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Ein kleines Mädchen träumt vom Fliegen, eine Frau verschwindet spurlos und ein Geist kann nicht loslassen. In einer Kleinstadt treibt die Puzzlebande ihr Unwesen, während ein Mutant auf Jobsuche geht, eine Vampirin Herzen bricht und ein ruchloser Verbrecher seine Liebe zur Musik neu entdeckt. 24 Tage lang verzaubern Sandra Bollenbacher und Lisa Darling mit 19 Geschichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, die Adventszeit: spannend, romantisch, märchenhaft oder traurig, zum Schmunzeln oder Mitleiden, mit kleinen Helden und großen Gefühlen, Herzschmerz und ganz viel Liebe. Ob morgens beim gemütlichen Kaffee vor der Arbeit oder abends auf dem Sofa mit Lebkuchen und Kuscheldecke: Dieser literarische Adventskalender lädt dazu ein, sich in den oftmals hektischen Tagen vor Weihnachten Zeit zum Durchatmen und Fallenlassen zu gönnen und für eine kurze Zeit in einer anderen Welt zu versinken. Inhaltsverzeichnis: 1) Das Geschenk 2) Richterin Emilia 3) I'm Dreaming Of ... 4) Marina 5) Phase 6) Die Puzzlebande (Teil 1) 7) Die Puzzlebande (Teil 2) 8) Die Puzzlebande (Teil 3) 9) Herr Makkaroni 10) Schatzsuche 11) Abenteuer im grünen Wald 12) Das blaue Band 13) Die Pianistin (Teil 1) 14) Die Pianistin (Teil 2) 15) Die Pianistin (Teil 3) 16) Leon 17) Fliegen 18) Elfenspiegel und Zauberglöckchen 19) Mitternachtssnack 20) Die Mondscheinallee (Teil 1) 21) Die Mondscheinallee (Teil 2) 22) Rot 23) Für immer 24) Das Adventslama
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Seitenzahl: 273
Veröffentlichungsjahr: 2020
Der etwas andere Kurzgeschichten-Adventskalender
Mit 24 Türchen zum Träumen, Lachen, Gruseln, Mitfiebern und Genießen
Sandra Bollenbacher und Lisa Darling
www.sandrabollenbacher.com
https://instagram.com/lisadarlingbooks
Korrektorat: Claudia Grube
Satz und Umschlaggestaltung: Sandra Bollenbacher
Herstellerische Beratung: Melinda Rauh und Stefanie Weidner
Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN:
Paperback
978-3-347-14358-6
Hardcover
978-3-347-14359-3
E-Book
978-3-347-14360-9
© 2021 Sandra Bollenbacher und Lisa Darling
tredition GmbH
Halenreie 40–44
22359 Hamburg
Die vorliegende Publikation, einschließlich ihrer Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorinnen unzulässig.
Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung,
Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Grafiken:
Cover Graphic designed by pikisuperstar/Freepik • Autorenfoto Sandra Bollenbacher von Veronika Schnabel (@oni_fotografie) • Autorenfoto Lisa Darling von Studioline Photography Chemnitz (https://www.studioline.de/fotostudios/chemnitz-sachsen-allee)
Fonts:
Crimson Pro © 2018 The Crimson Pro Project Authors (https://github.com/Fonthausen/ Crimson Pro). This Font Software is licensed under the SIL Open Font License, Version 1.1.
• Louis George Café © 2017 Yining Chen ([email protected]). All rights reserved.
• NorthernSoul & Bloomsbury © Ian Barnard ([email protected]). • Xmas tfb Christmas © Kaiserzharkhan (http://truefonts.blogspot.com).
Für Holli und Julie
Lisa Darling
DAS GESCHENK
Ella quetscht sich mit den Einkäufen am prachtvoll geschmückten Weihnachtsbaum im Wohnzimmer vorbei in die Küche und geht zum wiederholten Mal ihre To-do-Liste durch: Das Haus auf Vordermann bringen. Ente und Kartoffelbrei kochen. Den Tisch decken und dekorieren. Dieses Weihnachtsfest zum besten aller Zeiten machen. Genauso wie letztes Jahr und all die Jahre zuvor. Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn und seufzt: »Warum heißt dieser Tag überhaupt Heiligabend? Eiligabend wäre treffender.« Aber Ella macht das schon. Ella kann das. Ella kann alles. Und Ella ist immer gut drauf und perfekt – die perfekte Ehefrau und Mutter eben.
Schon den ganzen Tag ist sie auf den Beinen, um ihr Vorstadthaus noch perfekter zu machen, als es eh schon ist. Und Pepe? Der ist mit den Kindern auf dem Weihnachtsmarkt. »Natürlich, gar kein Problem«, hatte sie gesagt. Genauso, wie es natürlich kein Problem ist, dass sie alleine das Festessen kocht oder dass nicht nur Pepes Eltern, Oma Erna und Opa Bernhard, zu Besuch kommen, sondern auch sein Bruder Tobias. Tobias, der sich wie jedes Jahr hier breitmachen wird und denkt, er sei der Allerbeste und wisse alles und der sich wie immer in den Mittelpunkt drängen wird. Auf ihn hat sie am meisten Lust an diesem Abend … nicht.
Ella blickt auf ihre verkratzte Armbanduhr, die wie sie selbst ihre besten Tage schon hinter sich hat, und erschrickt: In weniger als drei Stunden kommen die Gäste! Eilig holt sie Schneidebrett und Küchenmesser hervor, um die Zwiebeln zu schneiden, da klingelt es an der Tür.
