Der Exorzismus der Gretchen Lang - Grady Hendrix - E-Book

Der Exorzismus der Gretchen Lang E-Book

Grady Hendrix

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Beschreibung

Wahn oder Wirklichkeit? Ein Highschool-Mädchen ist von einem Dämon besessen – oder verliert ihre besten Freundin den Verstand? Dieser Horror-Thriller von Kultautor Grady Hendrix ist ein diabolisches Vergnügen für alle Fans von Stephen King und natürlich »Der Exorzist« Charleston, South Carolina, 1988: Abby Rivers und Gretchen Lang sind seit ihrer Kindheit beste Freundinnen. Doch nun, am Ende der Highschool, verändert sich Gretchen immer mehr, wird unberechenbar, impulsiv und grausam. Als die beiden Freundinnen mit zwei anderen Mädchen eines Abends LSD nehmen, scheint die Droge keine Wirkung zu zeigen. Doch dann will Gretchen nackt schwimmen gehen und kehrt nicht zurück. Erst am nächsten Morgen findet Abby die völlig verwirrte Gretchen in einer unheimlichen, verfallenen Hütte im Wald. Was zuerst wie die Folgen des LSD-Rauschs aussieht, wird immer unheimlicher. Gretchen verändert sich, vernachlässigt ihr Äußeres, hat Halluzinationen, wird paranoid und zieht eines Tages sogar eine ganze Heerschar von Vögeln an, die sich gegen die Fensterscheiben ihres Hauses stürzen. Zu allem Überfluss dringen nachts Sex-Geräusche aus Gretchens Zimmer, woraufhin die christlichen Eltern ihre Jungfräulichkeit überprüfen lassen – ohne Ergebnis. Gretchens beste Freundin Abby hat einen schrecklichen Verdacht: Ist Gretchen von einem Dämon besessen? Oder treibt die schwüle Hitze Charlestons nun auch Abby in den Wahnsinn? Horror, Highschool und die 80er – teuflisch böse und aberwitzig cool! "Ein liebevoll geschriebenes schwarzhumoriges Buch." - Münchner Merkur über Grady Hendrix' »Horrostör«

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Seitenzahl: 468

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GradyHendrix

Der Exorzismus der Gretchen Lang

Horrorthriller

Ins Deutsche übertragen von Jakob Schmidt

Knaur e-books

Über dieses Buch

Charleston, South Carolina, 1988: Abby Rivers und Gretchen Lang sind seit ihrer Kindheit beste Freundinnen. Doch nun, am Ende der Highschool, verändert sich Gretchen immer mehr, wird unberechenbar, impulsiv und grausam.

Als die beiden Freundinnen mit zwei anderen Mädchen eines Abends LSD nehmen, scheint die Droge keine Wirkung zu zeigen. Doch dann will Gretchen nackt schwimmen gehen und kehrt nicht zurück. Erst am nächsten Morgen findet Abby die völlig verwirrte Gretchen in einer unheimlichen, verfallenen Hütte im Wald. Was zuerst wie die Folgen des LSD-Rauschs aussieht, wird immer unheimlicher. Gretchen verändert sich, vernachlässigt ihr Äußeres, hat Halluzinationen, wird paranoid und zieht eines Tages sogar eine ganze Heerschar von Vögeln an, die sich gegen die Fensterscheiben ihres Hauses stürzen. Zu allem Überfluss dringen nachts Sex-Geräusche aus Gretchens Zimmer, woraufhin die christlichen Eltern ihre Jungfräulichkeit überprüfen lassen – ohne Ergebnis.

Gretchens beste Freundin Abby hat einen schrecklichen Verdacht: Ist Gretchen von einem Dämon besessen? Oder treibt die schwüle Hitze Charlestons nun auch Abby in den Wahnsinn?

Inhaltsübersicht

Unsere große Stunde!Don’t You Forget About MeWe Got the BeatThat’s What Friends Are ForParty All The TimeThe Number of the BeastSunday Bloody SundayIt’s the End of the World as We Know It (and I Feel Fine)One Thing Leads to AnotherParents Just Don’t UnderstandBroken WingsParanoimiaKing of PainJenny (867–5309)Total Eclipse of the HeartNew SensationMissionary ManDancing in the DarkShe Blinded Me With ScienceUnion of the SnakeLike a PrayerBeds are BurningTonight She ComesHarden My HeartDon’t Stop ’Til You Get EnoughI Think We’re Alone NowI Would Die 4 UFast CarAnd She WasGrady HendrixEine Verneigung …Bildnachweis
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Albemarle Academy

Charleston, South Carolina

Schuljahr

1988–1989

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»Ich kann nur dazu anhalten, der Freundschaft den Vorzug vor allen anderen menschlichen Belangen zu geben. Es gibt nämlich nichts, was der menschlichen Natur so sehr entspricht wie sie. Nichts, was dem Menschen so viel bedeuten kann, im Guten wie im Schlechten.«

– Cicero

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Unsere große Stunde!

»Mit der nötigen Begeisterung kann man alles vollbringen. Begeisterung ist die Hefe, die die Hoffnung zu den Sternen treibt.«

– Henry Ford

Kaum zu glauben, dass es so weit ist. Wir haben die Spaßwoche überlebt, Mrs Massey hat uns mit Kreide beworfen, wir haben mit Dr. Carr auf dem Rasen Vollkontakt-Football gespielt, Major hat uns an unsere zentralen Werte erinnert, und nun geht schließlich ein weiteres Jahr zu Ende. Für die Oberstufenschüler ist es an der Zeit, behutsame erste Schritte aus dem sicheren Hafen der Albemarle Academy zu wagen und draußen in der weiten Welt die Flügel auszubreiten. Alle anderen sind ihrem Moment im Rampenlicht ein Jahr näher gekommen. Doch für uns alle gilt, dass dies unsere große Stunde ist. Es ist an der Zeit, zu zeigen, dass Vertrauen & Ehre mehr als bloße Worte sind, dass es sich bei ihnen um einen Kodex handelt, den wir verinnerlicht haben, und um eine Verantwortung, die wir teilen. Unsere Eltern waren unsere Mentoren, unsere Lehrer haben uns den Weg gewiesen, aber jetzt sind wir an der Reihe – also schlagt das Jahrbuch 1988–89 auf, lacht, weint und denkt nach, und wachst daran, denn … nun ist unsere große Stunde gekommen!

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Don’t You Forget About Me

Der Exorzist ist tot.

Abby sitzt in ihrem Büro und starrt eine Weile auf die E-Mail, bevor sie auf den blauen Link klickt. Der führt sie auf die Homepage der Zeitung, die für sie immer noch News and Courier heißt, obwohl sie sich vor mindestens fünfzehn Jahren umbenannt hat. Dort schwebt der Exorzist in der Mitte ihres Bildschirms, mit Halbglatze und Pferdeschwanz, und lächelt auf einem briefmarkengroßen, verschwommenen Porträtfoto in die Kamera. Abbys Kiefer beginnt zu schmerzen, und die Kehle schnürt sich ihr zu. Sie merkt nicht einmal, dass sie die Luft angehalten hat.

Der Exorzist hat Brennholz nach Lakewood gefahren und auf der Interstate 95 angehalten, um einem Touristen beim Reifenwechsel zu helfen. Gerade als er dabei war, die Radmuttern anzuziehen, ist ein Dodge Caravan auf den Seitenstreifen geschlingert und hat ihn frontal erwischt. Er war tot, noch bevor der Krankenwagen eintraf. Die Frau, die den Minivan fuhr, hatte drei verschiedene Sorten Schmerzmittel eingeworfen – vier, wenn man das Bier mitzählt. Gegen sie wurde Anklage wegen Drogen am Steuer erhoben.

»Nimm dir Zeit und nicht das Leben«, denkt Abby. »Du hast die Wahl.«

Der Spruch kommt ihr mit einem Mal in den Sinn, obwohl sie bis eben nicht mal geglaubt hätte, sich noch an ihn zu erinnern. Jetzt kann sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, ihn jemals vergessen zu haben. Zu ihrer Schulzeit waren die Highways von South Carolina mit diesen Werbetafeln gepflastert. Ihr Büro, ihr Konferenztermin um elf, ihre Wohnung, ihre Hypothek, ihre Scheidung, ihre Tochter – nichts von alledem spielt in diesem Moment eine Rolle. Sie findet sich zwanzig Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt und rast in einem schrottreifen VW Golf mit heruntergekurbeltem Fenster und einem Autoradio, aus dem UB40 schallt, über die alte Brücke, den süßen und salzigen Wind im Gesicht. Sie blickt nach rechts und sieht Gretchen auf dem Beifahrersitz. Der Wind zerzaust ihr das blonde Haar, sie hat die Schuhe ausgezogen und sitzt wie ein Indianer im Schneidersitz, und beide zusammen singen sie schief, und so laut sie können, mit. Es ist April 1988, und die Welt gehört ihnen.

