Der Fall Brinkowsky - Olaf R. Dahlmann - E-Book

Der Fall Brinkowsky E-Book

Olaf R. Dahlmann

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Beschreibung

Anwältin Katharina Tenzer in einem Netz aus Wirtschaftsinteressen, Geheimdiensten und politischem Kalkül. Die junge Hamburger Anwältin Katharina Tenzer wird von einer Freundin gebeten, bei der Suche nach dem verschwundenen Ehemann juristischen Beistand zu leisten. Schnell stellt sich heraus, dass der Verschollene grausam ermordet wurde und seine Firma offenbar in einen internationalen Waffenskandal verwickelt war. Die irrational handelnde Witwe, der israelische Geheimdienst und ein geheimnisvoller Whistleblower sorgen dafür, dass Katharina im Fall Brinkowsky wenig Luft zum Atmen bleibt. Mit der Zeit wird immer offensichtlicher: Sie sollte das Mandat besser kündigen. Doch da ist es bereits zu spät, denn inzwischen schwebt ihre eigene Familie in Lebensgefahr …

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Olaf R. Dahlmann

Der Fall Brinkowsky

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Kris Hoobaer (Hamburg), EcoPrint (Boot)

Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

Olaf R. Dahlmann

Für meine Eltern – in memoriam –

Alles, was wir hören, ist eine Meinung, keine Tatsache.

Alles, was wir sehen, ist eine Perspektive, nicht die Wahrheit.

Marcus Aurelius, Philosoph und römischer Kaiser von 161 bis 180 nach Christus

Prolog

Die Stimme am Telefon hatte er sofort wiedererkannt, obwohl es mit Sicherheit zwei Jahre her war, dass er sie zuletzt vernommen hatte. Er wusste nicht, wem sie gehörte. Noch viel weniger hatte er eine Vorstellung von der Person dahinter. Aber den ruhigen, wohlklingenden Singsang hatte er früher schon schwer vergessen können. Wie einen Ohrwurm.

Es war seit langer Zeit der erste Kontakt zu den Hintermännern des Mossad. Er war kein fester oder, besser gesagt, ständiger Mitarbeiter des israelischen Geheimdienstes. Das hätte er seiner Familie niemals zumuten können. Er war nur einer der unzähligen Kontaktleute, die die Diaspora hervorgebracht hatte und die weltweit freiwillig dafür sorgten, dass dieser ausländische Nachrichtendienst immer noch als einer der bestinformierten der westlichen Welt galt. In der Vergangenheit hatte er für diese Institution oft Informationen beschafft, die man getrost als staatstragend bezeichnen durfte, wie er meistens erst später erfahren hatte. Wenn in den Medien anschließend über die Vernichtung von Feinden des israelischen Staats berichtet wurde, hatte er das immer unter Kollateralschaden verbucht.

Stolz war er auf seine Dienste nie gewesen.

Die letzte Aktion, die er unterstützt hatte, lag vier Jahre zurück. Er musste an den kanadischen Waffeningenieur denken, der für den Irak eine neuartige Laserkanone entwickeln sollte und auf dem Flug von Frankfurt nach Damaskus vergiftet wurde. Er hatte damals die präzisen Flugdaten weitergegeben. Dass er nicht genau gewusst hatte, was seine Auftraggeber im Schilde führten, war mehr eine Ausrede als ein Trost. Wenn er an die Fernsehbilder dachte, wurde ihm mulmig in der Magengegend. Seine Familie allerdings hätte ihm seine Gedanken niemals verziehen.

Sein Vater, Gott habe ihn selig, war als Offizier einer der führenden Köpfe bei der Operation Zorn Gottes gewesen. Als Racheakt für die Tötung von elf Sportlern bei der Olympiade 1972 in München drang er in der Nacht vom 9. auf den 10. April 1973 mit zwei anderen Männern in das Wohnhaus des Anführers der Bewegung Schwarzer September ein. Abu Youssef und seine Ehefrau starben in einer Gewehrsalve, während sie gemeinsam in ihrer Badewanne saßen und gerade mit dem Liebesspiel beginnen wollten. Voller Inbrunst berichtete er, dass sie bei der Operation insgesamt zwanzig der an dem Anschlag beteiligten Palästinenser gerichtet hatten. Ministerpräsidentin Golda Meir hatte ihm und seinen Männern persönlich zum Erfolg der Operation gratuliert.

Auch diesmal hatte er nur eine leise Ahnung, was seine Auftraggeber mit den von ihm beschafften Informationen planten. Er sollte einem Boten seine Recherchen über drei Zielobjekte übergeben. Es waren eine Frau und zwei Männer, die auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz forschten und im Auftrag von großen Unternehmen mit ihrer kleinen Firma auch spezielle Entwicklungen übernahmen. Es ging um den Verkauf einer Technologie, deren militärischer Einsatz im Nahen Osten einen Flächenbrand auslösen könnte. Sie wollten die persönlichen Lebensverhältnisse der Personen herausfinden, die alle in dieser Stadt lebten. Wo, wie und mit wem sie lebten, schliefen und welche persönlichen Kontakte sie pflegten. Und alle Informationen sollten mit entsprechendem Bildmaterial unterlegt sein.

Die Frage, warum ausgerechnet diese drei in den Fokus des Geheimdienstes geraten waren, hatte er sich lieber gar nicht erst gestellt. Es war in dem Umfeld besser, nicht allzu viel zu wissen. Und eines stand fest. Wenn sich der Mossad Informationen beschaffen wollte, war die Hamas nicht weit. Mit diesen Leuten war nicht zu spaßen. Er wagte gar nicht, daran zu denken, was mit ihm geschehen würde, wenn sie von seinen Aktivitäten erführen.

Er hatte akribisch gearbeitet und ein mehrseitiges Dossier zusammengestellt, das jetzt in einem Umschlag neben ihm auf dem Beifahrersitz lag.

Den Treffpunkt, den ihm die Stimme am Telefon genannt hatte, kannte er genau. Es war der Parkplatz oben auf einem der großen Warenhäuser in der Nähe des Hauptbahnhofs.

Die Geschäfte in der Hamburger Innenstadt waren um diese Zeit zwar bereits geschlossen, doch das Parkdeck hatte rund um die Uhr geöffnet. Er fuhr an die Schranke, zog ein Ticket und kurvte die Auffahrt hinauf bis zum siebten Deck. Es standen nur wenige Autos darauf. Ein weißer Mercedes-Kombi mit holländischem Kennzeichen war nicht darunter. Er stellte seinen rostigen Ford mitten auf der großen Freifläche ab und stieg aus. Die funzeligen Neonröhren an der Balustrade gaben spärliches Licht. Weit und breit konnte er niemanden entdecken.

Die Anweisungen, die er erhalten hatte, waren knapp und präzise formuliert gewesen. Er sollte direkt neben dem Kombi halten. Fahrerfenster an Fahrerfenster. Dann sollte er den Briefumschlag übergeben, Zug um Zug gegen Erhalt seiner Bezahlung.

Er überlegte, was er tun sollte.

Den Briefumschlag hatte er auf dem Beifahrersitz liegen gelassen.

Sollte er versuchen, irgendwen anzurufen? Aber eine Nummer für Notfälle oder Ähnliches hatte die Stimme am Telefon ihm nicht genannt. Man ging anscheinend davon aus, dass es keine Probleme bei der Abwicklung geben würde.

Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr.

Er hatte sich extra keine Notizen gemacht. Ort, Zeit und der weiße Mercedes-Kombi waren leicht zu merken gewesen. Bei dem Parkhaus konnte er sich auch nicht geirrt haben. Es war ihm gleich erinnerlich gewesen, denn er hatte in dem darunterliegenden Kaufhaus mal einen Studentenjob gehabt und öfter hier geparkt.

Hatte er sich vielleicht in der Zeit geirrt? Er holte den Umschlag mit dem Dossier aus dem Wagen, steckte ihn ein und entschloss sich, mindestens eine Stunde zu warten.

Er begab sich zur Balustrade und schaute auf den spärlichen Nachtverkehr tief unten.

Dann drehte er sich um und ließ den Blick über das Deck schweifen. In ungefähr achtzig Metern Entfernung erhob sich am Ende ein Häuschen mit einem Unterstand aus Wellblech davor. Da war der Ausgang zum Treppenhaus mit den Kassenautomaten, erinnerte er sich. Neben dem Unterstand erkannte er zwei Motorräder. Bullige, schwere Maschinen, deren Fabrikate von Weitem nur zu erahnen waren.

Er bewegte sich zögernd auf den Wellblechunterstand zu. Auf halbem Weg blieb er stehen. Jetzt erkannte er die beiden Harleys, die eng nebeneinander parkten. Sie hatten sperrige Gepäckkästen hinter den Sitzen. Wahrscheinlich für die Motorradhelme.

In den Augenwinkeln glaubte er im Inneren des Unterstands das Glimmen einer Zigarette wahrzunehmen.

»Hallo, ist da jemand?«

Keine Antwort.

Er bewegte sich langsam weiter und nach wenigen Metern bemerkte er im Inneren des Unterstands eine große, kräftige Gestalt. Er stoppte und versuchte angespannt, Konturen auszumachen. Fehlanzeige.

