Der falsche Spiegel - Sergej Lukianenko - E-Book

Der falsche Spiegel E-Book

Sergej Lukianenko

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Beschreibung

Kontrollieren wir das Netz oder kontrolliert das Netz uns?

Computer gehören zu unserem Alltag, und das Internet scheint uns absolute Freiheit und unendliche Möglichkeiten zu bieten. Doch mittlerweile ist das Netz für viele Menschen zum Alptraum geworden, denn sie sind gefangen in der »Tiefe«, dem virtuellen Raum, den nur wenige Menschen jemals wieder verlassen können. Leonid gehört zu den Glücklichen, die sich aus der »Tiefe« wieder befreien können – doch als sein ehemaliger Partner ermordet wird, muss er sich auf ein tödliches Spiel einlassen, das ihm alles abverlangt.

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Seitenzahl: 724

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Sergej Lukianenko

Der falsche Spiegel

Roman

Aus dem Russischenvon Christiane Pöhlmann

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Titel der russischen Originalausgabe Φальшивые зеркала

Deutsche Erstausgabe 12/2011 Redaktion: Hana Hadas

Copyright © 2009 by Sergej Lukianenko

Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

ISBN 978-3-641-07458-6V002

www.heyne-magische-bestseller.de

www.randomhouse.de

Das Buch

Die Welt ist grenzenlos geworden – zumindest die Welt des Internets. Denn das virtuelle Deeptown eröffnet den Bewohnern Sankt Petersburgs ungeahnte Möglichkeiten: Es gibt keine Wünsche, Träume oder Sehnsüchte, die den Besuchern Deeptowns verwehrt werden. Dass das Netz auch ungeahnte Gefahren birgt, bekommt der junge Computerexperte Leonid zu spüren, als er erfährt, dass sein Freund Romka ermordet wurde – und zwar nicht nur in Deeptown, sondern auch im realen Leben. Mit einer Waffe, die in der Lage ist, die Grenzen zwischen virtuellem Raum und der Realität zu überschreiten. Fest entschlossen, die Umstände von Romkas Tod aufzuklären und seinen Freund zu rächen, taucht Leonid in die Tiefe ein. Dort findet er heraus, dass Romka geheime Daten gestohlen und sie in der Tiefe – genauer gesagt im letzten Level des Spiels »Labyrinth des Todes« – versteckt hatte. Daten, die so brisant sind, dass Romka dafür sterben musste. Für Leonid beginnt in den Tiefen Deeptowns ein Abenteuer, an dessen Ende er eine Entdeckung macht, die so ungeheuerlich ist, dass sie die Menschheit für immer verändern wird. Zum Guten oder zum Schlechten …

Der Autor

Sergej Lukianenko, 1968 in Kasachstan geboren, studierte in Alma-Ata Medizin, war als Psychiater tätig und lebt nun als freier Schriftsteller in Moskau. Er ist der populärste Fantasy- und Science-Fiction-Autor der Gegenwart, seine Romane und Erzählungen wurden mehrfach preisgekrönt. Die Verfilmung von Wächter der Nacht war der erfolgreichste russische Film aller Zeiten.

Von Sergej Lukianenko sind im Wilhelm Heyne Verlag erschienen: Wächter der Nacht, Wächter des Tages, Wächter des Zwielichts, Wächter der Ewigkeit, Der Herr der Finsternis, Weltengänger, Weltenträumer, Sternenspiel, Sternenschatten, Spektrum, Drachenpfade, Das Schlangenschwert, Die Ritter der vierzig Inseln, Labyrinth der Spiegel.

Verzerrte Spiegelbilder brechen sich Mit einem blutrünstigen Lächeln, Mit Tränen, die nicht schmerzen, Den Weg hinaus ins Freie.

 

Die Spiegel beobachten uns, Ja, sie belauschen uns, Übernehmen unsere Träume und Gedanken Und werfen entstellt unsere Seelen zurück.

 

Wünsche versinken im Spiegel, Jede Bewegung verliert den Schwung. Wir, von Spiegelbildern gefangen, Wir sind dem Tode geweiht.

 

Rain

ERSTER TEIL

Deeptown

00

In letzter Zeit sucht mich dieser Traum immer öfter heim.

Er fängt völlig harmlos an, zunächst ist gar nichts zu erkennen. Da ist lediglich dieses graue Dunkel. Nur weit vor mir schimmert ein schwaches Licht, ein weißer Funke im Nebel. Ich bewege mich, gehe auf diesen Funken zu – und da lichtet sich die Dunkelheit um mich herum.

Es ist schon komisch: Sobald sich die Dunkelheit verzieht, hörst du auf, das Licht zu sehen.