Für Abby ist »Freundschaft« ein Wort, dessen scharfe Kanten sich durch übermäßigen Gebrauch längst abgeschliffen haben. »Ich bin mit den Leuten aus der IT-Abteilung befreundet«, würde sie vielleicht sagen, oder: »Nach der Arbeit treffe ich mich mit ein paar Freunden.«

Aber sie erinnert sich noch an die Zeiten, als »Freundschaften« eine todernste Sache für sie waren. Sie und Gretchen verbrachten Stunden damit, ihre Freunde und Freundinnen nach Wichtigkeit zu sortieren, festzustellen, welche ihre besten waren und welche nur Bekanntschaften, und darüber zu diskutieren, ob man zwei beste Freundinnen gleichzeitig haben konnte. Immer und immer wieder schrieben sie den Namen der jeweils anderen in lila Tinte nieder, trunken vom Dopamin, weil sie zu jemandem gehörten, weil eine völlig Fremde sich für sie entschieden hatte, eine Person, die einen kennen wollte und für die es eine Rolle spielte, dass man lebte.

Sie und Gretchen waren beste Freundinnen, und dann kam der Fall. Und sie fielen.

Und dann rettete ihr der Exorzist das Leben.

Abby erinnert sich an die Highschool-Zeit, aber in Form von Bildern, nicht in Form von Ereignissen. Sie erinnert sich an die Auswirkungen, aber die Ursachen sind ihr nur verschwommen im Bewusstsein. Nun kehrt all das in einer unaufhaltsamen Flut zurück. Das Geschrei draußen auf dem Schulrasen. Die Eulen. Der Gestank in Margarets Zimmer. Der Brave Max. Was Glee Schreckliches widerfahren ist. Aber vor allem erinnert sie sich daran, was mit Gretchen passiert ist und wie 1988 alles so völlig in den Arsch gegangen ist, in dem Jahr, in dem der Teufel von ihrer besten Freundin Besitz ergriff.

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We Got the Beat

1982. Ronald Reagan zog in den Krieg gegen Drogen. Nancy Reagan rief die Menschen dazu auf, »einfach Nein zu sagen«. Der Epcot-Park in Disneyworld wurde endlich eröffnet, Midway brachte Pac-Man in die Spielhallen, und Abby Rivers war nun offiziell erwachsen, weil sie endlich im Kino geweint hatte. Das war bei E.T. – Der Außerirdische gewesen, und sie ging immer wieder rein, fasziniert von ihrer unfreiwilligen Reaktion, den Tränen hilflos ausgeliefert, die ihr übers Gesicht liefen, wenn E.T. und Elliott die Hände nach einander ausstreckten.

Es war das Jahr, in dem sie zehn wurde.

Es war das Jahr der Feier.

Es war das Jahr, in dem alles anders wurde.

Eine Woche vor Thanksgiving kam Abby mit einundzwanzig Einladungskarten in Rollschuhform in die vierte Klasse von Mrs Link und lud alle ihre Klassenkameraden zur Feier ihres zehnten Geburtstags für Samstag, den vierten Dezember, um halb vier auf die Redwing-Rollschuhbahn ein. Es hatte Abbys großer Moment sein sollen. Sie hatte Roller Boogie mit Linda Blair gesehen, sie hatte Olivia Newton-John in Xanadu gesehen, sie hatte Patrick Swayze oben ohne in Skate Town, U.S.A. gesehen. Nach monatelangem Üben war sie so gut wie alle drei zusammen. Sie würde nicht länger Schlappi-Abby sein, sondern Abby Rivers, die Rollschuhprinzessin.

Dann kamen die Thanksgiving-Ferien, und am ersten Schultag danach trat Margaret Middleton vor die Klasse und lud alle für Samstag, den vierten Dezember, zum Reiten auf ihre Polo-Plantage ein.

»Mrs Link? Mrs Link? Mrs Link?« Abby wedelte wild mit dem Arm. »An dem Tag feiere ich Geburtstag.«

»Ach ja, stimmt«, sagte Mrs Link, als hätte Abby nicht eine extragroße Rollschuhkarte mit allen Informationen zu ihrer Geburtstagsfeier an die Klassenpinnwand geheftet. »Aber die kannst du ja verschieben.«

»Aber …« Abby hatte nie zuvor einer Lehrerin widersprochen, aber nun wagte sie einen Versuch. »Aber meinen Geburtstag?«

Mrs Link seufzte und machte eine beschwichtigende Geste in Margaret Middletons Richtung.

»Deine Feier ist erst um halb vier«, sagte sie zu Abby. »Sicher können alle auch noch zu deiner Party, nachdem sie bei Margaret geritten sind.«

»Aber sicher geht das, Mrs Link«, sagte Margaret Middleton affektiert. »Dafür ist noch mehr als genug Zeit.«

Am Donnerstag vor ihrem Geburtstag brachte Abby der Klasse zur Erinnerung fünfundzwanzig E.-T.-Muffins mit. Alle aßen sie, was Abby für ein gutes Zeichen hielt. Am Samstag zwang sie ihre Eltern, eine Stunde früher mit ihr zur Redwing-Rollschuhbahn zu fahren, damit sie alles vorbereiten konnten. Um Viertel nach drei sah der Partyraum aus, als wäre E.T. darin explodiert. Es gab E.-T.-Luftballons, E.-T.-Tischdecken, E.-T.-Partyhütchen, Mini-Reeses neben jedem einzelnen E.-T.-Papierteller, einen Erdnussbutter-Schokoladen-Eiskuchen mit einem E.-T.-Gesicht drauf, und an der Wand hinter Abbys Platz hing Abbys kostbarster Besitz, der unter keinen Umständen schmutzig oder fleckig, beschädigt oder zerrissen werden durfte: ein echtes E.-T.-Filmplakat, das ihr Vater ihr aus dem Kino mitgebracht und zum Geburtstag geschenkt hatte.

Schließlich war es halb vier.

Niemand kam.

Um fünf nach halb vier war der Raum noch immer leer.

Um zwanzig vor vier war Abby den Tränen nahe.

Draußen auf der Rollschuhbahn lief »Open Arms« von Journey. Die älteren Kinder fuhren an dem Plexiglasfenster zum Partyraum vorbei, und Abby wusste, dass alle sie auslachten, weil sie an ihrem Geburtstag allein war. Sie grub die Fingernägel tief in die milchweiße Haut auf der Innenseite ihrer Handgelenke und konzentrierte sich auf den brennenden Schmerz, um nicht loszuweinen. Schließlich, um zehn vor vier, als ihre Handgelenke von leuchtend roten, halbmondförmigen Malen übersät waren, wurde Gretchen Lang, das komische neue Mädchen, das von Ashley Hall zu ihnen gewechselt hatte, von ihrer Mom ins Zimmer geschoben.

»Hallo, hallo«, trällerte Mrs Lang mit klappernden Armreifen. »Tut mir leid, dass wir so spät … wo sind denn alle?«

Abby brachte keine Antwort heraus.

»Die stecken auf der Brücke fest«, eilte Abbys Mom ihr zu Hilfe.

Mrs Langs Miene entspannte sich. »Gretchen, warum gibst du deiner kleinen Freundin nicht ihr Geschenk?«, sagte sie, drückte Gretchen einen verpackten Ziegelstein in die Hände und schob sie nach vorne. Gretchen stemmte die Hacken in den Boden und lehnte sich nach hinten. Mrs Lang versuchte es mit einer anderen Taktik. »Diese Figur kennen wir nicht, oder, Gretchen?«, fragte sie mit einem Blick auf E.T.

Das musste doch wohl ein Witz sein, dachte Abby. Wie konnte man die beliebteste Person auf dem ganzen Planeten nicht kennen?

»Ich weiß, wer das ist«, wandte Gretchen ein. »Das ist E.T. der … Außerblödische?«

Abby begriff es einfach nicht. Was redeten diese irren Spinner?

»Der Außerirdische«, berichtigte Abby sie, als sie ihre Stimme wiederfand. »Das bedeutet, dass er von einem anderen Planeten kommt.«

»Ist ja herzallerliebst«, sagte Mrs Lang. Dann verabschiedete sie sich und machte sich schnellstens vom Acker.

Tödliches Schweigen hing wie ein Pesthauch in der Luft. Alle scharrten mit den Füßen. Für Abby war das hier noch schlimmer, als allein zu sein. Inzwischen war absolut klar, dass niemand sonst zu ihrer Geburtstagsfeier kommen würde, und ihre Eltern mussten sich der Tatsache stellen, dass ihre Tochter keine Freunde hatte. Schlimmer noch, ein komisches Mädchen, das keine Ahnung von Außerirdischen hatte, wurde Zeugin ihrer Demütigung. Gretchen verschränkte die Arme vor der Brust, sodass das Papier um ihr Geschenk leise knisterte.

»Wie nett von dir, dass du ein Geschenk mitgebracht hast«, sagte Abbys Mom. »Das wäre doch nicht nötig gewesen.«

Natürlich ist das nötig gewesen, dachte Abby. Ich habe schließlich Geburtstag.

»Alles Gute zum Geburtstag«, brummelte Gretchen und streckte Abby mit einer abrupten Bewegung ihr Geschenk entgegen.

