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Ein Serienmörder, der seine Opfer zum Mittelpunkt makabrer Kunstwerke macht – Carver & Lake ermitteln.
Ruth Lake und Greg Carver von der Kriminalpolizei Liverpool werden auf das spurlose Verschwinden von Professor Mick Tennent angesetzt, dem Autor eines TV-Films über den sogenannten »Fährmann« – einen angeblichen Serienmörder, der sein Unwesen in Liverpool treiben soll. Dort sind während der letzten sechs Monate zwölf junge Männer verschwunden. In der Nähe des Hafens finden Carver und Lake eine Kunstinstallation mit LED-Lichtern, diese enthält Spuren menschlicher Überreste. Die können zwei der verschwundenen Männern aus Liverpool zugeordnet werden – und Professor Tennent. Es folgen weitere grauenhafte Kunstinstallationen. Als Ruth Lakes jüngerer Bruder, den sie seit neun Jahren nicht mehr gesehen hat, in Verdacht gerät, wird der Fall persönlich …
Alle Bücher der Reihe:
Der Dornenmörder (Bd. 1)
Der Fährmann (Bd. 2)
Die Bände sind unabhängig voneinander lesbar
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Seitenzahl: 671
Veröffentlichungsjahr: 2020
Buch
Ruth Lake und Greg Carver von der Kriminalpolizei Liverpool werden auf das spurlose Verschwinden von Professor Mick Tennent angesetzt, dem Autor eines TV-Films über den sogenannten »Fährmann« – einen angeblichen Serienmörder, der sein Unwesen in Liverpool treiben soll. Dort sind während der letzten sechs Monate zwölf junge Männer verschwunden. In der Nähe des Hafens finden Carver und Lake eine Kunstinstallation mit LED-Lichtern, diese enthält Spuren menschlicher Überreste. Die können zwei der verschwundenen Männern aus Liverpool zugeordnet werden – und Professor Tennent. Es folgen weitere grauenhafte Kunstinstallationen. Als Ruth Lakes jüngerer Bruder, den sie seit neun Jahren nicht mehr gesehen hat, in Verdacht gerät, wird der Fall persönlich …
Autorin
Hinter dem Pseudonym Ashley Dyer verbergen sich die englische Thrillerautorin Margaret Murphy und die Forensikexpertin Helen Pepper.
Margaret Murphy, geboren und aufgewachsen in Liverpool, ist Autorin zahlreicher hochgelobter Kriminalromane, die international veröffentlicht wurden.
Helen Pepper hat lange Jahre als Tatortermittlerin und Forensikerin gearbeitet. Sie ist eine gefragte Expertin und arbeitet u. a. als Beraterin für die britischen TV-Serien wie »Vera« und »Mord auf Shetland«.
Von Ashley Dyer bereits erschienen
Der Dornenmörder
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ASHLEYDYER
DERFÄHRMANN
THRILLER
Deutsch von Bettina Spangler
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Cutting Room« bei William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, New York.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Copyright der Originalausgabe © 2019 by Ashley DyerCopyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Susann RehleinUmschlaggestaltung: © www.buerosued.deUmschlagmotiv: © Ed Rhodes/Alamy Stock FotoJaB · Herstellung: samSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN978-3-641-22751-7V001www.blanvalet.de
Für Murf
Prolog
Ein Mann geht durch eine mondbeschienene Gasse, das Echo seiner Schritte klingt, als würden kleine Kiesel auf dem Kopfsteinpflaster landen. Er ist Anfang bis Mitte zwanzig, jung genug, um sich für unsterblich zu halten. Doch schon bald würde er die Erfahrung machen, dass man sich als junger Mann, der mutterseelenallein durch die dunklen Seitenstraßen von Liverpool streift, niemals in Sicherheit wiegen sollte. Der selbstbewusste, stolze Gang, der ihn vor den harten Jungs und anderen nächtlichen Herumtreibern schützen soll, kann ihn nicht vor der vermummten Gestalt bewahren, die unbemerkt in einem Hauseingang wartet.
Als er die Gegenwart des anderen spürt, sieht er sich über die Schulter um und entdeckt die Präsenz im Schatten. Für einen flüchtigen Moment flackert Verunsicherung über seine Züge.
Es ist die völlige Ungerührtheit dieser eigenartigen Erscheinung, die ihn aus dem Tritt bringt – oder ist es die Gesichtslosigkeit der Bedrohung? Hier in dieser Gegend, zu dieser Stunde, scheint die Dunkelheit viel umfassender, als hätte sie sich verdichtet, deshalb sind unter der Kapuze weder Gesicht noch Augen des Fremden zu erkennen.
Die Gestalt tritt aus dem Halbdunkel hervor, in einen schmalen Streifen Mondlicht. Der junge Mann spannt Schultern und Nacken an, als wäre ihm jemand mit dem Finger an der Wirbelsäule entlanggestreift. Er zieht die Hände aus den Hosentaschen und macht sich bereit, notfalls zu kämpfen oder die Flucht zu ergreifen. Er fürchtet sich nicht vor direkter Konfrontation, doch das, was ihn hier bedroht, hat etwas Verschlagenes, Vieldeutiges. Der andere fällt in sein Marschtempo mit ein, wird zum Echo jedes einzelnen seiner Schritte. Kalte Angst beschleicht das Herz des Jungen.
Er geht schneller, doch der Vermummte wirft einen langen Schatten. Eine tiefe Finsternis scheint von ihm auszugehen. Der Schatten kriecht näher und näher, breitet sich aus wie Rauch. Der junge Mann wirft einen hastigen Blick zurück, als der Schatten seine Fersen erreicht, in seinen Augen blitzt Angst auf.
Dann wird er von dem Schatten eingehüllt; Dunkelheit senkt sich über ihn.
Die Scheinwerfer werden aufgeblendet. Ein Mann steht auf einer halbkreisförmigen Bühne. Die Kamera fährt in die Totale und zeigt das Studiopublikum. Dann wechselt die Einstellung in die Vogelperspektive. Eine zweite Kamera schwenkt herum, dann fokussiert sie erneut den Mann, während auf der Leinwand hinter ihm endlose Zahlenreihen erscheinen, Binärcodes, die sich darüber ergießen wie ein Wasserfall.
»Ich bin Professor Mick Tennent, und meine Show heißt Fakt oder Fake.«
Der Moderator ist hochgewachsen und schlank, seine bereits ergrauten Haare wollen nicht recht zu der jugendlichen Energie passen, die von ihm ausgeht. Eine Laufschrift wird am unteren Bildschirmrand eingeblendet und gibt den Titel der aktuellen Sendung bekannt: Think Outside the Box – Weg vom Schubladendenken.
»Liverpool, eine Stadt in Angst«, spricht er nun über den tosenden Applaus des Publikums hinweg. »Innerhalb von gerade einmal sechs Monaten sind mittlerweile zwölf Männer zwischen zweiundzwanzig und achtundzwanzig Jahren spurlos verschwunden.«
Der Hintergrund wird hell, in rascher Folge werden dort Fotos der Vermissten eingeblendet. Für einen kurzen Moment erstrahlen ihre Gesichter in Nahaufnahme, ehe sie sich wieder in Dunkelheit auflösen.
»Die unterschiedlichsten Theorien sind im Umlauf«, sagt Tennent. »Unter anderem ist die Rede von einem Fehler im Zeitkontinuum, welcher dafür sorgt, dass die Betroffenen zurück in die Vergangenheit transportiert werden …«
Als könne sich das Publikum dieses gewagte Szenario unmöglich vorstellen, erscheint auf der Leinwand nun eine Szene, in der ein männlicher Schauspieler sich mit dem Rücken zum Publikum auf eine belebte Gegend im Stadtzentrum von Liverpool zubewegt. Als er die Straßenkreuzung erreicht, ziehen sich horizontale Störstreifen durchs Bild, und in der nächsten Sekunde ist er verschwunden.
»Andere gehen von kriminellen Banden aus, die den Opfern auflauern, ihre Wertsachen an sich nehmen und sich anschließend ihrer Leichname entledigen.«
Während diese zweite These inszeniert wird und die Bilder wieder verblassen, schweigt Tennent.
»Und nun kommt eine dritte Theorie ins Spiel: Viele glauben, dass eine Art finstere Präsenz diese Männer in den Tod lockt. Die Einheimischen nennen ihn den Fährmann.«
Auf der Leinwand hinter dem Moderator taucht das bedrohliche Bild einer gesichtslosen Gestalt mit tief in die Stirn gezogener Kapuze auf.
»Macht tatsächlich ein Serienmörder die Straßen Liverpools unsicher?« Er deutet über die Schulter auf den düsteren, verhüllten Mann. »Ist der Fährmann von Liverpool Fakt … oder Fake?«
Dann blickt er direkt in die Kamera und sagt: »Entscheiden Sie selbst.«
1
Tag eins
Ruth Lake sass, in ihre Arbeit vertieft, an ihrem Schreibtisch, als DCI Greg Carver unvermittelt in der Tür stand. In den vergangenen Monaten hatte er sichtlich an Gewicht verloren – die ersten acht Wochen war er freigestellt gewesen, weil man ihn als nicht genügend belastbar eingestuft hatte. Eine schwere Kopfverletzung sowie eine Schusswunde in der Brust hatten für eine Weile sogar Zweifel geschürt, ob er je wieder in den Dienst zurückkehren würde, doch hier war er. Und alles in allem schlug er sich tapfer.
»Was gibt’s?«, fragte Ruth.
Greg Carver runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher.«
Ruth nickte ihm zu, sagte aber nichts. Als von ihm keine weitere Erklärung kam, sagte sie: »Soll ich dich nach Hause fahren?«
Carver war probeweise zurück auf seinem Posten, man befand ihn noch nicht für ausreichend fit, um einen Wagen zu steuern.
