Der Ether-Song - Samara Summer - E-Book

Der Ether-Song E-Book

Samara Summer

4,9

Beschreibung

Koffein- und nikotinhaltig. Mystery (59%), Thriller (21%), surreale Fantasy (10%), Selbstfindungstripp (10%). Enthält Spuren von Punkrock und abgedrehtem Kram. Die punkige Straßenmusikerin Lauren hat die Schnauze voll von London. Um zu sich selbst zu finden, kappt sie alle Kontakte und nimmt einen Job in einem abgelegenen walisischen Schloss an. Zuerst wundert sie sich nur über die exzentrische Schlossherrin Mrs Devinport. Dann ergreifen surreale Träume auf beängstigende Weise Besitz von Laurens Denken und wirken sich sogar auf ihren Körper aus. Nahezu als handle es sich um eine zweite Realität, in der sie einer düsteren Bestimmung folgen muss. Während Lauren ihrem Tagebuch, dem Tage-Dude, Bericht erstattet, leisten Exfreund Adam und Schwester Abi - eher dilettantische - Detektivarbeit.

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Inhaltsverzeichnis

I. HIGH & LOW

II. ABIGAIL

III. GWYLFAN

IV. INNENLEBEN

V. FREIHEIT

VI. WEIT WEG

VII. WORT-GEFECHTE

VIII. ARBEIT

IX. NACHTS

X. DIE NUMMER

XI. BLODWEN

XII. DIE SCHäFERIN

XIII. RHYS

XIV. TIEFER

XV. BUGEILES

XVI. TIDENSTONE

XVI. DER DEAL

XVII. AELFRIC

XVIII. OFFENSIVE

XIX. BLESSUREN

XX. SAND

XXI. EINSICHT

XXII. DIE AUFGABE

XXIII. DIE LISTE

XXIV. STATUS QUO

XXV. ENTTäUSCHUNG

XXVI. REGEN

XXVII. GLASLEFEL

XVIII. KONFRONTATION

XXIX. SUCHE

XXX. DER HANDEL

XXXI. DIE SPUR

XXXII. DAS SCHIFF

XXXIII. DAS LETZTE KAPITEL

XXXIV. EPILOG

I. HIGH & LOW

Mittwoch 15. Juni, London

Lauren Peterson rannte. Ihre Augen schreckgeweitet. Die Kapuze wurde ihr vom Kopf gerissen. Der tosende Sturm zerrte an den leuchtend roten Strähnen ihres Haares.

Glitzernder Staub wirbelte herum und brannte in ihren Augen. Sie rannte die breite Straße entlang. London Camden Town. Bunte Hausfassaden. Sie verblichen. Der Asphalt unter ihr veränderte sich. Gelbe Pflastersteine. Gelbe Pflastersteine? Das Dröhnen des Windes manifestierte sich in ihrer Magengrube. Formte ein pochendes Geschwür. Netzartige Bündel aus trockenen Zweigen. Wurden ihr entgegengeschleudert. Wie Bälle. Lauren nahm schützend die Hände hoch. Wilder Westen. Merkwürdig. Ihre eigene Stimme verzerrt. Wie ein Vogellaut. Sie sah sich um. Lief dabei weiter. Vor ihr ein offener Haus-Schlund. Dunkel, sicher. Gott, verdammt. Diese gute Dunkelheit! „Ich muss sie erreichen. Sie kühlt mich“, dachte Lauren.

Doch da begannen die Pflastersteine zu glühen. Der Erdboden warf sich auf. Direkt vor den Spitzen ihrer Chucks. Lauren kam gerade noch stolpernd zum Stehen. Sie taumelte. Kämpfte um ihr Gleichgewicht. Wäre beinahe gefallen. In den gähnenden Krater, der sich vor ihr auftat. Der Boden warf Falten wie ein Teppich. Oder wie zähe Lava.

Lauren warf sich auf den Rücken. Stille. Auf einmal herrschte völlige Stille. Dann hörte sie ein leises Knacken. Alles war hell. Und so still. Sie sah sich um. Gelbe Pflastersteine. Doch dann spürte sie es. Knack. Unter ihren Fingern bildeten sich Risse. Ein lautes, klirrendes Geräusch. Der Erdboden, die ganze Welt, barst wie Glas. Und Lauren stürzte ins Bodenlose.

Sie schlug hart rücklings auf dem Waldboden auf. Keuchte, hustete. Ihr Rücken schmerzte. Aber dickes, feuchtes Moos hatte den Sturz abgefedert. Farn wuchs zwischen alten, hohen Baumstämmen. Die Luft schmeckte nach Wassertropfen. Sie war fasziniert. Folgte mit den Augen den Stämme gen Himmel.

Baumwurzeln statt Baumkronen. Die Bäume streckten ihre Wurzeln statt Ästen in den Himmel. Das war schön. Diese Welt war so weich und schön. Lauren rappelte sich auf. Sie spürte keine Schmerzen mehr. Ihre Schritte fühlten sich auf dem Moosteppich ganz weich, ganz leicht an. Sie hüpfte, federte. Flugphase. Schweben.

Am Waldrand stand ein Haus. Ein sehr einfaches Haus. Kalksteinmauern. Schönes Moos wuchs auf dem Dach. Die Tür stand offen. In einem Schaukelstuhl eine Frau. Alt. Mit weißem Haar. Nein. Weißes Haar. Aber jung und schön. Alt in Erfahrung höchstens. Sehr erfahren. Sehr klug. Sehr weise. Nicht viel in ihrem Haus. In der Ecke aber ein Stück sehr tiefes Dunkel. Ein schwarzes Loch, dessen Ränder blau leuchteten. Ein Tier. War das ein dunkles Tier? Ein Lebewesen? Nein, es war ein Loch. In der Wand. Leuchtend dunkel. Und lebendig. Irgendwie. Ein Gesichtsloser trat ins Bild und versperrte Lauren die Sicht.

„Nein. Hey!“, wollte Lauren sagen. Aber sie konnte nicht sprechen. Ihre Lippen waren zu schwer. Der Mann trug einen dunkelroten Umhang. Schwere Stiefel. Polternde Schritte. Er griff die Frau. All das Schöne. All der Frieden. Dahin. Er hatte sie beim Hals gepackt. Zog sie hoch wie eine Puppe. Ihre Füße baumelten über dem Boden. Sie würgte, keuchte. Seine zweite Hand mit der ledernen Stulpe zog etwas unter dem Umhang hervor.

„Nein“, dachte Lauren. Im selben Moment wusste sie, dass der Gegenstand in seiner Hand ein Dolch war. Und dass das Schicksal unumgänglich war. Sie spürte seinen Griff um ihren eigenen Hals. Sie keuchte. Der Verhüllte schnitt mit dem Dolch ihre Kehle durch. Die Kehle der weißhaarigen Frau. Laurens Kehle. Die Kehle. Das Blut sprühte. Eine Fontäne aus Blut. Oder aus Dunkel. Lauren hustete. Würgte. Kämpfte. Blut in ihrem Rachen. Ersticken sicher. Tod. Dunkel. Kampf. Husten.

Sie spuckte. Sie spuckte; das Gesicht dicht über dem Boden. Was war das, was sich da vor ihren müden Augen unscharf abzeichnete? – Eine Lache. Erbrochenes. Es verteilte sich wässrig über den Dielenboden, kroch in die Bodenritzen. Ohne dass Lauren es schaffte oder auch nur auf die Idee kam etwas dagegen zu unternehmen. Denn es war alles egal. Immer deutlicher drang in ihr Bewusstsein was soeben geschehen war. Das Geschehnis blähte sich zu seiner vollen, bedrohlichen Größe auf. Lauren keucht. Kalte Schweißperlen rannen über ihre Haut. Ihre Finger tasteten nach der Kehle, die sie kaum fühlen konnte. Sie hustete immer noch und konnte nicht aufhören. Und in ihrem Schädel war dieses Surren und Zischen. Ein Pochen, das ihren Kopf erschütterte sobald sie sich nur ein Quäntchen bewegte.

Sie konnte den Raum lediglich schemenhaft wahrnehmen. Die Luft wurde von Schlieren durchzogen. Schlieren, die sich durch die Luft bewegten wie Tintenfäden in einem Wasserglas. Dunkelblau und leuchtend. Glänzend.

Nachdem Lauren mehrmals mühevoll geschluckt hatte, ließ der Hustenreiz endlich nach. Mühevoll zog sie sich zurück auf die Couch, von der sie heruntergehangen war und blieb rücklings auf den Polstern liegen. Nun, da ihr eigenes Keuchen verstummt war, konnte sie das Surren und Zischen deutlicher hören. Und auf einmal meinte sie darin Stimmen zu erkennen. Ein helles, kristallen flüsterndes Durcheinander. Ein Chor aus Worten, von denen sie nicht eines verstehen konnte. Die Schlieren in der Luft waren wurmartige Schattenwesen, die ihre Kreise über Lauren zogen und in einer fremdartigen Sprache debattierten. Laurens Geist war noch nicht wieder zurück aus der Schattenwelt. Ihr Körper wie gelähmt. Sie konnte nichts als liegen, beobachten, lauschen.

Erst als helle Sonnenstreifen durch die halbgeschlossenen Jalousien fielen, lösten sich die Schattenwesen in Luft auf und ihre Stimmen verstummten. Das Pochen in Laurens Schädel blieb allerdings. Es war ihr eigener Herzschlag der ihren gebeutelten Kopf in regelmäßigen Abständen erschütterte. Ihre Kehle war staubtrocken, ihre Glieder schwach. Und als ihr Verstand vollkommen zurückgekehrt war, setzten zuerst Reue und dann Scham ein.