Abby wollte das Geschenk nicht. Sie wollte ihre Freunde hier haben. Warum war keiner da? Aber Gretchen stand einfach wie eine Schaufensterpuppe da, das Geschenk vor sich ausgestreckt. Alle Augen ruhten auf Abby, also nahm sie es entgegen, aber mit einer schnellen Bewegung, damit niemand auf den Gedanken kam, dass sie mit dem Gang der Dinge einverstanden war. Sofort wusste sie, dass es sich bei dem Geschenk um ein Buch handelte. Hatte dieses Mädchen denn überhaupt keine Ahnung? Abby wollte E.-T.-Kram, kein Buch. Aber vielleicht war es ja ein E.-T.-Buch?

Selbst diese kleine Hoffnung starb, als sie das Geschenk vorsichtig auspackte und feststellte, dass es sich um eine Kinderbibel handelte. Abby wendete das Buch hin und her, in der Hoffnung, dass es sich um einen Teil eines größeren Geschenks handelte, bei dem es irgendwie auch um E.T. ging. Auf der Rückseite war nichts. Sie schlug es auf. Nichts. Es war wirklich das Neue Testament für Kinder. Abby blickte auf, um festzustellen, ob auch die restliche Welt völlig aus den Fugen geraten war, aber sie sah bloß Gretchen, die ihren Blick mit großen Augen erwiderte.

Abby kannte die Regeln: Sie musste Danke sagen und so tun, als freute sie sich, damit niemand gekränkt war. Aber vielleicht war sie ja gekränkt? Sie hatte Geburtstag, und niemand dachte auch nur das geringste bisschen an sie. Niemand steckte auf der Brücke fest. Alle waren bei Margaret Middleton reiten, und Margaret bekam Abbys Geschenke.

»Was sagt man, Abby?«, fragte ihre Mom drängend.

Nein. Sie würde es nicht sagen. Wenn sie es sagte, dann bedeutete das, dass sie mit alldem einverstanden war, dass es in Ordnung war, wenn ein komisches Mädchen, das sie nicht kannte, ihr eine Bibel schenkte. Wenn sie es sagte, dann würden ihre Eltern denken, dass sie und diese Verrückte Freundinnen waren, und dafür sorgen, dass sie von nun an immer zu Abbys Geburtstag kam, und dann würde sie für alle Zeiten nur noch Kinderbibeln geschenkt bekommen.

»Abby?«, fragte ihre Mom.

»Nein.«

»Abby«, sagte ihr Dad. »Sei nicht so.«

»Du wirst dich sofort bei dem kleinen Mädchen bedanken«, sagte ihre Mom.

Mit einem Mal wurde Abby klar, dass es einen Ausweg für sie gab: Sie konnte einfach wegrennen. Was sollten sie schon machen? Sie anspringen und am Boden festhalten? Also rannte sie los, rempelte Gretchen auf dem Weg an und floh in den Lärm und die Dunkelheit der Rollschuhbahn hinaus.

»Abby!«, rief ihre Mom, bevor Journey sie übertönte.

Steve Perrys Stimme erhob sich in tiefster Aufrichtigkeit über das Rasseln der Becken und das Tönen der Rockballaden-E-Gitarren, die gegen die Wände der Rollschuhbahn brandeten, während gurrende Pärchen dicht aneinandergeschmiegt dahinfuhren.

Abby schlängelte sich zwischen älteren Kindern hindurch, die auf Rollschuhen Pizza und Bierkrüge an ihre Plätze trugen und nach ihren Freunden riefen. Dann riss sie die Tür zur Damentoilette auf, stürmte in eine Kabine, knallte die orangefarbene Tür hinter sich zu, sank auf den Klodeckel und fühlte sich elend.

Alle wollten auf Margaret Middletons Plantage, weil Margaret Middleton Pferde hatte, und es war wirklich saudumm von Abby gewesen, zu glauben, dass jemand kommen würde, um ihr beim Rollschuhfahren zuzusehen. Niemand wollte sie Rollschuhfahren sehen. Die Leute wollten auf Pferden reiten, und es war dumm, dumm, dumm von ihr gewesen, sich etwas anderes einzubilden.

»Open Arms« wurde lauter, als jemand die Tür öffnete.

»Abby?«, erklang eine Stimme.

Es war Wie-hieß-sie-noch-mal. Abby war sofort misstrauisch. Wahrscheinlich hatten ihre Eltern sie zum Spionieren reingeschickt. Abby zog die Füße auf den Klodeckel hoch.

Gretchen klopfte an die Kabinentür.

»Abby? Bist du da drin?«

Abby saß sehr, sehr leise da und schaffte es, ihr Weinen zu einem leichten Wimmern zu dämpfen.

»Ich wollte dir keine Kinderbibel schenken«, sagte Gretchen durch die Tür. »Meine Mom hat die ausgesucht. Ich habe ihr gesagt, dass sie sie nicht nehmen soll. Ich wollte dir was mit E.T. kaufen. Es gab einen, der hatte ein leuchtendes Herz.«

Das war Abby alles egal. Dieses Mädchen war grauenhaft. Abby hörte Bewegungen draußen vor der Kabine, und dann steckte Gretchen den Kopf unter der Tür durch. Abby war entsetzt. Was machte die da? Sie kroch zu ihr rein! Mit einem Mal stand Gretchen vor der Toilette, obwohl die Kabinentür geschlossen war, was eigentlich bedeutete, dass man für sich sein konnte. Abby war völlig von den Socken. Sie starrte dieses verrückte Mädchen an und wartete ab, was es als Nächstes tun würde. Langsam blinzelte Gretchen mit ihren riesigen blauen Augen.

»Ich mag keine Pferde«, sagte sie. »Die riechen schlecht. Und ich finde Margaret Middleton auch nicht nett.«

Das zumindest ergab für Abby einen gewissen Sinn.

»Pferde sind dumm«, fuhr Gretchen fort. »Alle finden sie toll, aber sie haben in etwa so viel Hirn wie ein Hamster, und wenn man laute Geräusche macht, erschrecken sie sich, obwohl sie größer sind als wir.«

Abby wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.

»Ich weiß nicht, wie man Rollschuh läuft«, sagte Gretchen. »Aber ich finde, Leute, die Pferde mögen, sollten sich lieber Hunde kaufen. Hunde sind nett, sie sind kleiner als Pferde, und sie sind schlau. Aber nicht alle Hunde. Wir haben einen Hund, der Max heißt, und der ist dumm. Wenn er beim Rennen bellt, fällt er hin.«

Langsam fühlte Abby sich unbehaglich. Was, wenn jemand reinkam und sah, dass so ein seltsames Mädchen bei ihr in der Kabine stand? Sie wusste, dass sie etwas sagen musste, und weil ihr nur eine Sache einfiel, sagte sie eben die: »Ich wünschte, du wärst nicht hier.«

»Ich weiß.« Gretchen nickte. »Meine Mom wollte, dass ich zu Margaret Middleton gehe.«

»Warum hast du das dann nicht gemacht?«, fragte Abby.

»Du hast mich zuerst eingeladen«, sagte Gretchen.

Ein Blitzschlag spaltete Abby den Schädel. Natürlich! Genau das hatte sie ja gesagt. Sie hatte die Leute zuerst eingeladen! Alle hätten HIER bei IHR sein müssen, weil sie sie ZUERST eingeladen hatte und Margaret Middleton es ihr nur NACHGEMACHT hatte. Dieses Mädchen wusste, was Sache war.

Vielleicht war doch nicht alles ruiniert. Vielleicht konnte Abby diesem komischen Mädchen zeigen, wie gut sie Rollschuh laufen konnte, und dann würde es allen in der Schule davon erzählen. Dann würden ihr alle zusehen wollen, aber Abby würde nie wieder Geburtstag feiern, sodass sie keine Gelegenheit dazu bekommen würden, wenn sie sie nicht darum anflehten, es vor versammelter Schule zu machen, und dann würde sie es vielleicht machen, und alle würden total von den Socken sein, aber nur, wenn sie sie wirklich darum anflehten. Den Anfang würde sie machen, indem sie dieses Mädchen beeindruckte, und das war sicher nicht weiter schwer. Schließlich wusste es noch nicht mal, wie man Rollschuh lief.

»Ich bringe dir das Rollschuhlaufen bei, wenn du möchtest«, sagte Abby. »Ich bin wirklich gut darin.«

»Wirklich?«, fragte Gretchen.

Abby nickte. Endlich nahm sie jemand ernst.

»Ich bin wirklich gut«, sagte sie.

Nachdem Abbys Dad ihnen Rollschuhe ausgeliehen hatte, brachte Abby Gretchen bei, wie man sie total eng schnürte, und half ihr bei dem Weg über den Teppich, auf dem man die Füße weit heben musste, um nicht zu stolpern. Abby brachte Gretchen in den Anfängerbereich und zeigte ihr ein paar von den einfachsten Drehungen, aber nach ein paar Minuten brannte sie drauf, ihren Kram vorzuführen.

»Willst du auf die große Bahn?«, fragte Abby.

Gretchen schüttelte den Kopf.

»Wenn ich bei dir bleibe, musst du keine Angst haben«, sagte Abby. »Ich lasse nicht zu, dass dir etwas Schlimmes passiert.«

Gretchen dachte einen Moment lang darüber nach.

