Der Fall Moosbrugger (Steidl Nocturnes) - Robert Musil - E-Book

Der Fall Moosbrugger (Steidl Nocturnes) E-Book

Robert Musil

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Beschreibung

Im Jahr 1910 brachte ein bereits zuvor wegen Mordes verurteilter Täter in Wien eine Frau auf brutalste Weise ums Leben. Der Mörder Christian Voigt ging – wie Jack the Ripper – in die Kriminalgeschichte und als Moosbrugger mit Robert Musil in die Literaturgeschichte ein. Musil, seit Anfang 1911 in Wien, verfolgte den Prozess mit großem Interesse und baute ihn in die Architektur seines komplexen Romans Der Mann ohne Eigenschaften ein. Die handelnden Figuren – Ulrich, Agathe, Clarisse – sehen in Moosbrugger einen Unverstandenen, dem man helfen müsse. Die geistig verwirrte Clarisse will in Moosbrugger, da er Zimmermann ist, sogar eine Reinkarnation des Erlösers erkennen. Der Mörder wird aus dem Gefängnis befreit und in einer als Versteck angemieteten Wohnung untergebracht, wo sich die Bedienstete Rachel um ihn kümmert. Hier nun entfaltet sich ein Kammerspiel am Rande des Schreckens, das ständig in die Katastrophe abzukippen droht. Das beklemmende Psychogramm Moosbruggers, das den Autor auf der Höhe seiner Kunst zeigt, ist nicht nur eine atemberaubende Lektüre, es eröffnet den Leser*innen auch einen faszinierenden Zugang zu Musils oft als unzugänglich empfundenen Roman.

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Der Herausgeber:

Andreas Nohl, Schriftsteller und Übersetzer, veröffentlichte Erzählungen und die historische Novelle Hieronymus. Für seine Übersetzungen (Mark Twain, R. L. Stevenson, Rudyard Kipling, E. A. Poe) wurde er u. a. mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm Das Handwerk des Schreibens. Essays und Kritiken zur Literatur.

Robert Musil

Der Fall Moosbrugger

Auszüge ausDer Mann ohne Eigenschaften

Mit einem Nachwort von Karl Corino

Steidl Nocturnes

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorbemerkung

Der Fall Moosbrugger

Moosbrugger

Ulrich hört Stimmen

Wem gibst du recht?

Man führt Moosbrugger in ein neues Gefängnis

Moosbrugger denkt nach

Moosbrugger tanzt

Moosbruggers Auflösung und Aufbewahrung

Clarisse und Rachel

Rachel und Moosbrugger

Anhang

Karl Kraus. Die Polizei hierzulande

Nachwort

Von Karl Corino

Vorbemerkung

Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil ist einer der berühmtesten und zugleich unbekanntesten Romane der Weltliteratur. Sein Rang als Schlüsseltext der literarischen Moderne im 20. Jahrhundert ist unbestritten. Von Beginn an stellte die vielfach essayistische Struktur und der mäandernde Erzählverlauf des Romans viele Leser vor Schwierigkeiten, so dass sie nach hundert oder zweihundert Seiten häufig die Waffen streckten. So verwundert es nicht, dass bereits Mitte der 1930er Jahre die Idee entstand, kürzere Teile, darunter auch die Moosbrugger-Erzählung, aus dem Roman herauszulösen und separat zu veröffentlichen. Das amerikanische Mäzenatenehepaar Barbara und Henry Church – Herausgeber der Pariser Literaturzeitschrift Mesures – entschied sich schließlich für die Kapitel 15 und 17 (»Jugendfreunde« und »Wirkung eines Mannes ohne Eigenschaften auf einen Mann mit Eigenschaften«), die im Heft vom 15. Januar 1935 abgedruckt wurden. Und erst jüngst, im Frühjahr 2020, erschien eine weitere Sequenz aus Musils Roman: Agathe or the Forgotten Sister, übersetzt und herausgegeben von Joel Agee im Verlag der New York Review of Books.