Nun, da alles Mystische gewichen war, hinterließen die banalen, erbärmlichen Fakten einen bitteren Nachgeschmack:

Das Wohnzimmer stank erbärmlich nach Kotze. Laurens Kotze. Am Abend zuvor hatte sie mit Adam erst getrunken, dann etwas eingeworfen. Etwas von dem harten Zeug, das er schon monatelang unter Verschluss hielt und von dem er gesagt hatte, wenn sie es überhaupt probieren wolle, dann nur unter seiner Aufsicht. Wenn er auf sie aufpassen konnte. Diesen Vorsatz hatte er anscheinend – betrunken – in den Wind geschossen. Sie hatten das Zeug einfach ohne Verstand beide geschluckt. Ohne dass einer von ihnen im entferntesten dazu imstande gewesen wäre auf den anderen aufzupassen.

Lauren musste dann irgendwann auf der Couch eingeschlafen sein. Im Schlaf hatte sie sich erbrochen und wäre dann beinahe daran erstickt. Wenn sie nicht im letzten Moment zu sich gekommen wäre und alles auf den Boden gespuckt hätte.

Adams Schnarchen war aus Richtung des Schlafzimmers zu vernehmen. Lauren griff nach einem Sofakissen und drückte es in ihr Gesicht.

„Was für eine Scheiße, Lauren. Warum bist du so beschissen blöde?“, murmelte sie.

Dann rappelte sie sich hoch. Ihr dünner, hochgewachsener Körper war nur bekleidet mit einem ausgeleierten, schwarzen Schlüpfer und einem Nirvana-Shirt, von dem sie einen Ärmel abgeschnitten hatte um es punkiger und sexier aussehen zu lassen. Lauren war ein ausgesprochen britischer Typ; von der hübschen Sorte: Extrem bleiche Haut, schmale blasse Lippen. Ihr Haar war von Natur aus glatt und kupferblond. Einmal hatte sie probiert es grün zu färben, aber gemischt mit dem natürlichen Rotstich hatte sich ein seltsam Farbton ergeben. Weil sie sich aber mit der blassen Originalfarbe ihres Haares auch nicht abfinden wollte, färbte sie es seither konsequenterweise knallrot. Dazu trug sie einen fransigen abgeschrägten Pony. Ihre Augen, die an diesem Morgen sehr wässrig aussahen, waren grün und ihre kleine, sommersprossige Nase wirkte massiver durch ein Septumpiercing.

Aus dem Shirt lugte auf der freien Schulter eines ihrer Tattoos hervor: Ein Pin-Up-Spinnen-Girl in einem feingliedrigen Netz. Ihr erstes Tattoo waren allerdings die Blumenranken am Unterarm gewesen. Hinzugekommen war noch ein „So What“-Schriftzug unterhalb ihres gepiercten Bauchnabels.

Das war Lauren. Lauren Peterson, die inzwischen 26 war, sich aber in diesem Moment fühlte wie ein dummes Kind. Ein dummes, unvernünftiges Kind, das nur zu oft gewarnt worden war. Das aber beim Spielen auf der Straßen trotzdem nicht aufgepasst hatte.

Die Gedanken in ihrem Kopf jagten sich: Diese Erscheinungen, die blauen Schlieren. Seltsam! Und sie hatte das Gefühl, dass sie auch einiges geträumt hatte. Aber was so genau? Sie erinnerte sich nur bruchstückhaft und eigentlich wollte sie sich nicht erinnern. Die offene Wohnküche war ein sprichwörtlicher Schweinestall, den sie keines Blickes würdigte. Ihr Interesse galt einzig und allein dem Wasserhahn und dem kühlen, frischen Nass. Sie hängte sich unter den Hahn, trank und wusch sich das Gesicht. Dann fühlte sie sich imstande Kaffee zu kochen. Ihr war nicht danach Adam zu wecken. Stattdessen machte sie sich daran Beweise verschwinden zu lassen:

Sie befeuchtete eine große Menge Klopapierstreifen während der Kaffee durchlief und wischte damit notdürftig den Kotzefleck vom Boden. Am Ende trocknete sie nach. Ebenfalls mit Klopapier. Danach nahm sie mit ihrer Kaffeetasse an dem runden, zerschlissenen Esstisch Platz, in den so viele Leute über die Jahre ihre Namen und Botschaften eingeritzt hatten. Sie zog die letzte Kippe aus einer offenen Schachtel, zündete sie an und trank schwarzen Kaffee. Danach saß sie einfach nur. Für wie lange genau? - Lange. Als sie Adams nackte Füße über den Dielenboden platschen hörte, war es Lauren als sei sie um Jahrhunderte gealtert.

„Gibt‘s Kaffee?“, war seine erste, so unverschämt banale Frage.

„Ist kalt“, murmelte Lauren und sah ihn nicht an.

„Egal… Ist Kaffee“, nuschelte Adam, prüfte die leere Zigarettenschachtel und fluchte leise.

Er war nur mit Boxershorts bekleidet und präsentierte seinen dünnen Oberkörper, der ganz und gar von asiatischen Tattoos bedeckt war. Unter seinen leuchtend blauen Augen mit den langen Wimpern lagen dunkle Schatten. Sein Gesicht mit den feinen Zügen wirkte völlig übermüdet. Den stechenden Geruch im Wohnzimmer schien er gar nicht wahrzunehmen. Er strich über die dunklen 1-mm-Stoppeln, die auf seinem Kopf wuchsen und gähnte laut.

„Ich wäre fast gestorben“, sagte Lauren. Adam hielt in einer Streckbewegung inne, nicht sicher ob er richtig verstanden hatte. „Was?!“

„Ich wäre fast verreckt!“, rief Lauren laut und vorwurfsvoll. Sie sprang von ihrem Stuhl auf. „Krepiert, erstickt an meiner eigenen Kotze!“ Tränen schossen aus ihren blutunterlaufenen Augen.

„Hey L., ganz ruhig, ganz ruhig“, beschwichtigte Adam und schlang die Arme um sie.

„Ruhig?“, rief Lauren und machte sich von ihm los. „Gooott! Verstehst du nicht wie erbärmlich das ist? Wie erbärmlich wir sind? Was hätte wohl auf meinem Grabstein gestanden? - Blöd wie sie war, ging sie in den Tod. Rest in Puke?“ Adam verschränkte die Arme.

„Es tut mir unglaublich Leid, L. Das war meine Schuld. Ich habe versprochen, wenn wir das Zeug jemals anrühren, pass ich auf dich auf.“

„Nein, Adam. Das ist nicht der Punkt“, widersprach Lauren. „Es hätte gar nicht so weit kommen dürfen. Du musst nicht auf mich aufpassen. Ich muss aufhören Scheiße zu bauen. Ich muss erwachsen werden und einfach mal… Ach, was weiß ich…“ Adam kratzte sich am Kinn, wo er ein kleines Grübchen hatte, über dem die selben Stoppeln wuchsen wie auch auf seinem Kopf und sah kleinlaut zu Boden.

„Ich weiß nicht was ich sagen soll“, sagte er. „Du hast einfach Recht.“ Lauren warf ihm einen überraschten Blick zu. Doch dann sagte er nur: „Weißt du, früher habe ich nie zu irgendetwas *nein* gesagt. Weil nichts mehr zählte als alles auszuprobieren. Aber jetzt mit dir, gibt es etwas, das ich schützen möchte. Und ich hätte die Finger von dem harten Scheiß lassen sollen. Das werde ich in Zukunft. Ich möchte dich zu nichts anstiften.“ Lauren seufzte. Nein, er hatte nichts kapiert. Er sah nur diesen einen Aspekt. Dieses eine Missgeschick, das ihr die Augen für das große Ganze geöffnet hatte. Sie musste deutlicher werden.

„Ich sagte, *Wir sind erbärmlich* - Und ich meinte es so“, sagte Lauren leise.

„Woah, woah, L.. Jetzt mal ganz langsam“, erwiderte Adam. „Was passiert ist, ist scheiße. Das hätte nicht passieren dürfen. Und ich verstehe, dass du wütend bist. Und geschockt. Und durcheinander. Das darfst du auch sein. Am besten du schlägst mich!“ Er bat ihr die Wange an „Aber bitte sag sowas nicht. Du kannst nicht alles verallgemeinern.“

„Du kapierst es nicht“, murmelte Lauren und hob die blanken Handflächen in die Luft „Es ist eben mal alles allgemein scheiße hier. Bruchbude – scheiße. Duschen ohne Warmwasser – scheiße. Dann… was weiß ich. Sofa mit Brandlöchern – akzeptabel bis scheiße. Jeden Tag die gleichen Songs spielen – scheiße. Immer die gleichen ignoranten Arschlöcher, die zuhören – scheiße. Jeden Tag auf die scheiß Pennys hoffen, die sie uns in den Hut schmeißen, damit sie sich wie scheiß Gutmenschen fühlen können – scheiße. Tiefkühlpizza – scheiße, Gras – scheiße, Whiskey – scheiße. Diese verfickte Nahtoderfahrung – beschissene Scheiße! Sie hat mir gezeigt, dass unser Leben ein Fail ist! Kapierst du das oder muss ich noch deutlicher werden?“

„Nein. Ich glaube, das war genug *scheiße*“, sagte Adam ruhig „Alles in dir ist gerade negativ. Das verstehe ich. Du kannst mich gerne für ein paar Stunden hassen. Oder auch für ein paar Tage, weil ich das zugelassen habe. Aber bitte zieh nicht alles in den Dreck was wir haben. Denn was wir haben ist eigentlich gut.“

„Was daran ist gut?“, fragte Lauren und konnte nicht verhindern, dass erneut Tränen aus ihren Augen schossen. „Wir können nie Urlaub machen, einfach wegfliegen. Palmen, Strand und Meer. Ich hab seit Jahren nichts mehr gesehen außer Londoner Asphalt.“

„Okay“, erwiderte Adam. „Ich verstehe.“

„Was verstehst du?“, fragte Lauren weinend.