In dem angrenzenden Gebäudeteil schälten sich jetzt die Umrisse einer geschlossenen Stahltür mit der Aufschrift Ausgang aus dem Zwielicht.

Plötzlich vernahm er ein durchdringendes Summen, das immer stärker wurde und auf einmal verstummte.

Der Fahrstuhl ist gerade oben angekommen, sagte er sich.

Die dunkle Gestalt verharrte immer noch reglos im Unterstand. Die Stahltür öffnete sich geräuschlos.

Vielleicht habe ich die Anweisung am Telefon falsch verstanden?

Er drehte sich langsam zu der Stahltür um und machte dabei einen Schritt in den Unterstand hinein.

Jetzt ging alles rasend schnell.

Der erste Schlag saß direkt über der Nasenwurzel. Die Wucht, mit der der Baseballschläger sein Gesicht traf, sorgte für ein trockenes Knacken seines Stirnbeins.

Als der zweite Hieb sein linkes Hüftbein zertrümmerte, versank er in tiefster Schwärze.

1

Der Regen peitschte zornig gegen die Scheiben, als wollte er all diejenigen Lügen strafen, die gebetsmühlenartig die Verödung der Landschaften durch Dürre und Hitze heraufbeschworen.

Katharina Tenzer hatte gerade ihre Mittagspause beendet. Heute ausnahmsweise am Schreibtisch, denn die zur Gewohnheit gewordene mittägliche Runde um die Binnenalster war dem heftigen Frühjahrsunwetter zum Opfer gefallen. Es war bereits Ende April und Sturmtief Ortwin spät dran dieses Jahr. Vor zwei Wochen hatte es in ganz Norddeutschland schon die ersten Sommertage gegeben, dann hatte eine Schlechtwetterfront die nächste abgelöst. Der Fischmarkt hatte in der vergangenen Nacht Land unter gemeldet und es sollte in den nächsten fünf Stunden noch schlimmer kommen, wenn man den Vorhersagen Glauben schenkte. Das waren keine guten Aussichten für den bevorstehenden Hafengeburtstag.

Sie stand in ihrem Bürozimmer am Fenster und schaute über den Rathausmarkt. Wo sich sonst Reisegruppen um Guides scharten und schmunzelnd den Hamburger Döntjes lauschten, fegten jetzt Mützen, Schirme oder andere herrenlose Utensilien quer über den Platz oder blieben an den Kioskständen hängen. Arm in Arm und tief gebückt kämpften sich vereinzelt vermummte Gestalten durch den stärker werdenden Orkan.

Katharina fragte sich, ob Rebecca Brinkowsky bei diesem Wetter überhaupt heil in der Innenstadt ankommen würde. Eigentlich hatte Katharina heute Morgen mit einer Absage gerechnet, nachdem die Wettermeldungen um neun Uhr bereits apokalyptische Züge angenommen hatten. Aber anscheinend war der kurzfristig vereinbarte Termin ihrer neuen Mandantin zu wichtig.

Rebecca Brinkowsky hatte vor drei Tagen in der Kanzlei angerufen und am Anfang herumgedruckst. Katharina verstand zuerst nur die Worte »Levin«, »Ramon« und »Elternabend«. Im Laufe des Gesprächs erinnerte sie sich. Auf dem Elternabend im letzten Herbst hatten sie nebeneinandergesessen und hinterher noch ein Glas Wein getrunken. Da zwischen ihnen auf Anhieb die Chemie gestimmt hatte, waren sie schnell beim Du gewesen.

Levin und Ramon gingen in dieselbe Klasse. Ramon war Katharinas vierzehnjähriges Pflegekind. Er war der Sohn ihres Bruders, der vor vier Jahren in Hamburg einem grausamen Verbrechen zum Opfer gefallen war. Der Junge war Vollwaise und hatte außer ihr keine lebenden Verwandten. Obwohl ein zehnjähriger Junge nicht unbedingt in ihre damalige Lebensplanung gepasst hatte, stand für sie nach dem gewaltsamen Tod ihres Bruders außer Frage, dass Ramon bei ihr bleiben würde. Der Junge baute im Zuge der dramatischen Ereignisse eine spürbare Nähe zu Katharina auf, die sie aus tiefstem Herzen erwiderte. Und nicht zuletzt war es Ramon, der sie am Ende ihrer Ermittlungen aus unmittelbarer Lebensgefahr rettete.

Nach einer kurzen Beobachtungsphase stimmte auch das Jugendamt zu, obwohl der zuständige Mitarbeiter Bedenken geäußert hatte. Nach seiner Ansicht war Katharina als selbstständiger Single in einem zeitaufwendigen Beruf für eine Pflegemutter nicht gerade die erste Wahl. Aber Ramon, der die Person war, um die es ging, hatte unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass er nirgendwo anders bleiben würde.

Nachdem sie am Telefon zunächst nicht so recht mit ihrem Problem hatte herausrücken wollen, schien Levins Mutter nach einigen Minuten doch den Mut gefasst zu haben, sich zu offenbaren. Katharina kannte dieses misstrauische Verhalten von manchen neuen Mandanten nur zu gut.

Der Ehemann von Rebecca war seit einigen Wochen einfach verschwunden, wie sie sich ausdrückte. Seit seiner Abreise nach Israel hatte sie kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Den letzten tränenreichen Worten hatte Katharina entnommen, dass sie sich auf eine völlig hilflose Person einzustellen hatte.

Auf die Minute pünktlich um halb zwei klingelte es am Empfang. Rebecca Brinkowsky war eine kleine, zierliche, attraktive Frau. Sie war Mitte vierzig, hatte langes dunkles Haar. Der energisch gebändigte Pferdeschwanz entblößte gnadenlos einige graue Strähnen. Sie machte einen nervösen, ja fast ängstlichen Eindruck, als Katharina sie im Wartebereich empfing.

»Nochmals vielen Dank, dass ich so schnell einen Termin bei dir bekommen habe«, sagte sie, nachdem sie es sich mit zwei Tassen Cappuccino in der Besprechungslounge bequem gemacht hatten.

»Das ist doch selbstverständlich. Wo drückt denn der Schuh? Wenn ich es am Telefon richtig verstanden habe, ist dein Mann, äh, verschwunden.«

Rebecca Brinkowsky begann zögerlich zu berichten, was ihr in den letzten Wochen widerfahren war. Wie oft sie diese Geschichte wohl schon erzählt hat?, dachte Katharina, während sie ihre Besucherin aufmerksam studierte.

Isaak Brinkowsky war am Dienstag, dem 13. Februar mit der Bahn nach München abgereist. Er wollte sich dort abends in einem Hotel mit einem Geschäftsfreund treffen.

»Ich habe danach noch mit ihm telefoniert. Er war ganz euphorisch, wie erfolgreich das Treffen verlaufen war«, sagte sie leise und kämpfte sichtlich mit den Tränen. Ihre Stimme wurde brüchig. »Es war das letzte Mal, dass ich etwas von ihm gehört habe.« Sie schluchzte herzzerreißend.

Katharina strich ihr über den Handrücken. Dann schlug sie ihren Schreibblock auf.

»Ich sollte mir ein paar Notizen machen«, sagte sie an die eigene Adresse.

Rebecca schnäuzte sich.

»Nein, das brauchst du nicht. Ich habe mir Aufzeichnungen und für dich eine Kopie gemacht.« Sie holte ein DIN-A4-Blatt in einer Klarsichthülle aus der Handtasche.

Katharina nahm ihre Tasse und lehnte sich zurück.

»Isaak ist am 13. Februar mit dem ICE um vierzehn Uhr zehn vom Hauptbahnhof in Hamburg losgefahren. Ich habe ihn selbst mit dem Auto abgesetzt und bin anschließend direkt nach Hause. Er war gegen neunzehn Uhr in München und wollte am nächsten Morgen um zehn Uhr vierzig geschäftlich weiter nach Tel Aviv fliegen. Mit dem Lufthansa-Flug LH 3512. Diese Daten hat er mir in dem Telefonat am Abend durchgegeben.«

Sie presste eine Faust vor den Mund. Katharina ließ ihr Zeit.

»Ich muss immer daran denken, dass dieses Telefonat das letzte Mal war, dass ich mit ihm gesprochen habe. Danach habe ich nichts mehr von ihm gehört. Kein Anruf, keine Mail, keine WhatsApp. Auf seinem Anrufbeantworter habe ich laufend Nachrichten hinterlassen, dass er doch zurückrufen solle. Jetzt ist der AB voll und springt nicht mehr an. Nach drei Tagen habe ich in der Firma angerufen. Die haben sich ebenso gewundert, dass er sich noch nicht gemeldet hatte.«

»Weißt du denn, in welchem Hotel er in Tel Aviv übernachten wollte?«, fragte Katharina.

»Mir hat er erzählt, er habe drei Übernachtungen im Crown Hotel gebucht. Er wollte am Samstag wieder zurück sein.«

Katharina rechnete nach. »Das wäre dann der 17. Februar gewesen. Hatte er denn schon einen Rückflug gebucht?«

»Nein, darüber haben wir gar nicht gesprochen. Das entscheidet sich bei Isaak immer spontan, das kenne ich schon.«

»Und über den Namen des Hotels, hast du damit etwas erreichen können?«

»Im Internet habe ich ein Hotel unter diesem Namen gefunden. Dort gab es auf seinen Namen keine Reservierung und spontan eingecheckt hat er auch nicht. Ich habe wieder in der Firma angerufen und wollte wissen, ob die eine Hoteladresse haben oder wüssten, mit wem er sich in Tel Aviv treffen wollte.«

»Und? Was haben die Kollegen deines Mannes gesagt?«, fragte Katharina.