Ich bleibe stehen, versuche, mir die Richtung einzuprägen, sie abzuspeichern. Dabei ist das gar nicht nötig, denn vor mir zieht sich eine Brücke dahin. Eine extrem schmale Brücke, eine Saite nur, die über eine Schlucht führt. Über eine solche Brücke bin ich bereits gegangen, mehr als einmal sogar – aber so schwer war es noch nie. Ich muss mich zwischen zwei Felswänden hindurchzwängen, die aus dem Nebel herauswachsen. Die linke Wand besteht aus blauem Eis, die rechte aus purpurrotem Feuer. Dazwischen verläuft diese Haarbrücke.

Ich gehe weiter.

Die linke Wand ist voller Fingerabdrücke. Mal sind es einfach Prints, mit Fetzen von Haut und Fleisch, die mit Raureif überzogen sind. Mal ragen aber auch Splitter gefrorener Knochen mit Resten der Kleidung aus der Wand heraus. Und mal sind sogar Menschen an den Fels geschlagen. Über ihnen hat sich Schneegrind gebildet.

Die rechte Felswand ist weniger variantenreich, sie verbrennt ausnahmslos alle, schnell und mit Haut und Haar. Möglicherweise wählen deshalb weniger Leute diese Seite.

Ich gehe weiter.

Unter mir vibriert die Haarbrücke. Vielleicht versengt das Feuer sie ja, vielleicht rollt eine Eislawine über sie hinweg. Vielleicht geht aber auch jemand vor oder hinter mir.

Ich muss diese Brücke überqueren. Unbedingt.

Nur dass mein Traum immer gleich endet.

Die Brücke bebt. Kann sein, dass ich zu fest aufgetreten bin, keine Ahnung.

01

Es ist lange her, dass ich zu spät zur Arbeit gekommen bin. Ich stecke im Stau, der sich durchs halbe Viertel zieht. Neben mir steht ein gewaltiger, kastiger Wagen, ich glaube, der neueste Lincoln. Die Scheiben sind runtergelassen, und der Fahrer schielt so mürrisch zu mir rüber, als habe mein Motorrad das Verkehrschaos verschuldet.

»Hast du Feuer?«, fragt er nach einer Weile. Wahrscheinlich langweilt er sich einfach. Mir kann er jedenfalls nicht weismachen, dass es in dieser kirschroten Luxuskarosse keinen Zigarettenanzünder gibt. Garantiert kannst du in dem Schlitten sogar einen Gasherd samt Grill anschließen.

Schweigend halte ich ihm das Feuerzeug hin. Eine Hand mit einem Ring an jedem Finger langt danach. Der Typ zündet sich eine dünne teure Zigarette mit einem überdimensionalen Filter an. Was wohl Väterchen Freud zu dieser Vorliebe für große Autos und lange Zigaretten sagen würde? Aber lassen wir den Herrn lieber aus dem Spiel, der wäre bei uns genauso verrückt geworden wie wir alle, noch dazu in Rekordzeit.

»Was ist denn da vorn los?«, erkundigt sich der Fahrer.

Der Schlitten liegt viel zu tief, als dass der Typ das Chaos überblicken könnte.

»Da kommt ein Konvoi«, antworte ich. »Von LKWs.«

Jeder andere hätte daraufhin losgepoltert, wie man bloß Laster durchs Zentrum leiten könne! Noch dazu durchs russische Viertel und ausgerechnet zur morgendlichen Rushhour nach Moskauer Zeit!

»So was kann vorkommen!«, meint der Kerl jedoch nur. »Muss ja schließlich auch mal sein.«

Also will der Typ mit seinem Lincoln nicht bloß angeben. Er kann es sich wirklich leisten, die Ruhe zu bewahren, er braucht sich nicht aufzuregen, wenn er fünf oder zehn Minuten im Stau steht.

Ich mich aber schon. Und wie.

Komme ich fünf Minuten zu spät, fällt das vielleicht nicht auf. Aber zehn Minuten – das bedeutet unweigerlich einen Eintrag in der Personalakte. Und bei einer Viertelstunde ziehen sie mir die Hälfte meines Tageslohns ab.

Im Moment liege ich bei einer Verspätung von vier Minuten.

In der Spur geht nichts mehr. Nun ist ein Standardmotorrad keine nach Sonderwünschen angefertigte Limousine, und ich bin mit meiner matt stahlfarbenen Jacke, den grauen Jeans, dem Helm mit dem verspiegelten Visier keine knallige oder auffällige Erscheinung. Ebenso wenig wie ein Modell für Haute Couture, aber …

Aber auch eine unscheinbare Erscheinung hat ihre Vorteile.