„Du bist ausgelaugt und angepisst. Du brauchst dringend eine Pause“, mutmaßte er „Und ich werde dir eine beschaffen. Es ist vielleicht kein Ausgleich für das, was du gerade durchgemacht hast, aber naja… Ich suche mir einen Job in einer Fabrik. Drei Monate Fließband als kleine Sühne. Und von dem Geld verreisen wir. Wir machen‘s uns irgendwo gemütlich und reden über das Leben.“

„Oh Adam, du bist süß“, schluchzte Lauren und schlug die Hände vor die Augen.

„Das… klingt schon viel besser“, flüsterte Adam und umarmte sie. „Das ist es ja…“, sagte Lauren. „Das reicht einfach nicht.“

„Wie?“, fragte Adam.

„Dieses Erlebnis…“, begann Lauren „… du hast Recht, es hat mich beeinflusst. Ich weiß nicht wie ich es erklären soll… Es war der Horror. Aber kein Horrortrip. Es war was Größeres. Vielleicht eine Art Vision.“

„Eine Vision?“, fragte Adam.

„Was da passiert ist, war strange, Adam. Wirklich Strange. Ich habe Dinge erlebt, die irgendetwas in mir ausgelöst haben, das ich nicht verstehe. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass sie irgendetwas bedeuten. Und irgendetwas… in mir verändert haben.“

„Das kann gut sein“, murmelte Adam und seufzte „Ich wollte das Zeug eigentlich letzte Woche im Klo runterspülen. Weil ich genau sowas befürchtet habe. Das Zeug ist glaube ich nicht das Richtige für dich.“

„Achja, jetzt bin ich zu sensibel oder was?“, fuhr Lauren ihn an. Adam schloss die Augen:

„Ja. Vielleicht. Aber das ist nichts Negatives. Dieses Zeug kann viel in einem auslösen und du warst in letzter Zeit ja etwas…“

„Was?“, rief Lauren gereizt und verschränkte die Arme. Adam zog die Brauen hoch:

„Etwas gereizt, Lauren. Willst du über den Trip sprechen?“, fragte Adam.

„Nein, ich weiß nicht, wie ich‘s erklären soll. Ich muss es erst selbst durchdringen“, sagte Lauren „Das ist… ich glaube, es ist eine sehr persönliche Erfahrung.“

„Du bist nicht so erfahren in diesen Dingen, L.“, meinte Adam „Und es tut mir wirklich Leid, dass du diese Erfahrung so machen musstest. Das war falsch und das könnte den stärksten Typen umhauen.“

„Ja“, sagte Lauren und verstellte ihre Stimme „Ich bin ja aber nur ein kleines, unerfahrenes Mädchen und deine tollen, versifften Kumpels wissen es alle viel besser.“

„Meine versifften Kumpels?“, fragte Adam.

„Ja“, antwortete Lauren „Eben manche von den Typen, mit denen du abhängst. So wie dein Bruder und die Band mit der er letzten Monat hier war. Loser und Junkies.“

„Okay Lauren“, sagte Adam nachdenklich „Du willst mich gerade verletzen, alles infrage stellen und mich auf jede erdenkliche Art kritisieren. Brodelt das schon länger in dir? Ich habe gemerkt, dass du angespannt warst und nicht bei der Sache. Lauren, bist du unglücklich?“ Sie seufzte.

„Ich weiß es nicht“, sagte sie dann leise „Ich weiß es wirklich nicht. Wenn ja, dann hab ich‘s wohl noch nicht richtig kapiert.“

Adams Blick fiel auf Laurens Handy. Ein altmodisches Tasten-Modell, das sie mit Nagellack grün angemalt hatte.

„Hast du gestern vielleicht mit Abigail gesprochen?“, wollte er wissen. „Abi?“, fragte Lauren „Gooott, Adam. Ziehst du sie jetzt mit rein? Was? Denkst du, sie hat mich gegen dich aufgehetzt oder was?“ „Nicht wirklich“, erwiderte Adam „Aber alles, was dich beschäftigt bevor du was einwirfst, kann den Trip beeinflussen. Und du klingst heute Morgen wirklich nach Abigail.“

„So schlimm?“, fragte Lauren. Ihre Tränen waren inzwischen getrocknet. Von einem Moment auf den anderen legte sich der Sturm, der in ihr getobt hatte und sie fühlte sich ganz ruhig. Weil sie eine Entscheidung getroffen hatte. Ohne es Adam wissen zu lassen. „Vielleicht klinge ich ja wie Abi“, meinte sie nun „Ihr Geburtstag war vor fünf Tagen.“

„Ja richtig, ich erinnere mich“, sagte Adam sofort, obwohl Lauren sicher war, dass er log.

„Ich hab sie aber nicht angerufen“, fuhr Lauren fort „Seit wir den Streit hatten, haben wir nicht gesprochen.“

„Vermisst du sie?“, fragte Adam. Lauren zuckte die Schultern:

„Klar, manchmal. Aber ist ja nicht das erste Mal. Das ist nur eine Schlacht. Den Krieg gibt‘s schon immer.“

„Möchtest du ihr Blumen senden?“, fragte Adam „Als Geste? Wir haben noch Geld in der Sparkasse. Vielleicht tut es dir gut Frieden zu schließen.“ Lauren nickte:

„Ja, das ist bestimmt gut für mich. Und weißt du was? Ich habe einen Bärenhunger und im Kühlschrank herrscht gähnende Leere. Würde es dir was ausmachen einzukaufen?“

„Nein, ich zieh‘ mir was an und gehe sofort“, erwiderte Adam und verschwand im Schlafzimmer, um die Klamotten aufzuklauben, die er am Vortag in eine Ecke des Zimmers geschleudert hatte. Lauren spürte, dass er froh war eine Aufgabe erhalten zu haben. Sie kannte ihn gut. Er spielte so gern den Beschützter. Und er war so verständnisvoll. Sein Verstand war messerscharf. Trotzdem saßen sie hier fest. Es war ihr bisher nicht so vorgekommen. Doch jetzt fühlte sie sich wie eine Gefangene. Gezwungen von einem Tag in den nächsten zu leben. Denn sie hatte ja für ihn alles weggeschmissen. Und in diesem Moment hasste sie ihn dafür. So sehr wie sie ihn auch eigentlich liebte.

II. ABIGAIL

Mittwoch, 15. Juni, London

Seit Adam sie erwähnt hatte, verspürte Lauren das dringende Bedürfnis ihre Schwester anzurufen und nachdem er die Wohnung verlassen hatte, wählte sie umgehend ihre Nummer. Ihre recht tiefe und etwas harte Stimme meldete sich mit:

„Peterson Immobilien, Sie sprechen mit Abigail Wittley, Marketing.“ „Hey Abi, ich bin‘s“, sagte Lauren verstohlen „Kannst du… äh… Kannst du mich kurz zurückrufen…?“

„Mein Guthaben ist gleich leer“, sprachen beide Schwestern im Chor, weil Abigail diesen Satz nur allzu gut kannte.

„Ja gleich, ich muss nur noch eine E-Mail versenden. Wir hören uns in zwei Minuten“, sagte Abigail und legte auf. Sie war diejenige Schwester, die es vorgezogen hatte mit dem Strom zu schwimmen und sich die Vorteile des elterlichen Konzerns zu Nutze zu machen. Abigail war zielstrebig und ehrgeizig, hatte ausgezeichnete Schulnoten gehabt und sich immer für Sport begeistert. Ihr Studium des „Kommunikations-Designs“ hatte sie mit einem exzellenten Bachelorabschluss beendet. „Nur“ Bachelor weil bereits die Position der Marketing-Chefin des Peterson-Konzerns gewunken hatte. Im Unternehmen dirigierte sie zwei Mitarbeiterinnen. Zuhause ihren Ehemann George Wittley.

Ihn hatte sie beim Surfen auf Hawaii kennengelernt und dann geheiratet nachdem er mit einem 67er-Mustang um ihre Hand angehalten hatte. Lauren hielt George für ein verwöhntes Söhnchen ohne Mumm. Doch er schien geradezu verrückt nach Abigail zu sein und sah ziemlich gut aus. Braungebrannter Surf-Boy mit schulterlangem, blonden Haar. Kein typischer Brite. Er hätte Australier sein können. Oder so etwas. Abi selbst hatte schon immer die Ausstrahlung der großen Schwester besessen, obwohl sie zwei Jahre jünger war als Lauren. Ihr Gesichtsausdruck war zumeist ernst. Sie war kleiner als Lauren und nicht so dünn. Eher drahtig, muskulöser und kurviger. Ihre Schultern waren breiter als Laurens, ihre Brüste zwei Körbchengrößen draller. Ihre Lippen voller. Ihr Haar trug sie im Gegensatz zu Lauren natürlich blond mit Rotstich, seitlich gescheitelt und oft zu einem Knoten zusammengefasst. Erfolg war für sie immer das übergeordnete Ziel gewesen, das für Lauren die Rebellion gewesen war. Die größte Gemeinsamkeit zwischen den beiden waren ihre katzenhaften Augen und ihre Sturheit.

Wenige Minuten später klingelte Laurens Handy. Abigails Nummer erschien auf dem Display, denn wie üblich, hielt sie ihr Versprechen.

„Hi Laurie, wie geht es dir?“, fragte sie und Lauren konnte am Klang ihrer Stimme hören, dass sie nicht ganz bei der Sache war und wahrscheinlich nebenbei eine E-Mail oder ein arbeitsrelevantes Magazin las.

„Du bist nicht mehr sauer“, stellte Lauren fest.

„Nein, weißt du die Bürotüre steht offen. Ich kann deine Worte also nicht wiederholen. Aber ich wurde schon als Schlimmeres bezeichnet“, erklärte Abigail.