»Nein …« Seit seiner schweren Verwundung hatte er immer wieder diesen entrückten Blick, ein wenig verträumt und leicht unfokussiert, als wäre er ganz weit weg mit seinen Gedanken. Doch der äußere Eindruck kann bisweilen täuschen – Ruth Lake war eine der wenigen, die durchschaut hatten, dass Carvers Verstand in Wirklichkeit schärfer arbeitete denn je.
»Es hat also mit dem Fall zu tun?«, wollte sie ihm auf die Sprünge helfen, nachdem er wieder eine ganze Weile keinen Ton von sich gegeben hatte.
»Könnte man sagen, ja.«
Sie stützte ihr Kinn in die Hand. »Ach so, das wird also ein Ratespiel. Sag bitte, dass es wieder um eine von diesen Großstadtlegenden geht, die mag ich besonders gern.«
Carver hatte Ruth um Unterstützung in einem Vermisstenfall gebeten. Von den zwölf Männern, die im Verlauf des letzten halben Jahres in Liverpool als vermisst gemeldet wurden, waren vier zuletzt in der Gegend um die Bold Street und den Hauptbahnhof herum gesehen worden, ein Viertel, das den sonderbaren Ruf genoss, es gäbe dort Zeitlöcher – zumindest unter begeisterten Anhängern von Mysteryserien im Stil von The Twilight Zone. Ein ortsansässiger Sensationsjournalist hatte sogar ein Buch darüber geschrieben.
Carver überreichte ihr den Ausdruck einer E-Mail. Darin stand: »Der Fährmann ist kein Fake und keine Fiktion.«
»Aber ein urbaner Mythos«, sagte sie.
»Organisier uns doch bitte einen Wagen, ja?«, sagte er. »Aber nichts allzu Auffälliges.«
»In Ordnung.« Sie drehte das Blatt um. »Ich sehe hier keine Wegbeschreibung – wohin soll es denn gehen?«
Er reichte ihr eine zweite E-Mail. Darin stand: »Warten Sie auf weitere Anweisungen.«
Sie hob das Papier an die Nase und roch daran.
»Ich weiß«, sagte er. »Riecht nach einer faulen Sache. Aber sieh dir den Betreff an.«
Sie las: »Think Outside the Box – Weg vom Schubladendenken.« Das war der Titel einer Folge von Fakt oder Fake, einer Fernsehshow, die sich gerade erst mit den Vermisstenfällen befasst hatte.
»Mit F unterzeichnet«, stellte sie fest. »Das verleiht der Nachricht eine schön dramatische Note. Aber ganz offensichtlich will uns da jemand einen Bären aufbinden.« Sie reichte ihm beide Blätter zurück.
»Möglich. Hast du die Sendung gesehen?«
»Klar.« Am Ende eines langen Arbeitstages waren derartige Sendungen genau das Richtige für sie. Außerdem war Mick Tennent ein weithin bekannter Statistiker. Natürlich war sie neugierig gewesen, wie er den Fall sah.
»Und, was denkst du?«, wollte Carver wissen.
»Er hat sämtliche Spekulationen als blanken Unsinn entlarvt, das kommt uns sehr zugute«, sagte sie. »Sein Hauptargument war, dass Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen untertauchen, und die aktuelle Zahl der vermissten jungen Männer sei ungefähr das, was man in einer Stadt mit neunhunderttausend Einwohnern erwarten kann.«
»Ich meinte, wie fandst du ihn?«
»Er war sehr überzeugend. Sein Ton war vielleicht etwas zu überheblich, aber das ist eben typisch Tennent.«
Carver nickte, offenbar immer noch in Gedanken versunken, bis ihr bewusst wurde, dass er von dem Moderator in der Vergangenheit gesprochen hatte.
»Ist ihm was passiert?«
»Am Tag nach der Ausstrahlung dieser Episode hielt Tennent einen Vortrag in London«, sagte Carver. »Er rief seine Sekretärin an, um ihr mitzuteilen, er sei jetzt fertig. Das war um die Mittagszeit. Er informierte sie außerdem, dass er auf dem Rückweg noch jemanden treffen würde, für eine Sitzung am späten Nachmittag sei er wieder zurück. Seither hat man nichts mehr von ihm gehört oder gesehen.«
»Der Wagen steht in fünf Minuten bereit«, sagte Ruth.
Ruth Lake sah im Rückspiegel zu, wie ihr Vorgesetzter sich quer über den Parkplatz vor dem Präsidium dem Wagen näherte, in dem sie saß. Jetzt um sechs Uhr abends waren Greg Carvers Reserven erschöpft. Zwei Mal bekam sie mit, wie er mit den Fingern an der Karosserie eines geparkten Fahrzeugs entlangstrich, um sich ein klein wenig Halt zu verschaffen. Geduldig wartete sie ab, bis er sich auf den Beifahrersitz gesetzt und den Sicherheitsgurt angelegt hatte.
»Weißt du mittlerweile, wohin es geht?«, fragte sie.
»Stone Street. Kennst du den Weg? Ist nicht weit vom Stanley Dock.«
»Ich weiß ungefähr, in welcher Richtung das liegt.«
Es war die letzte Märzwoche, offiziell hatten sie also schon Frühling, doch es war bereits dunkel, und ein leichter Schneeregen schlug gegen die Windschutzscheibe, als sie sich in den zähen Strom der heimwärts fahrenden Pendler einfädelten. Die ersten anderthalb Kilometer am Fluss entlang boten einen spektakulären Anblick, wie aus einer Hochglanz-Reisebroschüre, alles erstrahlte in einer Lichtpalette aus Blau-, Orange- und Goldtönen. Doch kaum hatten sie die honiggelb beleuchteten Fassade der Liver Buildings hinter sich gelassen, verdüsterte sich das Bild, und mit einem Mal war der Blick aufs Wasser durch eine etwa viereinhalb Meter hohe Mauer verstellt. Wieder anderthalb Kilometer weiter warf Ruth einen verstohlenen Blick auf ihren Boss; er hatte die Augen geschlossen.
»Wir müssten jeden Moment da sein«, sagte sie.
Detective Chief Inspector Greg Carver schlug die Augen auf, sah auf sein Smartphone und erteilte Anweisung, in eine schmale, unbeleuchtete Straße abzubiegen, zu beiden Seiten gesäumt von baufälligen Industriebauten aus dem neunzehnten Jahrhundert. Ein riesiges Lagerhaus ragte am östlichen Ende empor. Nachdem sie eine viel befahrene Hauptverkehrsstraße überquert hatten, bogen sie schließlich in die Stone Street ab. Eine brandneue Gewerbeeinheit stand auf einem beachtlichen Grundstück an der Ecke, danach kamen nur noch verbarrikadierte Gebäude, dem äußeren Erscheinungsbild nach allesamt einsturzgefährdet. Langsam fuhren sie auf die Eisenbahnbrücke zu, vorbei an einem Autowrack. Jedes einzelne Fenster war zerbrochen, die Reifen geklaut, das Dach eingedrückt. Anscheinend hatte jemand einen Betonklotz von der Eisenbahnbrücke heruntergeworfen.
»Bist du dir sicher, was die Adresse angeht?«, fragte Ruth.
Carver runzelte die Stirn. »Ja.«
»Irgendein Hinweis darauf, wonach wir suchen?«
»In der Nachricht stand, wir sollen den Lichtern folgen.«
Ruth glaubte, einen zögernden Unterton zu hören. Carver wollte offenbar nicht zu viele Fakten vorab preisgeben, aber es war nicht zu übersehen, dass er mit nichts Gutem rechnete. Sie zog den Kopf ein und versuchte, an den Gebäuden emporzublicken, doch die Straße war zu schmal, um viel zu erkennen. Außerdem erschwerte der Schneeregen die Sicht. »Ich muss irgendwo parken«, sagte sie und war insgeheim froh, dass sie ein Fahrzeug aus der Zivilflotte genommen hatte, noch dazu ein Modell der unteren Klasse. Trotzdem fuhr sie weiter, bis sie unter dem Brückenbogen standen. Sie wollte kein Risiko eingehen.
Sie stiegen aus und gingen ungefähr zwanzig Meter zu Fuß weiter, die Mantelkrägen gegen den beißend kalten Nordostwind hochgeschlagen.
»Siehst du das?«, fragte Carver.
»Ich sehe es«, sagte Ruth.
Vor ihnen waren farbig pulsierende Lichter zu erkennen.
Der Weg führte sie zu einem dreistöckigen Gebäude aus den Sechzigerjahren. Es stand ein Stück von der Straße zurückgesetzt hinter einem Zaun aus Aluminiumplatten, war umgeben von einem Gerüst und eingehüllt in Plastikplanen. In dem Gerüst wechselte das Licht von Grün zu Blau zu Violett.
Auf der ersten Etage war eine Fläche von ungefähr drei mal vier Metern aus der Plane ausgeschnitten und gab den Blick frei auf eine mächtige hölzerne Packkiste. Sie war nach vorne hin offen. In ihrem Inneren befand sich die Quelle des Lichts, ein Strang aus farbigen LED-Lämpchen. Vom Deckel der Kiste hingen an dünnen Drähten drei große, glänzende Scheiben aus Plexiglas, die sich sachte im Wind drehten.
»Das Tor steht offen«, stellte Ruth fest.
Sie traten in den zum Gebäude gehörigen Hof und sahen nach oben.
In jede einzelne Scheibe war ein flacher, ovaler Gegenstand eingebettet, an den Rändern leicht gewellt, mit einer dreieckigen Aussparung in der Mitte, die in der Form an eine Katzenschnauze erinnerte.