»Nichts, das hat mich ja stutzig gemacht. Angeblich hat er seinen beiden Partnern gegenüber gar nicht gesagt, mit wem und warum er sich in Israel treffen wollte.« Sie schwieg für einen Moment. »Das glaube ich niemals«, fügte sie energisch hinzu.

»Und Buchungsbestätigungen per E-Mail auf den Rechnern in der Firma gibt es auch nicht?«, hakte Katharina nach.

»Nein, Isaak und sein Laptop sind unzertrennlich. Er arbeitet nur damit. Seine Reisen bucht er über seine Kreditkarte und bringt am Monatsende seine Belege zum Steuerberater.«

Katharina nickte. »Und was ist mit den Kreditkartenabrechnungen vom Februar, an die müsstest du rankommen, oder nicht?«

»Ja. Ich habe eine Kontovollmacht. Gleich Anfang März habe ich bei der Bank angerufen und die haben mir die Umsätze mitgeteilt. Das Bahnticket nach München ist abgebucht worden, aber kein Flugticket nach Tel Aviv.«

»Und sonst ergibt sich aus der Abrechnung nichts?«, fragte Katharina.

Rebecca zog den Kopf zwischen die Schultern und starrte auf den Boden. »Na ja. Isaak hat noch am Mittwoch, dem 14. Februar fünfhundert Euro aus dem Geldautomaten im Münchener Hauptbahnhof gezogen.« Sie zögerte. »Und dass er schon am 10. Februar ein Flugticket nach Zürich gebucht hat. Für welchen Flug, war nicht zu erkennen. Seitdem sind außer ein paar Daueraufträgen auf den Abrechnungen keine Buchungen mehr aufgetaucht.«

Katharina runzelte die Stirn. Die Sache kam ihr seltsam vor. »Wenn ich das richtig verstanden habe, hat dein Mann dir gesagt, dass er am 14. Februar nach Tel Aviv fliegen wollte, und hat vier Tage vorher tatsächlich ein Ticket nach Zürich gekauft?«

Rebecca nickte stumm.

Katharina brauchte mehr Hintergrundwissen. Was für ein Mensch war Isaak Brinkowsky? Hatte er Frauengeschichten? Und vor allem, was machte er beruflich?

»Sag mal, was ist das für eine Firma, in der dein Mann arbeitet? Ist er da Angestellter oder Inhaber? Ich muss mehr Einzelheiten kennen, um euch helfen zu können.«

»Isaak hat zunächst in Tel Aviv und zuletzt in Hamburg Informatik studiert. Seit der Zeit kennen wir uns. Nachdem er fertig war, war er einige Jahre bei einem amerikanischen IT-Unternehmen in der Entwicklungsabteilung tätig. Vor zehn Jahren hat er mit zwei Studienkollegen in Hamburg eine eigene Firma gegründet. Die ai-solutions. Ich glaube, jedem von ihnen gehört ein Drittel. Am Anfang lief die Firma mehr schlecht als recht. Aber seit zwei Jahren wirft sie ordentliche Gewinne ab. Uns geht es gut. Wirtschaftlich, meine ich.«

Der nachgeschobene Halbsatz ließ Katharina aufhorchen. Sie erinnerte sich, dass Ramon ihr im letzten Jahr beiläufig erzählt hatte, Levin habe während des Sportunterrichts damit angegeben, dass er mit seinen Eltern in ein riesiges Haus gezogen und sein eigenes Zimmer jetzt so groß sei wie das Klassenzimmer.

»Und womit beschäftigt sich die Firma?«, fragte Katharina.

»ai steht für artificial intelligence. Die drei haben spezielle Auftragsentwicklungen für größere Industrieunternehmen durchgeführt. Mehr weiß ich nicht, da musst du Toni, also Anton, wie er richtig heißt, oder Shannon fragen.«

»Sind das die Partner deines Mannes?«

»Ja, Anton Busmann und Shannon McDermott. Sie ist, glaube ich, Amerikanerin und in der Firma für die Akquise zuständig. Und Anton und Isaak für die Entwicklungen. Die beiden sollen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz absolute Koryphäen sein. Jedenfalls wenn man den Erzählungen in unserem Freundeskreis Glauben schenkt.« Sie legte eine kurze Pause ein. »Und weißt du, was mich am meisten wundert?«

»Nein, sag schon.«

Rebecca schaute Katharina mit großen Augen an. »Toni ist der beste Freund von Isaak. Er ist zwar ein bisschen speziell, wie soll ich sagen, ziemlich von sich eingenommen. Aber seit Kindheitstagen sind die zwei dicke Freunde. Und Isaak soll ihm nicht gesagt haben, dass er für die Firma nach Tel Aviv fliegt? Das glaube ich ihm nicht.«

Katharina wiegte zweifelnd den Kopf.

»Ich habe ja von diesen Dingen überhaupt keine Ahnung, bin absoluter Laie und überglücklich, wenn ich im Büro meinen PC bedienen kann.«

»Was machst du eigentlich beruflich?«, fragte Katharina, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

»Ich habe Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Logistik studiert und arbeite seit Jahren in der Hafencity bei einer Im- und Exportfirma. Seit wir Levin haben, nur noch in Teilzeit.«

»Und ihr habt zu Hause nie darüber gesprochen, was dein Mann gerade für technische Neuerungen entwickelt? Das ist doch ein tierisch spannendes Gebiet«, hakte Katharina nach, obwohl auch sie Probleme hatte, sich ein konkretes Betätigungsfeld in dieser neuen Branche vorzustellen.

»Nein, Isaak hat von Anfang an nie viel über seine Arbeit erzählt. Das war im Studium schon so. Seit Januar war er irgendwie anders. Ich hatte den Eindruck, dass ihn etwas bedrückt. Er machte immer so einen niedergeschlagenen Eindruck. Selbst Levin ist das aufgefallen. Früher haben die beiden an den Wochenenden regelmäßig Schach gespielt. Levin ist darin richtig talentiert. Seit letztem Jahr spielt er sogar in der Schülermannschaft unseres Gymnasiums.« Ihr mütterlicher Stolz war nicht zu überhören.

Katharina dachte an Ramon. Wie unterschiedlich die Jungs waren. Schachspielen würde Ramon glatt als Strafarbeit auffassen, da es mit Stillsitzen verbunden war. Sie musste ihn nach dem Training jedes Mal vom Fußballplatz herunterzerren. Alle seine bisherigen Trainer attestierten, dass Ramon nicht nur ein erstaunliches Ballgefühl, sondern für sein Alter auch ungewöhnliche motorische Fähigkeiten hatte.

»Wenn Levin in letzter Zeit mit seinem Brett in der Wohnzimmertür stand, hat er sich regelmäßig einen Korb bei seinem Vater geholt«, fuhr Rebecca fort. »Und irgendwann im Januar, es war an einem Sonntagabend, nachdem er Levin wieder einmal hat abblitzen lassen, habe ich ihn darauf angesprochen. Ich habe ihn gefragt, warum er in den letzten Wochen so abweisend zu uns ist und nur in seinem Arbeitszimmer vor dem Laptop brütet.«

»Und?«

»Isaak hat sich tausendmal entschuldigt und gemeint, dass sie mit der Firma gerade in Verhandlungen über einen wahnsinnigen Auftrag steckten, der eine revolutionäre Entwicklung bedeuten würde, wenn sie ihn erfolgreich abschließen könnten. Er könne den ganzen Tag lang an nichts anderes denken. Mehr dürfe er mir auf gar keinen Fall erzählen.«

»Und auch die Partner deines Mannes konnten dir darüber nichts sagen?«, fragte Katharina.

»Nein, das ist es ja gerade, was mich so stutzig macht. Und Toni nehme ich nicht ab, dass er keine Ahnung von so einem Auftrag gehabt haben will.«

Katharina überlegte, ob sie die nächste Frage tatsächlich stellen sollte. »Rebecca, versteh mich nicht falsch, aber ich muss dich das fragen. Wie läuft eure Ehe? Ist eure Beziehung glücklich? Gab es für Isaak andere Frauen in den letzten Jahren?«

Rebecca starrte wieder auf ihren Zettel und nickte stumm.

»Ja. Das hat mich die Polizei ebenfalls gefragt«, antwortete sie zögerlich.