Der Fall Moosbrugger ist der vielleicht handlungsstärkste, gewiss der seelisch abgründigste Motivstrang im Mann ohne Eigenschaften. Musil bietet in diesem Text, der durch seine psychologische Tiefenschärfe und sprachliche Visionskraft besticht, einen verstörenden Einblick in die Bewusstseinswelt eines sozial und sexuell schwer deformierten Menschen.

Zur allgemeinen – für das Textverständnis nicht zwingend notwendigen – Orientierung ein paar kurze Hinweise zu den beteiligten bzw. erwähnten Figuren des Romans:

Ulrich ist der Protagonist der Romans, ein etwa 30-jähriger Mathematiker, der sich 1913 in Wien ein Jahr frei nimmt, um in seinem Leben nach einem neuen Sinn zu suchen. Sollte er diesen nicht finden, will er Selbstmord begehen. Er nimmt großes Interesse an dem Frauenmörder Moosbrugger. Bonadea ist zeitweise Ulrichs Geliebte. Diotima, Gattin von Hans Tuzzi, Sektionschef im Außenministerium, spielt in der sogenannten Parallelaktion eine hervorgehobene Rolle: mit dieser Aktion soll das 60-jährige Thronjubiläum von Kaiser Joseph II. angemessen gewürdigt werden, »parallel« zu den Festlichkeiten für das 30-jährige Thronjubiläum des deutschen Kaisers Wilhelm II. im Jahre 1918. (Welch fatale Ironie der Geschichte, dass just in das »Jubiläumsjahr« das Ende des I. Weltkriegs fällt – in seinem Gefolge der Zusammenbruch der Habsburger Monarchie ebenso wie das Ende der Hohenzollern-Herrschaft!) Diotimas Stubenmädchen Rachel, in die der schwarze Kammerdiener Soliman verliebt ist, kümmert sich in einem Wohnungsversteck um den aus der Haft befreiten Moosbrugger. Clarisse, die geistig verwirrte Ehefrau von Ulrichs Jugendfreund Walter, setzt sich vehement für die Befreiung Moosbruggers ein, in dem sie, da er von Beruf Zimmermann ist, einen Wiedergänger des Erlösers erkennen will. En passant finden noch Erwähnung Lindner, ein verwitweter Gymnasiallehrer, der Ulrichs Schwester Agathe in moralischer Absicht berät, sowie Biziste, einer der Ganoven, die an der Befreiung Moosbruggers beteiligt waren.

Die Ironie von alledem versagt freilich vor dem Fall Moosbrugger alias Christian Voigt. Karl Corino geht in seinem Nachwort ausführlich auf diesen Fall ein, der in seinen Wendungen ebenso verblüffend ist wie Robert Musils intensive Anteilnahme daran. – Als Surplus geben wir zwei Glossen zum Voigt-Prozess in Wien von Karl Kraus.

A. N.

Der Fall Moosbrugger

Moosbrugger

Zu dieser Zeit beschäftigte der Fall Moosbrugger die Öffentlichkeit.

Moosbrugger war ein Zimmermann, ein großer, breitschultriger Mensch ohne überflüssiges Fett, mit einem Kopfhaar wie braunes Lammsfell und gutmütig starken Pranken. Gutmütige Kraft und der Wille zum Rechten sprachen auch aus seinem Gesicht, und hätte man sie nicht gesehn, so hätte man sie doch gerochen, an dem derben, biederen, trockenen Werktagsgeruch, der zu dem Vierunddreißigjährigen gehörte und vom Umgang mit Holz und einer Arbeit kam, die ebenso viel Bedachtsamkeit wie Anstrengung fordert.

Man blieb wie eingewurzelt stehn, wenn man diesem von Gott mit allen Zeichen der Güte gesegneten Gesicht zum ersten Mal begegnete, denn Moosbrugger war gewöhnlich von zwei bewaffneten Justizsoldaten begleitet und hatte die eng aneinandergebundenen Hände vor dem Leib, an einem starken stählernen Kettchen, dessen Knebel einer seiner Begleiter hielt.