»Herrgott, sind das …?«
»Querschnitte von Gehirnen – ich schätze mal von einem Menschen.«
»Sind die echt?«
»Das kann ich nicht sagen …« Lake blinzelte gegen das grelle Licht und den Schneeregen an. Die Proben in den Scheiben wirkten beunruhigend organisch. »Ja«, sagte sie schließlich. »Ich glaube schon, dass sie echt sind.«
Carver stieß einen lauten Ruf aus, um sich bemerkbar zu machen, erhielt jedoch keine Antwort. Dann ging er auf eine Trittleiter am Ende des Gerüsts zu.
»Greg!«, rief Ruth ihm hinterher.
Betont lässig drehte er sich um, wollte das zumindest, doch dann musste er einen leichten Seitwärtsschritt machen, um nicht aus dem Tritt zu geraten und zu stolpern. »Ich komme schon klar«, versicherte er ihr.
Ruth bezweifelte das. »Wenn die wirklich echt sind, kommt für das Opfer jede Hilfe zu spät«, sagte sie. »Dann dürfen wir den möglichen Tatort auf keinen Fall verändern oder verunreinigen.«
Seine Schultern sackten nach vorn. »Also gut.«
Da Greg Carver bereits zum Telefon gegriffen hatte, um Verstärkung durch die Spurensicherung anzufordern, ging Ruth Lake zurück zum Auto und holte eine Rolle Absperrband. Ein Stück vor ihr trat eine Gestalt aus den Schatten unter dem Brückenbogen. Prickelndes Unbehagen beschlich sie. Diese abgelegene Straße war selbst tagsüber nur wenig frequentiert; nachts aber verwandelte sie sich in eine Zone, in die sich nur die Hartgesottensten und Leute mit bösen Absichten vorwagten. Ihr erster Gedanke war, dass sie hier einen örtlichen Gauner vor sich hatte, der ihren Wagen in Augenschein nahm, um zu sehen, ob es da was zu holen gab, das man verhökern konnte.
»Polizei!«, rief sie. Eine zweite Person gesellte sich zu der ersten, dann noch eine. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück und sah fünf oder sechs Gestalten aus der anderen Richtung auf sich zukommen. Zwei weitere bogen im selben Moment um eine Ecke, sodass Ruth in ihrer Panik nach Carver rief. »Boss, vielleicht forderst du zusätzlich noch ein paar von den uniformierten Jungs an. Wir kriegen Gesellschaft.«
»Polizei!«, schrie sie erneut. »Bleiben Sie, wo Sie sind.«
Die Männer setzten ihren Weg unbeirrt fort. Sie kamen aus beiden Richtungen, mittlerweile waren es mindestens zwanzig.
Das erste Grüppchen war schon fast an ihrem Wagen angelangt. Wenn sie sich denen zuwandte, würden die anderen das Tor erreichen, ehe sie sie aufhalten konnte. Deshalb trat sie den Rückzug an und blockierte den Zugang zum Hof.
Zum Glück eilte Carver bereits herbei. »Woher zum Teufel kommen die denn?«, murmelte er leise.
»Ehrlich, ich hab keine Ahnung«, raunte sie ihm zu.
»Bleiben Sie zurück!«, brüllte er. Nur wenige Meter vor dem Tor machte die Horde halt.
Mit dem Schlagstock in der Hand richtete Ruth das Wort an einen hochgewachsenen Kerl mit einer Beaniemütze auf dem Kopf. »Das hier ist ein Tatort«, sagte sie. »Bitte gehen Sie zurück.«
Tatsächlich machte er einen kleinen Schritt nach hinten.
Mit gedämpfter Stimme sprach Carver in sein Telefon.
»Hey, Sie kenne ich doch.« Der mit der Mütze drehte sich zu seinen Kumpanen um. »Ich kenne ihn – das ist der Bulle, der angeschossen wurde.« Doch die anderen beachteten ihn nicht; sie waren gefesselt von der Lightshow vor ihnen.
»Was ist das?«, fragte einer.
»Sieht aus wie Querschnitte von Gehirnen«, antwortete ein anderer.
Ausrufe des Ekels und des Entsetzens, vereinzelte nervöse Lachkrämpfe. Einer stieß einen Fluch aus. Doch der Schock schien sie in ihrer Entschlossenheit nicht allzu lange zu hemmen: Bald hatte jeder sein Handy gezückt und hielt es hoch. Dann machten sie sich geschäftig daran, näher zu zoomen, Fotos zu schießen und Videoaufnahmen vom Tatort zu machen.
Dann leuchtete plötzlich ein greller Blitz auf. Die Umstehenden zuckten gleichzeitig zusammen. Ruth fuhr herum.
Jetzt erschien am unteren Rand der Kiste ein fortlaufender Text aus unzähligen kleinen LEDs: Think Outside the Box.
Ruth warf Carver einen Blick zu.
Begleitet vom Lärm herannahender Polizeisirenen, aktivierte sie die Aufnahmefunktion an ihrem Smartphone und filmte die Umstehenden: Gewiss würden einige von den Zuschauern in die Nacht abtauchen, sobald die uniformierten Beamten am Tatort einträfen. Falls der Täter unter ihnen war, hatten sie ihn so wenigstens auf Kamera.
2
Drei Wochen lang lief der Trailer für diese Folge von Fakt oder Fake. Wenn ich sie mir jetzt so ansehe, muss ich zugeben, dass es wirklich sehr schöne Aufnahmen sind. Die Art, wie die Stadt in Licht und Schatten getaucht ist, erinnert mich an den Chiaroscuro-Effekt des Film noir. Ob die Programmmacher irgendeine Ahnung davon haben, dass diese Technik ursprünglich aus der Renaissancekunst stammt?
Vermutlich nicht. Aber die Stimmung ist gut getroffen: dunkle Gassen, Lichtreflexe auf dem Wasser.
»… innerhalb von gerade einmal sechs Monaten …«
Der tiefe Bass des Sprechers ist unterlegt von spannungsvoller Geigenmusik.
»… zwölf Männer …«
Ein einzelner junger Mann ist nun auf dem Bildschirm zu sehen. Nennen wir ihn Dillon. Obwohl es genauso gut auch John oder Tyler oder irgendein anderer von einem weiteren halben Dutzend sein könnte. Der Einfachheit halber wollen wir bei Dillon bleiben. Ich habe mitverfolgt, wie er seine speckige kleine Freundin nach Hause begleitet hat. Sie haben geturtelt wie die Täubchen, sich geküsst wie zwei Jungfrauen, und dann hat er etwas getan, das ihn als echten Gentleman auszeichnet: Er ist in Richtung seiner einsamen Junggesellenbude davongegangen – und von der Klippe gestürzt, die das Leben vom Tod trennt. Und das alles nur, weil er es so eilig hatte, nach Hause zu kommen, statt mit Miss Piggy, seiner fetten Liebschaft, Spaß zu haben.
Das doppelt Ironische an der Sache ist: Ihr drohte keinerlei Gefahr – zumindest nicht von meiner Seite. Und wenn er sich seiner pummeligen Prinzessin gegenüber nicht so galant verhalten hätte, wäre er wohl noch am Leben.
Auf dem Fernsehbildschirm geht ein junger Mann eine mondbeschienene Gasse entlang, seine Schritte hallen laut von den Hauswänden wider. Hinter ihm eine vermummte Gestalt, die einen langen Schatten wirft; sie schiebt sich näher und näher an ihn heran, bis sie ihn schließlich eingeholt hat. Langsam dreht er sich um, ganz wie das Opfer in einem Horrorfilm, und in seinen weit aufgerissenen Augen blitzt Angst auf. Der Schatten schiebt sich über ihn, dann wird der Bildschirm schwarz.
Höchst dramatisch. Aber in Wirklichkeit hat keiner von ihnen mich kommen sehen.
Tennent stellt gerade das Thema der Sendung vor, und in den kommenden Minuten fasst der Erzähler die Geschichte zusammen: die verschwundenen Männer; Fotos und O-Ton-Aufnahmen von verängstigten Familienangehörigen; tränenreiche Reden von zurückgelassenen Freunden. Die Straßen Liverpools von Angst beherrscht; Hysterie und Paranoia unter den jungen Männern der Stadt. Zunächst wird das Thema Zeitreisen abgehandelt, weil man diesen Unsinn möglichst schnell vom Tisch haben will; immerhin handelt es sich um ein Format mit Anspruch.
Anschließend kommt Tennent auf die Kriminalstatistiken zu sprechen und geht auf die Häufigkeit von tätlichen Angriffen, Messerattacken und Schießereien in der Stadt in den letzten fünf Jahren ein, wobei er neben den Opfern von Schwerverbrechen auch die beeindruckende Zahl derer nennt, die an einer Überdosis Drogen oder an einer Alkoholvergiftung gestorben, unter die Räder eines Busses geraten oder bei einem Verkehrsunfall verletzt worden sind. Bei Fakt oder Fake legt man Wert auf eine ausgewogene Berichterstattung.
Auf seine ganz eigene blasierte, herablassende Art teilt Tennent seinem Publikum, das gebannt an seinen Lippen hängt, mit, dass jedes Jahr unzählige Männer zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren verschwinden. Dann lässt er sich darüber aus, wie sie wieder aufgespürt werden und wie lange sie vorher in der Regel als vermisst gelten. Gründe für ihr Verschwinden: ausufernde Saufgelage; der Ruf der Wildnis; Flucht aus Beziehungen und vor der Verantwortung; Depressionen; Drogen (ernste Miene) und Selbstmord. Schließlich zieht er Bilanz und kommt zu dem Schluss, dass es keinerlei Beweise für die Existenz des sogenannten Fährmanns gibt.
Ich unterbreche ihn mitten in seiner gehässigen Rede und schalte weiter zu einer Aufnahme meiner kleinen Ausstellung in der Stone Street, kurz vor dem Eintreffen der Polizei. Drei Scheiben, drei Leben im Querschnitt – und der unweigerliche Beweis dafür, dass der Fährmann keineswegs dem Reich der Fiktion angehört.