»Hältst du mich bei den Händen?«

Abby griff in ebendem Moment nach Gretchens Händen und zog sie auf die Bahn, als der Ansager den Ring freigab, und mit einem Mal war alles voller Teenager, die mit Warpgeschwindigkeit an ihnen vorbeisausten. Ein Junge hob ein Mädchen mitten auf der Tanzfläche an der Hüfte empor und wirbelte es im Kreis, und der DJ schaltete die Discokugel ein, sodass überall Sterne durch die Dunkelheit wanderten, und die ganze Welt drehte sich. Gretchen zuckte zusammen, wann immer jemand schnell wie der Teufel an ihnen vorbeiraste, weshalb Abby sich umdrehte und vor ihr herlief, sie an ihren weichen, verschwitzten Händen weiter in den Strom zog. Sie liefen nun schneller, machten die erste Biegung, beschleunigten weiter, und Gretchen hob erst den einen Fuß vom Boden und stieß sich ab und dann den anderen, und dann liefen sie richtig Rollschuh, und in diesem Moment setzten die Trommeln ein, und Abbys Herz machte einen Satz, und Klavier und Gitarre ertönten, und über die Lautsprecher erklang »We Got the Beat«. Das Licht, das auf die Discokugel traf, flackerte auf, und sie drehten sich mit der Menge in einer Umlaufbahn um das Paar in der Mitte, und sie hatten den Beat.

Freedom people marching on their feet

Stallone time just walking in the street

They won’t go where they don’t know

But they’re walking in line

We got the beat!

We got the beat!

Abby verstand den Text hundertprozentig falsch, aber darauf kam es nicht an. Sie wusste so sicher, wie sie noch nie in ihrem Leben etwas gewusst hatte, dass sie und Gretchen diejenigen waren, von denen die Go-Gos sangen. Sie hatten den Beat! Für ihre Zuschauer waren sie nichts weiter als zwei Kinder, die langsam im Kreis über die Rollschuhbahn liefen und große Kurven machten, während die anderen an ihnen vorbeisausten, aber in Wirklichkeit geschah etwas ganz anderes. Für Abby war die Welt ein elektrisches Glitzer-Wunderland voller heißer rosa Lichter, neongrüner Lichter, türkis- und magentafarbener Lichter, die im Takt der Musik aus- und angingen. Alle tanzten, sie flogen so schnell, dass ihre Rollschuhe kaum den Boden berührten, glitten um die Kurven, wurden noch schneller, und ihre Herzen schlugen im Takt des Schlagzeugs, und Gretchen war zu Abbys Geburtstagsfeier gekommen, weil Abby sie zuerst eingeladen hatte, und Abby hatte ein echtes E.-T.-Poster, und jetzt konnten sie den ganzen Kuchen alleine essen.

Und irgendwie wusste Gretchen genau, was Abby dachte. Sie erwiderte Abbys Lächeln, und Abby wollte überhaupt niemanden sonst mehr bei ihrer Geburtstagsfeier haben, weil ihr Herz im Takt mit der Musik schlug und sie sich drehten und Gretchen laut rief:

»Das! Ist! Irre!«

Dann prallte Abby gegen Tommy Cox, verfing sich in seinen Beinen und landete auf der Nase, wobei sie sich den Schneidezahn durch die Unterlippe bohrte und einen Riesenblutflatschen auf ihr E.-T.-T-Shirt spritzte. Ihre Eltern mussten mit ihr in die Notaufnahme fahren, wo Abby mit drei Stichen genäht wurde. Irgendwann im Verlauf der ganzen Sache holten Gretchens Eltern ihre Tochter von der Rollschuhbahn ab, und Abby sah sie erst am Montag in der ersten Stunde wieder.

An jenem Morgen war ihr Gesicht geschwollen wie ein Luftballon, der kurz vorm Platzen stand. Abby kam früh in die Klasse und versuchte, die geschwollenen Lippen nicht zu bewegen. Das Erste, was sie hörte, war Margaret Middleton.

»Ich verstehe nicht, warum du nicht gekommen bist«, sagte Margaret giftig, und Abby sah, dass sie über Gretchens Pult gebeugt stand. »Alle waren da. Alle sind lange geblieben. Hast du Angst vor Pferden?«

Gretchen saß betreten auf ihrem Stuhl, den Kopf gesenkt, sodass ihr Haar auf die Tischplatte hing. Lanie Ott stand neben Margaret und unterstützte sie dabei, über Gretchen herzuziehen.

»Ich bin auf einem Pferd geritten, und es hat zwei hohe Sprünge gemacht«, sagte Lanie Ott.

Die beiden sahen Abby in der Tür stehen.

»Igitt«, sagte Margaret. »Was ist denn mit deinem Gesicht? Das sieht ja aus wie Kotze.«

Abby war wie gelähmt von dem Gefühl rechtschaffenen Zorns, das in ihr aufstieg. Sie war in der Notaufnahme gewesen! Und jetzt machte man sie auch noch dafür runter? Weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte, versuchte Abby es mit der Wahrheit.

»Tommy Cox ist in mich reingelaufen, und meine Lippe musste genäht werden.«

Als sie den Namen Tommy Cox erwähnte, öffnete Lanie Ott den Mund und schloss ihn unverrichteter Dinge wieder, aber Margaret war aus härterem Holz geschnitzt.

»Das ist er nicht«, sagte sie. Und Abby wurde klar, dass Margaret einfach behaupten konnte, dass Abby log, und lieber Himmel, dann würde ihr nie jemand glauben. Margaret fuhr fort: »Lügen ist nicht nett, und es ist unhöflich, eine Einladung einfach zu ignorieren. Du bist unhöflich. Ihr seid beide unhöflich.«

Bei diesen Worten hob Gretchen abrupt den Kopf.

»Abby hat uns zuerst eingeladen«, sagte sie mit loderndem Blick. »Du bist hier die Unhöfliche. Und sie lügt nicht. Ich habe es gesehen.«

»Dann seid ihr beide Lügnerinnen«, sagte Margaret.

Jemand streckte die Hand über Abbys Schulter und klopfte an die offene Tür.

»He, weiß wer von euch Kleinen, wo … oh, he, liebe Güte.«

Tommy Cox stand mit wippenden blonden Locken zehn Zentimeter hinter Abby. Sein oberster Hemdknopf war offen und gab den Blick auf seine glänzende Pukamuschelkette frei, und er lächelte mit seinen absurd weißen Zähnen. Sein Körper strahlte schwere Gravitationswellen ab, die Abby umspülten.

Für einen Moment blieb ihr das Herz stehen. Allen blieb das Herz stehen.

»Verflixt«, sagte er, legte die Stirn in Falten und begutachtete Abbys Unterlippe. »War ich das?«

Niemand hatte sich Abbys Gesicht jemals so genau aus der Nähe angesehen, schon gar nicht der coolste Oberstufenschüler der Albemarle Academy. Sie brachte ein Nicken zustande.

»Übel«, sagte er. »Tut es weh?«

»Ein bisschen?«, brachte Abby heraus.

Er machte ein unglückliches Gesicht, weshalb sie sich umentschied.

»Keine große Sache«, quiekte sie.

Tommy Cox lächelte, und um ein Haar wäre Abby zu seinen Füßen zusammengebrochen. Sie hatte Tommy Cox mit ihren Worten zum Lächeln gebracht. Das war so was wie eine Superheldenkraft.

»Kühlen«, sagte er. Dann hielt er ihr eine Coladose hin, auf der sich Kondenswasserperlen gebildet hatten. »Die ist kalt. Für dein Gesicht, ja?«

Abby zögerte, doch dann nahm sie die Coladose. Man durfte erst ab der siebten Klasse zu den Automaten, und Tommy Cox war zum Automaten gegangen und hatte Abby eine Cola gekauft.

»Kühlen«, sagte sie.

»Entschuldigen Sie, Mr Cox«, sagte Mrs Link und schob sich durch die Tür. »Finden Sie lieber den Weg zurück in den Oberstufenbereich, bevor Sie sich einen Verweis einfangen.«

Mrs Link stapfte zum Lehrerpult und warf ihre Tasche darauf. Alle starrten nach wie vor Tommy Cox an.

»Aber klar doch, Mrs L.«, sagte er. Dann hob er die Hand. »Schlag ein, du zähes kleines Mädel.«

Ganz langsam gab Abby ihm fünf. Seine Hand war kühl und stark und warm und hart, aber weich. Dann wandte er sich zum Gehen, machte einen Schritt, warf einen Blick zurück über die Schulter und zwinkerte ihr zu.

»Immer locker bleiben, kleine Betty«, sagte er.

Alle hörten es.

Abby sah Gretchen an und lächelte, und ihre Naht riss, und ihr Mund wurde von einem salzigen Geschmack erfüllt. Aber das war es wert, denn als sie sich zu Margaret Middleton umdrehte, stand die wie bestellt und nicht abgeholt da, ohne eine schlaue Erwiderung oder sonst etwas vorbringen zu können. Damals wussten sie es noch nicht, aber das, genau dort in Mrs Links Klasse, war der Moment, in dem alles begann: Abby, die Gretchen mit großen, blutbefleckten Zähnen anlächelte, und Gretchen, die ihr Lächeln schüchtern erwiderte.