»Du warst schon dort?« Den Satz hatte Katharina noch nicht ganz ausgesprochen, da ärgerte sie sich bereits darüber. »Das hast du absolut richtig gemacht, Rebecca«, schob sie hinterher. »Und was haben die gesagt? Welche Schritte unternehmen sie?«

»Das war vor zwei Wochen. Die Anzeige haben sie entgegengenommen. Doch die glauben mir nicht. Die denken, Isaak hätte sich eine Auszeit von der Familie genommen. Sie haben mir ein Aktenzeichen gegeben und das war’s.« Sie blickte Katharina an. »Darauf haben ja wohl deine letzten Fragen abgezielt«, ergänzte sie verstimmt. »Ich kann dir versichern, wir haben eine absolut intakte Beziehung geführt. Natürlich gab es mal Streit. Aber das war nichts, was Isaak veranlasst hätte, aus der Familie auszubrechen. Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass er nichts mit anderen Frauen hatte. Der Typ ist er nicht. Für ihn gibt es in erster Linie seine Arbeit. Und insbesondere Levin, der ist sein Ein und Alles. Nie würde er ihn freiwillig zurücklassen. Das habe ich bei der Polizei zu Protokoll gegeben. Die haben nur gemeint, ich solle mir erst einmal keine Sorgen machen.«

Und an welcher Stelle kommst du?, dachte Katharina.

»Nein, so habe ich es nicht gemeint, Rebecca«, sagte sie und versuchte so, verlorenes Terrain zurückzugewinnen. »Doch du verstehst sicher, dass alle denkbaren Gründe für das Verschwinden deines Mannes in Betracht gezogen werden müssen. Aber ich gebe dir recht, eine Auszeit von der Familie scheint mir Unsinn zu sein. Wir haben jetzt Ende April. Das sind über zwei Monate, seit dein Mann verschwunden ist. Eine lange Auszeit, finde ich.«

Sie beugte sich nach vorne und lächelte zuversichtlich. Es wäre sicher ratsam, der Vermisstenanzeige bei der Polizei Nachdruck zu verleihen. Sie betrieb jedoch nun mal kein Detektivbüro und hatte nicht annähernd die Ermittlungsmöglichkeiten, wie sie die Behörden besaßen. Eigentlich hatte sie keine Vorstellung, wie sie Rebecca Brinkowsky helfen könnte.

»Wir müssen überlegen, wie wir der Polizei weitere Hinweise liefern können«, sagte sie bedächtig.

»Levin … Er fragt mich ständig, wo sein Vater ist. Irgendetwas muss ich ihm sagen, Katharina. Und es sollte glaubwürdig klingen.«

»Es gibt im Grunde ja nur drei Möglichkeiten«, sagte Katharina betont sachlich, während sie eine vorbereitete Mandatsvollmacht über den Tisch schob. »Entweder hat dein Mann euch tatsächlich aus freien Stücken verlassen oder er ist verunfallt oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Ich werde erst mal mit der Polizei und seinen Partnern sprechen, dann sehen wir weiter.«

Rebecca Brinkowsky nickte und unterschrieb die Vollmacht. Während sie aufstand, sagte sie mit fester Stimme: »Ich möchte, dass wir Isaak so schnell wie möglich amtlich für tot erklären lassen. Nach dem, was ich bisher recherchiert habe, ist das ja wohl möglich.«

Katharina konnte ihr Erstaunen nur mit Mühe unterdrücken.

War ihre neue Mandantin tatsächlich derart kaltherzig oder spielte sie ihr nur etwas vor?

Sie verkniff sich eine Nachfrage, die Frau stand womöglich unter Schock.

Draußen wütete Ortwin unterdessen hemmungslos mit Böen von über hundertfünfzig Stundenkilometern und brachte den gesamten Bahn- und Luftverkehr für die nächsten vierundzwanzig Stunden zum Erliegen.

2

Die Anwaltskanzlei in der Hamburger Innenstadt bestand aus vier Partnern, die sich in den letzten Jahren mehr oder weniger zufällig gefunden hatten. Richtigerweise waren es drei aktive Partner, denn Friedemann Hausner, Namensgeber und Kanzleigründer, stand seinen jüngeren Kollegen zwar noch hin und wieder als Ratgeber zur Verfügung, übernahm aber selbst seit längerer Zeit keine eigenen Fälle mehr. Er hatte sich als Steueranwalt früh einen exzellenten Namen weit über die Stadtgrenzen hinaus gemacht, war dann jedoch selbst in das Visier der Steuerbehörden geraten, was ihm wohl die Lust an seinem Job genommen hatte. Katharina hatte sich schon als Referendarin bei Hausner ihre ersten Sporen verdient und war unter seiner Obhut schnell zu einer gestandenen Anwältin gereift. Viele seiner exzellenten Mandanten schätzten sie mittlerweile aufgrund ihrer soliden Ausbildung und überaus schnellen Auffassungsgabe. Vor seinem überraschenden Rückzug ins Privatleben hatte Hausner noch für eine gezielte Vergrößerung der Kanzlei gesorgt.

Der Erste, den er geholt hatte, war Wolf von Behringer. Er war mit seinen achtundvierzig Jahren der dienstälteste aktive Anwalt. Von Haus aus Bankrechtler, ausgestattet mit außergewöhnlich fundierten Kenntnissen auf diesem Spezialgebiet, wilderte er häufig auf für ihn fachlich ungewohntem Terrain. Sobald sich irgendwo am Horizont eine öffentlichkeitswirksame juristische Auseinandersetzung abzeichnete und er wieder einmal pressemäßig in Erscheinung treten konnte, war er zur Stelle. Die erwarteten Honorareinnahmen schienen dabei für ihn nicht der Grund für die Übernahme der Mandate zu sein, denn nicht selten übernahm er Fälle pro bono. Katharina war immer wieder überrascht, dass er sich als alter Hase immer noch in bestimmte Fälle geradezu verbeißen konnte. Von seinem Privatleben oder von dem, was davon übrig war, wusste sie nicht viel.

Nicht mehr.

Es war jetzt fast sieben Jahre her. Sie hatte gerade als Frischling bei Hausner & Kollegen angefangen, als er begann, ihr unverhohlen Avancen zu machen. Vielleicht war es sein souveränes Auftreten, das sie anfangs beeindruckte. Vielleicht ließ sie sich auch von seinen charmanten Aufmerksamkeiten und den häufig übertriebenen beruflichen Belobigungen verführen. Wahrscheinlich war es von jedem etwas. Schließlich musste er keine Berge mehr versetzen, um bei ihr im Bett zu landen. Fortan stand er jeden Abend mit einer frisch gefüllten Reisetasche vor ihrer Wohnungstür und bereits nach wenigen Tagen hatte ihre Zweizimmerwohnung einen endgültigen Sättigungsgrad erreicht. Die von ihnen vollzogene Quarantäne in Bett und Büro wurde jäh unterbrochen, als er eines Abends nach einem Telefonanruf gegen zwanzig Uhr plötzlich eine ungewohnte Hektik an den Tag legte und einen Großteil seiner Sachen hastig in die Reisetasche stopfte.

Seine pubertierende Tochter hatte sich übers Handy lautstark nach seinem momentanen Aufenthaltsort erkundigt. Ein vierzehntägiger Urlaub mit der Mutter war vorüber und das Mädchen war nach der Ankunft entgegen der telefonischen Absprache quasi als Überraschung unmittelbar in die väterliche Wohnung gefahren, hatte aber niemanden angetroffen.

Kleinlaut verabschiedete er sich und versprach, am nächsten Tag reinen Tisch zu machen. Was immer er darunter verstanden haben mochte, Katharina fühlte sich ausgenutzt und hintergangen. Sie wusste zwar, dass er geschieden war, von einer zwölfjährigen Tochter hatte er allerdings nichts erzählt.

Als die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss gefallen war, zog sie ihre Joggingsachen an, stellte ihr Handy auf lautlos und rannte fast eine ganze Stunde lang quer durch die Stadt. Danach duschte sie ausgiebig und setzte sich mit einem Glas Rotwein, etwas Brot und Käse vor den Fernseher. Seine wiederholten Anrufe den ganzen Abend über blieben ebenso ungehört wie seine Erklärungsversuche und Beteuerungen am nächsten Tag im Büro.

Sie war erstaunt, wie gelassen sie die Situation genommen hatte. Genauso schnell und leidenschaftlich, wie die Affäre begonnen hatte, war sie auch schon wieder vorüber. Das eigentlich Überraschende war, dass sich ihr Verhältnis in der Folgezeit zwar auf ein rein berufliches reduzierte, aber ohne jegliche Häme oder Erniedrigungen von gegenseitigem Respekt geprägt war.

Die Affäre zwischen ihnen war der dritten Partnerin in der Kanzlei, Dr. Sophia Dressler, nicht entgangen. Die zierliche Familienrechtlerin war Hanseatin durch und durch und man sah es ihr förmlich an, wie zutiefst unangenehm es ihr war, in jener Zeit allein mit ihnen gemeinsam an Besprechungen teilzunehmen. Sie war vierundvierzig, stammte aus einer alten hamburgischen Kaufmannsfamilie aus Blankenese und die wohldosierte Mischung aus gesellschaftlicher Herkunft, standesgemäßer Ortsgebundenheit und fachlicher Kompetenz sorgte dafür, dass im noblen Hamburger Westen keine Millionenscheidung mehr ohne sie ablief. Wolf hatte einmal im Bett über sie gelästert und gemeint, eigentlich sei sich Sophia selbst zum Naserümpfen noch zu fein und überhaupt habe er gar nicht verstanden, warum Friedemann Hausner ausgerechnet sie als Verstärkung seiner Kanzlei ausgewählt habe. Diese Meinung musste er später grundlegend revidieren, nachdem er gemerkt hatte, welch betuchte Klientel Hausner mit ihr an Land gezogen hatte. Denn auch er durfte mittlerweile den ein oder anderen gestopften Klienten von Sophia in Wirtschaftsfragen beraten.