3
Tag zwei, Einsatzbesprechung, Lageraum, sieben Uhr morgens
DCI Greg Carver hatte ein Team von Detectives und Hilfskräften zusammengetrommelt und war bereit, noch mehr anzufordern, sobald er den Ermittlungsaufwand besser einschätzen konnte. Er verließ sein Büro, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich für einen Augenblick dagegen. Nun gut. Höchste Zeit, dass er in den Sattel zurückkehrte.
Er stieß sich von der Tür ab und marschierte durch den Flur zum Seminarraum, den sie als vorübergehende Einsatzzentrale nutzten. Bei seinem Eintreten wurde es schlagartig still, und er spürte, wie sich sämtliche Augenpaare auf ihn richteten. Die meisten dachten sicherlich an das, was ihm nur wenige Monate zuvor zugestoßen war, viele versuchten wohl, seinen Zustand abzuschätzen, und einige wenige spekulierten zweifellos darüber, wie lange er sich auf seinem Posten halten würde.
Er griff nach der Fernbedienung für den Projektor und rief die erste Folie der PowerPoint-Präsentation auf: eine Vergrößerung der makabren Szene, zu der man ihn und Ruth Lake am Abend zuvor gelotst hatte.
»Die Vorabuntersuchung durch die Pathologie bestätigt, dass es sich bei den Scheiben tatsächlich um Querschnitte eines menschlichen Gehirns handelt.« Er machte den Crime Scene Manager John Hughes in der Menge ausfindig. »John, wie hoch stehen die Chancen, dass wir brauchbare DNA-Proben erhalten?«
»Das hängt ganz davon ab, wie viel Konservierungsmittel verwendet wurde.« Der CSM hatte die wettergegerbten Züge eines Naturburschen. Er war ein ruhiger und bescheidener Mensch und überaus gründlich in seinem Job. »Die Scheiben sind relativ dick, deshalb stehen die Chancen gut, dass die Chemikalien nicht komplett bis ins Innere vorgedrungen sind«, schloss Hughes.
»Das sind dann wohl gute Neuigkeiten, wie?«
»Vermutlich, ja.«
Carver klickte weiter zur nächsten Folie. Das Foto war bei Tageslicht aufgenommen, die Scheiben flach auf weißem Hintergrund abgelichtet. Auf Carver wirkten sie wie Tintenkleckse in Schmetterlingsform. Die ersten beiden hatten eine leichte Rosafärbung, nur dass bei der zweiten die Ränder der Falten schon leicht ins Bläuliche gingen. Die dritte Scheibe war blasser im Vergleich zu den anderen. »Man muss wohl davon ausgehen, dass er ein Färbemittel verwendet hat, um sie so aussehen zu lassen?«
Hughes nickte. »Auch das ist nicht unbedingt hilfreich für unsere DNA-Analyse. Um ganz sicher zu sein, lassen wir vom Labor eine Low-Template-Analyse durchführen.«
»Fingerabdrücke? Andere Spuren?«
»Auf den Oberflächen der Scheiben war nichts zu holen«, erklärte Hughes. »Es besteht die Chance, dass er etwas auf der Beleuchtung oder auf dem Gerüst hinterlassen hat, aber allzu große Hoffnungen würde ich mir nicht machen: Regen allein wäre schon schlimm genug, aber gestern Nacht gab es Schneeregen. Der legt sich auf Gegenstände, ehe er abfällt und dabei wertvolle Spuren mitreißt.«
»Was ist mit der Kiste und der Aufhängung der Scheiben?«, erkundigte sich Carver. »All das war vor der Witterung geschützt.«
»Hier stehen die Chancen auf jeden Fall höher«, räumte Hughes ein.
Carver nickte. Die Botschaft war deutlich: Sie würden abwarten müssen, bis die Beweisstücke labortechnisch untersucht waren. »Hatten unsere Leute von der IT wenigstens Glück bei der Rückverfolgung der Mailadresse, über die ich diesen Tipp bekommen habe?«
Hughes schüttelte bedauernd den Kopf. »Die wurden über einen anonymen Server umgeleitet.«
»Interessant aber, dass er sie direkt an Ihre persönliche Mailadresse geschickt hat und nicht an unsere zentrale Kontaktadresse.«
Sämtliche Köpfe wandten sich um. Carver machte sich bereit, seinen Leuten den Mann vorzustellen, der das gesagt hatte. Doktor Kris Yi, forensischer Psychologe, Dozent an der University of Liverpool und Berater am Ashworth Hospital. Ashworth hatte einen Ruf als besonders sichere psychiatrische Klinik, in der die gefährlichsten und gewalttätigsten Verbrecher des Vereinigten Königreichs untergebracht waren, unter anderem der Kindsmörder Ian Brady. Carver entging nicht, dass sich Neugier auf den Gesichtern seiner Leute abzeichnete.
Yi, ein Mann um die vierzig, von gepflegtem Äußeren und im makellosen Anzug, nickte den anwesenden Polizisten und Forensikern reihum höflich zu. »Besucht man die Website der Polizei von Merseyside, wird man auf eine allgemeine Kontaktseite weitergeleitet«, erklärte er. »Googelt man ›Polizei Merseyside Kontakt‹, erhält man die zentrale Kontaktadresse. Und trotzdem trafen die E-Mails bei Ihnen persönlich ein.«
Er will mir wohl sagen, dass ich gezielt ausgewählt worden bin.
»Bei den vorangegangenen Ermittlungen habe ich tonnenweise Visitenkarten verteilt; auf jeder einzelnen von ihnen standen meine private Mailadresse und die Nummer meines geschäftlichen Mobiltelefons.« Carver nahm wahr, wie das Licht und die Farben um die sitzenden Detectives herum heller wurden, und blinzelte, um wieder klar zu sehen. Neurologen bezeichneten diese Lichteffekte als Auren; eine von den vielen Nachwirkungen der Schädelverletzung, die er beim letzten Fall davongetragen hatte. Außerdem wusste er, dass die Farbspiele die komplexen Gefühle seiner Kollegen widerspiegelten.
Er warf einen Blick auf seine Notizen, in der Absicht, zum nächsten Punkt überzugehen. Allerdings gelang es ihm nicht, die Worte auf der Seite zu entziffern. Als er wieder aufsah, um sich erneut an sein Publikum zu wenden, hielt sich in seinem Blickfeld hartnäckig ein Nachbild des Lichts; offenbar hatte sich das Ganze zu einer Migräne ausgewachsen. Erschrocken stellte Carver fest, dass er die Gesichter seiner Leute nicht mehr erkennen konnte, und im nächsten Moment brach ihm auf der Stirn und im Nacken der Schweiß aus.
»Danke, Chef«, übernahm nun Ruth Lake, als hätte er ihr ein Signal gegeben. »Könntest du bitte die nächste Folie aufrufen?« Carver leistete ihrer Bitte Folge. Angesichts seines Schwindels und der Übelkeit wollte er es nicht riskieren, zur Projektion aufzusehen. Allerdings erinnerte er sich an das Standbild aus dem Video, das Ruth beigetragen hatte: die Meute am Tatort, an die dreißig Leute, die allesamt ihre Handys hochhielten, um die Szene zu filmen.
»Sie kamen um die Ecke wie die Zombies in The Walking Dead«, sagte Ruth. »Und diese Straße ist garantiert auf keiner Liste der zehn coolsten Orte in Liverpool, die man besucht haben muss. Woher also kamen diese Typen?«
»Soziale Medien«, sagte Hughes. »Gestern Abend hat jemand unter dem Namen Der Fährmann neue Konten auf Instagram, Facebook und Twitter eingerichtet. Er hat, ungefähr fünfzehn Minuten nachdem die E-Mail bei Carver eingegangen war, Nachrichten mit dem exakt gleichen Wortlaut dort gepostet. Dazu hat er ein Foto vom Tatort hochgeladen.«
Carver stellte mit Erleichterung fest, dass Ruth sich allmählich aus dem grünen Lichtkreis herausschälte, der das Zentrum seines Sichtfeldes beherrschte; der blinde Fleck begann sich zu verkleinern.
»Mit Abstand die meisten Klicks erhält er auf Instagram«, fuhr Hughes fort. »Dort nennt er sich @FerrymanArt.«
»Wissen wir denn sicher, dass es sich um dieselbe Person handelt?«, erkundigte sich Carver.
»Das können wir leider nicht mit letzter Gewissheit sagen. Aber er hat ein einminütiges Video hochgeladen, das aufgenommen worden sein muss, bevor irgendjemand am Tatort war. Er hat Sie, die Polizei von Merseyside und« – damit warf er einen Blick auf Dr. Yi – »Ihren letzten Fall getaggt.«
Mittlerweile sah Carver wieder vollkommen klar, deshalb entging ihm auch Yis Stirnrunzeln nicht.
»Gibt es ein Problem, Herr Doktor?«, fragte er.
»Dieser Mensch scheint es darauf abgesehen zu haben, Bekanntheit zu erlangen, und trotzdem hat er seine Posts zeitlich so veröffentlicht, dass Sie bereits am Tatort waren, als er die Bilder für seine Follower veröffentlichte. Er wollte, dass Sie vorher eintrafen.«
Noch ein Hinweis, dass der Mörder es auf mich abgesehen hat. Mit dieser Tatsache muss ich mich wohl oder übel abfinden.