»Wer kann das nur sein? Pepes Familie doch noch nicht! Vielleicht hat Pepe seinen Schlüssel vergessen«, stöhnt Ella und öffnet die Tür.
Davor steht ein Postbote. Ein Postbote? Um diese Uhrzeit an diesem Tag?
»Guten Abend«, grüßt Ella ihn leicht irritiert, aber der Postbote schaut sie gar nicht wirklich an. Stattdessen wirkt er ein wenig nervös und legt schließlich das Päckchen, welches er in der Hand hält, vor der Tür ab. Dann verschwindet er. Stirnrunzelnd hebt Ella das Päckchen auf und schließt die Tür wieder.
Für Ella. Erst öffnen, wenn du es verstanden hast, steht darauf.
Wenn sie es verstanden hat … Das tut sie jetzt definitiv nicht! Aber sie hat auch gerade keine Zeit zum Geschenke auspacken, immerhin müssen das Essen fertig gemacht, der Tisch gedeckt und die Geschenke unter dem Baum ausgelegt werden. Auf dem Weg in die Küche legt sie das Geschenk schon mal unter den Weihnachtsbaum und macht sich wieder an die Arbeit.
Als die Familie langsam eintrifft, ist Ella immer noch in der Küche beschäftigt. Dieses Jahr gibt es für sie so viel Arbeit wie nie. Nicht mal herzliche Begrüßungen schafft sie, nur flüchtige Hallos mit einem Winken. Das Geschnatter aus dem Wohnzimmer dringt leise zu ihr in die Küche hinüber und ab und zu kommt jemand herein, um etwas vom fertigen Essen hinüberzutragen.
Als auch Ella endlich fertig ist, begibt sie sich in das weihnachtlich dekorierte Wohnzimmer zum Rest der Familie. Sie nimmt ihren Stammplatz ein und betrachtet stolz das Essen, das dampfend auf dem Tisch steht. Ihre Familie wird still und schaut einander an. Es ist Zeit, mit dem Essen zu beginnen, und danach würde es die große Bescherung geben.
»Meine Lieben«, erhebt Pepe das Wort. »Es freut mich, dass wir heute alle gemeinsam hier sitzen, auch wenn ein geliebter Mensch in unserer Runde fehlt.« Oma Hannelore war Anfang des Jahres von ihnen gegangen. Ella hatte das tief getroffen, denn es war ihre Mutter. Von da an hatte sie gar kein Elternteil mehr gehabt. »Aber sie wird in unserem Herzen sein. Und auch heute ist sie bei uns …« Alle am Tisch bekommen glänzende Augen. Es rührt Ella, dass alle ihrer lieben Mama so gedenken und es ist auch das erste Weihnachten seit Jahren, das sie ohne Oma Hannelore feiern. »… so wie wir heute bei ihr sind. Und immer bei ihr sein werden«, sagt Pepe mit erstickter Stimme.
Alle schweigen, bis ihre 4-jährige Tochter Tina fragt, ob sie essen dürfe, sie sei so hungrig. Am Tisch lachen alle leise und erklären das Essen – nach einem »piep piep piep« – für eröffnet.
»Das schmeckt so gut!«, verkündet Tina. »Als hätte Mama es gemacht.«
Ella lächelt. »Aber das habe ich doch auch, mein Schatz«, sagt sie lächelnd und Tina schaut zu ihr hinüber.
»Wir haben es nach ihrem Rezept zubereitet«, erklärt Oma Erna. Stirnrunzelnd blickt Ella sie an. Wir? Ella will nicht unhöflich sein, schon gar nicht an Weihnachten, aber sie hat den ganzen langen Tag in der Küche gestanden!
»Erna«, sagt Ella mit einem Lächeln und bemüht sich um Contenance. »Ich habe –«
»Es hätte ihr geschmeckt«, unterbricht Opa Bernhard lächelnd und legt seine Hand auf Ernas.
Ella ist etwas verwirrt. Pepe sieht zu ihr hinüber und sie blickt ihn fragend an, aber von ihm kommt keine Reaktion. Nur eine stumme Träne, die seine Wange hinunterrollt.
»Darf ich heute Mamas Kugel an den Baum hängen?«, fragt der 7-jährige Leo. Nicht, dass Ella etwas dagegen hätte, aber eigentlich ist es Tradition, dass jeder seine eigene Kugel an den Baum hängt.
Bevor Ella überhaupt etwas sagen kann, antwortet Pepe für sie: »Aber natürlich, mein Schatz, ihr dürft das gern gemeinsam machen.« Er schaut sowohl Leo als auch Tina an.
»Ich vermisse Mama«, sagt Tina plötzlich traurig.
»Aber ich bin doch da, Süße!«, sagt Ella lächelnd und streckt die Hand nach ihrer Tochter aus.
»Wir auch, Maus. Wir auch …«, antwortet Pepe und wieder kullert eine Träne seine Wange hinunter. Tobias legt seinen Arm tröstend auf den seines Bruders.
Ella starrt stumm auf den Tisch. Was ist hier los? Sie führt eine Gabel voll Kartoffelbrei in ihren Mund, aber sie schmeckt nichts. Kein Geschmack, keine Wärme. Was verdammt nochmal ist jetzt passiert? Ist der Kartoffelbrei so schnell kalt geworden? Sie nimmt noch einen Happen, aber erneut kein Empfinden, kein Geschmack. Das Gleiche probiert sie mit der Ente und dem Rotkraut. Nichts.