„Abi, ich…“, begann Lauren, wurde aber von ihrer Schwester unterbrochen:

„Schon gut. Ich hab den Streit satt und ich habe keinen Bock auf Versöhnung und den ganzen Mist.“

„Okay“, sagte Lauren und räusperte sich:

„Ehrlich gesagt, rufe ich an, weil ich mit irgendjemandem… nein, eigentlich mit dir reden muss… Weil du vielleicht die Einzige bist, die mich versteht. Ich hatte ein krasses Erlebnis und mir ging es echt dreckig, aber jetzt habe ich eine Entscheidung getroffen und…“

„Äh, warte…“, sagte Abigail und Lauren konnte hören, wie eine Türe geschlossen wurde. „Okay, jetzt – Was ist los, Laurie? Was ist passiert? Ich komme nicht ganz mit“, meinte Abigail.

„Ich hatte eine Nah… eine Vision… Ach, zu kompliziert“, stammelte Lauren „Alles was zählt ist, dass ich was verstanden habe: Ich muss mein Leben ändern. Du hattest Recht.“

„Laurie. Jetzt mal ganz langsam“, erwiderte Abigail „Vielleicht war ich etwas zu penetrant bei unserem letzten Gespräch. Ich habe das doch nur so gesagt, weil du mich provoziert hast. Und weil du ja sowieso nicht auf mich hörst. Ich hatte kein Recht mich so einzumischen.“

„Warum nicht?“, fragte Lauren „Du bist ja wohl die Schwester, die alles richtig gemacht hat.“ Sie hörte ein Seufzen am anderen Ende der Leitung.

„Oh Mann, Laurie. So fühlt es sich überhaupt nicht an. Ich hab eigentlich eher das Gefühl, dass du Recht hattest. Ich trete nur mein Rädchen in der Sklavenmühle. Ich ertrinke in Arbeit. Und willst du noch was wissen? - Ich fühle mich völlig untervögelt. Vergiss George in letzter Zeit“, erklärte Abigail und ihre Stimme war kaum mehr als ein eindringliches Wispern. „Fühlt sich nicht an, als könnte ich jemandem gute Ratschläge geben“, fuhr Abigail fort „Vielleicht haben wir ja beide den Mittelweg verpasst. Aber was zur Hölle ist mit dir auf einmal los? Was ist passiert?“

„Ich kann es nicht wirklich erklären“, sagte Lauren „Ich glaube, ich habe auf einmal erkannt, dass ich unglücklich bin. Oder zumindest ein Teil von mir. Adam ist so zuckersüß. Aber ich glaube, er meint es einfach zu ernst mit dem Minimalismus. *Wir brauchen nichts außer uns selbst, um glücklich zu sein* Ich glaube, ich kann das doch nicht. Nicht auf Dauer. Aber ich möchte auch nicht, dass er sich jemals ändert.“

„Das klingt…“, setzte Abigail an.

„…ekelhaft?“, fragte Lauren.

„Nein, gar nicht“, erwiderte Abigail. „Es klingt traurig. Auch wenn ich es natürlich verstehen kann.“

„Traurig…“, murmelte Lauren.

„Ja“, bestätigte Abigail „Für mich warst du immer so eine Art Fee in einer Traumwelt, Laurie. Mit einem dunklen, aber supersexy Prinzen“, erklärte Abigail.

„Ernsthaft? So hast du das aber nie gesagt“, stellte Lauren fest.

„Natürlich nicht“, antwortete Abigail „Ich mache mir ja auch gleichzeitig Sorgen um dich. Vor allem darum wie das mit der Straßenmusik auf Dauer funktionieren soll. Aber in manchen Momenten beneide ich dich. Dein Leben kommt mir einfach so vor wie ein Traum. Im Guten wie im Schlechten.“

„Es ist wohl Zeit aus dem Traum aufzuwachen“, sagte Lauren, dann fügte sie nachdenklich hinzu „Ich weiß auch gar nicht, warum ich dich anrufe. Versteh‘ das nicht falsch. Ich bitte dich nicht um Hilfe. Und halt Mum und Dad da raus. Und George, den faulen Arsch.“ Abigail lachte.

„Na klar, Laurie. Ehrenwort. Ich schweige. Aber es ist gut, dass du mich angerufen hast. Wir haben sehr lange nicht mehr geredet. Ich meine wahrhaftig geredet. Und vielleicht hilft es ja.“ Lauren seufzte: „Ich habe das Gefühl, das Einzige, was wirklich helfen würde, wäre eine Höhle.“

„Eine Höhle?“, fragte Abigail verwundert.

„Ja, so wie diese Felshöhlen. Weißt du, die Einsiedler-Mönche ziehen sich dorthin zurück, um zu sich und zu ihrem Schöpfer zu finden. Ich hab das in einer Doku gesehen: Die sind einfach ganz weit weg, wo man alles hinter sich lässt, keine Ablenkung. Einfach die Gedanken ordnen. Abgeschiedenheit, Einsamkeit.“

„Abgeschiedenheit“, wiederholte Abigail nachdenklich. „Lustig, dass du das sagst. So etwas habe ich erst gelesen. Gerade in der London Times. Laurie, das ist wirklich ein komischer Zufall.“ Lauren hörte Papier rascheln.

„Ich habe ja schon gesagt, dass ich gerade auch nicht sehr glücklich bin. Da habe ich es gewagt ein bisschen in den Jobangeboten zu blättern und da war was echt Skurriles: *Zuverlässige, tüchtige Hausdame für einen sehr abgelegenes Schloss in schöner Naturlage gesucht. Entlohnung: Quartier, Verpflegung und eine erfüllende Tätigkeit. Voraussetzungen: Alleinstehend, in Vollbesitz der körperlichen Kräfte. Die Stellung wird auf ein Jahr vergeben. Mrs Devinport* Ich dachte einen Moment darüber nach alles hinzuschmeißen und mich selbst zu bewerben. Aber nein. So mutig bin ich nicht. Aber du vielleicht?“

„Naja, da stand ja nichts vom Vollbesitz der „geistigen Gesundheit““, erwiderte Lauren. Abigail lachte.

„Willst du die Nummer?“, fragte sie „Nein, wahrscheinlich nicht, was? Das ist zu freaky. Allein schon das Wort *Hausdame*. Und dann keine Bezahlung, aber eine sinnvolle Tätigkeit. Ist ja Lohn genug, was? Achso und außerdem muss man alleinstehend sein.“

„Bin ich“, sagte Lauren.

„Was?“, fragte Abigail. Sie hörte Lauren seufzen.

„Okay Abigail, so gut wie. Ich habe doch gesagt, ich brauche eine Veränderung. Aber er nicht. Er soll so bleiben, wie er ist.“

„Oookay“, machte Abigail langgezogen „Dann soll ich dir wirklich die Nummer diktieren?“

„Nein, warte, warte, warte“, rief Lauren. „Ich muss erst was zu Schreiben finden.“ Zwei Minuten später hatte sie einen Kugelschreiber ausfindig gemacht und notierte die Nummer auf einem Stück Klopapier, das noch von der halbherzigen Putzaktion auf dem Küchentisch lag. Dann verabschiedete sie sich von Abigail und legte auf.

Vor dem Anruf hatte Lauren das Guthaben ihrer Prepaid-Karte gecheckt: Es waren 1,25 Pfund. Könnte ausreichen für einen kurzen Anruf á la: „Hallo, hier ist Lauren Peterson. Wohin mit meinen Bewerbungsunterlagen? Oder gefällt Ihnen meine Stimme sowieso nicht?“ Anderseits wäre es sehr peinlich, wenn sich das Gespräch ausführlicher gestalten würde und mittendrin abbräche, da das Guthaben ausgegangen war. Aber was hatte sie schon zu verlieren? Wollte sie diese Stelle wirklich? Sie war sich dessen nicht einmal sicher. Sie wollte nur raus aus London. Und eine Pause von allem was sie hier hatte. Allem, was sie seit dem einen miesen Dienstag vor zwei Jahren gehabt hatte.

Es war ein warmer Sommertag gewesen, regenfrei. Laurens Rebellion war noch etwas halbherzig gewesen. Sie hatte sich darauf beschränkt Patches auf ihren Rucksack zu nähen, sich tattoowieren zu lassen, mit Skatern und Punks rumzuhängen und zu trinken anstatt mehr für die Prüfungen zu lernen. Doch immerhin hatte sie an einem der anständigen Colleges studiert und damit dem Wunsch ihrer Eltern entsprochen, was sich nie richtig angefühlt hatte.

An diesem Dienstag hatten selbstgerechte Professoren und speichelleckende Kommilitonen sie wieder einmal zur Weißglut getrieben. So hatte Lauren beschlossen die Nachmittagsvorlesung zu schwänzen und sich stattdessen in Frustshopping zu verlieren. Nach zwei Stunden hatten sich in ihrer Einkaufstüte in der einen Hand ein fast schon unverschämt kurzer karierter Rock befunden und in ihrer anderen Hand ein Pistazieneis. Als sie damit durch eine Gasse geschlendert war, hatte ein Straßenmusiker sie innehalten lassen. Zunächst hatte er sich ihre Aufmerksamkeit mit der Performance verdient. Denn er hatte einen Soundgarden-Song gespielt, den Lauren sehr gerne mochte. Und das wirklich gut. Seine Gitarrenkünste waren umwerfend, der Gesang eher passabel aber sehr markant. Alles in allem fesselnd.

Als Lauren ihm weiter gelauscht hatte, war ihr zunehmen bewusst geworden, dass sie ihn leckerer fand als das Pistazieneis. Darum hatte sie den Rest davon entsorgt, um beim Waffelknabbern nicht dämlich auszusehen. Immer wieder waren Passanten stehengeblieben, hatten ein wenig gelauscht, sich zu einem Nicken verleiten lassen oder eine Münze in den Hut geworfen. Doch Lauren hatte schnell bemerkt, dass seine Blicke nur ihr gegolten hatten. Als er einen Song beendet hatte und gerade niemand außer ihr vor ihm gestanden war, hatte sie etwas verlegen und auch etwas unbeholfen geklatscht. Er hatte sich verbeugt mit den Worten:

„Vielen Dank. Das weiß ich zu schätzen. There‘s no money in Rock ‘N‘ Roll.“

„Oh, ich hab bestimmt noch ein paar Pennys“, hatte Lauren gestammelt „Du spielst coole Songs.“

„Verschwende dein Geld lieber nicht an mich“, hatte er grinsend geantwortet „Du siehst aus wie eine Studentin.“

„Ertappt. Aber ernsthaft. Was du da machst, ist wirklich was wert. Das war das erste Gute, was ich heute gehört habe…“, hatte Lauren gesagt und sich dann über ihre eigene Offenheit gewundert.

