ich bei unseren seltenen Unterhaltungen die Sätze immer mehrmals sagen und die Lautstärke stetig steigern muss.

»Ich wollte wissen, wer die zwei da waren«, wiederhole ich.

»Ach die«, sagt sie und lässt die Katze runter, die durch die Wohnungstür trottet und im Flur verschwindet, »das sind Herrschaften, die sich die Wohnung angeschaut haben.«

»Warum, willst du verkaufen?«

Eleonora sieht mich unschlüssig an. Sie hat zerzauste Haare, einen weißen Damenbart, und ihre stark geäderten, wächsernen Hände sind vom Rheuma wie Krallen gekrümmt.

»Willst du wegziehen?«, frage ich notgedrungen noch einmal lauter.

»Nein, nein, wo soll ich denn hin? Hier bin ich zu Hause, hier will ich sterben. Wie sollte ich da wegziehen.«

Auf meinen neugierigen Blick hin fährt sie fort: »Es ist wegen meiner Nichte, der Tochter meines Bruders, kennst du sie?«

Ich schüttle den Kopf.

»Sie ist die einzige Verwandte, die ich noch habe. Sie drängt mich nun dazu, zu verkaufen, sie sagt, sie sei in Geldnot und irgendwann gehe die Wohnung ohnehin auf sie über und ich könnte ja auch wohnen bleiben, weil die Wohnung eigentlich erst nach meinem Tod verkauft würde. Ich kenne mich mit so was nicht aus, ich habe einfach Ja gesagt, was soll ich mich mit meiner Familie streiten, aber unterschreiben werde ich ganz bestimmt nichts, und wenn jemand die Wohnung besichtigen kommt, mache ich immer extra viel Unordnung.«

Das glaube ich ihr aufs Wort. Eleonora ist zwar sehr alt und hat die eine oder andere Schraube locker, aber sie weiß sich durchaus Respekt zu verschaffen.

»Deine Nichte möchte nur den Eigentümer wechseln«, erkläre ich, damit sie versteht, worum es geht, »die neuen Besitzer würden die Wohnung jetzt kaufen, dürfen aber erst nach deinem Tod hier einziehen.«

»Ja, ja, klar, das habe ich auch so verstanden. Aber wie soll ich denn damit umgehen, wenn ich weiß, dass mir dort draußen jemand auf den Fersen sitzt, ganz abgesehen von meiner Nichte.«

Ich lächle belustigt, auch wenn das Verhalten dieser unsichtbaren Nichte nicht gerade lustig ist. Wenn sie hier wäre, würde ich ihr den Marsch blasen.

»Und dann lässt du lieber die Leute hier durch deine Wohnung marschieren, statt deiner Nichte die Wahrheit zu sagen?«, frage ich, was ich eine Sekunde später bereue. Nicht wegen der tendenziell aufdringlichen Frage, sondern weil ich dadurch die Unterhaltung unheilvoll verlängere und damit folglich auch die Zeitspanne, die ihre Tür offen steht. Es wird Tage dauern, das Treppenhaus komplett durchzulüften. Zum Glück habe ich meine Tür noch nicht aufgeschlossen.

»Ach, Cesare, was soll ich sagen, du hast ja recht, aber ich will sie nicht vor den Kopf stoßen. Ich lebe schon lange allein und benötige nicht groß Hilfe, aber man weiß ja nie, was noch passiert. Vielleicht brauche ich sie in Zukunft hin und wieder. Du lebst ja auch allein, du verstehst das doch …«, antwortet sie und sieht mich weiter an.

»Klar«, sage ich nur, auch wenn irgendetwas in mir sich zu einem kraftvolleren Satz hinreißen lassen möchte, um mich solidarisch zu zeigen.

»Man muss im Leben auch Kompromisse machen«, fährt Eleonora fort, die nun ganz in ihrem Element ist, »und das Alter, mein lieber Cesare, ist ein einziger Kompromiss.«

»Klar«, gebe ich zurück, als würde ich kein anderes Wort kennen.

Siebzig Jahre lang war ich der Meister des Kompromisses, meine liebe Katzendame, dann verlor ich alles, und plötzlich fühlte ich mich paradoxerweise frei. In Wahrheit hatte ich nichts mehr zu geben, und das war mein Glück. Das sollte ich eigentlich antworten, doch dann würde das Gespräch uns wer weiß wohin führen, und der mir zur Verfügung stehende Sauerstoff neigt sich dem Ende zu. Also verabschiede ich mich von Eleonora und stecke den Schlüssel im gleichen Moment ins Schlüsselloch, als auch noch die dritte Tür auf unserem Stockwerk aufgeht. Dort wohnt seit einigen Monaten ein Paar, sie wahrscheinlich um die dreißig, er etwas älter. Beide jedenfalls jung und kinderlos, was sie in eine völlige Außenseiterposition bringt, sowohl in dieser Hausgemeinschaft, die hauptsächlich aus Senioren und Familien besteht, als auch überall sonst. Ich wette, dass die Armen sich ständig rechtfertigen müssen, keinen Hosenscheißer zu Hause zu haben, eine Frage, die ihrem Blick nach zu urteilen auch die Katzendame nur zu gern stellen würde.