»Pepe?«, fragt sie nervös und sieht ihren Mann an, doch der ignoriert sie. »Tina? Leo?« Auch ihre Kinder reagieren nicht. »Tobias! Erna, Bernhard!« Ellas Stimme klingt zittrig. Keiner reagiert.
Ella schluckt und erhebt sich. Irgendetwas läuft hier verdammt schief. Vielleicht träumt sie? Ja, das muss es sein. Sie entfernt sich langsam vom Esstisch und kneift sich. Einmal, zweimal … Sie spürt nichts. Ella lässt sich auf die Couch sinken und vergräbt den Kopf in ihren Händen.
Eine lange Weile sitzt sie so da, ehe sie endlich wieder aufsteht. Ihre Familie ist fertig mit dem Essen und die Kinder hängen die Weihnachtskugel ihrer Mutter gemeinsam an den Baum.
»Der Engel ist Mama!«, verkündet Leo und deutet auf den kleinen Glitzerengel auf Ellas Kugel.
»Kann sie uns sehen?«, fragt Tina und schaut ihren Papa mit großen Kulleraugen an.
»Ja, mein Schatz. Mama kann uns sehen. Und sie ist bei uns …« Pepe dreht sich um und blickt Ella direkt in die Augen, was ihr kurz einen Hoffnungsschimmer gibt, aber sein Blick wird traurig und er dreht sich wieder um. Einen Augenblick lang schweigen alle, dann versucht Bernhard, sie ein bisschen aufzuheitern.
Kurz danach klopft es an der Tür. Der Weihnachtsmann. Eigentlich nur Onkel Holger, der sich jedes Jahr verkleidet, aber für die Kinder ist es der Weihnachtsmann.
Halb lächelnd, halb traurig beobachtet Ella, wie die Kinder singen und Gedichte vortragen und Onkel Holger Geschenke an alle verteilt. Jetzt sind wieder alle glücklich und die traurigen Blicke von eben verschwunden. Außer aus Pepes Augen.
Träume ich?, fragt Ella sich wieder und blickt in den Spiegel über dem Wohnzimmerkamin. Doch sie kann nichts sehen. Nur einen ganz blassen Umriss ihres Körpers, wenn sie genau hinschaut. Nein! Sie muss träumen! Das kann nicht wahr sein!
Die Bescherung ist zu Ende. Der Weihnachtsmann verabschiedet sich und die Kinder packen fleißig aus. Ella sieht ihnen zu, bis Onkel Holger vor ihr stehen bleibt. »Du hast dein Geschenk schon bekommen«, sagt er zu ihr.
Irritiert sieht Ella sich um. »Du … du kannst mich sehen?«, fragt sie überrascht.
Onkel Holger nickt und lächelt. »Sie wissen, dass du hier bist«, sagt er mit einer tiefen Stimme. Sie wusste gar nicht, dass Onkel Holger so tief sprechen kann. Es klingt gar nicht nach ihm. »Lass los, Ella«, sagt er sanft. »Lass los und pack dein Geschenk aus.«
»Träume ich?«, fragt Ella voller Hoffnung.
Onkel Holger lächelt liebevoll. »In gewisser Weise ja. Du träumst … für immer.«
Mit großen Augen schaut Ella auf ihre Familie. Keiner hat mitbekommen, dass Onkel Holger sie gesehen hat. Mit ihr geredet hat! Sie dreht sich wieder zu ihm um, doch er ist verschwunden.
Es ist also wahr, denkt Ella und holt ihr Geschenk. Die Schrift glitzert und ist rot, auf grünem Papier. Vorsichtig wickelt sie es aus und in ihre Hand fällt eine kleine Spieluhr in Form einer Schneekugel. Sie zeigt ihr Haus. Es brennen Lichter in den Fenstern und Schnee rieselt auf das Dach, ohne dass Ella die Kugel geschüttelt hätte. Langsam zieht sie die Kurbel auf und es ertönt »Carol of the bells«.
Im Wohnzimmer hält jeder den Atem an und starrt zu Ella – auf ihre Hand. Ella blickt zu ihrer Familie zurück. Keiner scheint sie zu sehen. Aber hören sie die Melodie? Ella sieht, wie Pepe fassungslos in den Spiegel schaut. Sie schaut ebenfalls zum Spiegel und da sieht er sie an, direkt in ihre Augen, und streckt die Hand aus. Kann er sie sehen? Seine Lippen formen ihren Namen und ein Lächeln breitet sich darauf aus.
Ella spürt, wie etwas mit ihr passiert. Ein Kribbeln. Sie löst sich auf und ihr Spiegelbild verschwindet komplett. Ihr fällt die Spieluhr aus der Hand und sie sieht, wie Tina sofort darauf zuläuft, um sie aufzuheben.
Ellas körperloses Ich entschwebt und ihre Familie wird kleiner. Pepe scheint ihr hinterherzuschauen.