Ich gebe Gas, der Motor heult auf. Der Besitzer des Lincoln beobachtet mich mit unverhohlener Neugier.

»Willst du dich da etwa …?«, fragt er.

Den Schluss des Satzes kriege ich schon nicht mehr mit.

Eine Spur verbrannten Gummis auf dem Asphalt hinterlassend, schieße ich zwischen den Autos hindurch.

»Richtig so!«, feuert mich jemand an.

Die Dummheiten anderer zu beobachten ist ein Gratisvergnügen im Dauerangebot.

Die Laster kriechen förmlich über die Kreuzung und blockieren den ganzen Verkehr. Obwohl es stinknormale Kamas sind, prangt auf allen Planen: 2T. Alles klar. Da hat eine große Firma einen Eilauftrag bekommen – und statt einen Verlust wegen verspäteter Lieferung einzustecken, zahlen sie lieber für verkehrswidriges Fahrverhalten: Die LKWs krauchen in einem Abstand von nur anderthalb Meter akkurat einer hinter dem anderen her.

Mal sehen, ob ich zwischen ihnen durchflutschen kann.

Die Mittagssonne spiegelt sich in den Scheiben der Laster, ich mache die Gesichter der Fahrer aus, registriere die schwarzen Auspuffe der Dieselmotoren. Die Chance, mich zwischen zwei Kamas hindurchzuschlängeln, ist minimal.

Tiefe, Tiefe, verpiss dich …

Der Austritt aus dem virtuellen Raum in die normale Welt ist immer komisch. Diesmal waren die Unterschiede jedoch minimal, denn der Motorradhelm wich lediglich einem VR-Helm. Und hatte ich eben noch im Sattel gesessen, so hockte ich jetzt mit angezogenen Beinen auf einem Stuhl.

Allerdings wirkte die Stadt nun nicht länger real. Alles erschien mit einem Mal sehr grob, die Details verschwanden völlig, über den Himmel mit seinem Einheitsblau zogen Schäfchenwolken (die sich einmal pro Tag zu dem Slogan formten: Vergesst nie, wer diesen Himmel erdacht hat und wer ihn euch bezahlt!), die Autos büßten ihre Kratzer, Dreckflecken und Aufkleber ein – eben all das, was meine Fantasie sich für sie ausgedacht hatte.

Aber der Konvoi aus 2T-LKWs war noch da.

Und jetzt würde ich da durchkommen!

Aus den Kopfhörern schallten Stimmen, jemand winkte aus einem Auto heraus und versuchte, mich von meinem Plan abzubringen. Ich fuhrwerkte mit dem Joystick, manövrierte das Motorrad durch die Laster. Einmal knallte es kurz, wahrscheinlich als mein Hinterrad eine Stoßstange mitnahm. Halb so wild.

Okay, in der Tiefe würde ich dabei eventuell ins Schlingern geraten und stürzen. Aber so reichte eine Bewegung mit dem Joystick, um die Kontrolle über das Motorrad zurückzugewinnen.

Ich hielt hinter der Kreuzung an und sah zurück. Meine Finger glitten von selbst über die Tastatur.

Deep.

Enter.

Eine Sekunde nahm ich vor meinen Augen noch die Displays wahr, spürte ich noch das Polster des Helms. Dann spülte die über die Displays tosende regenbogenfarbene Welle die Realität weg.

Das Deep-Programm startet sich schnell.

Ich stehe an der Kreuzung Gibson-Prospekt Ecke ul. Tschertkow im russischen Viertel Deeptowns. Zwischen den einzelnen Lastern hindurch, die über die Tschertkow Richtung Club White Bear BBC rumpeln, erhasche ich einen Blick auf meine ehemaligen Leidensgenossen, die immer noch im Stau stehen. Viele von ihnen pfeifen, klatschen und bringen auf andere Weise ihre Begeisterung zum Ausdruck.

Auch meine Laune könnte nicht besser sein.

Wie ja auch nicht anders zu erwarten – wenn du gerade einen Nagel mit deinem geliebten Mikroskop eingeschlagen hast.

Ich steige aufs Gaspedal und schieße den Prospekt hinunter. Noch besteht die Chance, nicht allzu spät zu kommen.

Und wer ist eigentlich dieser Gibson?

 

Meinen Arbeitsplatz erreiche ich mit einer Verspätung von sieben Minuten. Das ist schlecht, bedeutet aber nicht das Aus.