»Guten Tag«, sagt die junge Frau und runzelt die Augenbrauen, um sich vor dem Gestank zu schützen.

Ich muss grinsen, und die Frau bedenkt mich mit einem genervten Blick.

»Guten Tag!«, sage ich daher schnell, doch sie hat sich schon abgewandt.

»Guten Tag«, ruft nun auch Eleonora und setzt sofort hinzu: »Signora, nur ganz kurz: Wenn Sie eine schwarze Katze gesehen haben, dann ist das meine. Sie wissen ja, bei Ihren Vormietern ist sie immer über den Sims durch das Fenster hereingekommen, ich hoffe nicht, dass sie das bei Ihnen auch macht.«

»Nein, nichts gesehen, keine Sorge«, sagt die junge Frau und betritt den Fahrstuhl.

»Komische Leute«, meint Eleonora.

»Wieso?«

»Na ja, sie wohnen schon eine ganze Weile hier, meinst du, die hätten einmal gelächelt? Immer nur ›Guten Tag, Guten Abend‹, nie bleiben sie auf ein paar Worte stehen.«

»Die sind halt noch jung, die haben ihre eigenen Freunde. Wichtig ist doch, dass sie nicht stören. Was mich angeht, brauchen sie auch nicht zu grüßen oder sich vorzustellen«, antworte ich und widme mich wieder meinem Türschloss.

»Wie er heißt, weiß ich nicht, aber sie heißt Emma.«

»Emma«, wiederhole ich und drehe mich überrascht um.

»Ja, Emma, warum?«

»Nein, nur so. Hübscher Name.«

»Wie?«

»Ich sagte, hübscher Name, Emma.«

»Ach so, ja, ganz nett.«

»Also gut, Eleonora, ich geh dann mal.« Ich schließe die Tür auf. »Wenn du etwas brauchst, weißt du ja, wo ich bin.«

»Cesare?«

»Ja?«

»Darf ich dich anrufen, wenn wieder jemand die Wohnung besichtigen will? Der Immobilienmakler ruft alle zwei Minuten an und erteilt mir unerbetene Ratschläge.«

Da willst du einmal freundlich sein, schon steckst du bis zum Hals in Sachen, die dich nichts angehen.

»Und was will er?«

»Was er will? Neulich abends hat er mir ziemlich direkt gesagt, dass ich die Wohnung mal aufräumen soll, sonst würden mögliche Käufer wieder Abstand nehmen. Ich konnte ihm ja schlecht sagen, dass es mir genau darum geht.« Sie lächelt.

»Und warum war er heute nicht da?«

»Er war schon weg, aber du wirst sehen, der steht in ein paar Tagen wieder auf der Matte. Wenn du dabei wärst, würde er sich anders geben … Mit einem Mann an der Seite ist es immer anders. Dann würde er sich nicht erlauben, so etwas über den Zustand meiner Wohnung zu sagen. Und wenn er das noch einmal tut, sehe ich mich gezwungen, ihn rauszuwerfen, und dann bekommt meine Nichte etwas zu hören!«

»Also gut, ruf mich an.«

»Danke.«

Ich schließe die Tür hinter mir und sauge prüfend die Luft im Flur ein, um sicherzugehen, dass der Muff nicht in meine Wohnung gezogen ist. Dann erst lege ich den Mantel ab und gehe unter Kopfschütteln in die Küche. Die Sache ist die; ich bin wirklich alt geworden, wenn ich es zulasse, dass ein Name mir den Tag ruiniert.

Obwohl Emma natürlich nicht irgendein Name ist.

ZWEI ZIRKUSCLOWNS

Rossana hätte ein anderes Leben verdient. Ich meine, sie sollte glücklicher sein, stattdessen scheint sie immer unglücklicher zu werden. Vielleicht weil sie sich täglich darum kümmert, ihren Kunden Freude zu bereiten, da bleibt für sie nicht viel übrig. Menschen, die andere glücklich machen, verdienen Dankbarkeit und Respekt. Auch eine Nutte, auch Rossana. Wenn es sie nicht gäbe, wäre ich ein schlechterer Mensch, nervöser, vielleicht ein bisschen einsamer, unzufriedener ganz bestimmt.

In einer normalen Partnerschaft bringt sich jeder ein, jeder bietet dem Partner sein Möglichstes an, ob es nun viel ist oder wenig. Nur Rossana bekommt nie etwas, außer Geld. Aber für Geld kann man sich weder Fürsorge noch Aufmerksamkeit kaufen.