[home]

That’s What Friends Are For

Abby nahm die Coladose mit nach Hause und öffnete sie nie. Ihre Lippe verheilte, und nach einer Woche wurden ihr die Fäden gezogen und hinterließen einen hässlichen Marmeladenschorf, der Hunter Prioleaux zufolge aussah wie eine Geschlechtskrankheit, über den Gretchen aber nie ein Wort verlor.

Während ihr Schorf heilte, gelangte Abby zu dem Schluss, dass ihre neue Freundin einfach unmöglich nicht E.T. gesehen haben konnte. Alle hatten E.T. gesehen. Also sprach sie Gretchen schließlich in der Schulmensa darauf an.

»Ich habe E.T. nicht gesehen«, wiederholte Gretchen.

»Das ist unmöglich«, sagte Abby. »Im 60 Minutes steht, dass sogar die Russen E.T. gesehen haben.«

Gretchen rührte in ihren Bohnen herum und kam dann zu irgendeinem Schluss.

»Versprichst du mir, es niemandem zu erzählen?«, fragte sie.

»Okay«, sagte Abby.

Gretchen beugte sich vor, sodass die Spitzen ihres langen Haars ihr Hacksteak berührten.

»Meine Eltern sind im Zeugenschutzprogramm«, flüsterte sie. »Wenn ich ins Kino gehe, werde ich vielleicht entführt.«

Abby war begeistert. Gretchen würde ihre gefährliche Freundin sein! Endlich wurde das Leben aufregend. Es gab nur ein Problem:

»Wie konntest du dann zu meiner Geburtstagsfeier kommen?«, fragte sie.

»Meine Mom fand, dass das in Ordnung ist«, sagte Gretchen. »Sie wollen nicht, dass ich kein normales Leben führen kann, nur weil sie Kriminelle sind.«

»Dann frag sie, ob du E.T. sehen darfst«, sagte Abby und kam damit wieder auf das eigentlich wichtige Thema zu sprechen. »Wenn du ein normales Leben haben willst, musst du E.T. sehen. Sonst halten die Leute dich für total komisch.«

Gretchen lutschte die Soße von ihren Haarspitzen und nickte.

»Okay«, sagte sie. »Aber deine Eltern müssen mich mitnehmen. Wenn man meine Eltern und mich zusammen in der Öffentlichkeit sieht, erkennt sie vielleicht jemand Kriminelles.«

Abby brachte ihre Eltern dazu, dass sie erschöpft einwilligten, obwohl ihre Mom es für Zeit-, Geld- und Hirnzellenverschwendung hielt, einen Film mehr als einmal zu sehen. Am nächsten Wochenende brachten Mr und Mrs Rivers Abby und Gretchen zur Citadel Mall, wo sie um 14.20 Uhr die Nachmittagsvorstellung von E.T. – Der Außerirdische sehen durften, während Abbys Eltern Weihnachtseinkäufe erledigten. Weil sie ein behütetes Leben im Zeugenschutzprogramm führte, hatte Gretchen keine Ahnung, wie man Eintrittskarten oder Popcorn kaufte. Wie sich herausstellte, war sie noch nie zuvor ohne ihre Eltern im Kino gewesen, was für Abby, die mit dem Fahrrad zum Mt. Pleasant 1-2-3 fahren und in die Ein-Dollar-Nachmittagsvorstellung gehen konnte, völlig absurd klang. Gretchen mochte kriminelle Eltern haben, aber Abby empfand sich selbst als sehr viel weltgewandter.

Die Lichter gingen aus, und einen Moment lang fürchtete Abby, dass sie E.T. diesmal vielleicht nicht so toll finden würde wie all die anderen Male, aber dann nannte Elliott Michael einen Pimmelzwerg, und sie lachte, und dann kam die Regierung, und Elliott streckte durch die Plastikwand die Hand nach E.T. aus, und sie weinte und erinnerte sich einmal mehr daran, dass dies der kraftvollste Film der Welt war. Aber als Elliott und Michael kurz vor der großen Verfolgungsjagd am Ende den Lieferwagen stahlen, kam Abby ein grauenvoller Gedanke: Was, wenn Gretchen nicht weinte? Was, wenn das Licht anging und Gretchen dasaß und auf ihren Zöpfen herumkaute, als hätte sie einen ganz gewöhnlichen Film gesehen? Was, wenn sie ihn blöd fand?

Diese Gedanken machten Abby so zu schaffen, dass sie das Ende des Films nicht mehr genießen konnte. Als der Abspann kam, saß sie missmutig im Dunkeln und blickte stur geradeaus, weil sie sich davor fürchtete, Gretchen anzusehen. Schließlich ertrug sie es nicht mehr, und als die Danksagung an das Marin County für die freundliche Unterstützung erschien, wandte sie den Kopf und sah, wie Gretchen mit ausdrucksloser Miene auf die Leinwand starrte. Abby krampfte sich das Herz zusammen, und dann, bevor sie etwas sagen konnte, sah sie, wie das von der leeren Leinwand reflektierte Licht auf Gretchens nasse Wangen traf. Der Knoten in Abbys Brust löste sich, und Gretchen wandte sich ihr zu und sagte: »Können wir den noch mal sehen?«

Das konnten sie. Anschließend aßen sie bei Chi-Chis zu Abend, und Abbys Dad tat so, als hätte er Geburtstag, und die Kellner kamen raus und setzten ihm einen riesigen Sombrero auf den Kopf und sangen das mexikanische Geburtstagslied für ihn, und sie bekamen alle frittiertes Eis.

Es war der tollste Tag in Abbys Leben.

 

»Ich muss dir etwas Wichtiges sagen«, erklärte Gretchen.

Es war das zweite Mal, dass sie bei ihr übernachtet hatte. Abbys Eltern waren bei einer Weihnachtsfeier, weshalb die beiden zu Der Junge vom anderen Stern Tiefkühlpizza gegessen hatten. Jetzt war gerade Falcon Crest zu Ende. Falcon Crest war nicht so gut wie Der Denver-Clan, aber Der Denver-Clan kam mittwochabends, unter der Woche, weshalb Abby es nicht sehen durfte. Gretchen durfte überhaupt nichts sehen. Ihre Eltern hatten strenge Regeln, was das Fernsehen betraf, und sie hatten nicht mal einen Kabelanschluss, weil es zu gefährlich war, wenn ihr Name auf der Rechnung auftauchte.

Drei Wochen nach Beginn ihrer Freundschaft hatte Abby sich bereits an all die seltsamen Regeln des Zeugenschutzprogramms gewöhnt. Keine Filme, kein Kabelfernsehen, so gut wie überhaupt kein Fernsehen, keine Rockmusik, keine zweiteiligen Badeanzüge, keine Frühstücksflocken mit Zucker. Aber es gab eine Sache, die Abby aus Filmen über Leute im Zeugenschutzprogramm wusste, und das machte ihr Angst: Manchmal verschwanden sie ohne Vorwarnung über Nacht.

Und nun, als Gretchen ihr etwas Wichtiges zu sagen hatte, wusste Abby genau, worum es ging.

»Du ziehst um«, sagte sie.

»Wieso?«, fragte Gretchen.

»Wegen deinen Eltern«, sagte Abby.

Gretchen schüttelte den Kopf.

»Ich ziehe nicht um«, sagte sie. »Du darfst mich nicht hassen. Du musst mir versprechen, mich nicht zu hassen.«

»Ich hasse dich nicht«, sagte Abby. »Du bist cool.«

Gretchen zupfte weiter an dem karierten Sofa herum, ohne Abby anzusehen, und langsam begann Abby, sich Sorgen zu machen. Sie hatte nicht viele Freunde, und Gretchen war eindeutig der coolste Mensch, den sie je kennengelernt hatte, gleich nach Tommy Cox.

»Meine Eltern sind nicht wirklich im Zeugenschutzprogramm«, sagte Gretchen und schlang die Hände krampfartig in ihrem Schoß ineinander. »Das habe ich mir ausgedacht. Sie lassen mich nur keine Filme sehen, die ab sechs oder zwölf sind. Bis ich dreizehn bin, darf ich nur Filme ohne Altersbeschränkung sehen. Ich habe ihnen nicht verraten, dass ich mir E.T. ansehe. Ich habe ihnen erzählt, dass wir Heidis Lied schauen.«

Eine lange Zeit schwieg sie. Tränen liefen ihr an der Nase herab und tropften auf das Sofa.

»Du hasst mich«, sagte Gretchen und nickte bei sich.

Genau genommen war Abby begeistert. Sie hatte die ganze Zeugenschutzgeschichte ohnehin nie so ganz geglaubt, weil Dinge, die einem zu schön vorkamen, um wahr zu sein, es normalerweise auch nicht waren. Das sagte auch ihre Mom. Und wenn Gretchens Eltern Gretchen wie ein Baby behandelten, machte das Abby zu der Coolen von ihnen beiden. Gretchen brauchte sie, wenn sie jemals einen Film ab zwölf sehen oder wissen wollte, wie es bei Falcon Crest weiterging, also würden sie für immer Freundinnen bleiben müssen. Aber Abby wusste auch, dass Gretchen vielleicht nicht mehr mit Abby befreundet sein wollte, nun, da Abby etwas Geheimes über sie wusste, deshalb beschloss sie, ihr im Gegenzug auch ein Geheimnis zu verraten.