»Leonid, Leonid«, spricht mich der Security-Typ am Eingang in tadelndem Ton an. Ich breite die Arme aus und gebe mir alle Mühe, in dem verspiegelten Visier das ganze Spektrum meiner Gefühle auszudrücken: Reue, Schuld, Scham, Verlegenheit … »Leg lieber einen Zahn zu!«

Ich stürme den langen Gang hinunter. Unter der Decke baumeln die matten Kugeln der Lampen, die mich in ihrer Trostlosigkeit immer an die Korridore aus meiner fernen Schulzeit erinnern. An den Wänden ziehen sich die Spinde entlang. Über fast jedem leuchtet ein rotes Lämpchen, nur über zweien oder dreien ein grünes. Einer davon ist meiner.

»Hallo«, begrüßt mich Ilja.

Er ist ebenfalls zu spät dran und hantiert gerade am Nachbarspind, um das Schloss aufzuschließen.

»Du arbeitest heute in der Frühschicht?«, erkundige ich mich, während ich rasch das für Blödmänner wie mich schwer zu merkende Passwort »gfhjkm« eingebe.

»Ich bin nur auf einen Sprung hier. Gestern Abend bin ich auf einer Sache sitzen geblieben.« Ilja sieht mit finsterer Miene in seinen Spind. Er ist um die dreißig, einigermaßen muskelbepackt und fit, sein Haar kurz geschnitten, das Gesicht individuell. Das ist bestimmt nicht sein Werk, sondern die Arbeit eines guten Image-Designers. »Vielleicht kann ich den Brief ja heute abliefern. «

Endlich hat er den Spind aufgeschlossen und zieht einen in sich zusammengefallenen Körper hervor, der klein und mager ist und einem zwölfjährigen Jungen gehören mag.

»Nur zu, der beißt schon nicht!«, ermuntere ich ihn.

Es durchzuckt den Jungen, als habe er einen galvanischen Schlag bekommen. Als er sich nun zu mir umdreht, hält er den Mann, der ihn eben aus dem Schrank gezogen hat, in der Hand. Der ist jetzt nur noch eine Aufblaspuppe mit ausdruckslosen Augen, die kaum etwas wiegt.

»Halt die Klappe!«, fährt mich der Junge mit dünner Stimme an. »Deine blöden Witze kannst du dir echt sparen!«

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, entgegne ich, den Blick fest auf meinen Spind gerichtet.

»Geht dich gar nichts an!« Der Junge stopft den kräftigen Herrn mit ein paar Boxschlägen in den Spind. Der Körper krümmt sich, als sei er aus Wachs. Der Fuß samt Lackschuh steht in einem unglücklichem Winkel ab, die Krawatte hat sich aus dem Jackett hervorgekämpft. »Ich hab die Schnauze gestrichen voll!«

»Wollen wir tauschen?«, schlage ich vor. »Du übernimmst die Lasten, ich die Telegramme?«

Mein Körper für diesen Job wiegt ebenfalls nichts. Der Typ ist zwanzig Jahre alt und ein echtes Muskelpaket in Overall. Sein Gesicht ist naiv bis dämlich.

Solche Burschen haben vor zwanzig Jahren auf allen Plakaten den Kommunismus aufgebaut – sodass du nie im Leben auf die Idee kämst, dass der Avatar in den USA gezeichnet worden ist.

Natürlich habe ich diesen Körper weder designt noch nach eigenen Wünschen anfertigen lassen, sondern mich mit dem Standardmodell von Windows Home zufrieden gegeben. Ich sehe ihm in die leeren Augen, schmiege meine Stirn gegen seine …

Als ich den Biker in den Spind quetsche, gehe ich nicht weniger brutal vor als Ilja eben.

»Wieso sehen deine Körper eigentlich alle gleich aus?« Der Junge hackt auf die Knöpfe ein, um seinen Spind zu verschließen.

Auch sein neuer Körper ist kein Serienprodukt und ebenfalls von hervorragender Qualität. Ein sympathischer rotblonder Junge mit pfiffigen Augen und einem mehr oder weniger unverwüstlichen Dauergrinsen.

»Kostet schließlich einiges, sich eine individuelle Figur zu designen«, knurre ich.

»So’n Stuss!« Ilja macht eine wegwerfende Handbewegung. »Das kostet nix, du setzt dich einfach hin und zeichnest los, hab ich auch gemacht.«

»Nur hab ich kein Händchen dafür.«

Jetzt verschließe auch ich meinen Spind. Warum, ist mir schleierhaft, der Avatar ist schließlich echt nichts wert, sondern eben nur das Modell »freundlicher Arbeiter« der Standardausstattung.