»Ich liebe euch!«, ruft sie und kurz bevor sie verschwindet, hört sie Pepe sagen: »Ich liebe dich auch.«
Sandra Bollenbacher
RiCHTERin EMiLiA
Emilia hatte schon immer einen großen Sinn für Gerechtigkeit, weshalb sie seit der ersten Klasse davon träumte, Richterin zu werden. Während all ihre Freundinnen noch mit Puppen spielten, saß Emilia hinter ihrem kleinen Richterpult (Papas alter Schreibtisch) – Justitia (Barbie) mit ihrer Waage zu Emilias Linken, ein kleiner Hammer aus Schaumstoff zu ihrer Rechten – und verhängte Urteile über imaginäre Verbrecher, die imaginäre Verbrechen verbrochen hatten. Der Verlauf ihres weiteren Lebens stand fest: Sie würde aufs Gymnasium gehen, nach dem Abitur würde sie Jura studieren, dann eine steile Karriere als Staatsanwältin hinlegen und schließlich das ehrenvolle Amt der obersten Richterin des obersten Gerichts antreten. Ob die weiße Ringellöckchenperücke wohl Pflicht war?
Emilias Eltern hatten nichts gegen die außergewöhnlichen Spiele und Fantasien ihrer Tochter. Ehrgeiz war schließlich nie verkehrt und es gab bei Weitem Schlimmeres, als eine Juristin in der Familie zu haben. Nur als Emilia, gerade neun Jahre alt geworden, verkündete, sie wolle von nun an nur noch mit »Euer Ehren« angesprochen werden, machten ihre Eltern nicht mit. Als äußerst angenehm empfanden sie es allerdings, wenn Emilia sich nach grobem Ungehorsam oder kurzzeitiger Bösartigkeit selbst zu Fernsehverbot oder Brokkoliessen verurteilte.
Zu Weihnachten hatte Emilia sich keine Geschenke gewünscht. Stattdessen hatte sie ihre Eltern so lange angebettelt, bis diese eingestimmt hatten, sie zu einer öffentlichen Verhandlung im Gericht mitzunehmen.
Aufgeregt hibbelte Emilia auf dem Rücksitz herum. Die Fahrt dauerte viel zu lange, doch sie konnte sich nicht einmal auf ihr Lieblingsbuch – »Was ist was: Das deutsche Rechtssystem« – konzentrieren, das sie seitihrem Geburtstag im November bereits 53-mal gelesen hatte. Endlich erreichten sie das große, alte Gebäude aus rotbraunem Sandstein. Die Fenster waren wie bei einem Gefängnis mit dicken Eisenstangen gesichert und man kam nur zu dem Eingang im Innenhof, indem man unter einer rot-weißgestreiften Schranke und durch ein schweres, drei Meter hohes Tor hindurch sowie über eine kleine Brücke fuhr. Das alles konnten sie freilich erst, nachdem der hinter Panzerglas sitzende Pförtner die Personalausweise von Mama und Papa genauestens begutachtet hatte.
Emilia klebte mit dem Gesicht an der Scheibe und sog alles auf, was sie sah, doch das war leider nicht viel: Der Innenhof war schrecklich unspektakulär und nirgends liefen Anwälte oder Richter herum. Nicht einmal einem einzigen Sträfling begegneten sie, als sie den langen, nach Gummischuhen riechenden Flur entlanggingen. Papa redete leise mit der Frau, die sie am Auto in Empfang genommen hatte, doch auch diese war auf keinen Fall eine Anwältin oder gar Richterin, das erkannte Emilia sofort.
Als sie vor einer breiten Eichentür stoppten, nahm Mama Emilia an die Hand. Emilia lächelte nervös. Gleich würde sie einen echten Gerichtssaal betreten mit einem echten Richter und echten Anwälten und einem echten Angeklagten! Echte Zeugen, echte Sachverständige, echte Gerichtsdiener! Ihre Augen leuchteten glücklich und sie schob sich sogleich an Papas Beinen vorbei in den Raum, als die fremde Frau die Tür öffnete.
»Oh«, entfuhr es ihr enttäuscht.
Der Gerichtssaal hatte nichts von dem, was sie im Fernsehen gesehen oder in Büchern gelesen hatte. Er sah vielmehr ihrem Klassenzimmer nicht unähnlich, nur gab es statt der Tafel einen Flachbildschirm, die Tische waren zu einer großen Tischfläche zusammengeschoben worden und rings herum saßen ein paar Männer und Frauen in Anzügen. Emilia konnte nicht einmal erkennen, wer davon Angeklagter, Verteidiger, Staatsanwalt oder Richter war! Niemand von ihnen trug eine weiße Ringellöckchenperücke!
»Psst«, machte Mama und schob Emilia vor sich her ans andere Ende des Raums, wo ein paar Stühle in zwei Reihen standen.
Emilia ließ sich auf den ersten fallen und stützte das Kinn in die Hände. Vielleicht waren das ja alles Anwälte und die restlichen Personen würde gleich nachkommen. Diese Hoffnung zerplatzte allerdings in der nächsten Sekunde, denn eine der Frauen ergriff das Wort und die Verhandlung begann.
Emilia hatte zwar all die Menschen optisch nicht einordnen können, doch sie konnte ihnen schnell ihre Rollen zuteilen, sobald sie sprachen. Die Frau mit den kurzen braunen Haaren, älter als Mama, aber nicht so alt wie Oma, war die Richterin! Und der Mann da links, der ganz rote Ohren hatte, das war der Angeklagte. Der Mann daneben sein Anwalt. Gegenüber saßen zwei Frauen von der Staatsanwaltschaft und ein junger Mann, der während der gesamten Verhandlung kein Wort sprach, sich jedoch unentwegt Notizen machte. Einmal drückte er zu feste auf und Emilia konnte sehen, wie sich ein dunkelblau schimmernder Tintenfleck über dem Text ausbreitete. Eilig tupfte er mit einem Taschentuch über das Blatt. Auch Emilia wünschte sich, ihr Notizbuch und einen Stift dabei zu haben. Wieso hatte sie nicht daran gedacht? Doch sie traute sich nicht, Mama oder Papa nach etwas zu Schreiben zu fragen. Sie traute sich kaum zu atmen! Es war so spannend!