»Sie behaupten also, er sei auf mich fixiert?«
»So weit würde ich nicht gehen.« Yi warf einen Blick auf sein Handy. »Aber er erwähnt Sie tatsächlich in jedem einzelnen seiner Posts auf seiner FerrymanArt-Instagram-Seite; es ist also anzunehmen, dass er Ihre Medienberühmtheit nutzt, um sich eine Fangemeinde aufzubauen.«
Verdammter Mist, dachte Carver. »Haben Sie diesen Lauftext unter der schaurigen kleinen Ausstellung gesehen?«
»Lauftext?«
»›Think Outside the Box – Weg vom Schubladendenken‹«, sagte Carver. »Es handelt sich um den Titel einer Folge von Fakt oder Fake, dieser Fernsehshow, die vorletzte Woche lief. Hat für erhebliches Aufsehen gesorgt.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen folgen kann«, gab Yi zu.
»Sie sagten doch selbst, dass er auf Berühmtheit aus ist – er hat mich und die Fernsehsendung und den Decknamen Der Fährmann benutzt, weil alles zusammen unter Garantie für Interesse sorgen würde. Den Hype kann er sich ans virtuelle Revers heften.« Carver zuckte mit den Schultern. »Er weiß die Medien für seine Zwecke zu nutzen, mehr will ich damit nicht sagen.«
Dr. Yi lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er wirkte nicht überzeugt. Vielleicht war ihm aufgefallen, dass Carver ein wichtiges Detail übergangen hatte: nämlich dass der Moderator dieser Fernsehshow derzeit als vermisst galt.
Wieder einmal war Ruth Lake seine Rettung: »Alles, was mit dem Internet zusammenhängt, bringt uns nicht weiter, zumindest derzeit nicht. Sehen wir uns lieber die Scheiben doch noch einmal näher an«, schlug sie vor und wandte sich an den CSM. »Gibt es irgendwelche Spuren oder Hinweise an den Plexiglasscheiben, die Rückschlüsse auf seinen Aufenthaltsort zulassen?«
»Wir sind gerade dabei, das zu untersuchen«, bestätigte Hughes. »Falls Fasern oder Staubpartikel hineingeraten sind, gehen sie nicht verloren, sie sind darin eingeschlossen. Die Farbstoffe werden wir einer HPLC-Analyse unterziehen; sollte es sich um medizinische Färbemittel handeln, muss er sie über den Spezialhandel bezogen haben.«
Erleichtert darüber, dass er nicht mehr im Mittelpunkt stand und sich wieder bedenkenlos an der Diskussion beteiligen konnte, sagte Carver: »Sobald wir die Ergebnisse der Analyse haben, werden wir dem nachgehen.«
»Wissen wir schon, was die Todesursache war?«, wollte Yi wissen.
»Die Obduktion ist für den späteren Nachmittag angesetzt«, sagte Carver.
»Nur ein Wort zur Vorsicht«, warnte Hughes. »Bei einer derart geringen Gewebemenge wird es nicht einfach werden, die Todesursache zu bestimmten.«
Wohin sie sich auch drehten und wendeten, immer waren sie gezwungen, auf die Ergebnisse der forensischen Untersuchungen zu warten. Es war nun an Carver sicherzustellen, dass seine Leute diese Wartezeit produktiv nutzten, doch er merkte bereits, wie sich Düsternis auf die Mienen vereinzelter Teammitglieder legte: Sie mussten die erste Niederlage einstecken, ehe sie richtig angefangen hatten.
»Na schön«, seufzte er. »Womit können wir momentan arbeiten?«
Ruth hob das Kinn und deutete auf die Horde am Tatort versammelter Brutalos. »Befragung möglicher Zeugen«, sagte sie. »Wir können damit beginnen, diejenigen aufzuspüren, die abgehauen sind.«
»Gut.« Carver wies auf den Präsentationsbildschirm. »Der Täter muss die Kiste irgendwie transportiert haben, sie ist schwer, außerdem Batterien und die Leuchtmittel, die er am Tatort verwendet hat. Wir werden uns also die Bänder der Verkehrsüberwachung und von privaten Überwachungskameras in der näheren Umgebung ansehen.«
»Er muss eine Weile gebraucht haben, um die Installation aufzubauen«, merkte ein rothaariger Detective Constable an. Sein Name war Tom Ivey. »Wir sollten uns bei den Inhabern der umliegenden Läden erkundigen, ob sie in der letzten Woche irgendwelche eigenartigen Beobachtungen gemacht haben.«
»Ausgezeichneter Vorschlag«, gab Carver zurück, woraufhin der junge Detective knallrot anlief.
Carver sah sich im Raum um; wie immer entzogen sich die Variationen von Licht und Farbe seinem direkten Blick, am besten nahm er sie aus den Augenwinkeln wahr. Doch wenn ein Gefühl sehr stark ausgeprägt war, waren die Auren anhaltend. Im Moment jedenfalls stellte Carver mit Freude fest, dass der graue Schleier auf den Mienen allmählich verflog.
»Wer ist für die Abrissarbeiten zuständig, die dort gerade durchgeführt werden?«, fragte jemand. »Wir müssen uns mit den Verantwortlichen unterhalten.«
Carver nickte dem Mann anerkennend zu. »Genauso mit jedem, der auf dem Gelände gearbeitet hat. DS Lake wird in diesem Zusammenhang als Task Manager fungieren.«
Nachdem er sein Team derart motiviert hatte, fühlte er sich gewappnet, Dr. Yi wieder in das Gespräch einzubeziehen. »Sie sagten, der Täter heische um Aufmerksamkeit«, sagte er. »Er ist offensichtlich bereit, dafür einiges auf sich zu nehmen. Können Sie aus dem Arrangement am Tatort irgendetwas herauslesen, das uns helfen könnte, ihn zu finden?«
Yi nahm sich einen Moment Zeit, um über diese Frage nachzudenken. »Die Art der Präsentation hat eindeutig künstlerischen Charakter«, sagte er schließlich.
Dies sorgte für verhaltenen Protest aus den Reihen der Anwesenden.
»Zumindest aus seiner Sicht«, fügte Yi mit einer entschuldigenden Geste hinzu. »Und wenn man sich sein Instagram-Konto und den Namen ansieht, scheint er tatsächlich zu wollen, dass die Leute seine Installation als Kunst verstehen.« Eine Weile betrachtete er gedankenverloren die Projektion an der Wand.
»Ein paar Fragen, über die Sie nachdenken sollten, nur so als Anregung: Warum hat er sich ausgerechnet dafür entschieden, das Gehirn auszustellen und nicht irgendeinen anderen Körperteil? Das Herz zum Beispiel? Betrachtet er sich selbst als Intellektuellen? Oder soll das irgendein Hinweis sein, eine Anspielung auf irgendetwas im Leben des Opfers? Hat er diese Gehirnproben aus einem ganz bestimmten Grund derart präsentiert?«
»Und das soll was genau heißen?«, hakte Carver nach.
»Ich bin kein Neurologe«, sagte Yi, »aber wir wissen alle, dass verschiedene Hirnareale verschiedene Funktionen übernehmen.«
Mit dem unguten Gefühl, dass ihm das irgendwie bekannt vorkam, betrachtete er das Dia: Er hatte Bilder wie dieses gesehen, viele Male im Laufe seiner Behandlung.
»Und es sind drei Scheiben«, fuhr Yi fort. »Drei Teile, aus denen das … Ausstellungsstück besteht, ich weiß es gerade nicht anders auszudrücken. Die Zahl drei hat, kulturell und mystisch gesehen, eine sehr große Bedeutung – von den drei Grazien in der griechischen Mythologie bis hin zur Heiligen Dreifaltigkeit in der christlichen Tradition. Es bestehen vielleicht Parallelen zum Judentum, zur nordischen Mythologie, zum Taoismus oder auch zur Wiccabewegung – in der dreifaltigen Göttin: Jungfrau, Mutter und altes Weib.«
»Aller schlechten Dinge sind drei, sagt man doch auch …«, nuschelte jemand.
Betretenes Lachen ging durch den Raum.
»Es ist unser Job, dafür zu sorgen, dass es in diesem speziellen Fall nicht so weit kommt«, sagte Carver mit Entschlossenheit in der Stimme.
4
Die Stone Street ist für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Das Chaos an blinkenden Lichtern und Rettungsfahrzeugen der vergangenen Nacht ist nur noch eine ferne Erinnerung, lediglich zwei uniformierte Beamte bewachen den mit Absperrband umgrenzten Tatort in zwei Richtungen. Ein einzelner Van der Spurensicherung steht wenige Meter hinter der äußeren Absperrung geparkt.
Es geht ruhig, geschäftsmäßig zu; die CSIs kommen und gehen und tragen Plastikbehälter mit sich herum. Natürlich werden sie nichts finden.
Bei Tageslicht wirkt die Installation flach und grau; ihre Wirkung hängt zum Großteil von den Kontrasten aus Licht und Dunkel ab.
Zwei Fernsehteams und einige Zeitungsjournalisten stehen schlotternd am Rand des Geschehens, und ich bin dankbar, dass ich im wohlig warmen Auto sitzen kann. Heute Morgen bin ich mit dem Toyota gekommen; der Lieferwagen steht ganz in der Nähe, aber gut versteckt, an einem Ort, an dem sie niemals suchen würden. Gelegentlich drehen die Reporter sich um und deuten die Straße hinunter in Richtung meiner kleinen Ausstellung. Bislang wird nur in den örtlichen Medien darüber berichtet, aber das wird sich schon bald ändern.
Ich nehme mir einen Augenblick Zeit, um mir mein Instagram-Account anzusehen: Ungefähr im Abstand von dreißig Sekunden trudeln neue Kommentare ein. Die Zahl meiner Follower ist von null auf siebentausend hochgeklettert, und das in nur zwölf Stunden, und es werden immer mehr Menschen, die meine Beiträge liken und teilen. Ich sehe mir die Profile von den besonders auffälligen Fans an und stoße auf das Übliche: wilde Entschlossenheit und Energie, gepaart mit absoluter Ahnungslosigkeit. Sie huldigen dem Abseitigen und haben keinerlei Respekt vor der Geschichte und der Bedeutung einer Arbeit. Ich hole tief Luft. So lästig diese Leute sind, sie führen andere zu meiner Kunst, deshalb muss ich mich mit ihnen arrangieren.