„Scheißtag?“, hatte er sofort geschlussfolgert und ihr zugezwinkert. Lauren hatte nicht gewagt mehr von sich preiszugeben und er hatte hinzugefügt: „Versteh schon… Wie heißt du?“

„Abigail“, hatte Lauren automatisiert geantwortet. Es war die Standard-Taktik, um sich Fremde vom Leib zu halten. Sie gab sich als ihre Schwester aus. Doch dann hatte sie sich besonnen und gesagt: „Nein, eigentlich stimmt das nicht. Ich heiße Lauren. Ich sag das nicht jedem, aber ich denke, du bist okay.“

„Danke“, hatte er nickend geantwortet. „Lauren ist aber auch ein sehr vernünftiger, unglaublich erwachsener Name.“

„Dann passt er wohl nicht allzu gut zu mir“, hatte Lauren erwidert „Ich bin Adam“, hatte er erklärt.

„Wow, das ist aber auch ein ziemlich biblischer, uralter Name“, hatte Lauren geantwortet.

„Pf“, hatte Adam gemacht „Das ist jetzt sehr hart.“

„Äh, sorry, war nicht so gemeint. Du bist bestimmt kaum älter als ich“, hatte Lauren gesagt..

„29 und du bist – 20?“, hatte er geschätzt.

„24“, hatte Lauren korrigiert „Aber ich werde immer jünger geschätzt.“

Ihr Blick hatte die Leadsheets gestreift, die in seinem Gitarrenkoffer verstreut lagen und waren schließlich an „Roadside“ hängengeblieben. Den Song kannte sie gut. „Roadside?“, hatte sie also gesagt „Du spielst Roadside?“

„Nicht der beste Song von Rise Against. Aber Balladen kommen besser an“, hatte Adam erklärt.

„Vielleicht ist es nicht der beste, aber…“ Sie hatte ihren ganzen Mut zusammengenommen „ich liebe ihn und ich habe ihn ganz gut drauf. Kann ich vielleicht die Zweitstimme singen? Das wäre gut… an so einem Scheißtag.“

„Nope“, hatte Adam geantwortet. „Ich finde deine Stimme klingt nicht, als könnte man viel damit anfangen.“

„Achso…“, hatte Lauren gestammelt. „Na dann vergiss es.“ Sie hatte gerade schon weitergehen wollen, als Adam in Lachen ausgebrochen war.

„Du bist ja nicht gerade standhaft, Lauren. Wo bleibt dein Kampfgeist?“

„Den hab ich wohl zwischen Klassenraum und der Villa meiner Eltern vergessen“, hatte Lauren geantwortet.

„Das ist bescheuert. Du hast gerade mit voller Überzeugung behauptet den Song draufzuhaben. Und beim ersten bisschen Gegenwind knickst du ein. Mimimi?“

„Hast du einen Zweitjob als Motivationscoach?“, hatte Lauren gereizt gefragt.

„Nein. Aber vielleicht könnte ich es mal damit versuchen“, hatte Adam geantwortet. „Heute läuft es nicht so gut mit dem Publikum. Aber vielleicht hilft deine Stimme ja. Also los…“ Er hatte einfach begonnen zu spielen. Lauren hatte ihre Einkaufstasche neben seinen Gitarrenkoffer fallen lassen und war ein bisschen näher zu ihm gerückt. Ihr Herz hatte bis zum Hals geklopft und bis ihr Einsatz gekommen war, hatte sie damit kämpfen müssen nicht davon zu laufen. Doch dann hatte sie gesungen.

Adam hatte sie von der Seite angesehen und gegrinst. Und damit so aus dem Konzept gebracht, dass sie eine Zeile vergessen hatte. Sie hatte sich allerdings wieder gefangen und weiter gesungen. Zwei Passanten waren stehengeblieben, hatten gelauscht und etwas in den Hut geworfen. Aber das hatte nicht gezählt. Sondern nur Adams Worte:

„Deine Stimme ist der Hammer! Hätte ich dich immer dabei, könnte ich sicher das Doppelte verdienen.“

„Müsstest du dann ja auch um mich bezahlen zu können“, hatte Lauren frech zurückgegeben. Adam hatte gelacht.

„Können wir das vielleicht mal… ausprobieren? Kann ich dich einen Tag begleiten“, hatte Lauren dann vorsichtig gefragt.

„Ernsthaft?“, hatte Adam zurückgegeben. „Ernsthaft“, hatte Lauren bestätigt. „Ich spiele auch ein bisschen Gitarre“, hatte sie erklärt „Nicht so gut wie du, aber es könnte als Verstärkung reichen.“

„Das wäre riskant“, hatte Adam zu bedenken gegeben „Wenn wir zu gut wären, müsstest du deine College-Karriere schmeißen und Rockstar werden.“

„Deal“, hatte Lauren geantwortet. In diesem Moment hatte sie noch nicht damit gerechnet, dass sie ihre College-Karriere tatsächlich schmeißen würde. Allerdings nicht für ein Rockstar-Leben, sondern für die minimalistische Variante, bei der man sich sein Abendessen jeden Tag hart auf Londons Straßen erkämpfen musste.

Zwei Jahre waren seitdem wie im Flug vergangen. Sie war von diesem einen Dienstag an verliebt gewesen und war es wohl immer noch. Tief drinnen. Aber in letzter Zeit hatten sie weniger Zärtlichkeiten ausgetauscht und mehr aneinander vorbeigelebt. Sich auch immer öfter wegen Kleinigkeiten gestritten. Lauren hatte es als das übliche Gezanke in Beziehungen wahrgenommen. War ihr dabei entgangen, dass sie tatsächlich unglücklich gewesen war?

Adam hatte Recht gehabt. Sie war gereizt gewesen. Eine Eigenart, die sie von sich gar nicht kannte. Aber nun, nach dem traumatischen Erlebnis dieses Morgens, dämmerte ihr etwas. Ihr dämmerte, dass all diese Kleinigkeiten System hatten. Dass sie sich wieder einmal fehl am Platz fühlte. Und dass sie sich fragte, wer die echte Lauren eigentlich war. Die Lauren, die nie eine Peterson hatte sein wollen. Die Lauren, die vor dem Peterson-Clan in Adams Arme geflohen war. In Adams Leben.

Aber was wollte diese Lauren eigentlich selbst? Was konnte sie selbst? Wenn sie so darüber nachdachte, schien es nahezu unmöglich zu sein Adam weiter zu lieben. Denn wie konnte sie jemanden lieben, von dem sie alles übernommen hatte, ohne zu wissen, wo sie selbst dabei blieb? Alles, einfach alles erschien ihr vor diesem Hintergrund, vor dieser erdrückenden Frage marginal. Lauren musste herausfinden wer Lauren war. Sie musste raus aus London. Ganz alleine. So schloss sich der Kreis wieder und sie wurde von ihren Erinnerungen direkt in die Gegenwart katapultiert. Sie tippte die notierte Nummer in ihr Handy und lauschte dem Klingeln. Es klingelte lange und leise. Manchmal war der Ton sogar ein wenig unterbrochen. Ein mühevolles Klingeln, das sich einen Weg von sehr weit her bahnen musste. Hypnotisierend. Lauren ging neben dem Esstisch auf und ab.

Später zog sie ein Tagebuch mit leeren Seiten hervor. Sie hatte es gekauft kurz nachdem sie mit Adam zusammgekommen war, aber nie einen Eintrag verfasst. Womöglich war jetzt der Moment gekommen damit anzufangen.

Mittwoch, 15. Juni

Lieber Tage-Dude,

wir kennen uns noch nicht. Aber das macht nichts, denn ich kenne mich auch nicht. Hey, ich bin Lauren. Ich will herausfinden, wer ich bin und was ich auf der Welt soll. Und du sollst mir dabei helfen. Indem du einfach zuhörst. Ich hoffe, das kannst du gut. Denn momentan habe ich das Gefühl, dass ich hier eigentlich gar nichts soll. Falscher Planet, falscher Körper. Fail, Fail!

Heute wollte ich diese Mrs Devinport anrufen, um sie nach dem Job im Schloss zu fragen. Ich dachte zuerst, sie würde nicht rangehen, aber dann sagte eine ältliche, aber irgendwie erhabene und respekteinflößende Frauenstimme: “Devinpooort?“ Ich hab mich echt erschreckt, weil ich nicht mehr damit gerechnet hatte jemand zu sprechen zu bekommen. Dann hab ich sowas gestammelt wie:

„…Äh ja… hier spricht Lauren… Lauren Peterson. “ Ich habe mir in dem Moment gewünscht das Gespräch nicht im Schlüpfer führen zu müssen. Ich hatte mich noch nicht angezogen und irgendwie hatte ich das Gefühl, man merkte das meiner Stimme an. Ich versuche jetzt so ungefähr den Dialog wiederzugeben:

„…Aha… Junge Dame, Sie möchten mit mir sprechen, nehme ich an?“, fragte die Frauenstimme etwas genervt.

„Äh ja. Entschuldigung“, sagte ich.

„ Und wofür möchten Sie sich entschuldigen? “, fragte Mrs Devinport zurück.