Der Angeklagte, Herr Günther – Emilia war sich nicht sicher, ob das sein Vor- oder Nachname war –, hatte sein Auto im absoluten Halteverbot geparkt. Die Sache war klar: Man durfte nicht im absoluten Halteverbot parken, nicht eine Minute und schon gar keine 37 Minuten! Schuldig!
Aber Herr Günther hatte doch nur dort gehalten, weil es sich um einen Notfall gehandelt hatte! Seine Mutter hatte versucht, an die alte Chinavase zu kommen, die hoch oben auf dem Küchenschrank stand. Der Stuhl war ins Wackeln geraten, sie hatte die Vase heruntergeschlagen, war vom Stuhl gefallen und konnte nicht mehr aufstehen. Zum Glück hatte sie ihr Handy in der Tasche und konnte ihren Sohn anrufen, der sofort zu ihr fuhr, nur leider keinen Parkplatz fand. Das absolute Halteverbot war ihm in diesem Moment egal gewesen, er wollte nur so schnell es ging zu seiner Mutter, um sie ins Krankenhaus zu fahren. Emilia stieß einen leisen Seufzer aus. Sie stellte sich vor, wie sie handeln würde, wenn ihre Mama sich wehgetan hätte. Sie konnte Herrn Günther voll und ganz verstehen. Freispruch!
Das wäre ja alles verständlich, entgegnete eine der Staatsanwältinnen ruhig, doch dadurch, dass Herr Günther im absoluten Halteverbot geparkt hatte, hatte er nicht nur andere Menschen behindert, er hatte sie sogar in Gefahr gebracht! Das absolute Halteverbot befand sich nämlich vor der Einfahrt einer Arztpraxis. (Emilia fragte sich, weshalb die Mama von Herrn Günther statt ihres Sohns nicht den Arzt vom Haus nebenan um Hilfe gebeten hatte, doch umgekehrt würde sie ja auch zuerst nach ihrer Mama rufen, nicht nach Doktor Becker, der in der Etage unter ihnen wohnte.) Was wäre denn zum Beispiel, fuhr die andere Staatsanwältin fort – sie spuckte immer ein wenig beim Reden, das fand Emilia etwas eklig –, wenn jemand, der aus welchem Grund auch immer eine Überdosis an Tabletten genommen hatte und jetzt im Sterben lag, von seinem Freund zum Arzt gefahren würde, dieser jedoch durch die blockierte Einfahrt nicht rechtzeitig zur Praxis käme und der Patient sterben würde? Dann hätte Herr Günther das Leben dieses Mannes auf dem Gewissen! Emilia sah mit großen Augen zwischen der Staatsanwältin, dem Angeklagten und der Richterin hin und her. Das wäre natürlich schrecklich! Die Mama von Herrn Günther hatte zwar sicher große Schmerzen, doch ihr Leben war nicht in Gefahr. Herr Günther hätte die Einfahrt zur Arztpraxis auf jeden Fall freilassen müssen. Emilia nickte mit zusammengepressten Lippen. Ihre Hände kneteten Hugo, den kleinen grünen Plüschkraken, den sie immer bei sich trug. Hugo war ihr ganz persönlicher Gerichtsprotokollschreiber. Mit seinen acht Armen konnte er auch viel schneller schreiben als der junge Mann der Staatsanwaltschaft. Direkt acht Zeilen auf einmal!
»Auch wenn Sie natürlich rein theoretisch Recht haben, Frau Kollegin«, warf der Verteidiger nun ein, »so ist in dieser knappen halben Stunde, in der mein Mandant mit seinem Fahrzeug die Einfahrt zur Arztpraxis blockierte, kein solcher Notfall eingetreten. Selbstverständlich hat er nicht wissentlich das Leben anderer Menschen gefährdet.« Der Angeklagte nickte heftig. »Wobei ich auch sagen muss, dass es doch sehr unwahrscheinlich ist, dass jemand zu einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt gefahren wird, wenn er sich mit Tabletten vergiftet hat, statt direkt ins Krankenhaus … Außerdem ist es doch normal, dass man zuerst an das Wohlergehen der eigenen Familie denkt. Herr Günther hat sich schreckliche Sorgen um seine alte Mutter gemacht!«
Und so ging es eine Weile hin und her. Emilias Kopf brummte.
Zu Hause beim Richterin-Spielen war alles viel einfacher. Der böse Mister Känterbörri hatte einen Tunnel gegraben und die Kronjuwelen der Prinzessin gestohlen: schuldig. Die dicke Frau Elsa wurde beschuldigt, den Kuchen der fiesen Nachbarin gegessen zu haben, nur weil sie dick war, dabei waren überall am Tatort Hundespuren mit Kuchenresten gefunden worden: nicht schuldig. Papa hatte am Abend den Teller nicht aufgegessen und am nächsten Tag regnete es: schuldig.