Katharina hatte früh einen Draht zu ihrer älteren Kollegin gefunden und schnell gemerkt, dass die vornehme Zurückhaltung der Hanseatin vorwiegend Fassade war. So tough sie im Umgang mit ihren scheidungswilligen Mandanten war, so unsicher war sie, wenn es darum ging, private Probleme in den Griff zu bekommen. Als Katharinas Beziehung zu Wolf von Behringer Geschichte war, hatte sie in Sophia eine dankbare Zuhörerin gefunden. Sophia, acht Jahre älter und um zwei Kinder und einen Piloten als Ehemann reicher, bewunderte anfangs Katharinas Unabhängigkeit. Andererseits schien sie Katharinas Verhältnis zu Wolf von Behringer zu stören. »Nur deine Lebensweise, Katharina, finde ich einfach lasziv. Das solltest du ändern. Bei Wolf habe ich mich ja nach seiner Trennung damit abgefunden. Aber bei dir …«, äußerte sie Katharina gegenüber deutlich. Katharina wiederum ärgerte sich maßlos über diese Einmischung und war tierisch angefasst. Beinahe hätte sie Sophia ins Gesicht gesagt, dass sie ja nichts dafürkönne, dass diese bei Wolf nicht habe landen können. Rückblickend wäre dieser Vorwurf auch völlig unsinnig gewesen. Sophia und Wolf allein. Das wäre nicht über ein kurzes abendliches Intermezzo hinausgegangen.

Als Katharina ihren Neffen als Pflegekind bei sich aufgenommen hatte, verbesserte sich das Verhältnis zwischen Katharina und Sophia schlagartig. Katharinas Liebesleben war von heute auf morgen eingetrocknet, was Sophia wohlwollend zur Kenntnis nahm.

Nachdem Rebecca gegangen war, sortierte Katharina die spärlichen Fakten, die ihr die neue Mandantin hinterlassen hatte.

Viele waren es nicht.

Als Erstes schickte sie ein Fax an die Vermisstenstelle der Polizei und kündigte ihren morgigen Besuch an. Dann rief sie die Website der Firma von Isaak Brinkowsky auf. Wie viele junge Start-ups und solche, die sich gerne dazu zählten, logierte ai-solutions in der Dienerreihe, einer Seitenstraße mitten in der Speicherstadt. Auf der Startseite klickte Katharina auf den Imagefilm des Unternehmens.

Eine Brücke über einem Fleet in der Speicherstadt bei herrlichem Sonnenschein. Dezente Reggaeklänge erinnern an Sommer, Sonne, Strand. Im Hintergrund ist deutlich das Wasserschloss zu erkennen, ein bekanntes Teekontor mit angeschlossenem Genussrestaurant zwischen Wandrahmsfleet und St. Annenfleet.

Wie abgegriffen, dachte Katharina. Ein absoluter Touritempel, auf jedem zweiten Foto aus der Speicherstadt zu sehen.

Drei Personen schlendern über die Brücke Richtung Kamera. Zwei Männer in Jeans und weißen Oberhemden, die Ärmel lässig hochgekrempelt, jeder einen Laptop unter dem Arm. Über der anderen Schulter hängt ein kariertes hellblaues Sakko. Zwischen den Männern geht mit federnden Schritten eine Frau. Jungenhafte Erscheinung. Kurze, lockige Haare, dünne Lippen. Unter der hellen Bluse zeichnen sich statt weiblichen Brüsten Muskeln an Schultern und Oberarmen ab.

Katharina fielen augenblicklich Schwimmerinnen bei den Olympischen Spielen ein.

Alle drei Personen sind gut gelaunt. Hinter den drei Personen taucht ein Droide auf. Er sieht aus wie ein C-3PO, nur ganz in Weiß. Er zieht einen uralten hölzernen Bollerwagen hinter sich her. Nach etwa fünfzehn Sekunden bleiben die drei Personen am Brückengeländer stehen. Auch der Droide verharrt. Er beugt sich in den Wagen und eine weiße Drohne schwebt langsam hoch. Der Droide stellt den Bügel senkrecht nach oben und steigt mit einer erstaunlich flüssigen Bewegung in den Bollerwagen. Er setzt sich kerzengerade hin und gibt der Drohne über ihm ein Handzeichen. Das Gefährt setzt sich daraufhin langsam in Bewegung und wie von der Drohne durch Geisterhand gelenkt, verschwindet er hinter dem Fluggerät aus dem Bild. Die drei am Brückengeländer schauen dem Bollerwagen nach und nicken sich anerkennend zu.

Das Video wird langsam ausgeblendet, die Startseite ist jetzt komplett schwarz. Die Reggaemusik ist verklungen. Große Buchstaben fallen wie welke Blätter herab.

ai-solutions – für intelligente Lösungen

Während der kurzen Videosequenz musste Katharina mehrmals auflachen.

Wer hat dieses Video bloß konzipiert?

Sie klickte sich durch die Unterseiten. Für ein IT-Unternehmen fand sie den Internetauftritt enttäuschend. Interessiert stellte sie fest, dass die Firma eine Zweigniederlassung am Habima-Platz in Tel Aviv besaß. Vielleicht war Isaak Brinkowsky ja dort? Nein, das wäre wahrscheinlich zu einfach, aber sie musste Rebecca in jedem Fall danach fragen.

Dann blieb sie bei den Bildern der drei Inhaber hängen. Shannon McDermott und Anton Busmann waren auf den Fotos gut getroffen. Sie kamen freundlich und tatendurstig rüber. Insbesondere Anton Busmann sah verdammt gut aus. Und Shannon McDermott gab sich bewusst jugendlich. Isaak Brinkowsky hingegen hatte sich ein gequältes Lächeln abgekniffen und mit der unmodernen runden Woodstock-Brille aus den Siebzigern, der hohen Stirn und dem dünnen, langen Haar sah er aus wie nicht von dieser Welt. Hätte man kein anderes Foto von ihm verwenden können? Wahrscheinlich gab es keines.

Sie verstand Rebecca nicht. Entweder kannte sie dieses Foto nicht, weil sie überhaupt kein Interesse an der Firma ihres Mannes und seinem äußeren Erscheinungsbild zeigte, oder ihr war seine Außenwirkung egal.

Nein, Isaak Brinkowsky hatte mit Sicherheit nicht mit anderen Frauen angebändelt.

3

Inga Steenken hatte gerade ihre Tasche über die Schulter geworfen und wollte das Büro verlassen, als ihr Handy einen Anruf der Bereitschaftspolizei anzeigte. Sie ahnte, dass es heute mit dem Abbau von Überstunden wieder nichts werden würde. Ihre Befürchtung bewahrheitete sich, da Spaziergänger in einem Waldstück in Hamburg-Neugraben ein völlig ausgebranntes Autowrack entdeckt hatten. Im Kofferraum hatte die Streifenwagenbesatzung anschließend die verkohlten Überreste einer Leiche gefunden und die Mordbereitschaft informiert. Die Spurensicherung war bereits unterwegs, sodass sie sich nur noch einen ihrer Kollegen schnappen und auf den Weg in den Süden der Stadt machen musste. Die Wahl fiel zwangsläufig auf Anders Hasberg, da er der Erste war, der nach der Mittagspause wieder am Schreibtisch saß.

»Hasberg, wir müssen los. Nach Neugraben. Leichenfund in einem ausgebrannten Autowrack. Die Kollegen vor Ort warten auf uns«, warf sie ihm im Vorbeigehen hin.

»Neugraben? Das ist ja eine Weltreise. Ging’s nicht ein bisschen näher?«, brabbelte er in seinen grauen Vollbart, während er seine Jacke vom Kleiderhaken nahm und Inga Steenken zur Fahrbereitschaft ins Untergeschoss des Polizeipräsidiums folgte.

Sie waren zusammen mit Bernd Jondracek und Gesa Zanker in ihrem Kommissariat seit vielen Jahren ein eingespieltes Ermittlerteam. Seit Kriminalhauptkommissar Jan Jansen letztes Jahr für alle völlig überraschend eine besondere Vorruhestandsregelung innerhalb der Polizeibehörde in Anspruch genommen hatte, war Hasberg plötzlich zum Ältesten im Team aufgestiegen. Inga Steenken glaubte, dass diese Tatsache mit ein Grund für seine mürrische Art war, die er seither an den Tag legte. Alle waren nämlich überzeugt gewesen, dass ihr alter Chef spätestens nach drei Monaten reuig wieder auf der Bildfläche erscheinen würde.

Doch sie hatten sich getäuscht. Seine Anna, eine dreizehn Jahre jüngere Gerichtsdolmetscherin aus Kiew, mit der Jansen seit drei Jahren liiert war, hatte ihn privat mächtig unter Feuer genommen. Als Inga Steenken ihn vor etwa vier Monaten bei einer privaten Jubiläumsfeier eines Kollegen wiedergetroffen hatte, konnte sie ihren Augen kaum trauen. Er hatte mindestens fünfzehn Kilo abgenommen und musste gerade eine längere Sitzung im Barbershop hinter sich gehabt haben. Die Kassenbrille hatte er gegen einen grauen Dreitagebart eingetauscht, der ausgesprochen gut zu dem stylishen Kurzhaarschnitt passte. Unter einem lässigen Cardigan trug er ein edles dunkelblaues Designerpoloshirt und auch die Cargohosen mit den hellen Sneakers entsprachen nicht im Entferntesten dem typischen Erscheinungsbild eines pensionierten Kriminalbeamten.