„Oh, ich bin wohl etwas nervös“, erklärte ich und wollte am liebsten einfach auflegen. Und dann gleich im Erdboden versinken „Ich habe Ihre Anzeige in der Zeitung gesehen und interessiere mich für die Stelle als Hausdame.“

„Sie interessieren sich dafür. Nun, Interesse scheint mir nicht zu genügen, Mrs Lauren Peterson. Das Telefon hier funktioniert nicht sehr gut und da gerade Sie nun durchgekommen sind, sollten Sie mir schon etwas mehr bieten. “ Ich war im ersten Moment völlig perplex und erinnerte mich dann an mein erstes Gespräch mit Adam, in dem er mich indirekt aufgefordert hatte selbstbewusster und bestimmter aufzutreten. Okay, was soll‘s? Einfach in die Vollen gehen:

„Ehrlich gesagt, die Stellenbeschreibung spricht mich total an und ich hätte die Stelle sehr gerne.“

„Das klingt etwas handfester, Mrs Peterson. Wo kommen Sie denn her?“, wollte Mrs. Devinport wissen. Ich musste mich setzen:

„Aus London. Ich leben momentan in London“, erklärte ich. In der Leitung knackte es immer wieder.

„Und Ihre Arbeit? “, hakte Mrs Peterson weiter nach. Mir war mulmig zumute, weil ich jetzt sagen musste:

„Ich bin Musikerin. Ich habe Fremdsprachenmanagement studiert, aber verdiene mein Geld nun mit der Musik.“ Es nutze ja doch nichts zu lügen, weil sie mich früher oder später Zeugnisse nach Zeugnissen fragen würde, wenn sie Interesse hätte.

„Das ist eine interessante Laufbahn, Mrs. Peterson. Sie scheinen ein Wagnis nicht zu scheuen “, fasste Mrs Devinport zusammen. Sie klang dabei eher nachdenklich als abgeneigt „ Und nun möchten Sie ihr derzeitiges Leben gerne wieder aufgeben und sich etwas ganz anderem widmen.“

„Das klingt vielleicht nicht allzu vorteilhaft“, meinte ich beschämt. „Aber ich würde mich wirklich über die Chance eines Vorstellungsgespräches freuen. “

„Sie entschuldigen sich und rechtfertigen sich zu viel, meine Liebe“, sagte Mrs Devinport „Kann es denn falsch sein, die eigene Bestimmung zu suchen?“ In der Leitung rauschte es.

Dann Stille. Keine rhetorische Frage? Mrs Devinport erwartete tatsächlich eine Antwort von mir?

„Meiner Ansicht nach nicht“, sagte ich also ganz ehrlich „Ich denke, es gibt so viele Möglichkeiten und es ist schwer das Richtige zu finden. Letztendlich lohnt es sich aber zu suchen, denke ich. Für einen selbst und für alle, mit denen man Zeit verbringt und arbeitet. Denn nur, wenn man das Richtige tut, kann man auch richtig gut sein. “ Wow, ich glaube das war echt gut!

„ Und warum meinen Sie, Gwylfan könnte das Richtige für Sie sein? “, fragte Mrs Devinport.

Gwylfan? War das der Name des Schlosses? War er in der Anzeige gestanden? Womöglich hatte Abigail ihn nicht vorgelesen. Ich beschloss lieber nicht dumm zu fragen und antwortete ganz offen: „Ich bin genau im richtigen Moment über diese Anzeige gestolpert. In einem Moment, in dem ich nach genau so einer Aufgabe gesucht habe. London ist mir wirklich zu hektisch und zu hip.“

„Sie haben nach einer Aufgabe wie dieser gesucht“, wiederholte Mrs Devinport „Sie sind sich im Klaren, dass es sich tatsächlich um harte Arbeit handelt und nicht um einen Urlaub im Grünen? “

„Auf jeden Fall“, sagte ich. „Ich arbeite gerne. Ich bin kein Fan davon nichts zu tun. “

„ Und Sie sind sich auch im Klaren, dass Sie hier sehr abgeschieden leben werden? Es wird wenige Gelegenheiten geben das Schloss zu verlassen. Wir werden unter uns sein. Und es gibt bei uns keine Leitungen für… für Ihre Computer oder was Sie da auch haben mögen. Auch Ihr tragbares Telefon wird nutzlos sein. Und dieses hier funktioniert nur selten. “ Okay. Ich dachte: Kein Internet, kein Handynetz und nur ein schrottiges, altes Telefon. Ich sagte:

„Ja, das ist mir klar. Ich verzichte gerne für einige Zeit auf Kontakt zur Außenwelt.“ Dann wurde ich Zeuge davon wie schrottig das Telefon tatsächlich war. Die Nebengeräusche in der Leitung wurden lauter und ich presste das Handy ganz fest ans Ohr, um Mrs Devinport zu verstehen:

„Und Sie sind einverstanden nur für Quartier und Verpflegung zu arbeiten?“

Ja, das ist in Ordnung“, antwortete ich.

„Das ist gut so, junge Dame. Der Welt ist ein wenig Bescheidenheit abhanden gekommen, denke ich. Jedoch könnte ich – selbst wenn ich wollte – nicht mehr bieten als das. Ich bin alles andere als wohlhabend. Es reicht gerade so zum leben und instandhalten, wo es nötig ist. Und das Schloss hier ist eine noch viel ältere Dame als ich selbst. Und hat ganz ähnliche Leiden. Gwylfan ist kein nobles Herrenhaus, wie Sie es vom Klatschblatt-Adel in den Magazinen kennen. Auch das ist Ihnen bewusst? “, fragte Mrs Devinport.

„Ich komme gut mit einem einfachen Leben zurecht“, entgegnete ich. Denn ich saß ja an einem zerkratzten Tisch auf einem wackligen alten Stuhl und schaute auf vergilbte, windschiefe Jalousien.

„Nun, ich denke, dann steht unserem Arrangement nichts im Wege“, erklärte Mrs Devinport.

„Sie laden mich zu einem Vorstellungsgespräch ein? “, fragte ich und war mir nicht sicher ob ich Mrs Devinports bei all dem Rauschen missverstanden hatte.

„Nicht doch“, sagte diese „Dieser Ort hier ist wirklich sehr weit weg von London. Und von irgendeiner Stadt. Und ich brauche sehr dringend Hilfe. Wenn Sie hierher kommen möchten, dann sollten Sie das jetzt entscheiden. Sie bleiben das vereinbarte Jahr hier und beginnen nach der ersten Nacht im Schloss mit der Arbeit.“

„Sie geben mir die Stelle? Einfach so?“, fragte ich und war ganz verwirrt.

„ Wollen Sie die Stelle nun oder nicht? Verschwenden Sie bitte nicht meine Zeit“, antwortete Mrs Devinport ungeduldig. Das war zu einfach. Das konnte nicht sein. Es musste einen Haken geben. Oder sich um einen Traum handeln. Ich konnte mich einfach nicht bremsen und sagte:

„Sie möchten mit mir ein Jahr lang ganz alleine da draußen sein? Ohne Zeugnisse? Ohne mich gesehen zu haben? Ich könnte eine tattoowierte, drogenabhängige Punkerin sein.“

„Hören Sie mal“, erklärte Mrs Devinport noch ungeduldiger „Ich weiß, die jungen Leute haben heutzutage alle Ihre Unarten. Aber Gwylfan hat seine eigenen Regeln. Es ist sehr feucht hier draußen in der Moorgegend. Wird der Ofen nicht geschürt, dann wird es sehr schnell sehr kalt. Die Kälte kriecht in die Knochen und da wird Ihnen das Punk und all der andere Unsinn schon vergehen. Sie scheinen doch eine klardenkende junge Dame mit ein wenig Verstand zu sein, nicht wahr?“

„Ähm… ich denke schon. Ja, also das bin ich“, sagte ich vorsichtig. „So, dann beantworten Sie doch bitte die Frage, ob Sie die Stelle annehmen möchten oder nicht bevor die Leitung hier versagt“, sagte Mrs Devinport und das Rauschen dröhnte zur Untermalung in meinem Ohr.

„Ja. Ja, ich möchte die Stelle“, brüllte ich gegen die Nebengeräusche an. „Hören Sie mich?“

„Natürlich höre ich Sie. Bitte hören Sie doch auf so zu schreien bevor ich es mir noch anders überlege“, befahl Mrs Devinport.

Dann sagte sie:

„Hören Sie mir genau zu: Sie können mit meinem Lieferanten hier herfahren. Er liefert monatlich die Lebensmittel und erledigt die Post. Bitte treffen Sie ihn in zwei Tagen, am 17. Juni um 2:30 Uhr nachmittags unter folgender Adresse…“

„In zwei Tagen? “, wiederholte ich ungläubig.

„Am 17. Juni dieses Jahres, wie ich bereits sagte“, erklärte Mrs Devinport „Darum notieren Sie sich am besten nun die Adresse und überlegen Sie sich wie sie die 200 Meilen von London zurücklegen möchten. Denn das kann ich nicht für Sie übernehmen. “

„…Okay“, stammelte ich und zog das Stück Klopapier wieder heran. Ich notierte mir die Postleitzahl und den Namen einer walisischen Kleinstadt, an deren Bahnhof ich den Fahrer treffen sollte.

„Gut, Sie werden am späten Nachmittag hier eintreffen, dürfen auspacken, sich ein Abendessen und das Zimmer bereiten. Am 18. Juni beginnt Ihre Anstellung. Haben Sie verstanden? “

„Ja, verstanden. “, murmelte ich. Ich konnte es fühlen. Es wurde ernst. „Seien Sie pünktlich am Bahnhof und schleppen Sie bitte keinen unnützen Plunder mit“, waren die letzten Worte des Telefongesprächs.

Dann war die Leitung endgültig tot. Zunächst rauschte es noch fünf Sekunden so laut, dass ich das Handy weit weghalten musste, dann ertönte ein regelmäßiger Piepton.

„Verdammt, das Guthaben“, dachte ich. Im nächsten Moment wunderte ich mich wie es überhaupt so lange hatte reichen können. Das war kein kurzes Gespräch gewesen. Na egal. Hauptsache es hatte irgendwie funktioniert. Und jetzt stand ich also da und hatte diesen Job. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder mir vor Angst in die Hose pissen sollte.