»Willst du was Ekliges sehen?«, fragte sie.

Tränen tropften auf das Sofa, als Gretchen den Kopf schüttelte.

»Ich meine echt eklig«, erklärte Abby.

Gretchen weinte noch immer und ballte die Fäuste so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Also holte Abby eine Taschenlampe aus der Küchenschublade, zog Gretchen vom Sofa und schob sie rauf ins Schlafzimmer ihrer Eltern, wobei sie die ganze Zeit auf das Geräusch ihres Wagens lauschte, der jederzeit die Auffahrt hochkommen konnte.

»Hier dürfen wir doch nicht rein«, sagte Gretchen im Dunkeln.

»Psst«, machte Abby und führte sie an der Truhe am Fußende des Bettes vorbei in den Wandschrank ihres Vaters. Dort drin, hinter seinen Hosen, befand sich ein Koffer. In dem Koffer war eine schwarze Plastiktüte, und in der schwarzen Plastiktüte war eine große Pappschachtel mit einer Videokassette. Abby schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete die VHS-Schachtel an.

»Bad Mama Jama«, sagte sie. »Meine Mutter weiß nicht, dass er den hat.«

Gretchen wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab und nahm mit beiden Händen die Schachtel von Abby entgegen. Vorne drauf sah man eine außerordentlich korpulente, vornübergebeugte schwarze Frau, die nichts als einen String-Bikini anhatte und die Beine weit spreizte. Sie blickte über die Schulter nach hinten und trug, passend zu ihrem Nagellack, orangefarbenen Lippenstift. Dabei lächelte sie, als wäre sie ganz begeistert darüber, dass zwei kleine Mädchen ihr in den Hintern schauten. Unter dem Foto stand: »Mama hat das Essen für dich im Ofen!«

»Ih!«, quietschte Gretchen und warf Abby die Kassette zu.

»Ich will die nicht!«, rief Abby und warf sie zu ihr zurück.

»Sie hat mich berührt!«, sagte Gretchen.

Abby rang mit Gretchen, drückte sie aufs Bett, setzte sich auf ihren sich windenden Leib und rubbelte ihr mit der Kassette übers Haar.

»Ih! Ih! Ih!«, schrie Gretchen. »Ich sterbe!«

»Du wirst schwanger!«, sagte Abby.

Es war dieser Augenblick. Als Gretchen aufhörte, Abby über das Zeugenschutzprogramm anzulügen, als Abby Gretchen verriet, dass ihr Vater insgeheim auf füllige schwarze Frauen stand, als Abby auf dem Bett ihrer Eltern mit Gretchen rangelte. Ab jenem Abend waren sie beste Freundinnen.

 

Im Laufe der folgenden sechs Jahre geschah alles. Im Laufe der folgenden sechs Jahre geschah nichts. Im fünften Schuljahr gingen sie in unterschiedliche Klassen, aber in der Mittagspause erzählte Abby Gretchen alles, was bei Remington Steele und The Facts of Life passiert war. Gretchen hätte Mrs Garrett am liebsten als Mom gehabt, Abby war der Meinung, dass Blair so gut wie immer recht hatte, und sie beide wollten, wenn sie groß waren, ihre eigene Privatdetektei leiten, sodass Pierce Brosnan tun musste, was sie ihm sagten.

Gretchens Mom bekam einen Strafzettel für zu schnelles Fahren, während die Kinder bei ihr im Auto saßen, und sagte laut »Scheiße«. Um sie zu bestechen, damit sie Mr Lang nichts davon erzählten, ging sie mit ihnen in den Swatch-Laden in der Stadt und kaufte ihnen beiden brandneue Swatch-Armbanduhren. Abby suchte sich eine grüne Jellyfish aus und kaufte sich von ihrem eigenen Geld einen grünen und einen pinken Swatchguard, die sie ineinander verdrehte; Gretchen bekam das Tennis-Stripe-Modell und dazu passende grüne und pinke Swatchguards. Nachdem sie draußen gespielt hatten, schnupperten sie gegenseitig an ihren Uhrbändern und überlegten, wonach sie rochen. Abby war der Meinung, dass ihr eigenes nach Geißblatt und Zimt roch und das von Gretchen nach Hibiskus und Rose, aber Gretchen fand, dass beide bloß nach Schweiß rochen.

Gretchen schlief sechs Mal bei Abby in Creekside, bevor Abby schließlich auch einmal die Nacht bei Gretchen in Old Village verbringen konnte, im Heititei-Teil von Mt. Pleasant, wo die Häuser gediegen waren und entweder Seeblick oder riesige Gärten hatten, und wenn jemand einen Schwarzen auf der Straße sah, bei dem es sich nicht um Mr Little handelte, dann hielt er aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Volvo neben ihm an, um ihn zu fragen, ob er sich verlaufen habe.

Abby war wahnsinnig gerne bei Gretchen zu Besuch. Das Haus der Langs lag am Pierates Cruze, einer ungepflasterten Straße in Hufeisenform, bei der die Hausnummern die falsche Reihenfolge hatten und deren Name falsch geschrieben war, weil die Reichen machen konnten, was sie wollten. Es hatte die Hausnummer acht und war ein riesiger, grauer Würfel, von dem aus man durch eine zwei Stockwerke hohe Rückwand, die aus einer einzigen Glasscheibe bestand, Blick auf den Charleston Harbor hatte. Die Innenräume waren steril wie ein OP, voller harter rechter Winkel, glatter Flächen, glänzendem Stahl und Glas, das zweimal täglich poliert wurde. Es war das einzige Haus im Old Village, das aussah wie im 20. Jahrhundert gebaut.

Die Langs hatten einen Anleger, an dem Abby und Gretchen schwimmen konnten (solange sie dabei Tennisschuhe trugen, damit sie sich nicht an den Austern die Füße zerschnitten). Mrs Lang räumte alle zwei Wochen Gretchens Zimmer auf und warf alles weg, was ihre Tochter ihrer Meinung nach nicht brauchte. Zu ihren Regeln gehörte, dass Gretchen nur sechs Magazine und fünf Bücher auf einmal haben durfte. »Wenn man etwas gelesen hat, braucht man es nicht mehr«, lautete ihr Motto.

Also bekam Abby alle Bücher, die Gretchen mit ihrem anscheinend unbegrenzten Taschengeld bei B. Daltons kaufte. Forever von Judy Blume, in dem es natürlich nur um sie ging (abgesehen von den ekligen Sachen am Ende). Aber Jakob habe ich geliebt (insgeheim glaubte Abby fest daran, dass Gretchen Caroline war und sie Louise). Z wie Zacharias (von dem Gretchen Atomkriegsalbträume bekam), und die, die sie unten in Abbys Schultasche versteckt ins Haus der Langs schmuggeln mussten und die alle von V.C. Andrews waren: Blumen der Nacht, Wie Blüten im Wind, Dornen des Glücks und das skandalöseste von allen, Das Netz im Dunkel mit seiner endlosen Aneinanderreihung sexueller Perversionen.

Aber in erster Linie hielten sie sich in diesen sechs Jahren in Gretchens Zimmer auf. Sie legten endlose Listen an: von ihren besten Freunden, ihren guten Freunden, ihren schlimmsten Feinden, den besten Lehrern und den gemeinsten Lehrern, davon, welche Lehrer einander heiraten sollten, welche Schultoilette sie am liebsten mochten, wo sie in sechs Jahren wohnen würden, oder in sechs Monaten, oder in sechs Wochen, wo sie leben würden, wenn sie einmal verheiratet waren, wie viele Babys ihre Katzen miteinander haben würden, welche Farben sie zur Hochzeit tragen würden, ob Adaire Griffin voll die Schlampe oder bloß missverstanden war, ob Hunter Prioleaux’ Eltern wussten, dass ihr Sohn ein Gezücht des Teufels war, oder ob er auch sie zum Narren hielt.

Es war ein endloser Bravo-Fragebogen, ein Prozess der ständigen Selbstklassifikation. Sie tauschten Haargummis, sie hingen über der Young Miss, der Teen und dem European Travel and Life-Magazin. Sie gaben sich Tagträumen über italienische Grafen und deutsche Herzoginnen hin, und über Diana, Prinzessin von Wales, den Sommer auf Capri und übers Skifahren in den Alpen. In ihren gemeinsamen Fantasien wurden sie ständig von dunkelhaarigen Europäern mit Hubschraubern zu versteckten Herrenhäusern gebracht, wo sie wilde Pferde zähmten.

Nachdem sie sich in Flashdance geschlichen hatten, zogen Abby und Gretchen am Abendbrottisch die Schuhe aus und drückten einander die Füße mit den Socken in den Schritt. Abby wartete immer, bis Gretchen eine Gabel voll Erbsen an den Mund hob, bevor sie ihr den Fuß zwischen die Beine schob, sodass Gretchen ihr Essen überall hinkleckerte, was ihren Dad zu einer Tirade veranlasste.