Eine Beamtin der Spurensicherung bleibt hinter dem Polizei-Van stehen, nimmt die Kapuze ihres Einweg-Overalls ab und entfernt den Mundschutz. Dankbar atmet sie durch und saugt die kühle Luft in sich auf, ehe sie einen Fuß hebt, um den Überschuh abzustreifen. Für einen kurzen Moment ist sie wie erstarrt, dann richtet sie sich wieder auf und wendet sich ab. Der Police Constable an der Absperrung wirft einen Blick in meine Richtung, mein Herz fängt an zu klopfen.
Höchste Zeit zu verschwinden. Ich ziehe mich von der Straßenecke zurück und fädle mich in den gleichmäßig dahinfließenden morgendlichen Verkehr ein, verschmelze mit der anonymen Menge.
5
Greg Carver saß an seinem Schreibtisch und sah sich ein Video vom Tatort an, das die Spurensicherung am Vorabend gedreht hatte. Die Aufnahme zeigte zunächst die äußere Absperrung, folgte dann dem allgemeinen Zugangsweg, den ein Mitglied des Teams markiert hatte. Ein Mann ging voraus, während eine Beamtin die Kamera langsam von links nach rechts schwenkte, ehe sie ihren Weg in Richtung Installation fortsetzte. Sie hatte auf die Kiste mit ihrer düsteren Fracht gezoomt. Die drei Scheiben bewegten sich sachte im Wind, der von der Bucht heranwehte. Das Lichtarrangement wechselte von Rot zu Grün zu Blau zu Violett. Carver, seit seiner Schädelverletzung verstärkt für Farben und Licht sensibilisiert, fragte sich, ob die Nuancen für den Mörder irgendeine Bedeutung hatten.
Die Scheiben schienen zu verschwinden, sobald sie sich an den Drähten senkrecht zur Blickrichtung drehten, und kaum traf das Licht auf ihre Oberflächen, wurden sie wieder sichtbar. Das im Plexiglas eingeschlossene Gehirngewebe, wie die Tintenkleckse eines albtraumhaften Rorschachtests, und die ständige Bewegung sorgten bei Carver für ein dezentes Unwohlsein. Mit jedem Tropfen Schneeregen, der auf die Kameralinse traf, verschwamm das Bild zusehends. Die Beamtin vom CSI wischte flüchtig darüber, dann stellte sie auf eine der Scheiben scharf. Im selben Moment gingen die LED-Lampen aus, und Carver sah nur noch sein eigenes Spiegelbild reflektiert; als wäre er darin eingeschlossen.
Dunkelheit.
Etwas lauerte in den Schatten, unmittelbar außerhalb seines Sichtfeldes. Er konnte es nicht erkennen; konnte sich nicht rühren. Dreh dich um. Er versuchte es, scheiterte.
Er war wie gelähmt, nicht in der Lage, die bösartige Macht abzuwehren, wohl wissend, sie war ihm nah genug, dass er sie hätte berühren können.
Schlafparalyse, dachte er bei sich. Wach auf!
Jemand hämmerte gegen die Tür.
Die Dunkelheit lichtete sich. Er blinzelte, seine Augen tränten, weil die plötzliche Helligkeit ihn blendete, und er verspürte ein leichtes Prickeln in den Fingerkuppen.
Wieder ein lautes Klopfen, und im nächsten Moment streckte Ruth Lake den Kopf ins Zimmer.
»Greg?«
Es war nur ein Traum. Allerdings war er nicht restlos überzeugt, dass er wirklich geschlafen hatte, und wenn das, was er soeben erlebt hatte, keine Schlafparalyse war, was zum Teufel war es dann? »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Ruth.
»Alles bestens. Ich muss kurz eingenickt sein.« Ruth hatte ihn an seinem absoluten Tiefpunkt erlebt; kleinere Schwächen konnte er ihr gegenüber problemlos zugeben, denn er konnte sich darauf verlassen, dass sein Geheimnis bei ihr sicher war. Ohne einen weiteren Blick auf den Bildschirm klappte er sein Laptop zu. »Was gibt’s?«
Statt ihm sofort zu antworteten, richtete Ruth ihre braunen Augen auf ihn, bis er den Blick zu ihr hob. Sie schien in ihm zu lesen wie in einem Buch – etwas, das sie fast reflexartig tat, wie atmen.
»Der Pathologe hat sich gemeldet«, sagte sie schließlich. »Er braucht noch einen Tag für seinen schriftlichen Bericht, aber er wäre bereit, mit jemandem vorab über seine Befunde zu sprechen. Soll ich rüberfahren?«
Carver erhob sich und wollte nach der Jacke greifen, die über der Rückenlehne seines Stuhls hing. »Ich begleite dich.«
Als der Raum sich jäh nach links neigte, musste er sich mit der Hand abstützen. Dabei fegte er Unterlagen und Stifte vom Schreibtisch, sodass sie auf dem Boden landeten.
Ruth trat kurz entschlossen in den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Dann ging sie in die Hocke und sammelte die Sachen in einer einzigen fließenden Bewegung auf.
Carver ließ seine Jacke hängen und sackte zurück auf den Stuhl.
»Vielleicht bleibe ich lieber doch hier«, sagte er.
»Sicher.«
Er war dankbar, dass sie sich keinerlei Besorgnis oder Furcht anmerken ließ, seelenruhig sah Ruth ihn an. »Gehst du noch regelmäßig zur Physio?«, fragte sie.
Die Physiotherapie war fester Bestandteil des vom neurowissenschaftlichen Zentrum in Zusammenarbeit mit der Personalabteilung der Polizei Merseyside und dem Arbeitsschutz erstellten Rehaplans, auf den man sich als Bedingung für seine etappenweise Rückkehr in den Dienst geeinigt hatte.
Unter den gegebenen Umständen war es ihr gutes Recht, ihm diese Frage zu stellen, aber statt zu antworten, konterte er mit einer Gegenfrage: »Und wie sieht es mit dir aus? Bist du mit der Lasertherapie fertig?«
»Hab drei Sitzungen hinter mir, zwei Mal muss ich noch hin«, sagte sie.
Wieder einmal gab sie rein gar nichts über sich preis. Er wusste genau, dass das Verfahren sehr schmerzhaft war, aber in den drei Monaten, die die Behandlung nun schon dauerte, hatte sie sich nicht ein einziges Mal beklagt, hatte sich nicht dazu geäußert, es sei denn, er hatte sie gezielt danach gefragt.
»Tja, danke, dass ich dir mein Herz ausschütten durfte«, sagte er, erfreut, einen amüsierten Ausdruck in ihren Augen zu sehen.
Zwei Stunden später tippte Ruth Lake den Bericht über ihren Besuch im Leichenhaus des Krankenhauses. Der Stoff ihrer Bluse scheuerte in der Armbeuge, was ein hartnäckiges Brennen auslöste. Schuld war die Laserbehandlung, durch die die Tätowierungen beseitigt werden sollten – ein sehr persönliches Erinnerungsstück an den letzten Fall, an dem sie und Greg Carver gearbeitet hatten.
Das zu untersuchende Gehirngewebe war in unversehrtem Zustand, wie der Pathologe ihr mitgeteilt hatte: Der Mörder hatte bei den ersten beiden Proben Formalin verwendet, bei der dritten allerdings nicht. Als Crime Scene Manager hatte Hughes die Vermutung angestellt, dass das Formalin nicht bis in die tieferen Schichten des Gewebes vorgedrungen war, deshalb zeigte sich der Gerichtsmediziner zuversichtlich, dass die entnommenen Proben intakte DNA-Spuren zutage fördern würden. Die Scheiben waren absolut sauber geschnitten, hatte er ihr mitgeteilt, ganz ohne die typischen »Sägespuren«, die bei Verwendung eines gewöhnlichen Küchenmessers zu erwarten gewesen wären. Diese Tatsache ließ auf zwei Dinge schließen: Zum einen musste der Mörder ein professionelles Metzgermesser verwendet haben, zum anderen war er in dessen Handhabung offensichtlich geübt. Das Färbemittel konnte noch nicht bestimmt werden, aber der Pathologe hielt für mehr als wahrscheinlich, dass es sich um Lebensmittelfarbe handelte, die Chromatographie würde ihnen hier Aufschluss geben.
Als Ruth sich erkundigt hatte, woher der Mörder das Plexiglas haben könnte, hatte er ausweichend reagiert – das läge außerhalb seines Fachgebiets. Allerdings wagte er die Vermutung, dass es sich um ein qualitativ hochwertiges Produkt handelte, farblos und rein.
Es gab außerdem nicht viele Lufteinschlüsse, wie Ruth aufgefallen war.
»Er ist sehr geschickt mit seinen Händen«, murmelte sie und ergänzte dies in ihrem Bericht.
Geistesabwesend kratzte sie sich am Unterarm und sann über das Plexiglas nach. Sie hatte im Internet einige Unternehmen gefunden, die auf solche »Einbettungsarbeiten« spezialisiert waren – vom Buch bis zur Konservendose mit Büchsenfleisch schlossen sie alles in Blöcke von durchsichtigem Plexiglas ein. Doch der Fährmann hatte wohl kaum seine Trophäen nach draußen geschickt. Er musste die Arbeit selbst durchgeführt haben.
Ruth wusste, dass Plexiglas aus Acryl besteht. Zur Herstellung dieses Materials muss eine Reihe von einfachen Molekülen, sogenannte Monomere, dazu gebracht werden, sich miteinander zu verbinden, bis sie eine langkettige Chemikalie bilden. Sobald man dieses Polymer hergestellt hat, verfestigt es sich. Will man es also formen oder etwas darin einbetten – zum Beispiel Hirngewebe – , dann muss man schnell sein.