„Okay“, sagte ich zu mir selbst „Morgen gibt‘s einiges zu erledigen. Dann fahre ich nach Gwylfan. “

Tage-Dude, ich denke auf uns kommt eine aufregende Zeit zu!

Bis bald!

III. GWYLFAN

Donnerstag, 16. Juni

Hello again, Tage-Dude,

gestern habe ich es vermieden viel mit Adam zu sprechen und ihm mit dem Tod gedroht, wenn er es wagt in diesem Buch zu blättern. Das hätte er wohl sowieso nicht getan, weil er ein anständiger Kerl ist. Aber es machte mich wirklich nervös diesen großen Plan vor ihm geheimhalten zu müssen. Es war aber ganz und gar unmöglich ihm davon zu berichten. Ich brauchte meine ganze Kraft dafür es durchzuziehen. Und da bleibt einfach keine zusätzliche Kraft übrig um auch noch mit seiner Reaktion umzugehen. Ich habe Kopfschmerzen vorgeschoben und am Abend waren irgendwelche Kumpels angekommen, die Adam bei einem Rucksacktrip durch Irland kennengelernt hatte. Er hatte damals bei ihnen geschlafen und revanchierte sich jetzt dafür. Der übliche Deal. Sie haben Adam glücklicherweise sowieso in Schach gehalten.

Heute habe ich ihm erklärt, dass mein Kopf immer noch dröhnt, woraufhin er dann alleine losgezogen ist, um das Tages-Budget einzuspielen. Seine irischen Kumpels hat er mitgenommen. Kaum hatten sie die Wohnung verlassen, habe ich das Spar-Glas geplündert und die Münzen und kleinen Scheine nachgezählt. Dann habe ich mich in Richtung Innenstadt azfgemacht und ein Viertel gewählt, von dem ich weiß, dass Adam es meidet. Ich durfte ihm ja nicht zufällig über den Weg laufen. Aber ich brauchte dringend ein paar Sachen:

Erst einmal angemessene Kleidung. Ich malte mir aus, was man in einem Schloss zu tragen hatte. Zerrissene Jeans, Miniröcke und Bandshirts gehörten wohl kaum dazu. Und das ist alles, was mein Kleiderschrank zu bieten hat. Also musste ich mich komplett neu eindecken. In einem Kaufhaus entschied ich mich für einen A-förmigen Rock, der mindestens fünf Mal so lang war wie jeder den ich bis dato besessen habe. Ich kaufte ihn gleich in vier verschiedenen Farben.

Dazu einige Strumpfhosen, Stulpen und dicke Leggins, Unterhemden, drei weiße Blusen und vier verschiedene Strickjacken und Cardigans in dezenten Farben und unterschiedlich dick.

Mit meinen leuchtend roten Haaren sehe ich darin ein bisschen aus als wäre ich aus einem Fantasy-Rollenspiel gefallen. Saucool!

Außerdem besorgte ich mir ein Zugticket für morgen 8:45 Uhr. Dann kaufte ich noch zwei deiner Brüder, Tage-Dude. Zwei weitere Tage-Dudes, falls deine Seiten ausgehen, Batterien für meinen MP3-Player und eine neue Prepaid-Karte um Abigail anzurufen.

Um das zu erledigen, setzte ich mich in ein Café und orderte Earl Grey.

Als dieser mit einem Biscuit serviert wurde, wählte ich Abis Nummer. Das Gespräch lief so:

„Laurie, ja warte. Ich ruf‘ dich gleich zurück. “

„Nein, Abi, bleib bitte dran“, sagte ich schnell „Ich habe das Guthaben gerade erst aufgeladen. “

„Aha. Ich sehe, du machst ernst mit dem neuen Leben“, meinte Abigail sarkastisch. Aber ich ging nicht darauf ein.

„Hör mir zu, Abi. Ich brauche deine Hilfe. Ich werde die Stelle annehmen. Und zwar gleich morgen. Und weil ich so überhetzt gehe, musst du ein paar Sachen für mich regeln. Okay? “, fragte ich.

„Du… was? Sachen regeln? Du machst mir Angst. Das klingt ja wie ein Gangster-Komplott. Du nimmst welche Stelle an? Doch nicht die aus der Anzeige? “, wollte Abi wissen. Sie klang ganz verwirrt. „Genau die“, bestätigte ich.

„Und wann war dein Vorstellungsgespräch?“, wollte Abi wissen.

„Es fand am Telefon statt“, berichtete ich „Ich weiß, es klingt verrückt. Ich kann’s ja selbst kaum glauben. Aber diese Mrs Devinport braucht anscheinend ganz dringend Hilfe und morgen kommt ihr Lebensmittellieferant und ich kann mit ihm fahren ab Glaslefel.“

„ Wo ist denn dieses Schloss und warum sollst du mit diesem Lieferanten fahren? “, fragte Abi und der skeptische Unterton in ihrer Stimme fing an mich zu nerven.

„Abi, verdammt“, fuhr ich sie an „Du hast mich erst auf diese Sache gebracht. Jetzt vermiese mir nicht die einzige Chance, die ich habe, die Dinge in Ordnung zu bringen. Für mich.“

„Die Dinge in Ordnung bringen, wow. Laurie, das… du… verwunderst mich nur so. Das kommt alles so schnell und plötzlich “, erwiderte Abi.

„Unterstützt du mich nun oder nicht? Denn du bist leider die einzige Person, die das kann und ganz ohne Hilfe kann ich wohl nicht einfach so gehen“, erklärte ich.

„Jetzt warte doch mal“, beharrte Abi „ Wer lebt denn in diesem Schloss und wo befindet es sich? “

„Dort lebt nur diese alte Frau. Mrs Devinport. Ich habe ausführlich mit ihr geredet. Sie klingt okay. Echt resolut, echt ehrlich. Und das Schloss ist irgendwo in Wales in der Pampa. Eine Adresse habe ich nicht. “

„Laurie, das klingt schräg“, sagte Abi „Die Pampa von Wales ist groß. Und du denkst wirklich, dass diese Mrs Devinport seriös ist?!“ „ Gooott, Abi, was soll sie denn sein, ein Menschenhändler? “, fragte ich.

„Zum Beispiel. Oder ein Psychopath “, schlug Abi vor „Ja genau. Weil du nicht glauben kannst, dass ich bei einem Vorstellungsgespräch einen vernünftigen, seriösen Menschen überzeugen kann “, stellte ich fest.

„Das sage ich doch nicht“, verteidigte sich Abi „Du kannst sehr überzeugend und kreativ sein. Das hast du ja schon immer unter Beweis… “

„ Was soll das denn nun wieder heißen? “, fiel ich ihr ins Wort.

„Sorry, das war nicht so gemeint“, sagte Abi.

„Doch das war so gemeint“, beharrte ich „ Weil du eine Besserwisserin bist, die nicht daran glaubt, dass ich ein Mal etwas richtig machen kann“, sagte ich verbittert. Und genau so fangen unsere Streitgespräche immer an. Eine provoziert die andere, die andere formuliert überspitzt. Irgendwann sagen wir beide Dinge, die wir nicht so meinen und bereuen. Aber wir haben Schwierigkeiten damit zurückzustecken. Dieses Mal war Abi diejenige, die bremste.

„Laurie – Peace. Okay? Tut mir leid, wenn ich arrogant geklungen habe. Du kannst auf jeden Falle eine Menge richtig machen und du hast mit einigen Dingen verdammt Recht. Im Gegensatz zu mir. Vergessen wir die Grundsatzdiskussion. Aber ich mache mir einfach Sorgen, was diese Anzeige angeht. Ich mache dir einen Vorschlag – Ich könnte dich fahren. Dann weiß ich wo du bist und…“

„Gooott, Abi“, unterbrach ich erneut „Damit ich aussehe, wie ein unselbstständiges Baby. Das einzige, was diese Mrs Devinport wirklich ganz genau wissen wollte, war dass ich es ernst meine und dass ich weiß was ich will. Ich weiß, du meinst es gut. Danke. Aber ich kann auf mich selbst aufpassen. Ich nehm‘ die Knarre mit.“ „Was?“, rief Abi. Dann wisperte sie:

„ Woher hast du denn eine „ *Hmhmhm*?“

„Eine was? “, fragte ich verwirrt.

„Na eine… ein Verteidigunsding… “, erklärte Abi.

„ Woher ich eine Knarre… “, setzte ich an und wurde durch Abis „Scchhhhht“ unterbrochen. „Oh mein Gott, du hast echt so etwas. Und du sagst das einfach am Telefon. Laurie, oh mein Gott. Jetzt bin ich mitschuldig. Und was, wenn du jemanden… oder dich… .“

„Mach mal halblang“, sagte ich „Adam hat die *Hmhmhm* von einem Kumpel. Und er wollte, dass sie mir gehört. Weil Großstädte gefährlich sind. “

„Oh Gott, Laurie. Adam ist ein Idiot. Lass das Teil bitte bei ihm“, verlangte Abi.

„Soll ich mich nun verteidigen können oder nicht?“, fragte ich.

„Ich weiß nicht“, antwortete Abi und seufzte.

„Lass es einfach meine Sorge sein, Abi“, forderte ich „Und überhaupt. Ich muss das machen, weil ich ein Mal in meinem Leben etwas ganz allein hinkriegen muss. Ich kann dir das nicht so einfach erklären. Aber ich muss dort hin. Und ich werde den Job annehmen. Mit deiner Hilfe oder ohne. Also was sagst du? “

Abi seufzte laut: „Natürlich helfe ich dir. Laurens Sidekick immer zur Stelle. Was auch sonst. “

„Okay, Abi“, sagte ich „Ich habe die 140 Pfund aus unserem Sparglas genommen, um mir Klamotten und ein Zugticket zu kaufen. Kannst du das Adam zurückzahlen? Ich will ihn nicht auch noch prellen. Und ich hab’s auf einem Sparbuch, aber ich komme so schnell nicht ran. Du bekommst es wieder… “

„Jaja… War’s das?“, fragte Abi.