Und plötzlich war die Verhandlung vorbei. Emilia sah verwirrt den Anzugmenschen hinterher, als diese nacheinander den Raum verließen. Die Richterin hatte nicht einmal mit einem Hammer auf den Tisch geklopft! Nicht ein einziges Mal waren die Wörter »schuldig« oder »nicht schuldig« gefallen. Herr Günther musste Geld bezahlen, doch mit der Höhe der Summe konnte Emilia auch nichts anfangen. Es waren keine Millionen, daher war die Strafe wohl nicht so schlimm, aber war es überhaupt eine? Den Kopf voller wirrer Gedanken ließ sich Emilia von Papa aus dem Gebäude führen und ins Auto setzen.
Auf der Rückfahrt drehte sich Mama zu ihr um und fragte lächelnd: »Und, mein Schatz, wie hat es dir gefallen? Fandest du das Urteil gerecht?«
»Puuuuuh, ich weiß nicht«, seufzte Emilia. »Ich glaube, ich muss noch viel mehr üben.«
Lisa Darling
I’M DREAMiNG oF …
Margret Adelaide van Huston verließ tropfend die Badewanne. Das frisch gewaschene Handtuch um ihren Körper schlingend betrachtete sie sich im letzten Fleck Spiegel, der es geschafft hatte, nicht zu beschlagen.
»I’m dreaming of a white Christmas …«
Leise sang sie »White Christmas« vor sich hin. Schon als Kind war »Weiße Weihnachten« stets der Film gewesen, den sie traditionsgemäß geschaut hatten, wenn sie an Weihnachten zu ihrem Vater ins Hotel kamen. In diesem Film wurde das Lied gesungen und auch heute noch verband sie es darum mit Weihnachten im Hotel.
Früher, als ihr Vater gerade sein Hotel-Imperium aufgebaut hatte, arbeitete er so viel, dass sie und ihre Mutter regelmäßig in einem der Zimmer gewohnt hatten, um öfter bei ihm sein zu können. Und immer wieder hatten sie dort diesen Film angeschaut.
Margret hatte es im Hotel stets gefallen und ganz oft gespielt, sie würde dort arbeiten. Und als sie erwachsen wurde, hatte sie tatsächlich Hotelfachfrau gelernt und ein Studium drangehängt, um später das Imperium ihres Vaters zu übernehmen.
Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und band ihr noch feuchtes Haar zu einem Dutt zusammen. Sie hatte nicht vor, das Hotelzimmer heute Abend noch einmal zu verlassen. Es war schon spät und sie musste am nächsten Tag früh raus, denn ein wichtiger Termin mit dem aktuellen Leiter dieses Hotels erwartete sie. Dafür wollte sie selbstverständlich fit sein, denn dies würde ein wichtiger Deal für die Van-Huston-Hotelkette werden.
Noch immer leise summend ließ sie sich auf dem Bett nieder und schaltete den Fernseher ein. Das Zimmer war viel zu groß für sie, doch ihr Vater war stets großzügig und spendierte ihr jedes Mal eine Suite, wenn sie im Außendienst unterwegs war.
Während sie durch das Fernsehprogramm zappte, klopfte es zwei Mal an der Tür.
»Zimmerservice«, drang eine dumpfe Stimme zu ihr hinein.
Nanu? Jetzt wollte jemand putzen? Das war aber ungewöhnlich. Möglicherweise stand jedoch auch nur ein Azubi vor der Tür, der noch mit den richtigen Begriffen haderte. Sie sollte einfach mal nachschauen, was es gab. Vielleicht überbrachte der Hotelchef ja eine Nachricht bezüglich des anstehenden Termins für sie.
Margret legte die Fernbedienung weg, band ihren Morgenmantel fester zu und öffnete die Tür einen Spalt breit. Davor stand ein junger Mann in einer der Room-Service-Uniformen des Hotels und hatte einen Servierwagen dabei.
»Oh, Room Service«, korrigierte sie ihn subtil und lächelte. »Das ist sehr freundlich, aber ich hab’ doch gar nichts bestellt. Sie haben sich sicher an der Tür geirrt.«
»Das ist eine kleine kulinarische Aufmerksamkeit von einem Hotelgast für Sie«, lächelte der junge Mann zurück. Er wirkte nervös. Anscheinend war er wirklich noch neu. Doch das war völlig in Ordnung für Margret. Jeder fing mal an.
»Oh, wie schön!« Bestimmt war das von dem netten Herrn, den sie am vorherigen Abend an der Hotelbar kennen gelernt hatte. Er hatte ganz schön mit ihr geflirtet! Sie musste jedoch zugeben, dass sie nicht ganz abgeneigt war. Der Herr war nämlich sehr charmant gewesen und hatte zum Abschied gesagt, dass er sie gerne wiedersehen würde. Dies hier war sicher eine kleine Aufmerksamkeit von ihm, um in ihrem Gedächtnis zu bleiben.
Lächelnd öffnete Margret die Tür nun ganz und ließ den jungen Room Boy herein. Dieser schob einen Wagen ins Zimmer, welchen er am Tisch abstellte. Hinter ihm schloss Margret die Tür wieder, da sie davon ausging, dass der junge Mann das Mitgebrachte gleich anrichten würde, und sie mochte es nicht, wenn fremde Gäste in ihr Zimmer sehen konnten. Schon gar nicht, wenn sie nur in einen Morgenmantel gekleidet war.
Sowie sie sich umdrehte, stand jedoch ein zweiter, etwas älterer Mann neben dem ersten. Im Gegensatz zu dem korrekt uniformierten jungen Mann war dieser in Jeans und Flanellhemd gekleidet. Seine Haare wirkten ein wenig störrisch und seine Kleidung so, als trüge er sie schon weitaus länger als nur einen Tag. Erschrocken sog Margret die Luft ein.