»Hör mal, wie wäre es, wenn wir abends einmal zusammen essen gehen?«

Ich treffe Rossana seit zwei Jahren, und außerhalb des Bettes sind wir bisher nur bis in die Küche gekommen, um ein paar Worte zu wechseln. Ich weiß mehr über ihre Cellulitis als darüber, was sie gerne isst, ich könnte ihre Muttermale zu einem Malen-nach-Zahlen-Bild zusammenfügen und habe keine Ahnung, ob sie eine Schwester hat. Von ihrem Sohn hat sie mir erzählt, einmal, als ich mit einem Fünf-Euro-Prosecco bei ihr ankam, den ich irgendwo unterwegs gekauft hatte. Sie redete, und ich trank, sie trank und ich starrte an die Decke. Ich war noch nie gut im Reden.

»Essen gehen?«

»Ja, in ein Restaurant.«

»Was ist los, Dottor Annunziata, willst du was von mir?«

Alle misstrauen mir, das ist die bittere Wahrheit, selbst meine Kinder, sogar eine Prostituierte. Dabei finde ich gar nicht, dass ich so hinterhältig rüberkomme. Es mag ja stimmen, was Caterina immer gesagt hat, dass ich ein bisschen zu sehr auf mich konzentriert bin, aber das heißt doch nicht, dass ich meine Mitmenschen ausnutzen möchte.

»Warum, darf ich dich nicht ohne Hintergedanken zum Essen einladen?«

»Hm, ich kenn doch meine Leute, mich legst du so schnell nicht rein!«

Dann halt nicht. In den letzten Jahren habe ich so erfolgreich an einem Negativbild meiner selbst gearbeitet, dass ich offenbar nicht mehr zurückkann. Sterbe als Zyniker und Miesepeter.

»Wir könnten irgendwo in ein Lokal gehen, Fisch essen und Wein trinken und ein wenig über uns reden. Schließlich kennen wir uns schon lange, und ich weiß fast nichts über dich.«

Rossana steht mit dem Rücken zu mir, ich liege noch mit einem Glas Wein im Bett und betrachte den Hintern meiner Megäre. Sie zögert, die Unterhose in der Hand, der Vorschlag muss so schockierend sein, dass sie selbst die wenigen Handgriffe wie das Anziehen eines Slips nicht mehr schafft.

»Also, was hältst du davon? Gefällt dir mein kleiner Plan?«

Als Antwort lässt sie sich auf die Bettkante sinken und schaut zu Boden. Ich sehe weiterhin ihren Rücken, dummerweise aber nicht mehr ihren Hintern. Ich hatte recht. Man muss vorsichtig sein mit dem, was man sagt, es ist wie im Kreuzworträtsel: ein falsches Wort und alles gerät durcheinander.

»Gut, wenn du keine Lust hast, das macht nichts. Ich bin dir deshalb nicht böse.«

Rossana dreht sich nicht um, und im Zimmer breitet sich eine Stille aus, die dem tausendfachen Grummeln meines Dickdarms die Bühne überlässt. Ich täusche einen heftigen Hustenanfall vor, um die Geräusche zu übertönen, obwohl ich am liebsten einen fahren ließe, der sofort alles zurechtrücken würde. Ich stelle das leere Glas auf den Nachttisch und setze mich auf. Ich habe das deutliche Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben, weiß aber nicht, was. Tatsache ist, dass ich jegliche Geschmeidigkeit gegenüber Frauen verloren habe. Caterina ist vor fünf Jahren gestorben, bei meiner letzten Geliebten war meine Schambehaarung noch schwarz, und Rossana, tja, sie zu erobern, hat mich keine besondere Mühe gekostet. Das ist das Blöde daran, wenn man zu lange mit einer Hure zu tun hat: Man vergisst jegliches Schöntun, das Vorspiel, die guten Manieren und kleinen Aufmerksamkeiten, die dazugehören, um eine »normale« Frau ins Bett zu bekommen.

Ich zünde mir eine Zigarette an und sehe aus den Augenwinkeln, wie ihr eine Träne über die Wange läuft, die sie mit einer fast zornigen Geste verwischt. Menschenskinder, die letzte Frau, die ich habe weinen sehen, war eine Kollegin von mir, wie hieß sie noch, als sie mir gestand, dass sie etwas Ernsthaftes mit mir wollte. Ich habe ihr die Tränen getrocknet und bin geflohen. Nein, in Wahrheit war sie nicht die letzte, Caterina war die letzte. Nur dass sie nicht um mich geweint hat, sondern wegen ihres kranken Körpers. Und auch damals konnte ich nur aufgesetzt und hilflos reagieren. Nachts schrecke ich manchmal aus dem Schlaf hoch und habe das Gefühl, dass sie noch neben mir liegt. Und ich flüstere der kalten Wand zu, was ich ihr hätte sagen sollen: »Du bist nicht allein, ich bin da.«

Ich sagte, ich hätte sie nicht geliebt, aber es vergeht kein Tag, an dem ich nicht um Vergebung bitte für das, was ich ihr angetan habe.

»Entschuldige«, flüstert Rossana.

Ich beuge mich zu ihr und lege ihr eine Hand auf die Schulter. Ihre Haut ist kalt und mit kleinen Pickeln übersät, dabei war sie mir vor wenigen Minuten noch samtig und duftend vorgekommen wie die Haut einer Jungfrau. In solchen Momenten sehe ich alles, was ich will.