Er hätte einen perfekten Fernsehmoderator im Vorabendprogramm abgegeben. Aber er schien den Ruhestand wirklich zu genießen, denn so unterhaltsam wie auf dieser Feier hatte sie ihren ehemaligen Chef noch nie erlebt. Als sie am nächsten Morgen den Kollegen von ihrer zufälligen Begegnung erzählt und seine herzlichen Grüße ausgerichtet hatte, merkte sie, dass sich bei ihr ein wenig Neid eingenistet hatte.

Inga Steenken schwang sich hinters Steuer und fegte aus der Tiefgarage. Nach einer halbstündigen Fahrt einmal quer durch die Stadt atmete Hasberg erst mal tief durch, als sie auf einen Parkplatz vor dem Waldeingang einbogen. Der Bereich vor einem breiten Weg war großräumig abgesperrt, was Inga Steenken nicht störte, denn sie fuhr unter dem Flatterband hindurch bis direkt an den Waldrand. Sie stiegen aus und das Erste, was sie wahrnahm, war ein durchdringender Brandgeruch mit süßlicher Note. In etwa hundertfünfzig Metern Entfernung bemerkte sie das verkohlte Autowrack, um das herum die Kollegen der Spurensicherung schon emsig bei der Arbeit waren. Sie stiefelten durch den aufgeweichten Waldboden und einer der Kriminaltechniker kam ihnen entgegen.

»Moin, ihr beiden. Ziemliche Sauerei das hier«, sagte er, während sie sich zur Waldlichtung bewegten.

Inga Steenken blieb stehen und schaute erst in den Wald und dann Richtung Landstraße. »Die Landesgrenze dürfte höchstens ein paar Hundert Meter von hier entfernt sein, oder?«

»Um genau zu sein, fehlen uns siebenhundertfünfzig Meter und die Kollegen aus Niedersachsen hätten einen Fall mehr gehabt. Ich habe das schon auf der Herfahrt gecheckt«, antwortete Hasberg.

Der Kriminaltechniker grinste.

»Ich weiß gar nicht, warum ihr euch um diesen Fall drücken wollt. Das scheint doch mal wieder eine echte Aufgabe zu sein«, sagte er und nickte anerkennend zu dem schwarzen Blechgerippe auf der Lichtung.

Du Idiot, dachte Inga Steenken, du hast ja keine Ahnung, welchen bürokratischen Aufwand es verursacht, wenn wir irrtümlich in fremden Gewässern fischen.

Sie hatten das Autowrack erreicht und ein zweiter Kriminaltechniker gesellte sich zu ihnen. Inga Steenken und er kannten sich. Er hieß Marko Feistner und sie hatten vor anderthalb Jahren für wenige Wochen so etwas wie eine Beziehung miteinander gehabt. Eine Beziehung intim ausgelebt, wie sie es damals nannte. Zu mehr als zu unregelmäßigem Sex und hin und wieder Essengehen hatte es nicht gereicht. Das hatten sie auch ziemlich schnell begriffen, sodass am Ende keiner auf den anderen böse war.

»Hallo, Inga, lange nicht gesehen. Das ist ja ’n Zufall, dass ihr an dem Fall dran seid«, sagte Marko und nickte Hasberg beiläufig zu.

»Das ist Marko, wir hatten mal eine Affäre«, sagte sie zu Hasberg, um jeglichen Tratsch im Keim zu ersticken.

Er zog die Brauen hoch, sagte aber nichts.

Sie wandte sich der offen stehenden Fahrertür zu und warf einen Blick in den Autotorso.

Hasberg musterte den Kriminaltechniker, als wollte er ihn einer Eignungsprüfung unterziehen, bevor er antwortete. »Na, dann schieß mal los, Marko. Was haben wir bisher für Erkenntnisse?«

Inga Steenkens Ex trat an den geöffneten Kofferraum und nickte. Hasberg blickte hinein und verzog angewidert das Gesicht. Eine vollständig verkohlte Leiche lag in Embryohaltung mit Blickrichtung zum Innenraum.

»Von dem oder der ist ja nicht mehr viel übrig«, sagte er.

»Von ihm. Die Leiche ist männlich. Das ist aber auch das Einzige, was wir euch gesichert sagen können«, erwiderte Marko.

»Wir gehen davon aus, dass ein extremer Brandbeschleuniger verwendet wurde, denn sonst wären weder die Leiche noch das Auto derart verkohlt. Mehr können wir erst nach der gaschromatischen Untersuchung sagen«, ergänzte der Kollege, der ihnen am Waldeingang entgegengekommen war.

Inga Steenken war ebenfalls an den Kofferraum getreten.

»Was ist das da ganz hinten, zwischen Rückwand und dem Toten?« Sie zeigte auf einen länglichen metallenen Gegenstand, der unter der verkohlten Leiche herausragte.

»Keine Ahnung, wir müssen erst den Leichnam vorsichtig mit einer besonderen Hebevorrichtung aus dem Kofferraum bugsieren, denn bei dem Zustand der Knochen ist die Gefahr sonst groß, dass die Leiche buchstäblich zerbröckelt«, sagte Marko.

»Und diese Vorrichtung hatten wir nicht mit, sie müsste allerdings gleich hier sein«, sagte der Kollege.

Inga Steenken nickte und umrundete das Auto. »Kann man schon sagen, welches Fabrikat der Wagen hat?«

»Ich tippe auf einen Alfa Romeo, auch das wisst ihr morgen«, sagte Marko.

»Was ist mit den Nummernschildern?«

»Abgeschraubt«, antwortete Marko.

Inga Steenken erinnerte sich, dass es an den letzten beiden Tagen im gesamten norddeutschen Raum ein heftiges Frühjahrsgewitter gegeben hatte. »Sagt mal, bei dem Starkregen gestern und vorgestern kann nichts derart gebrannt haben, oder etwa doch?«

Der Kollege nickte. »Ja, wir gehen davon aus, dass das Feuer davor gelegt worden ist. Und während des Gewitters ist im Wald niemand gewesen. Wenn das geplant war, dann war es ein schlauer Plan.«

Hasberg steckte den Kopf durch die Fahrertür. »Ob ihr Überreste von irgendwelchen persönlichen Sachen gefunden habt, brauche ich wohl gar nicht erst zu fragen, richtig?«

Marko schüttelte den Kopf. Er griff in eine Kunststoffkiste, entnahm ihr einen Beweismittelbeutel und reichte ihn Hasberg. »Auf der Rückbank kann eine Aktentasche oder etwas Ähnliches gelegen haben. Auf dem Boden direkt unter den Metallresten der Sitze haben wir das gefunden. Sieht aus wie der Rest einer gewöhnlichen Lederschnalle. Jedenfalls hat sie die Hitze erstaunlich gut überstanden.«

Hasberg nahm den Beutel entgegen und begutachtete den Inhalt argwöhnisch. Die kreisrunde Metallspange hatte einen Durchmesser von fast zehn Zentimetern. In der Mitte befand sich eine Verzierung, die aussah wie ein Pokal. Er wiegte zweifelnd den Kopf und reichte das Beweisstück an Inga Steenken weiter. Sie drehte es nach allen Seiten und zuckte mit den Schultern.

»Mit deiner Vermutung könntest du recht haben. Aber ich habe keine Ahnung, was das für ein Zeichen da vorne drauf ist.« Sie holte ihr Handy hervor und machte mehrere Fotos. Anschließend gab sie Marko den Plastikbeutel zurück. »Das soll sich als Erstes die KTU ansehen. Vielleicht ist es ein Emblem einer Gruppe aus dem rechten Spektrum? Oder etwas Spirituelles?«

Inga Steenken und Hasberg verabschiedeten sich und kehrten zu ihrem Wagen zurück.

Als sie eingestiegen waren, schnappte sich Hasberg sein Handy. »Dann wollen wir mal sehen, wer so alles bei uns seit drei Tagen oder länger vermisst wird.«

4

Katharina verließ bereits am späten Nachmittag die Kanzlei. Sie hatte Ramon eine Nachricht geschickt, dass sie erst einkaufen gehen und am Abend sein Lieblingsgericht kochen würde. Chili con Carne. Vorsorglich hatte sie ihm angekündigt, dass es anschließend noch etwas zu besprechen gebe. Die WhatsApp war gerade abgeschickt, da ärgerte sie sich schon über die Vorwarnung. Es wäre mit Sicherheit besser gewesen, den Jungen einfach während des Abendessens beiläufig über seinen Klassenkameraden auszufragen. Jetzt war die Sache bei Ramon mit Sicherheit auf der Wichtigkeitsskala einige Stufen nach oben geklettert. Aber sie wollte unbedingt wissen, was Levin Brinkowsky in der Schule über das Verschwinden seines Vaters erzählt hatte. Und zwar aus erster Hand.