»Was zum –«, setzte sie an, doch der jüngere Mann unterbrach sie.
»Es tut mir leid, dass wir Sie belästigen müssen, aber Sie müssen uns helfen!« In seiner Stimme lag ein Flehen, in seinen Augen Verzweiflung.
»Aber ich kenne Sie doch gar nicht!«
»Das stimmt, aber … Sie könnten Leben retten!« Es ertönten laute, schnelle Schritte auf dem Flur und Türknallen. Die Männer schauten erschrocken auf die Tür hinter Margret. »Die da draußen wollen uns töten! Können Sie uns verstecken?«
»Bitte!«, setzte der Ältere im Flanellhemd flehend hinzu.
»Aber –« Margret befand sich im Zwiespalt. Diese Männer schienen es ernst zu meinen und tatsächlich Hilfe zu benötigen. Doch würde sie sich selbst nicht auch in Gefahr begeben, würde sie ihnen helfen? Wollte sie das wirklich riskieren? Für zwei Fremde?
Hin- und hergerissen stand sie vor ihnen, während die Schritte im Flur näher kamen und Rufe von tiefen Männerstimmen ertönten.
»Schnell!«, sagte sie nun entschlossen. »Einer von Ihnen kann in den Kleiderschrank, der andere …« Suchend blickte sie sich um. »Dort!« Sie deutete auf den schweren, dunkelroten Vorhang am Fenster. Mit dankenden Blicken nickten ihr die Männer zu und versteckten sich. Keine Minute zu spät, denn prompt in diesem Moment pochte es an der Tür ihrer Suite. Margret schluckte und bemühte sich um Contenance. Sie atmete tief ein, ehe sie schließlich die Tür öffnete und zwei großen, stämmigen Männern in dunklen Anzügen entgegenblickte, die Pistolen im Anschlag hielten.
»Ma’am.« Einer der Männer mit einer Glatze nickte ihr zu.
»Wie kann ich Ihnen helfen?« Sie bemühte sich, möglichst unschuldig und verwirrt zu wirken.
»Wir suchen zwei Männer«, antwortete der Zweite, der im Gegensatz zu dem Glatzköpfigen volles, dunkles Haar hatte, das sich auf seinem Kopf nur so kräuselte. »Sie halten sich gerade in diesem Hotel auf, darum müssen wir Ihr Zimmer durchsuchen.« Noch ehe Margret reagieren konnte, bahnten die Männer sich einen Weg an ihr vorbei in die Suite.
»Ich muss doch bitten, ich habe nicht –«
»Ma’am, wir haben einen Durchsuchungsbefehl. Diese Männer sind schwer bewaffnet und höchst gefährlich.«
Gefährlich? Margrets Augen wurden groß und sie grübelte, welche dieser Männer logen. Wem sollte sie Glauben schenken? Half sie gerade möglicherweise den Falschen?
Die Männer in Anzügen durchsuchten jeden Winkel ihrer Suite auf leisen Sohlen, die Pistolen erhoben.
Wer sprach die Wahrheit? Wer brauchte wirklich Hilfe? Ängstlich schlang sie die Arme um ihren Körper. Wo war sie hier nur hineingeraten? Gerade noch hatte sie friedlich und ahnungslos etwas Fernsehen schauen wollen und nun stand sie zwischen zwei ihr unbekannten Fronten und musste sich für die richtige entscheiden. Eine Entscheidung, die möglicherweise über Leben und Tod richten würde.
»Wenn Sie etwas gesehen haben, dann verraten Sie es uns.« Der Lockenkopf war zurückgekehrt und schaute Margret ernst an. »Sollten Sie diese Männer bewusst versteckt halten, machen Sie sich strafbar.«
»W-was haben sie denn getan?«, erkundigte sie sich unsicher.
Die Pistole noch immer im Anschlag antwortete er: »Sie schleichen sich als Zimmerservice verkleidet in Hotelzimmer und rauben deren Bewohner aus. Und wenn diese anwesend sein sollten«, der Mann fuhr sich ausdruckslos mit dem Finger über die Kehle, »bye, bye.«
Margrets Kinnlade klappte unwillkürlich nach unten. Als sie dies bemerkte, schloss sie ihren Mund wieder und versuchte, sich zu sammeln. Sie hatte soeben zwei Diebe und Mörder in ihr Zimmer gelassen? Natürlich musste sie diese verraten, sonst würde sie das nächste Opfer sein, sobald die Männer im Anzug das Zimmer wieder verließen, ohne die beiden falschen Hotelmitarbeiter aufgespürt zu haben. Und sie würden sie doch nicht anlügen, oder? Sie wirkten so seriös in ihren Anzügen, wie sie die Zimmer ihrer Suite durchsuchten. Doch die beiden vom angeblichen Room Service hatten so aufrecht gewirkt. Der flehende Ton, die Verzweiflung in ihren Augen. Als würden sie ebenfalls auf Leben und Tod verfolgt.
»Ma’am?« Die tiefe Stimme des Gelockten holte sie zurück. »Haben Sie die beiden nun gesehen oder nicht?«
Margret rang mit sich, doch schließlich hob sich ihr Arm beinahe wie von alleine und deutete zuerst auf den Kleiderschrank, dann auf den dunkelroten Vorhang.