Wenn er bemerkte, dass man ihn ansah, zog über sein breites, gutmütiges Gesicht mit dem ungepflegten Haar und dem Schnurrbart samt dazugehöriger Fliege ein Lächeln; er hatte einen kurzen schwarzen Rock mit hellgrauen Beinkleidern an, seine Haltung war breitbeinig und militärisch, aber dieses Lächeln war es, was die Berichterstatter des Gerichtssaals am meisten beschäftigt hatte. Es mochte ein verlegenes Lächeln sein oder ein verschlagenes, ein ironisches, heimtückisches, schmerzliches, irres, blutrünstiges, unheimliches –: sie tasteten ersichtlich nach widersprechenden Ausdrücken und schienen in diesem Lächeln verzweifelt etwas zu suchen, das sie offenbar in der ganzen redlichen Erscheinung sonst nirgends fanden.

Denn Moosbrugger hatte eine Frauensperson, eine Prostituierte niedersten Ranges, in grauenerregender Weise getötet. Die Berichterstatter hatten genau eine vom Kehlkopf bis zum Genick reichende Halswunde, ebenso die zwei Stichwunden in der Brust, welche das Herz durchbohrten, die zwei in der linken Seite des Rückens und das Abschneiden der Brüste beschrieben, die man fast abheben konnte; sie hatten ihren Abscheu davor ausgedrückt, aber sie hörten nicht auf, bevor sie fünfunddreißig Stiche im Bauch gezählt und die fast vom Nabel bis zum Kreuzbein reichende Schnittwunde erklärt hatten, die sich in einer Unzahl kleinerer den Rücken hinauf fortsetzte, während der Hals Würgspuren trug. Sie fanden von solchen Schrecknissen den Weg zu Moosbruggers gutmütigem Gesicht nicht zurück, obgleich sie selbst gutmütige Menschen waren und trotzdem das Geschehene sachlich, fachkundig und sichtlich in atemloser Spannung beschrieben. Selbst von der nächstliegenden Erklärung, dass man einen Geisteskranken vor sich habe – denn Moosbrugger war wegen ähnlicher Verbrechen schon einige Mal in Irrenhäusern gewesen – machten sie wenig Gebrauch, obgleich ein guter Berichterstatter sich heute in solchen Fragen trefflich auskennt; es sah so aus, als sträubten sie sich vorläufig noch, auf den Bösewicht zu verzichten und das Geschehnis aus der eigenen Welt in die der Kranken zu entlassen, worin sie mit den Psychiatern übereinstimmten, die ihn schon ebenso oft für gesund wie für unzurechnungsfähig erklärt hatten. Und es ereignete sich des Weiteren auch das Merkwürdige, dass die krankhaften Ausschreitungen Moosbruggers, als sie noch kaum bekannt geworden waren, schon von tausenden Menschen, welche die Sensationsgier der Zeitungen tadeln, als »endlich einmal etwas Interessantes« empfunden wurden; von eiligen Beamten wie von vierzehnjährigen Söhnen und durch Haussorgen umwölkten Gattinnen. Man seufzte zwar über eine solche Ausgeburt, aber man wurde von ihr innerlicher beschäftigt als vom eigenen Lebensberuf. Ja, es mochte sich ereignen, dass in diesen Tagen beim Zubettgehn ein korrekter Herr Sektionschef oder ein Bankprokurist zu seiner schläfrigen Gattin sagte: »Was würdest du jetzt anfangen, wenn ich ein Moosbrugger wäre …«

Ulrich war, als sein Blick auf dieses Gesicht mit den Zeichen der Gotteskindschaft über Handschellen traf, rasch umgekehrt, hatte einem Wachsoldaten des nahegelegenen Landesgerichts einige Zigaretten geschenkt und nach dem Konvoi gefragt, der erst vor kurzem das Tor verlassen haben musste; so erfuhr er – –: doch so muss derartiges sich wohl früher abgespielt haben, da man es oft in dieser Weise berichtet findet, und Ulrich glaubte beinahe selbst daran, aber die zeitgenössische Wahrheit war, dass er alles bloß in der Zeitung gelesen hatte. Es dauerte noch lange, ehe er Moosbrugger persönlich kennenlernte, und ihn vorher leibhaft zu sehn, gelang ihm nur einmal während der Verhandlung. Die Wahrscheinlichkeit, etwas Ungewöhnliches durch die Zeitung zu erfahren, ist weit größer als die, es zu erleben; mit anderen Worten, im Abstrakten ereignet sich heute das Wesentlichere, und das Belanglosere im Wirklichen.