„Nicht ganz“, antwortete ich „Ich werde Adam ohne Vorwarnung verlassen und ich werde ihm nicht sagen, wohin ich gehe. Ich weiß, ihr seid nicht die besten Freunde. Aber du musst ihm einfach versichern, dass alles okay ist und ihn ein bisschen trösten… Äh… das meine ich nicht…so. Du weißt, was ich meine. “ Abi seufzte wieder: „Schon klar. Du weißt aber, dass das, was du da verlangst wirklich hart ist. “

„Danke, Abi“, sagte ich nur.

„Aber du musst mich anrufen “, verlangte Abi.

„Abiii“, zischte ich „Darum geht es doch. Ich muss etwas alleine machen. Ich brauche Abstand. Und keine klugen Ratschläge. Außerdem ist die Telefonleitung dort sehr schlecht.“

„ Wenigstens eine SMS“, forderte Abi.

„Machst du Witze?“, gab ich zurück „Mrs Devinport hat mein Handy als „tragbares Telefon“ bezeichnet und hat irgendwas von *Leitungen für den Computer* gefaselt. Sie weiß nicht mal, was Internet ist. “ „ Was soll ich denn dann machen? Auf einen Brief warten? “, fragte Abi und klang etwas verzweifelt.

„Ja, warum eigentlich nicht?“, antwortete ich. „Der Lieferant kommt ein Mal im Monat und macht auch die Post. Abi, ich verspreche, ich werde mich melden. Aber nicht sofort. Ich brauche ein wenig Zeit. Verstehst du?“

„Du schuldest mir aber was“, sagte Abi. „ Wenn ich das hier alles brav erledige und dich trotz meiner Sorge gehen lasse.“

„Ganz klar“, erwiderte ich dankbar.

Jetzt ist es Abend und ich sitze in der Wohnung. Zum letzten Mal. Adam hat gerade gefragt, warum ich so still bin. Ich habe gesagt: „Immer noch Kopfweh. “ Er hat mir wohl nicht ganz geglaubt und gesagt, ich solle zu einem Arzt gehen (er hasst Ärzte genauso wie ich). Ich hab gesagt:

„Okay, ja. Gleich morgen früh. “ Er war wohl etwas verwundert. Ich werde morgen früh ja wirklich aufbrechen. Während er noch schläft. Aber ich werde zum Bahnhof gehen.

Gute Nacht Tage-Dude! Unsere letzte Nacht in London!

Freitag, 17. Juni

Lieber Tage-Dude,

heute war also der große Tag Ich kam pünktlich am Bahnhof von Glaslefel an, wo ein ziemlich kräftiger Wind ging Er riss an dem Papierschild, auf das ich meinen Namen geschrieben habe. Ganz so wie die Menschen das am Flughafen in Filmen immer machen. Eine ganze Weile stand ich ganz verlassen unter einem wolkigen Himmel in der kleinen Parkbucht. Ab und an fuhr ein Auto vorbei. Oder mal jemand auf einem Fahrrad. Endlich sah ich einen rostigen, weißen VW-Bus, den Abi wegen der Auspuff-Wolke als Dreckschleuder bezeichnet hätte. Der Fahrer war wohl zu faul auszusteigen und nickte mir stattdessen nur durchs geschlossene Fenster zu. Ich hatte das Notwendigste in eine Sporttasche gepackt und einen warmen Parka darauf festgeschnallt. Außerdem hatte ich es mir nicht nehmen lassen eine der Gitarren mitzunehmen. Es war die Kleine „Senorita-Gitarre“, die ich mal ganz billig auf einem Flohmarkt gekauft habe.

Jetzt war der Fahrer also da und ich lud mein Gepäck einfach in den Beifahrerraum, um keine Umstände zu machen. Und weil ich mich irgendwie besser fühlte, wenn ich mich an ein paar vertrauten Dingen festklammern konnte. Mir dämmerte schon, dass der Fahrer eher von der schweigsamen Sorte war. Wie zum Beweis wiederholte er das Nicken als ich eingestiegen war und als ich mich mit „Lauren Peterson“, vorstellt, murmelte er nur etwas, das ich als „Dylan Bridgeton“ deutete.

Er sah aus wie einer, der viel Zeit an der frischen Luft verbringt: Unschätzbares Alter zwischen 35 und 55, wettergegerbte, recht rosige Haut, schmale Augen, hellblondes, kurzes Haar, brauner Rollkragenpullover. Ich dachte mir, dass er wohl keinen Bock hatte sich mit einer blöden Städterin mit knallroten Haaren zu unterhalten. Also hielt ich meinen Mund und beobachtete wie die Landschaft vor dem Fenster vorbeiflog.

Dylan Bridgeton fuhr eher gemütlich. Vielleicht weil er es nicht eilig hatte, vielleicht auch weil der ratternde und polternde Dieselmotor nicht mehr hergab. Die unterschiedlichen Schattierungen von Grün, Braun und Gelb wirkten irgendwie beruhigend auf meine Großstädter-Augen. In meinem Kopf sammelte ich Namen für die verschiedenen Grüns und Braungelbs: Ocker, Beige, oliv, hellgrün, moosgrün, lindgrün, schlammgrün. Beeindruckend! Und dann erst die schiere Weite.

Die Straße, auf der wir fuhren, schien weit und breit die einzige zu sein. Sie schlang sich kurvig durch ein Tal aus Wiesen und Weiden. Der Frühsommer musste bisher recht sonnig gewesen sein, dachte ich mir, denn die langen Gräser waren trocken. Und windgebeugt. Auch an diesem Nachmittag hatte ich Glück und als der Wind einige der Wolken vertrieben hatte, zeigte sich eine warme, orangefarbene Sonne und tauchte die sanften Hügel in ein nostalgisches Licht bevor der Abend anbrach. Habe ich das nicht schön formuliert? Die malerischen Bilder machen mich ganz poetisch.

Die Wärme war durch die Windschutzscheibe des Autos sofort spürbar. Bäume waren während dieser Fahrt eher eine Seltenheit. Genauso stand es mit Zeichen von Zivilisation. Ab und an ein Drahtzaun, hinter dem eine Herde Schafe graste und in der Nähe ein einzelnes Farmhaus. Das war alles. Ein einziges Mal sah ich einen Menschen und wollte schon: „Heyho, Dude!“, rufen. Es war ein Bauer, der mit einem Bordercollie auf einer Weide entlanglief. Irgendwann wurde die Straße schmaler. Wir waren bestimmt schon ein einhalb Stunden unterwegs. Begrenzungspfosten und Mittelstreifen – Fehlanzeige. Dafür gab es umso mehr Schlaglöcher, die den Wagen regelmäßig erschütterten. Die Landschaft hatte sich ein wenig verändert. Sie sah nun so aus wie ich die Moor-Landschaft aus Dokus kenne: Die Weiden waren von Moos und Schilf durchzogen. Dottergelber Stechginster und violettes Heidekraut kamen mir in dem vielen blassen Grün total grell vor. Hier und da glitzerte ein Tümpel in der Sonne.

Vor einer steinernen Brücke, kamen wir an die erste abzweigende Straße, die nicht zu einem Gehöft führte. Dylan nahm sie ohne einen Blinker zu setzen. Und da konnte ich endlich in der Ferne Umrisse sehen. Mein Herz machte einen Sprung. Wie ein Spielzeug-Schloss, das ein Riesenbaby dort verloren hatte! Umgeben von einer Steinmauer und endlosen Ebenen.

„Das ist Gwylfan?“, fragte ich.

„Gwylfan“, wiederholte Dylan und klang berichtigend. Er fand wohl ich hätte es falsch ausgesprochen, obwohl ich keinen großen Unterschied in seiner Aussprache hören konnte.

„Das ist es also? “, fragte ich noch einmal.

Ja“, war Dylans Antwort. Der kleine Bach, der von der Hauptstraße mit der Steinbrücke überquert wurde, verlief parallel zu dieser extrem schmalen Abzweigstraße.

„ Weißt du wie der Bach heißt? “, fragte ich jetzt.

„Nein. Das weiß ich nicht“, sagte Dylan und kratzte sich am Kopf. „Und die Bäume da?“, fragte ich weiter „Das ist cool. Die gehören also zum Gelände von Gwylfan. Fast wie ein kleiner Wald. “

„Nein, das ist noch kein Wald. Nur eine Ansammlung von Bäumen“, erwiderte Dylan.

„Naja, dann“, sagte ich ein bisschen verlegen „Sorry, vermutlich nerve ich dich mit meinen Fragen. Ich bin so viel Stille noch nicht gewohnt. “ Auf einmal war ich wirklich nervös.

„Es ist nie still, wenn man sich selber zuhört“, sagte Dylan. Ich war verwundert über eine derart tiefgründige Bemerkung.

„Das ist wohl wahr“, sagte ich und überlegte, ob in Dylan wohl mehr steckte, als ich vermutet hatte oder ob es eine Redewendung war, die er womöglich von seiner Großmutter oder so gehört hatte.

„Ich werde wohl noch lernen müssen mir zuzuhören “, dachte ich und genoss schweigend wie Gwylfan immer größer wurde. Die Straße führte schnurgerade darauf zu. Wir erreichten die steinerne Mauer mit dem hohen, gusseisernen Eingangstor. Es stand offen und wir fuhren hindurch. Nun befanden wir uns also auf dem Schlossgelände. Auf der rechten Seite sah ich etwas, das wohl mal ein Teich gewesen war. Zwei sich kreuzende Ovalen, die jetzt nur noch vermodertes, schwarzes Schlammwasser enthielten. Kleine Mücken tanzten darüber. Die Reste von Beet-Einsäumungen ließen mich an Rosenbüsche und blühende Gewächse denken. Jetzt herrschte hier nur noch Wildwuchs. Hauptsächlich Gestrüpp.