Dankend – so nahm Margret an – nickte der Lockenkopf ihr zu und blickte zur Tür, in der soeben sein Kollege wieder erschienen war. Mit dem Kopf deutete er diesem die Verstecke an und nach einer kurzen, stummen Absprache traten sie leise auf den Vorhang und den Kleiderschrank zu. Margret biss die Zähne fest aufeinander und wich zurück. Wie automatisch hielt sie die Luft an, als sich die Hände der Agenten – waren es Agenten? – der Schranktür und dem Vorhang näherten. Als hätten sie gemeinsam stumm bis drei gezählt, zogen sie zugleich beides auf und mit einem Mal schossen die zwei Gesuchten an ihnen vorbei in Richtung Tür.
»Stehen geblieben, ihr Bastarde!«, brüllte der Lockenkopf und setzte ihnen hinterher. Der Glatzkopf tat es ihm nach, wobei er Margret unwirsch zur Seite stieß. Sie brüllten, trampelten und kurz darauf fielen Schüsse. Jemand schrie und als Margret in den Flur blickte, lagen die zwei Geflüchteten auf dem Boden. Blut quoll aus den Schusswunden an ihren Köpfen. Das alles war so furchtbar schnell passiert, dass die Informationen einen Moment brauchten, bevor sie in ihr Gehirn vordrangen.
Der Glatzköpfige beugte sich hinunter und überzeugte sich vom Tod der Männer.
Wo waren eigentlich die anderen Hotelgäste? Mussten sie nicht aufgewacht sein von dem Lärm? Sicher traute sich niemand hinaus. Margret atmete tief ein und aus, während der Lockenkopf auf sie zukam und zufrieden grinste.
»Danke, Püppchen. Du hast uns soeben geholfen, zwei unserer drei letzten Zeugen auszuschalten.«
Der Glatzkopf lachte und kam nun ebenfalls zurück zur Suite gelaufen.
»Zeugen?« Margret war völlig von der Rolle.
»Und jetzt bist nur noch du übrig.« Rabiat packte der Lockenkopf sie am Arm und zwang sie im Zimmer auf einen Stuhl, wo er sie mit der Kordel des dunkelroten Vorhangs festband. Sie zappelte und wand sich, doch gegen diesen Schrank von Mann hatte sie keinerlei Chance. Während sie festgebunden wurde, durchsuchte der Glatzkopf ruppig ihre Schränke und sammelte alles ein, was wertvoll aussah. Da ging Margret ein Licht auf: Nicht die toten Männer im Flur waren die Diebe und Mörder gewesen, sondern die Männer, die sie für Agenten gehalten hatte.
»Und jetzt, Püppchen, sag bye, bye.«
Der Lockige entsicherte seine Pistole und noch ehe Margret einen klaren Gedanken fassen konnte, ertönte ein ohrenbetäubender Knall.
Erschrocken fuhr Margret hoch und blickte sich in der Suite um. Alles war ordentlich und hinter dem dicken Vorhang blitzten die ersten milchigen Sonnenstrahlen durch dick fallende Schneeflocken hindurch. Im Fernsehen lief die Wiederholung eines Krimis, in dem gerade wild herumgeballert wurde. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits halb neun war. Margret merkte, dass sie nur geträumt haben musste, und lachte erleichtert auf.
Ein Traum. Alles bloß ein Traum! Gott sei Dank.
Seufzend schaltete sie den Fernseher aus und stand auf, um sich schnell für das Frühstück und den anschließenden Termin fertig zu machen.
Verrückt. Sicher hatte ihr Unterbewusstsein irgendwie den Krimi mitverarbeitet.
Zufrieden und erleichtert, dass sie lebendig und alles wie immer war, fuhr sie mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss. Lächelnd betrat sie den Frühstücksraum und stutzte, als ihr zwei Männer in dunklen Anzügen entgegenkamen. Einer hatte eine Glatze, einer dunkles, lockiges Haar.
»Morgen, Püppchen«, grinste der Lockenkopf und beide zogen dunkle Sonnenbrillen auf, als sie den Raum verließen.
Sandra Bollenbacher
MARiNA
Heute sagte mir Isabelle, dass sie die kleinen Orangen mit den Kernen eigentlich lieber mag als die, die ich gekauft habe. Ich hätte fast losgeheult. Nicht wegen der Orangen, sondern wegen der Erinnerungen, die mit Isabelles Gemecker aufkamen. Ich habe es ihr nie gesagt, aber ich war vor ihr schon einmal verheiratet.
Meine erste Frau, Marina, verschwand fünf Jahre nach unserer Hochzeit. Sie hat auch immer über die Orangen gemeckert. Bei ihr waren es jedoch nicht nur die Orangen: Es begann mit den Bananen (sie waren zu lang) und den Kartoffeln (konnte ich keine dickeren finden?) und selbst die Äpfel entsprachen nicht ihren Erwartungen, obwohl ich besonders darauf geachtet hatte, genau die zu kaufen, die sie immer gekauft hatte. Normalerweise war sie es gewesen, die die Einkäufe erledigt hatte, doch zu jener Zeit war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war. Alles hatte sich geändert.
Begonnen hatte es Weihnachten 2006.
Heilig Abend war an einem Samstag gewesen und am Dienstag darauf stellte sie mir die sonderbarste Frage: »Kannst du meinen kleinen Finger sehen?«
Natürlich habe ich erst einmal gelacht, aber die Verzweiflung in ihrer Stimme ließ mich verstummen.
»Geht es dir gut, Liebling?«