Was Ulrich auf diesem Wege von der Geschichte Moosbruggers erfuhr, war ungefähr das Folgende:

Moosbrugger war als Junge ein armer Teufel gewesen, ein Hüterbub in einer Gemeinde, die so klein war, dass sie nicht einmal eine Dorfstraße hatte, und er war so arm, dass er niemals mit einem Mädel sprach. Er konnte Mädels immer nur sehn; auch später in der Lehre und dann gar auf den Wanderungen. Nun braucht man sich ja bloß vorzustellen, was das heißt. Etwas, wonach man so natürlich begehrt wie nach Brot oder Wasser, darf man immer nur sehn. Man begehrt es nach einiger Zeit unnatürlich. Es geht vorüber, die Röcke schwanken um seine Waden. Es steigt über einen Zaun und wird bis zum Knie sichtbar. Man blickt ihm in die Augen, und sie werden undurchsichtig. Man hört es lachen, dreht sich rasch um und sieht in ein Gesicht, das so reglos rund wie ein Erdloch ist, in das eben eine Maus schlüpfte.

Man könnte also verstehn, dass Moosbrugger schon nach dem ersten Mädchenmord sich damit verantwortete, dass er stets von Geistern verfolgt werde, die ihn bei Tag und Nacht riefen. Sie warfen ihn aus dem Bett, wenn er schlief, und störten ihn bei der Arbeit; dann hörte er sie tags und nachts miteinander sprechen und streiten. Das war keine Geisteskrankheit, und Moosbrugger mochte es nicht leiden, wenn man derart davon sprach; er putzte es freilich selbst manchmal mit Erinnerungen an geistliche Reden auf oder legte es nach den Ratschlägen des Simulierens an, die man in den Gefängnissen erhält, aber das Material dazu war immer bereit; bloß etwas verblasst, wenn man nicht gerade darauf achtete.

So war es auch auf den Wanderschaften gewesen. Im Winter ist für einen Zimmermann schwer Arbeit zu finden, und Moosbrugger lag oft wochenlang auf der Straße. Nun ist man Tage weit gewandert, gelangt in den Ort und findet kein Unterkommen. Muss bis spät in die Nacht weitermarschieren. Für eine Mahlzeit hat man kein Geld, so trinkt man Schnaps, bis hinter den Augen zwei Kerzen leuchten und der Körper allein geht. In der »Station« will man nicht um ein Nachtlager bitten, trotz der warmen Suppe, teils wegen des Ungeziefers und teils wegen der kränkenden Schererei; so bettelt man lieber ein paar Kreuzer zusammen und kriecht einem Bauern ins Heu. Ohne ihn zu bitten, natürlich, denn was soll man erst lang fragen und sich doch nur beleidigen lassen. Am Morgen gibt das freilich oft Streit und Anzeigen wegen Gewalttätigkeit, Vagabondage und Bettelei, und schließlich ergibt es einen immer dicker werdenden Bund solcher Vorstrafen, den jeder neue Richter wichtigtuerisch aufmacht, als ob Moosbrugger darin erklärt wäre.