Und wie leicht war es, die entsprechenden Chemikalien in ausreichender Menge zu besorgen? Eine rasche Google-Suche ergab, dass man die sirupartige Monomerbasis literweise kaufen konnte. Man brauchte nur noch einen Enzymaktivator hinzuzufügen, umzurühren und die Flüssigkeit in eine Form zu gießen. Gewöhnliche Backformen waren geeignet, wie es sie in jedem Haushalt gibt. Bei Amazon hatte man sogar einen recht hilfreichen Algorithmus eingerichtet, um sicherzugehen, dass der Käufer alles fand, was er für sein Bastelprojekt brauchte. Allerdings gab es sicher Tausende von handwerklich tätigen Menschen, die derartige Sets kauften, um Briefbeschwerer mit eingeschlossenen Pusteblumen herzustellen; den einen kranken Typen zu finden, der menschliche Überreste in Acryl goss, wäre kein leichtes Unterfangen.
Sie rief John Hughes an.
»Man hat uns die Scheiben zurückgeschickt«, sagte Hughes. »Die Pathologie hat das Gewebe schon entnommen. Wir werden das Material jetzt ein paar Tests unterziehen. Falls es sich um qualitativ hochwertiges Acryl handelt, sollte das Ihren Leuten bei der Suche nach dem Hersteller helfen.«
»Das wäre großartig«, sagte Ruth. »Wie ich bei meinen Internetrecherchen herausgefunden habe, dauert es zwischen zwölf und vierundzwanzig Stunden, bis das Material restlos ausgehärtet ist. Sofern er also keinen Luftreiniger mit HEPA-Filter verwendet hat, ist davon auszugehen, dass irgendwelche Rückstände darin eingeschlossen sind.«
»Wir fangen noch heute mit der Untersuchung an«, versicherte er ihr.
Nachdem sie sich bedankt hatte, legte sie auf und druckte ihre Notizen für den Bericht aus, um sie mit zu Carver zu nehmen.
Als sie in sein Büro trat, telefonierte er gerade. Er bedeutete ihr, näher zu kommen, und drückte auf eine Taste am Festnetztelefon.
»DCI Solen«, sagte er. »DS Lake ist gerade bei mir eingetroffen. Ich habe Sie auf Lautsprecher gestellt. DCI Solen ist vom SCD1«, fügte er für Ruth hinzu. »Er leitet als SIO die Untersuchungen rund um Professor Tennents Verschwinden.«
SCD1 stand für das Serious Crime Directorate 1 – eine operative Kommandoeinheit, die in Mordfällen und bei anderen schweren Verbrechen in der Hauptstadt London zum Einsatz kam. Es hatte den Anschein, als würde man das Verschwinden des Professors dort überaus ernst nehmen.
»DCI Solen hat mir gerade mitgeteilt, dass sein Team den letzten Aufenthaltsort von Professor Tennent ermitteln konnte«, sagte Carver.
»Nun, zumindest sind wir uns so gut wie sicher«, wandte Solen mit unüberhörbarem East-End-Einschlag ein. »Ich habe Ihnen bereits einige Ausschnitte von Überwachungskameras zugeschickt.«
Carver öffnete die Mail mit dem entsprechenden Anhang auf seinem Laptop.
Während er die Videos laufen ließ, sprach Solen weiter: »Der Professor hat seine Oyster-Card zuletzt am Tag seines Verschwindens um vierzehn Uhr fünfzehn an der Warren Street benutzt.«
Zwei kurze Sequenzen zeigten, wie der Professor das Drehkreuz der U-Bahn passierte und anschließend in einen Zug stieg. Er trug eine schwarze Regenjacke über einem grauen Anzug aus Wolle und hatte eine Laptoptasche über der Schulter hängen.
»Wir haben ihn außerdem auf Band, wie er um vierzehn Uhr zweiunddreißig an der Haltestelle Charing Cross aus einem Zug der Northern Line steigt«, fuhr Solen fort, während Carver das Geschehen auf dem Bildschirm mitverfolgte. »Man sieht, wie er sich nach links wendet und die U-Bahn-Station verlässt, anschließend geht er eine Gasse entlang, York Place heißt sie.«
Mit einem Mal wurde der Bildschirm weiß. Im ersten Moment dachte Ruth, das Material sei zu Ende, doch dann bemerkte sie undeutlich ein Paar Flügel, das sich durchs Bild bewegte. Eine Taube war an der Überwachungskamera vorübergeflogen.
»Was sehen wir jetzt?«, wollte Carver wissen.
»Das Weiße, das Sie da sehen, ist ein Ford Transit, ein Lieferwagen, der vor einer Laderampe in der Buckingham Street geparkt steht, auf der Rückseite des Theodore Bullfrog Pub.«
»Der Professor rief seine Sekretärin an, um ihr mitzuteilen, er wolle sich nach seiner Vorlesung auf dem Rückweg noch mit jemandem in der Stadt treffen«, sagte Ruth. »Vielleicht war das Treffen in diesem Pub geplant.«
»Gut möglich.«
»Handelt es sich bei dieser Gasse um eine Stichstraße, die als Abkürzung auf dem Weg irgendwohin dient?«, fragte Carver.
»In der Tat. Tennent hat am nahe gelegenen King’s College Strand Campus unterrichtet, nur ungefähr zehn Minuten von Charing Cross entfernt, er wird sich in der Ecke ausgekannt haben …«
»Es ist also anzunehmen, dass er auch die Abkürzung kannte«, beendete Ruth den Satz für ihn. »Darf ich?« Carver lehnte sich zurück und überließ ihr die Maus. Sie spulte die Aufnahme zu der Stelle zurück, wo man die Laderampe sah. An der Wand waren zwei Überwachungskameras montiert, links und rechts des Lieferanteneingangs. Doch keine von ihnen saß hoch genug, um über das Dach des Vans hinwegblicken zu können.
»Keine Überwachungskameras auf der gegenüberliegenden Seite?«, erkundigte sie sich.
»Leider nein«, sagte Solen.
Was auch immer sich in diesen wenigen Minuten auf der anderen Seite des Vans abgespielt hatte, würde ihnen also verborgen bleiben.
Ruth ließ die Aufnahme weiterlaufen, und die weiße Seitenverkleidung des Lieferwagens zog an der Linse vorbei, als er vom Randstein losfuhr. Dahinter kam eine graue Wand zum Vorschein.
Carver lehnte sich zurück und schloss für einen flüchtigen Moment die Augen.
Wieder ein Schwindelanfall, dachte Ruth.
Die Wand stieg von links nach rechts schräg an, war oben mit schwarzen Gitterstäben versehen. Keine Spur von Professor Tennent.
»Der Van ist an der Kreuzung links abgebogen«, bemerkte Carver.
»Das ist die John Adam Street«, kam es von Solen. »Das letzte Handysignal des Professors kam von einem Sendemast unweit der Haltestelle Charing Cross. Unsere Suchhunde haben es, vollkommen demoliert, nur ungefähr eine Minute Fußmarsch von der Stelle entfernt gefunden – vermutlich hatte man es aus dem Fenster des fahrenden Lieferwagens geworfen.«
Nun folgten kurze Ausschnitte, die den Van im Verkehr zeigten, dann sagte der Chief Inspector: »Wir konnten seine Fahrt bis zum Embankment zurückverfolgen.«
»Vermutlich wollte er zur M40 Richtung Norden«, sagte Carver.
»Genau mein Gedanke.«
Ruth glaubte einen überraschten Unterton aus Solens Stimme herauszuhören.
Dann: »Oh, ach so, ja … Sie waren früher bei der Met Operation Trident, nicht wahr?«
»Lang, lang ist’s her«, sagte Carver und brachte damit das Gespräch zum Erliegen, ehe es richtig begonnen hatte. »Haben Sie eine Aufnahme des Fahrers?«
Ein leichtes Zögern, dann sagte Solen: »Spulen Sie fünf Minuten vor.«
Er nannte ihm die genaue Zeit, und Ruth machte sich daran, die Stelle zu finden, während Carver den Blick durchs Zimmer schweifen ließ.
»Haben Sie’s?«, fragte Solen.
Ruth stoppte das Bild. Der Van war in perfekter Frontalansicht zu sehen. Die Lichtverhältnisse waren gut. Das Nummernschild war problemlos zu erkennen, aber leider reflektierte die Windschutzscheibe das Licht, ein Regenbogen an Farben, der Fahrer nichts als ein grauer Schatten dahinter.
»Er hat Spiegelfolie verwendet«, sagte sie.
»An der Windschutzscheibe und den Seitenfenstern, genau«, bestätigte Solen. »Es handelt sich um sogenannte Chamäleonfolie – diese wechselt ständig die Farbe. Unsere Spezialisten sagen, dass man gegen diesen Effekt kaum etwas machen kann.«
»Aber Sie können das Filmmaterial doch bereinigen«, sagte Carver mit fragendem Unterton.
Ruth schüttelte den Kopf. »Das Bild hinter dem Effekt existiert quasi nicht. Das wäre so, als wollte man auf einer Aufnahme die Tür wegretuschieren, um zu sehen, was dahinter liegt.«
»Sie verstehen wohl was von Fotografie, wie?«, hakte Solen nach.
»Nicht sonderlich viel«, gab Ruth zurück und hatte nicht das Bedürfnis, sich weiter zu erklären. »Allerdings haben wir ein vages Bild des Fahrers. Möglicherweise lässt sich der Kontrast noch etwas verbessern.«
Solen grunzte. »Klicken Sie weiter zum nächsten Bild, da sehen Sie die bereinigte Version.«
Die Umrisse des Fahrers waren nun deutlicher auszumachen. Der Position seines Kopfes hinter dem Steuer nach zu urteilen, war er relativ groß, doch leider waren seine Gesichtszüge genauso wenig zu erkennen wie zuvor.