Katharina und Ramon wohnten in einer schönen Dreizimmerwohnung auf der Uhlenhorst, einem altehrwürdigen Hamburger Stadtteil westlich der Außenalster mit zahlreichem Altbaubestand. Die Wohnung gehörte ihrem Seniorpartner Friedemann Hausner, der entgegen den Usancen in der Hansestadt die Miete nicht ausgereizt hatte. Er hatte ihr erzählt, dass er froh sei, eine solvente und ordentliche Mieterin gefunden zu haben. Außerdem wolle er sich das großherzige Gefühl gönnen, der besonderen familiären Situation seiner jungen Anwaltspartnerin Wertschätzung zu zollen. Katharina war richtig ergriffen gewesen. So hatte sie Friedemann Hausner bisher nicht kennengelernt.

Die dramatischen Ereignisse um den gewaltsamen Tod seines Vaters hatten Ramon zwar nicht aus der Bahn geworfen, jedoch zunächst eine ständige kinderpsychologische Betreuung erfordert. Für Katharina war die psychische Belastung im Umgang mit dem Kind neben der beruflichen Beanspruchung eigentlich gar nicht zu schaffen gewesen. Doch sie war eine Kämpfernatur, ausgestattet mit einem eisernen Willen, dem sich besser niemand in den Weg stellte.

Sie hatte erst mit Anfang dreißig erfahren, dass sie einen leiblichen Bruder hatte, der in einer Pflegefamilie groß geworden war. Sie selbst war früh adoptiert worden und wuchs wie ein Einzelkind auf, eingeschult in der ehemaligen DDR in einer der immer noch nicht ganz erblühten Landschaften in Mecklenburg-Vorpommern. Früh musste sie lernen, den Tod des Adoptivvaters zu verdauen. Da auch das Verhältnis zur Adoptivmutter seit jenen Ereignissen vor vier Jahren eigentlich nicht mehr existierte, hatte ihr plötzlich aufgetauchter Neffe ungewollt die Rolle eines Bruders im Geiste übernommen. Er war ein Seelenverwandter. Auch er stand mit einem Mal allein im Leben, aber er war von ihrem Blut. Der Junge und sie bildeten jetzt eine Familie.

Während Ramon die neue Rolle dankbar angenommen hatte, merkte Katharina schnell, dass sie mit der Betreuung des Jungen neben ihrem Job als Anwältin heillos überfordert war. Ihr Liebesleben beschränkte sich auf wenige Wochenenden im Jahr und vielleicht zwei bis drei Urlaubswochen, die sie regelmäßig zusammen mit Beat Ferry und seinem Sohn Noah verbrachten.

Beat war Schweizer, über zehn Jahre älter als sie und lebte in Solothurn, eine Autostunde von Zürich entfernt. Sie hatten sich vor vier Jahren kennengelernt und es hatte schnell gefunkt. Noah war ein paar Jahre älter als Ramon und genauso fußballverrückt. Auch die beiden Jungs verstanden sich auf Anhieb prächtig. Hinter der Frage nach einer gemeinsamen Zukunft stand dagegen ein großes Fragezeichen. Er war Witwer, finanziell unabhängig und nicht bereit, seine Zelte in der Schweiz endgültig abzubrechen. Genauso wenig konnte sich Katharina vorstellen, mit Ramon aus Hamburg wegzuziehen.

Seit ein paar Monaten waren diese Kontakte weniger geworden, ohne dass sie sich erklären konnte, warum. Telefoniert hatten sie das letzte Mal vor zwei Wochen. Da seit etwa einem Jahr die schulischen Leistungen von Ramon besser geworden waren, konnten die Besuche beim Psychologen auf vier- bis fünfmal im Jahr reduziert werden. Also sprach in den nächsten Ferien nichts gegen eine Reise in die Schweiz. Wenn Katharina daran dachte, nach über einem Jahr wieder in Beats Armen zu liegen, fühlte sie sich wie ein Backfisch. Ganz egal, was war oder sein würde, es musste sich etwas ändern.

Sie würde heute Abend einfach zum Hörer greifen.

»Wieso interessiert dich, was mit Levins Papa passiert ist?«, fragte Ramon, während er das Chili in sich hineinschaufelte.

Katharinas plötzlich aufkommenden Gedanken an ihre anwaltliche Schweigepflicht verdrängte sie.

»Hat Levin dir nicht erzählt, dass seine Mama heute bei mir im Büro war und mich gebeten hat, ihr bei der Suche nach seinem Papa behilflich zu sein?«, fragte sie.

»Ja, das stimmt. In der letzten Pause hat er so komisch bei uns rumgemacht«, antwortete der Junge zögernd.

»Was heißt denn ›bei euch rumgemacht‹?«

»Na ja, wir standen mit ein paar Kumpels am Fahrradschuppen und haben Silvios neues Bike in Augenschein genommen, das er zum Geburtstag gekriegt hat. Cooles Teil. Kannst du für meinen nächsten Geburtstag schon mal auf die Liste setzen. Ich hab nur diese olle Gurke«, sagte er grinsend. »Levin und ich sind ja nicht so die dicken Kumpels, aber der schlich immer so um uns herum und fragte dann, ob er mal allein mit mir sprechen könnte.«

»Und?«

»Warum soll ich nicht mit ihm sprechen? Hab doch nichts gegen ihn.«

»Nun lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.«

»Er hat mich nur gefragt, ob du wirklich Rechtsanwältin bist und ob du auch Scheidungen machst.«

»Ob ich Scheidungen mache? Das hat Levin dich gefragt? Und was hast du ihm geantwortet?«

Der Löffel kratzte über den Tellerboden.

»Ich hab ihm gesagt, dass ich keine Ahnung habe, was du überhaupt machst«, sagte er, ließ den Löffel hörbar auf den Teller fallen und zog den Deckel mit einem lauten Ratschen vom Joghurtbecher.

Katharina schüttelte ungläubig den Kopf.

Hatte Rebecca ihrem Sohn tatsächlich erzählt, dass sein Vater verschwunden war, weil er sich von der Familie trennen wollte und eine Scheidung im Raum stand? Das konnte nicht stimmen. Das musste sich der Junge ausgedacht haben.

Im selben Moment meldete sich ihr Handy. Es war eine WhatsApp von Beat.

Das war Gedankenübertragung. Er meinte, man sollte schleunigst die Ferienplanung für den Sommer in Angriff nehmen. Noah freue sich schon riesig auf ein gemeinsames Fußballcamp mit Ramon im Juli. Und sie könnten dann ja diese Tage zu zweit irgendwo an einem Bergsee verbringen. Auch er schien seine Schmetterlinge nicht mehr im Zaum halten zu können.

Der Gedanke an einen gemeinsamen Sommer zu viert in den Bergen hatte gleichzeitig etwas Bedrückendes.

Die Jungs hatten sich bisher immer super vertragen und fieberten einem mehrtägigen Fußballcamp schon Wochen vorher entgegen. Und sie sehnte sich mehr denn je nach Zweisamkeit. Genauer gesagt, nach lauen Abenden und heißen Nächten. Doch da war auch die Angst, wenn sie an die Heimreise denken musste. Und daran, nach den fröhlichen und entspannten Wochen den Alltag in Hamburg wieder allein meistern zu müssen. Die ersten Tage zu Hause fühlten sich jedes Mal wie ein ausgewachsener Kater nach einer durchzechten Nacht an.

So wie ihre sporadischen Treffen bisher abgelaufen waren, wollte sie diese Beziehung nicht weiterführen, das war ihr in den letzten Monaten klar geworden. Doch was wollte sie dann?

Darüber würde sie nachdenken müssen. Was Beat wollte, wusste sie genau. Er hätte es am liebsten gesehen, wenn sie und Ramon nach Solothurn ziehen würden. Es gab mit Sicherheit schlechtere Lebenssituationen für eine alleinerziehende junge Frau. Er lebte in einem großzügigen, wunderschönen Fachwerkhaus auf einem riesigen Naturgrundstück am Stadtrand. Und finanziell dürfte sich diese Idee nicht als Glücksspiel herausstellen. Sie hatten zwar nie konkret über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse gesprochen, sie schätzte Beat jedoch als wohlhabend ein. Sie würde in Zürich als deutsche Juristin mit Sicherheit schnell eine Anstellung in einem Unternehmen finden. Außerdem waren die Gehälter in der Schweiz üppig.

War es das? Sie wusste es nicht.

Nur musste sie sich endlich entscheiden, und zwar möglichst rasch, denn wenn Noah Ramon erst mit einem geplanten Fußballcamp heißgemacht hatte, würde sie keine ruhige Minute mehr haben. Sie verstand allerdings nicht, warum ihr diese Entscheidung so schwerfiel. Das war so gar nicht die Katharina Tenzer, die sie kannte. Sie schickte ihm eine unverfängliche Melde-mich-später-Antwort.

Aber mit einem Kuss-Emoji.