Und wer denkt daran, was es heißt, sich tage- und wochenlang nicht richtig waschen zu können. Die Haut wird so steif, dass sie nur grobe Bewegungen erlaubt, selbst wenn man zärtliche machen wollte, und unter einer solchen Kruste erstarrt die lebendige Seele. Der Verstand mag weniger davon berührt werden, das Notwendige wird man ganz vernünftig tun; er mag eben wie ein kleines Licht in einem riesigen wandelnden Leuchtturm brennen, der voll zerstampfter Regenwürmer oder Heuschrecken ist, aber alles Persönliche ist darin zerquetscht, und es wandelt nur die gärende organische Substanz. Dann begegneten dem wandernden Moosbrugger, wenn er durch die Dörfer kam oder auch auf der einsamen Straße, ganze Prozessionen von Frauen. Jetzt eine, und eine halbe Stunde später zwar erst wieder eine Frau, aber wenn sie selbst in so großen Zwischenräumen kamen und gar nichts miteinander zu tun hatten, im Ganzen waren es doch Prozessionen. Sie gingen von einem Dorf zum andern oder hatten nur soeben vors Haus gesehn, sie trugen dicke Tücher oder Jacken, die in einer steifen Schlangenlinie um die Hüften standen, sie traten in warme Stuben ein oder trieben ihre Kinder vor sich her oder waren auf der Straße so allein, dass man sie mit einem Stein hätte werfen können wie eine Krähe. Moosbrugger behauptete, dass er kein Lustmörder sein könne, weil ihn immer nur Gefühle der Abneigung gegen diese Frauenspersonen beseelt hätten, und das erscheint nicht unwahrscheinlich, denn man will doch auch eine Katze verstehn, die vor einem Bauer sitzt, in dem ein dicker blonder Kanarienvogel auf und nieder hüpft; oder eine Maus schlägt, auslässt, wieder schlägt, nur um sie noch einmal fliehen zu sehn; und was ist ein Hund, der einem rollenden Rad nachläuft, nur noch im Spiel beißend, er, der Freund des Menschen?: da ist im Verhalten zum Lebendigen, Bewegten, stumm vor sich hin Rollenden oder Huschenden eine geheime Abneigung gegen das sich seiner selbst freuende Mitgeschöpf berührt. Und was sollte man schließlich machen, wenn sie schrie? Man könnte nur zur Besinnung kommen oder, wenn man das eben nicht kann, ihr Gesicht zu Boden drücken und Erde ihr in den Mund stopfen.

Moosbrugger war nur ein Zimmermannsgeselle, ein ganz einsamer Mensch, und obgleich er auf allen Plätzen, wo er arbeitete, von den Kameraden gut gelitten war, hatte er keinen Freund. Der stärkste Trieb wendete von Zeit zu Zeit sein Wesen grausam nach außen; aber vielleicht hatte ihm wirklich, wie er sagte, nur die Erziehung und die Gelegenheit gefehlt, um etwas anderes daraus zu machen, einen Massenwürgengel oder Theaterbrandstifter, einen großen Anarchisten; denn die Anarchisten, die sich in Geheimbünden zusammentun, nannte er mit Verachtung die falschen. Er war ersichtlich krank; aber wenn auch offenbar seine krankhafte Natur den Grund für sein Verhalten abgab, die ihn von den anderen Menschen absonderte, ihm kam das wie ein stärkeres und höheres Gefühl von seinem Ich vor. Sein ganzes Leben war ein zum Lachen und Entsetzen unbeholfener Kampf, um Geltung dafür zu erzwingen. Er hatte schon als Bursche einem Brotherrn die Finger gebrochen, als dieser ihn züchtigen wollte. Einem andern verschwand er mit Geld; aus notwendiger Gerechtigkeit, wie er sagte. Er hielt es auf keinem Platz lange aus; solang er in seiner wortkarg mit freundlicher Ruhe und riesigen Schultern arbeitenden Art, wie es anfangs immer geschah, die Leute in Scheu hielt, blieb er; sobald sie vertraulich und respektlos mit ihm umzugehen begannen, als würden sie ihn nun erkannt haben, packte er sich fort, denn ein unheimliches Gefühl ergriff ihn dann, so als wäre er nicht fest in seiner Haut. Einmal hatte er es zu spät getan; da verschworen sich vier Maurer auf einem Bau, ihn ihre Überlegenheit fühlen zu lassen und vom obersten Stockwerk das Gerüst hinunterzustürzen; er hörte sie schon hinter seinem Rücken kichern und heran kommen, da warf er sich mit seiner unermesslichen ganzen Kraft auf sie, stürzte den einen zwei Treppen hinab und zerschnitt zwei andren alle Sehnen des Arms. Dass er dafür bestraft wurde, hatte sein Gemüt erschüttert, wie er sagte. Er wanderte aus. In die Türkei; und wieder zurück, denn die Welt hielt überall gegen ihn zusammen; kein Zauberwort kam gegen diese Verschwörung auf und keine Güte.