»Wir haben bereits mehrere Teams darangesetzt, die Überwachungsbänder zu sichten und die automatische Nummernschilderkennung laufen zu lassen«, fuhr er fort. »Sobald meine Leute fündig werden, lasse ich es Sie wissen.«
»Wie sieht es mit den Nummernschildern aus?«, erkundigte sich Carver.
»Gestohlen. Am Abend zuvor, von einem in Liverpool registrierten Lieferwagen.«
Carver warf Ruth einen Blick zu.
»Wir werden uns auch die Überwachungsbänder ansehen, die wir hier bei uns haben«, entschied Carver. »Vielleicht können wir den Van auf seinem Weg aus der Stadt hinaus oder bei seiner Rückkehr ausfindig machen. Wie sieht es mit den Kreditkarten des Professors aus? Bei einigen Vermisstenfällen wurden noch wochenlang nach dem Verschwinden der Person die Kreditkarten für verschiedene Transaktionen belastet.«
»Tut mir leid«, sagte Solen. »Bedauerlicherweise nicht.«
»Verständlich«, sagte Ruth. »Ein solches Risiko würde er nicht eingehen. Sicher ist ihm bewusst, dass wir auf so was achten.«
»Irgendeine Chance, dass uns Tennents Telefon irgendwelche Erkenntnisse bringt?«, fragte Carver weiter.
»Es wurde restlos zerstört, zerquetscht von darüberrollenden Fahrzeugen, aber wir konnten die SIM-Card retten«, sagte Solen. »Unsere Techniker tun, während wir uns unterhalten, ihr Bestes und hoffen auf ein Wunder.«
»Er kannte die Abkürzung durch diese Gasse«, überlegte Ruth. »Er wusste, wie er der Überwachungskamera mit dem Lieferwagen die Sicht versperren konnte; er hat die kürzeste Strecke aus London hinaus gewählt. Entweder verfügt er über gewisse Ortskenntnisse, oder er hat sich in den Tagen zuvor intensiv in der Gegend umgesehen.«
»Wir werden uns die Bänder dahingehend noch einmal ansehen«, versprach Solen. »Sonst noch etwas?«
»Könnten Sie vielleicht eine Liste der am Tatort sichergestellten Beweisstücke schicken?«, fragte Carver.
»Ich werde die Spurensicherung bitten, sie Ihnen zukommen zu lassen«, bestätigte Solen. »Aber Sie wissen sicherlich, wie das ist: Eine Straße in London …«
Ruth wusste es nur zu genau. Als ehemaliges Mitglied des CSI hatte sie eine Unmenge an widerlichem Müll, der letzten Endes nichts mit den jeweiligen Fällen zu tun gehabt hatte, aufgesammelt, eingetütet und registriert. Hinzu kam, dass bereits drei Tage vergangen waren, seit Tennent als vermisst gemeldet wurde – Hunderte von Menschen mussten seither durch diese Gasse gegangen sein.
Wenig später verabschiedete Solen sich und legte auf. Ruth behielt Carver im Auge. Seine Hand zitterte kaum merklich, als er sie nach der Maus ausstreckte, um den Player zu schließen.
Carver schien ihren Blick zu spüren und sah auf. Er hob das Kinn und deutete auf die Mappe in ihrer Hand. »Sind das die vorläufigen Befunde aus der Pathologie?«
»Genau«, sagte sie. »Willst du, dass ich sie mit dir durchgehe?«
»Lass mir den Bericht einfach hier, ich sehe ihn mir später an.«
Ruth gehörte zu den wenigen, die von den Folgen von Gregs Verletzungen wussten, und hatte gelernt, damit klarzukommen. Aber was auch immer heute Morgen geschehen war, es war weit schlimmer als die üblichen Auren gewesen, die er sonst sah. Und er schien immer noch damit zu kämpfen zu haben.
»Ist was mit Emma? Ist alles in Ordnung?«
Abwesend starrte er sie an. »Was? Nein – ich habe Emma seit drei Wochen nicht gesehen.«
Allmählich sah es ganz danach aus, als wäre Carvers Ehe endgültig seiner Alkoholsucht zum Opfer gefallen, die ihn bei ihrem letzten Fall immer weiter in die Tiefe gerissen hatte.
»Gibt es sonst noch etwas, Sergeant?«, fragte Carver, sein Ton nun schärfer.
»Ich weiß nicht«, gab Ruth zurück. »Was denkst du?«
Er seufzte. »Ich hatte eine Migräne. Jetzt geht es mir wieder gut, okay?«
Sie nickte. »Ich werde jemanden bitten, dieses Nummernschild zu überprüfen.« Eine gewisse Härte lag in ihrem Ton. Sollte er ruhig mitbekommen, dass sie sich eine derartige Behandlung von ihm nicht bieten lassen würde.
Langsam atmete er aus. »Okay. Ja, danke, Ruth.«
Keine Entschuldigung, aber immerhin nicht weit davon entfernt, das reichte ihr. Mehr würde sie von ihm nicht bekommen. Sie nickte ihm knapp zu, dann stand sie auf, verließ sein Büro und schloss behutsam die Tür hinter sich.
6
Wenn ich im Leben etwas gelernt habe, dann, wie wichtig Timing ist. Das ewige Tick-tick des Metronoms, das einen guten von einem schlechten Moment unterscheidet, wird von den meisten Künstlern verkannt. Diejenigen unter ihnen, die sich selbst auf einer höheren moralischen Ebene wähnen als den Rest der Menschheit, mögen behaupten, allein über die Zeit nachzudenken sei schon abwegig, und dass es völlig unsinnig sei, an Ästhetik und Kreativität allzu geschäftsmäßig heranzugehen. Aber würden sie je auf die Idee kommen, eine Kunstausstellung vor einem Fußballstadion aufzuziehen, und das an einem nasskalten Samstagnachmittag mitten im November? Selbstverständlich nicht.
Ich gebe zu, auch ich hatte schon die eine oder andere Niederlage einzustecken. Doch auch wenn ich ein ungeduldiger Mensch bin, kann ich sehr gut abwarten, bis mir der Zeitpunkt günstig scheint, um auf der Welle des Erfolgs mitzuschwimmen und einen Hype zu generieren.
Und genau aus diesem Grund sehe ich mir stündlich die Nachrichten an, verpasse keine Neuigkeit, lausche dem Tick-tick des Metronoms und warte auf jenes Signal, das eine Veränderung des Tempos ankündigt, ehe ich zur nächsten Phase meiner Kampagne übergehe.
Bislang zeigt sich die Presse verhalten und berichtet nur wenig darüber. Und diesen wenigen Berichten nach gestaltet sich die postmortale Untersuchung »komplex und schwierig«.
Es schmerzt mich, wenn ich mir überlege, was sie mit meiner Kunst machen: Sie nehmen sie auseinander, analysieren sie, zerschneiden sie, weichen sie auf, untersuchen die einzelnen Bestandteile, als ginge es dabei lediglich um ein Stück Fleisch, das man zerteilt. Und all das im Rahmen einer ergebnislosen Suche nach Spuren meiner Existenz. Wie auch immer: »Zerstöre, und du erschaffst Neues.«, sagte der Künstler Gustav Metzger einst. Ich sehe das als künstlerischen Prozess, die konstruktive Destruktion.
Die Zahl meiner Follower steigt und steigt, was mir ein Trost ist – fünfzehntausend, als ich das letzte Mal nachgesehen habe, und kein Anzeichen dafür, dass sie allmählich stagniert. Sie reichen mir die Hände, schmeicheln mir, versuchen, mich zu einer Reaktion zu bewegen. Doch das richtige Timing ist auch hier die Quintessenz, deshalb lasse ich mich nicht drängen. Ich bleibe wachsam und warte ab.
Tick-tick-tick-tick-tick-tick.
7
Tag drei, morgendliche Einsatzbesprechung
Greg Carver stand vor den im Raum Versammelten. Auf dem Präsentationsbildschirm zu seiner Linken das Logo der Polizei von Merseyside, die Stimmung unter den Anwesenden war angespannt: Alle wussten, dass etwas Wichtiges bevorstand, sie wussten nur noch nicht, was es war.
»Die DNA-Analyse des Gehirngewebes ist vergangene Nacht eingetroffen«, sagte er.
»Wir haben es nicht mit einem, sondern mit drei Opfern zu tun.«
Aufgeregtes Getuschel wurde laut. Der Fall hatte sich von einer einfachen Vermisstensache zu einer Ermittlung nach einem Serienmörder ausgewachsen, und das in weniger als drei Tagen.
Carver wartete ab, bis wieder Ruhe eingekehrt war.
»Die Opfer, allesamt männlich, konnten zudem identifiziert werden.« Sein Blick wanderte von einem Gesicht zum anderen, er ließ keinen der Anwesenden aus. »Die Pressestelle wird die Namen herausgeben, sobald die Angehörigen informiert wurden; ich möchte nicht, dass vorher etwas duchsickert.« Hier und da registrierte er zustimmendes Nicken. »Und ich will keinerlei Spekulationen über einen Serientäter hören.«
»Das wird die Presse aber nicht davon abhalten, Boss«, merkte jemand an.
»Das ist mir bewusst«, gab Carver zurück. »Sie haben ihm bereits einen Namen verpasst. Wenn das erst mal die Runde macht, wird das in der Öffentlichkeit Ängste schüren.« Er wartete ab, bis sich jedes einzelne Augenpaar auf ihn gerichtet hatte. »Ich will, dass sich niemand mit der Presse unterhält, ob nun offiziell oder privat – verstanden?«
Als Greg Carver überzeugt war, dass die Botschaft angekommen war, klickte er weiter zu einer Aufnahme, die einen dunkelhaarigen Mann von schmächtiger Statur zeigte.