»Essen zu verschwenden ist nicht witzig!«, rief er dann immer. »So ist Karen Carpenter gestorben!«

Gretchens Eltern waren aufrechte Reagan-Republikaner, die jeden Sonntag in die Kirche fuhren, um Gott zu preisen und an ihrem gesellschaftlichen Aufstieg zu arbeiten. Als Die Dornenvögel liefen, waren Abby und Gretchen ganz versessen darauf, sie auf dem großen Fernseher zu sehen, aber Mr Lang hatte seine Zweifel. Ihm war zu Ohren gekommen, dass die Serie inhaltlich fragwürdig war.

»Dad«, sagte Gretchen, »das ist genau wie Der Feuersturm. Es ist praktisch die Fortsetzung.«

Herman Wouks knochentrockene vierzehnstündige Miniserie über den Zweiten Weltkrieg war Mr Langs Lieblingsserie überhaupt, weshalb man automatisch seinen Segen hatte, wenn man sich auf sie berief. Während sie die erste Folge der Dornenvögel sahen, kam er nach Hause und stand lange genug in der Tür zum Fernsehzimmer, um sich darüber klar zu werden, dass die Serie nichts mit dem Feuersturm gemein hatte. Sein Gesicht lief tiefrot an. Abby und Gretchen standen zu sehr im Bann der heißen Liebesszenen im Busch, um etwas davon mitzubekommen, aber sechzig Sekunden nachdem er das Zimmer verlassen hatte, kam Mrs Lang rein und schaltete den Fernseher ab. Dann führte sie sie ins Wohnzimmer ab, wo man ihnen die Leviten las.

»Die römische Kirche kann von mir aus Gossensprache und halb nackte Priester, die es wie die Tiere treiben, verherrlichen«, erklärte ihnen Mr Lang. »Aber nicht in diesem Haus. Also, heute Abend gibt es kein Fernsehen mehr, und ich will, dass ihr beiden hochgeht und euch die Hände wascht. Deine Mutter hat das Essen im Ofen.«

Auf halbem Weg die Treppe hinauf konnten sie nicht mehr an sich halten, und Abby machte sich vor Lachen in die Hose.

 

Die sechste Klasse war ein schlimmes Jahr. Abbys Dad hatte nach einem Streik im Jahr 1981 seinen Job als Fluglotse verloren. Eine Teppichreinigungsfirma hatte ihn daraufhin als Direktionsassistenten eingestellt. Schließlich hatte man auch dort Kosten einsparen müssen. Die Rivers mussten ihr Haus in Creekside verkaufen und in eine windschiefe Hütte an der Rifle Range Road umziehen. Vier riesige Pinien ragten über ihrem Ziegelstein-Schuhkarton auf und deckten sie mit Spinnweben und Harz ein, während sie gleichzeitig jede Sonne aussperrten.

Abby lud Gretchen nun nicht mehr zum Übernachten ein. Stattdessen lud sie sich selbst jedes Wochenende zu den Langs ein. Nach einer Weile tauchte sie auch unter der Woche dort auf.

»Du bist hier immer willkommen«, sagte Mr Lang. »Für uns bist du wie eine zweite Tochter.«

Abby hatte sich nie zuvor so sicher gefühlt. Nach einer Weile ließ sie ihren Schlafanzug und ihre Zahnbürste in Gretchens Zimmer. Wenn sie gedurft hätte, wäre sie bei ihr eingezogen. Das Haus der Langs roch immer nach Klimaanlage und Teppichreiniger. Ihr eigenes Haus war vor langer Zeit durchgefeuchtet und seitdem nie richtig getrocknet. Im Winter wie im Sommer stank es nach Schimmel.

1984 bekam Gretchen eine Zahnspange, und Abby begeisterte sich für Politik, als Walter Mondale Geraldine Ferraro zu seiner Vizepräsidentschaftskandidatin ernannte. Abby war nie auch nur in den Sinn gekommen, dass jemand Einwände dagegen haben könnte, die erste Vizepräsidentin zu wählen, und ihre Eltern waren zu sehr mit ihrem eigenen wirtschaftlichen Drama beschäftigt, um zu bemerken, dass Abby einen Mondale/Ferraro-Aufkleber auf ihr Auto gemacht hatte. Als Nächstes klebte sie einen auf Mrs Langs Volvo.

Sie und Gretchen waren im Fernsehzimmer und sahen gerade Silver Spoons, als Mr Lang, bebend vor Zorn, von der Arbeit heimkam und mit den Überresten des Autoaufklebers herumwedelte. Er versuchte, die Fetzen auf den Boden zu schleudern, aber sie klebten an seinen Fingern.

»Wer war das?«, fragte er streng, das bärtige Gesicht rot angelaufen. »Wer? Wer?«

In diesem Moment wurde Abby klar, dass die Langs sie für immer aus ihrem Haus verbannen würden. Ohne es auch nur zu wissen, hatte sie die größte denkbare Sünde begangen, indem sie Mr Lang wie einen Demokraten hatte dastehen lassen. Doch bevor Abby gestehen und ihr Exil auf sich nehmen konnte, drehte Gretchen sich auf dem Sofa herum und hockte sich auf die Knie.

»Sie wird die erste Vizepräsidentin sein«, sagte Gretchen und umfasste die Sofalehne mit beiden Händen. »Willst du nicht, dass ich stolz bin, eine Frau zu sein?«

»Diese Familie steht treu zu unserem Präsidenten«, sagte Mr Lang. »Ich will für dich hoffen, dass niemand dieses … Ding am Auto deiner Mutter gesehen hat. Du bist zu jung für Politik.«

Er ließ Gretchen mit einer Rasierklinge den Rest des Aufklebers abkratzen, während Abby zusah und dabei schreckliche Angst hatte, Ärger zu bekommen. Aber Gretchen verriet nie, dass sie es gewesen war. Es war das erste Mal, dass Abby sie mit ihren Eltern hatte streiten sehen.

Dann kam der Madonna-Vorfall.

Für die Langs lag Madonna vollkommen jenseits von Gut und Böse. Aber als Gretchens Dad bei der Arbeit war und ihre Mom gerade eines ihrer neun Milliarden Treffen besuchte (Jazzercise, Power-Walking, Buchklub, Weinklub, Nähkreis, Frauen-Gebetskreis), verkleideten Gretchen und Abby sich als das Material Girl und sangen vor dem Spiegel. Gretchens Mom hatte eine Schmuckdose, in der es nur Kreuze gab, was geradezu einer Aufforderung gleichkam.

Mit Dutzenden von Kreuzen um die Hälse standen sie vor Gretchens Badezimmerspiegel und bauschten sich die Haare auf, banden große, wippende Schleifen hinein, schnitten die Ärmel ihrer T-Shirts ab, malten sich die Lippen korallenrot an, trugen leuchtend blauen Lidschatten auf, kleckerten Schminke auf den weißen Teppichboden und traten versehentlich darauf, hielten sich eine Haarbürste und einen Lockenstab als Mikrofone vor den Mund und sangen die »Like a Virgin«-Kassettensingle auf Gretchens rosafarbenem Rekorder mit.

Abby hatte gerade beschlossen, sich einen Schönheitsfleck aufzumalen, und suchte im Make-up-Massaker auf dem Garderobentisch nach Eyeliner, während Gretchen anfing, den Refrain mitzusingen, als plötzlich Gretchens Kopf nach hinten gerissen wurde und Mrs Lang zwischen ihnen stand und ihrer Tochter die Schleife aus dem Haar riss. Die Musik war so laut, dass sie nicht gehört hatten, wie sie nach Hause gekommen war.

»Ich kaufe euch schöne Sachen!«, kreischte sie. »Und das macht ihr damit?«

Abby stand sprachlos da, während die Kassette durchlief und Gretchens Mom ihre Tochter zwischen den Betten hindurchjagte und mit einer Haarbürste auf sie einschlug. Abby hatte schreckliche Angst davor, dass Mrs Lang sie bemerken würde, und irgendwo in ihrem Kopf wusste sie, dass sie sich hätte verstecken sollen, aber stattdessen stand sie einfach stocksteif da, während Mrs Lang Gretchen auf dem Boden zwischen den beiden Betten hinterherkroch. Gretchen rollte sich auf dem Teppich zusammen und gab einen hohen Ton von sich, während Madonna ungestört weitersang. Auf und nieder fuhr Mrs Langs Arm, während sie Schläge auf Gretchens Beine und Schultern einprasseln ließ.

Gretchens Mom ging an den Kassettenrekorder und drückte auf die Knöpfe, riss die Klappe auf und zog die Kassette raus, während sie noch lief, sodass sie eine lange Spur von Magnetbandschleifen hinterließ. In der plötzlichen Stille hörte Abby das Aufjaulen, mit dem die Mechanik des Rekorders zum Stillstand kam. Der einzige andere Laut war Mrs Langs schweres Atmen.

»Räum diesen Saustall hier auf«, sagte sie. »Bald kommt dein Vater nach Hause.«

Dann stürmte sie aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Abby kroch über das Bett und sah zu Gretchen hinab, die auf dem Boden lag. Sie weinte nicht einmal.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Abby.

Gretchen hob den Kopf und sah zur Schlafzimmertür.