Solche Worte hatte er in den Irrenhäusern und Gefängnissen eifrig gelernt; französische und lateinische Scherben, die er an den unpassendsten Stellen in seine Reden steckte, seit er herausbekommen hatte, dass es der Besitz dieser Sprachen war, was den Herrschenden das Recht gab, über sein Schicksal zu »befinden«. Aus dem gleichen Grund bemühte er sich auch in Verhandlungen, ein gewähltes Hochdeutsch zu sprechen, sagte etwa, »das muss als Grundlage meiner Brutalität dienen« oder »ich hatte sie mir noch grausamer vorgestellt, als ich derlei Weiber sonst einschätze«; wenn er aber sah, dass auch das den Eindruck verfehlte, schwang er sich nicht selten zu einer großen schauspielerischen Pose auf und erklärte sich höhnisch als »theoretischen Anarchisten«, der sich von den Sozialdemokraten jederzeit retten lassen könnte, wenn er von diesen ärgsten jüdischen Ausbeutern des arbeitenden, unwissenden Volks etwas geschenkt nehmen wollte: Da hatte auch er eine »Wissenschaft«, ein Gebiet, auf das ihm die gelehrte Anmaßung seiner Richter nicht folgen konnte.

Gewöhnlich trug ihm das die Gerichtssaalzensur der »bemerkenswerten Intelligenz«, ehrenvolle Beachtung während der Verhandlung und strengere Strafen ein, aber im Grunde empfand seine geschmeichelte Eitelkeit diese Verhandlungen als die Ehrenzeiten seines Lebens. Deshalb hasste er auch niemand so inbrünstig wie die Psychiater, die glaubten, sein ganzes schwieriges Wesen mit ein paar Fremdworten abtun zu können, als wäre es für sie eine alltägliche Sache. Wie immer in solchen Fällen, schwankten unter dem Druck der sich ihnen überordnenden juristischen Vorstellungswelt die medizinischen Gutachten über seinen Geisteszustand, und Moosbrugger ließ sich keine dieser Gelegenheiten entgehn, um in öffentlicher Verhandlung seine Überlegenheit über die Psychiater zu beweisen und sie als aufgeblasene Tröpfe und Schwindler zu entlarven, die ganz unwissend seien und ihn, wenn er simuliere, ins Irrenhaus aufnehmen müssten, statt ihn ins Zuchthaus zu schicken, wohin er gehöre. Denn er leugnete seine Taten nicht, er wollte sie als Unglücksfalle einer großen Lebensauffassung verstanden wissen. Die kichernden Weiber waren vor allem gegen ihn verschworen; sie hatten alle ihre Schürzenbuben, und das gerade Wort eines ernsten Mannes achteten sie für nichts, wenn nicht gar für eine Beleidigung. Er ging ihnen aus dem Weg, solang er konnte, um sich nicht reizen zu lassen; aber nicht allezeit war das möglich. Es kommen Tage, wo man als Mann ganz dumm im Kopf wird und nichts mehr anpacken kann, weil die Hände vor Unruhe schwitzen. Und muss man dann nachgeben, so kann man sicher sein, dass schon beim ersten Schritt, fern über den Weg wie eine Vorpatrouille, welche die andren geschickt haben, solch ein wandelndes Gift kreuzt, eine Betrügerin, die den Mann heimlich auslacht, während sie ihn schwächt und ihm ihr Theater vormacht, wenn sie nicht noch viel Schlimmeres ihm in ihrer Gewissenlosigkeit antut!