5

Sie hatte mit Anton Busmann einen Termin für zehn Uhr verabredet. Das Büro von ai-solutions befand sich in der zweiten Etage, besser gesagt auf dem zweiten Boden, wie die Stockwerke in den Gebäuden der Speicherstadt genannt wurden. Katharina verzichtete auf den Fahrstuhl und nahm die Treppe. Wann immer es ging, vermied sie es, Aufzüge zu benutzen. Nicht nur um ihrem Kreislauf die Gelegenheit zu geben, sie zum Schnaufen zu bringen, sondern weil sie panische Angst davor hatte, stecken zu bleiben.

Während sie die beiden Stockwerke über das Treppenhaus bewältigte, musste sie an die eigenwillige Website der Firma denken. Wahrscheinlich würde sie gleich von dem weißen C-3PO aus dem Videoclip begrüßt und anschließend von einem selbstfahrenden Wakeboard im Wartezimmer abgeholt werden.

Als sie das Stockwerk erreichte, fragte sie sich, ob sie nach rechts oder links gehen sollte. Ein Firmenschild war in dem dunklen Flur nirgends zu entdecken. Weder von ai-solutions noch von anderen Unternehmen, die sich nach der Beschilderung im Erdgeschoss hier befinden mussten.

Fünfzig Prozent Chance, dachte Katharina und entschied sich für die rechte Seite. Die Wahl war richtig, wie sich nach wenigen Metern zeigte. Deckenstrahler gingen an, als sie den Flurbereich betrat. Am Ende befand sich eine matte Glastür, an der ein defektes Plastikschild mit dem Firmenemblem klebte. Eine Klingel fehlte, stattdessen hing ein Schild Bitte eintreten neben dem Türgriff.

Der Empfangsbereich von ai-solutions machte entgegen ihrer Erwartung einen schäbigen Eindruck. Die ramponierten Möbel eines schwedischen Möbelhändlers hatten sichtliche Standschwierigkeiten und stammten wahrscheinlich noch aus der Studentenzeit der Inhaber. Von modernen Droiden oder umherschwebenden Drohnen war weit und breit nichts zu sehen. Eine junge Frau mit Piercings in den Ohren nickte gelangweilt einen Flur hinunter, nachdem sich Katharina vorgestellt hatte. Aus einem der hinteren Zimmer trat im selben Moment ein Mann. Katharina erkannte ihn sofort vom Internetauftritt als Anton Busmann. Der schöne Toni. Er winkte sie in sein Zimmer.

Katharina betrat ein großzügig geschnittenes Büro. Ein offenes Regal diente als Raumteiler und trennte den Arbeitsplatz von der Besucherecke. Gegenüber bot die Fensterfront einen Ausblick auf die viel befahrene Hauptstraße in den Süden der Stadt. In nicht allzu großer Entfernung war Hamburgs Einfallstor, die charakteristische Norderelbbrücke mit ihren halbrunden Stahlträgern, gut zu erkennen.

Bevor sie sich in einen der unbequem aussehenden Designersessel setzte, musste Katharina den Eindruck verarbeiten, den dieser Raum auf sie machte. Neben dem mannsgroßen Standspiegel in der einen Ecke wechselten sich auf einer blassgelben Tapete unzählige Spiegelkacheln mit Fotos ab, auf denen Busmann bei verschiedenen Aktivitäten zu sehen war. Auf einigen Bildern war auch Isaak Brinkowsky.

Anton Busmann war ziemlich wortkarg. Sie hatte schon bei der Terminvereinbarung am Telefon gemerkt, dass er nicht sonderlich erpicht darauf war, mit ihr über das Verschwinden seines Partners und besten Freundes zu reden. Letztlich hatte er doch eingewilligt, sich mit ihr zu treffen. Wohl auch unter dem Druck, den Katharina unverhohlen aufgebaut hatte.

Sollte er nicht kooperieren, würde sie bei Gericht eine einstweilige Anordnung auf Auskunftserteilung erwirken, so schnell könne er gar nicht gucken. Wohl wissend, dass an ihrer Drohung nicht das Mindeste dran war. Zumindest nicht im Augenblick.

Solange Isaak Brinkowsky nicht amtlich für tot erklärt worden war oder das Gericht zumindest eine Abwesenheitspflegschaft eingerichtet hatte, bestand für Rebecca keine rechtliche Möglichkeit, in irgendeiner Form auf die restliche Geschäftsführung einzuwirken.

Sie setzten sich. Anton Busmann war ein Schönling. Obwohl auch er über vierzig sein musste, hatte er außerordentlich weiche und ebene Gesichtszüge. Er hatte fast gar keinen Bartwuchs, denn sein glatt rasiertes Gesicht wies keinerlei Stoppeln auf und wirkte wie das eines Abiturienten. Sein gelocktes tiefschwarzes Haar war mittellang und von keiner einzigen grauen Strähne durchzogen. Von den Bildern im Internet hatte sie ihn gar nicht so makellos in Erinnerung gehabt.

»Dürfte ich zunächst bitte einmal Ihre Vollmacht von Rebecca sehen?«, fragte er geschäftsmäßig. Er sprach leise und in einem leichten Singsang, wie bei einer Sprechprobe im Theater.

Sie kam seiner Bitte nach und sein Blick verharrte auf der Unterschrift von Rebecca Brinkowsky.

»Warum glaubt Rebecca mir nicht?«, sagte er und reichte das Dokument zurück.

»Was glaubt sie Ihnen nicht?«, fragte Katharina.

»Sie glaubt mir nicht, dass ich keine Ahnung habe, was Isaak angeblich in Tel Aviv wollte. Wir kennen uns nun so lange … und … und … jetzt schickt sie mir tatsächlich eine Anwältin auf den Hals. Und das mir …« Er war sichtlich angefressen.

»Das müssen Sie verstehen, Herr Busmann«, sagte sie beschwichtigend. »Rebecca möchte alles versuchen, um zu erfahren, was mit ihrem Mann passiert ist. Sie weiß sich nicht mehr anders zu helfen.« Sie blickte ihm direkt in die Augen. »Das müsste doch auch in Ihrem und in dem Interesse der Firma liegen, oder etwa nicht?«

»Jaja, natürlich. Wir haben wirklich überhaupt keine Vorstellung, was mit Isaak passiert ist. Ich weiß nur, dass er niemals verschwinden würde, ohne mir etwas zu sagen. Wir sind wie Brüder.«

»Ja, das hat Rebecca erzählt. Und gerade wegen der engen Beziehung zu Ihnen ist die Annahme der Polizei, er hätte sich eine Auszeit von der Familie und der Firma genommen, in meinen Augen blanker Unsinn. Lassen Sie uns die Fakten durchgehen, bitte.« Sie nahm ihre Aufzeichnungen zur Hand. »Am Dienstag, dem 13. Februar ist Herr Brinkowsky mittags mit der Bahn nach München zu einem Geschäftstermin gereist. Was das für ein Termin war, wissen Sie schon, oder?«

»Ja, wir arbeiten seit mehreren Jahren für einen großen Zulieferer in der Automobilbranche an einer Weiterentwicklung der Software für die automatische Einpark- und Selbstfahrfunktion. Es ging um die Verlängerung unseres Vertrags für zwei weitere Jahre, die Isaak problemlos erreicht hat, wie er mir am Abend telefonisch mitgeteilt hat. Diese Entwicklungsarbeit ist öffentlich bekannt, da verrate ich keine Geheimnisse.« Er wirkte nachdenklich.

»Bitte fahren Sie fort.«

»Nun, das Telefonat war komisch, das habe ich Rebecca auch gesagt. Isaak tat geheimnisvoll. Er sagte mir, dass er Mittwochfrüh in München noch einen privaten Termin wahrnehmen wolle. Mittags fliege er dann mit dem Flugzeug zurück nach Hamburg. Was er noch genau in München vorhatte oder mit wem er sich treffen wollte, hat er nicht gesagt und ich habe nicht gefragt.«

»Dass er zu diesem Zeitpunkt bereits einen Flug nach Zürich gebucht hatte, hat er nicht erwähnt?«, hakte Katharina nach.

»Nein, mit keinem Wort. Ich wüsste nicht, was er dort gewollt haben könnte. Geschäftlich haben wir im Moment in der Schweiz keinerlei Kontakte.«

»Und warum hat er Rebecca erzählt, dass er sich für drei Tage in Tel Aviv im Crown Hotel eingebucht habe? Haben Sie dafür eine Erklärung?«

»Wir haben in Tel Aviv ein Büro angemietet, in dem einige hochbegabte Studenten für uns an bestimmten Entwicklungsprojekten arbeiten. Immer wenn einer von uns nach Tel Aviv fliegt, übernachtet er im Crown Hotel. Das liegt nur wenige Hundert Meter von unserem Büro entfernt. Ich habe mit den Mitarbeitern gesprochen. Isaak war definitiv seit Dezember letzten Jahres nicht mehr dort und hat sich nicht angekündigt.«

»Und was ist mit der dritten Partnerin in der Firma, Frau McDermott? Weiß sie Genaueres?«

»Nein. Und falls doch, hat sie Rebecca und mir nichts davon erzählt. Zurzeit ist sie geschäftlich bis nächste Woche in San Francisco. Wenn es eilt, können Sie sie telefonisch erreichen.«

»An welchen Projekten hat Herr Brinkowsky zuletzt gearbeitet?«, fragte Katharina beiläufig, obwohl sie ahnte, dass Busmann ihr keine Antwort geben würde.

»Betriebsgeheimnis. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«