»Ich bringe sie um«, flüsterte sie. Dann wischte sie sich über die Nase und blickte zu Abby auf. »Verrate nie jemandem, dass ich das gesagt habe.«

Abby fiel ein Tag im vorangegangenen Sommer ein, als sie und Gretchen ins Zimmer von Gretchens Eltern geschlichen waren und die Nachttischschublade ihres Dads geöffnet hatten. Darin lag unter einer alten Ausgabe des Reader’s Digest ein kurzläufiger schwarzer Revolver. Gretchen holte ihn raus und richtete ihn erst auf Abby und dann nacheinander auf beide Kopfkissen auf dem Bett.

»Peng«, flüsterte sie. »Peng.«

Nun dachte Abby an diese geflüsterten »Pengs«, und als sie Gretchen in die trockenen Augen sah, wusste sie, dass hier etwas ernsthaft Gefährliches vorging. Aber sie verriet niemandem davon. Stattdessen half sie Gretchen beim Aufräumen, rief dann ihre Mom an und bat sie, sie abzuholen. Was immer an jenem Abend nach der Rückkehr von Gretchens Dad noch geschehen war, Gretchen sprach nie davon.

Ein paar Wochen später war Gras über die Sache gewachsen, und die Langs nahmen Abby auf eine zehntägige Urlaubsreise nach Jamaika mit. Sie und Gretchen ließen sich Cornrows flechten, die bei jedem Schritt klapperten. Abby bekam Sonnenbrand. Sie spielten jeden Abend Uno, und Abby gewann fast jedes Mal.

»Du schummelst«, sagte Gretchens Dad. »Ich kann nicht glauben, dass meine Tochter eine Falschspielerin in unsere Familie geholt hat.«

Abby aß zum ersten Mal Hai. Es schmeckte wie ein Steak aus Fisch. Sie hatten ihren ersten großen Streit, weil Abby dauernd Weird Als »Eat It« auf dem Kassettenrekorder in ihrem Zimmer spielte, bis zum vorletzten Tag, als ihre Kassette plötzlich mit rosa Nagellack vollgeschmiert war.

»Es tut mir leid«, sagte Gretchen und betonte dabei jedes einzelne Wort, als sei sie von Adel. »Es war ein Versehen.«

»War es nicht«, sagte Abby. »Du bist egoistisch. Ich bin die Lustige, und du bist die Gemeine.«

Sie versuchten ständig, herauszufinden, welche von ihnen welche war. Kürzlich hatten sie Abby zur Lustigen erklärt und Gretchen zur Schönen. Bislang war noch keine von ihnen die Gemeine gewesen.

»Du hängst dich nur an meine Familie dran, weil du arm bist«, erwiderte Gretchen bissig. »Lieber Gott, bin ich dich leid.« Gretchens Zahnspange verursachte ihr ständige Schmerzen, und Abby bekam von ihren zu fest geflochtenen Zöpfen Kopfschmerzen. »Weißt du, welche du bist?«, fragte Gretchen. »Du bist die Dumme. Du spielst dieses bescheuerte Lied, als wäre es was Cooles, dabei ist es was für Kleinkinder. Es ist unreif, und ich will es nicht mehr hören. Du wirst bescheuert davon.«

Abby schloss sich im Badezimmer ein, und Gretchens Mom musste ihr gut zureden, damit sie fürs Abendessen herauskam, das sie dann allein draußen auf dem Balkon zu sich nahm, wo die Mücken sie zerstachen. Nachdem in jener Nacht die Lichter ausgegangen waren, spürte sie, wie jemand zu ihr ins Bett kroch, und dann lag Gretchen neben ihr.

»Tut mir leid«, flüsterte sie und füllte Abbys Ohr dabei mit ihrem heißen Atem. »Ich bin die Dumme. Du bist die Coole. Bitte sei nicht wütend auf mich, Abby. Du bist meine beste Freundin.«

 

In der siebten Klasse hatten sie ihre erste Party mit Engtanz und Knutschen, und Abby gab Hunter Prioleaux einen Zungenkuss, während sie sich zu »Time after Time« hin und her wiegten. Sein riesiger Bauch war härter, als sie erwartet hatte, und er schmeckte nach Kaugummi und Cola, aber er war auch ziemlich verschwitzt und roch nach Rülpsern. Er lief Abby für den Rest des Abends nach, weil er ihr an die Wäsche wollte, bis sie sich auf der Toilette versteckte, während Gretchen ihn verjagte.

Dann kam ein Tag, der Abbys Leben für immer veränderte. Sie und Gretchen brachten gerade ihre Tabletts zurück und redeten darüber, dass sie nicht mehr wie kleine Kinder in der Mensa essen konnten, sondern anfangen mussten, sich etwas Gesundes in die Schule mitzubringen, damit sie mit den anderen zusammen draußen essen konnten, als sie Glee Wanamaker bei der Geschirrrückgabe stehen sahen. Sie rang die Hände, knetete regelrecht ihre Finger, und ihre Augen waren gerötet und glänzten feucht, während sie angestrengt in den großen Mülleimer starrte. Sie hatte ihre Zahnspange auf das Tablett gelegt und sie anschließend mit dem Rest zusammen in den Müll geworfen, und nun wusste sie nicht mehr, an welchem Mülleimer sie gewesen war.

»Ich muss in allen suchen«, schluchzte sie. »Das ist meine dritte Zahnspange. Mein Dad bringt mich um.«

Abby wollte gehen, doch Gretchen bestand darauf, dass sie Glee halfen, und so brachte William von der Mensaaufsicht sie zur Hintertür raus und zeigte ihnen die acht bis zum Bersten gefüllten Plastiksäcke voll warmer Milch, halb gegessener Pizzastücke, Früchtecocktail, geschmolzenem Eis, feuchten Pommes und geronnenem Ketchup. Es war April, und die Sonne hatte den Inhalt der Säcke zu einem stinkenden Brei eingekocht. Noch nie hatte Abby etwas so Schlimmes gerochen.

Sie hatte keine Ahnung, warum sie Glee halfen. Abby hatte keine Zahnspange. Sie hatte nicht mal eine Klammer. Alle anderen hatten eine, aber ihre Eltern wollten ihr keine bezahlen. Sie bezahlten für praktisch gar nichts, weshalb sie zweimal die Woche das gleiche marineblaue Kordkleid tragen musste und ihre beiden weißen Blusen langsam durchsichtig wurden, weil sie sie so oft wusch. Abby machte ihre Wäsche selbst, weil ihre Mom in der häuslichen Pflege arbeitete.

»Ich mache den ganzen Tag für andere Leute die Wäsche«, hatte Abbys Mom zu ihr gesagt. »Du hast keine gebrochenen Arme. Also kannst du auch deinen Beitrag leisten.«

Ihr Vater hatte die Milchprodukteabteilung bei Family Dollar geleitet, aber man hatte ihn entlassen, weil er versehentlich haufenweise abgelaufene Milch eingekauft hatte. Er hatte bei Randys Modellbauladen ein Schild aufgehängt, auf dem er kleinere Reparaturen an den Motoren von ferngesteuerten Modellflugzeugen anbot, aber nachdem mehrere Kunden sich darüber beschwert hatten, dass er zu langsam arbeitete, ließ Randy ihn das Schild wieder abnehmen. Jetzt hing ein Zettel von ihm an der Oasis-Tankstelle am Coleman Boulevard, auf dem stand, dass er für 20 Dollar jeden Rasenmäher wieder hinkriegte. Er redete praktisch überhaupt nicht mehr, und ihr Vorgarten füllte sich mit kaputten Rasenmähern.

Langsam hatte Abby das Gefühl, dass ihr alles zu viel wurde. Das Gefühl, dass sie überhaupt nichts ausrichten konnte. Dass ihre Familie bergab rutschte und sie mit sich zog, und dass am Ende ihres Weges ein Abgrund wartete. Dass jede Klausur eine Prüfung auf Leben und Tod war, und wenn sie auch nur einmal versagte, würde sie ihr Stipendium verlieren, von der Albemarle Academy fliegen und Gretchen nie wiedersehen.

Und jetzt stand sie hinter der Cafeteria vor acht Säcken dampfenden Mülls und hätte am liebsten losgeheult. Warum war sie diejenige, die Glee half, obwohl Glee einen Börsenmakler als Dad hatte? Warum half niemand ihr? Sie hatte keine Ahnung, was der Grund dafür war, aber in diesem Moment veränderte Abby sich. Etwas in ihrem Kopf rastete ein, und von einer Sekunde auf die andere funktionierte ihr Denken anders.

Sie musste nicht arm sein. Sie konnte sich eine Arbeit suchen. Sie musste Glee nicht helfen. Aber sie konnte. Sie konnte selbst entscheiden, wie sie sein wollte. Sie hatte die Wahl. Das Leben konnte eine endlose Folge freudloser Pflichten sein, oder sie konnte irgendwie dafür sorgen, dass es Spaß machte. Manches war schlecht, und manches war gut, aber sie konnte sich entscheiden, worauf sie sich konzentrierte. Ihre Mom konzentrierte sich auf die schlechten Dinge. Abby musste das nicht tun.