Was natürlich die Frage aufwirft, ob es irgendwo in Deeptown Bedarf an unfreundlichen Arbeitskräften gibt …

»Soll ich dir einen zeichnen?«, bietet Ilja an und ist gleich Feuer und Flamme. »Das mach ich mit links. Und danach wirst du auf alle Fälle besser aussehen, das garantier ich dir.«

»Okay, aber nicht jetzt«, erwidere ich. Ich glaube, das Gespräch hatten wir schon mal. Und sein Angebot ist genauso wie meine Bereitschaft, es zu akzeptieren, nicht mehr als eine Floskel. Ein Austausch von banalen Freundlichkeiten.

»Also dann, tschüs.« Ilja winkt mir zu und verdrückt sich, ganz wie ein richtiger kleiner Junge. Die Bewegungsmodulation der Figur ist wirklich nicht schlecht.

Was ich von meinem Avatar nicht gerade behaupten kann. Ich bewege mich plump wie ein dressierter Gorilla. Am Ausgang ist ein Schalter, an dem die Aufträge vergeben werden. Ilja hat sich seinen Posten bereits geschnappt und ist mit ihm auf und davon. Den Briefträgern steht ein Fahrrad zu.

Mir nicht. Die Frachtkuriere kriegen bloß einen Motorroller.

Aber erst mal muss ich mir die Aufträge abholen.

Am Schalter sitzt Tanja und langweilt sich. Sie ist eine nette Frau – falls sie eine Frau ist.

»Du bist spät dran«, hält sie fest, wenn auch nicht wütend, denn eigentlich ist ihr das völlig egal. »Es gibt zwei Aufträge. Wer ist noch in der Umkleide?«

»Niemand, glaube ich.«

»Willst du dann beide übernehmen?«

»Worum geht’s denn?«

»Ein Klavier und ein Flügel.«

Oh, wir sind heute wohl zum Scherzen aufgelegt …

»Okay. Geld kann ja nie schaden.«

»Wo du recht hast, hast du recht«, murmelt Tanja. Sie hält mir die Formulare hin, ich unterschreibe und trete vom Schalter weg. Ich sehe mir den ersten Auftrag an – ein Klavier –, dann den zweiten – ein Flügel.

Mir fehlt die Kraft mich umzudrehen. Mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit grinst Tanja über beide Backen.

Kann es etwas Dämlicheres geben, als in der virtuellen Welt den Möbelpacker zu mimen? Denn es soll bitte niemand glauben, dieser Beruf sei in der Welt der elektronischen Impulse, in der es weder Entfernungen noch Schwerkraft gibt, ausgestorben!

»Leonid!«, ruft Tanja mir nach. »Igor hat sich gerade gemeldet, er hängt hier noch irgendwo rum. Zu zweit werdet ihr es doch schaffen, oder?«

Kann es etwas Dämlicheres geben als eine gezeichnete Wohnung, in die man einen gezeichneten Flügel schleppt? Bei dem es sich um nichts anderes handelt als um ein Musikprogramm, das die Töne eines Flügels imitiert und wie ebendieses Instrument aussieht.

Alles schön und gut, wäre da nicht das Unterbewusstsein. Du musst vergessen, dass du den Flügel nicht in der realen Welt hochhievst, wenn du dir sein gezeichnetes Pendant auf den Rücken packst. Und so lange der Flügel als Gummiattrappe daherkommt und mitten im Zimmer aufgeblasen wird, glaubt niemand an seinen reinen und echten Klang.

Sobald jedoch ein paar Muskelprotze im Overall das Ding vor deinen Augen schnaufend und schweißgebadet durchs Treppenhaus buckeln … Und wie simpel der Avatar des »freundlichen Arbeiters« auch gestaltet sein mag – Schweißabsonderung imitieren, das kann er.

Mit einem Mal packt mich Wut, dieser bekannte und häufige Gast.

Ich achte nicht länger auf Tanja, sondern gehe zum Parkplatz, schnappe mir meinen Motorroller, werfe einen Blick auf das freundliche, nicht sehr hohe Gebäude mit dem Logo HLD auf dem Schild. HLD – Probleme ade! HLD – und mit der Lieferung ist alles okay! HLD – und Ihre Fracht landet nicht im Schnee!

Dann wollen wir uns mal an die Werbeslogans halten!

Auf dem fröhlich knatternden Motorroller zuckle ich zurück zum Gibson-Prospekt und dann ganz gemütlich in der vierten Spur zur ersten Adresse.

Mit einem Auftrag in der Tasche schrumpft die Entfernung im Handumdrehen. In unserer kleinen Welt, in unserem ruhmreichen Deeptown, ist alles individuell abgestimmt, sogar die Sonne geht für jeden anders auf: Wenn die Angestellten bereits lunchen, bricht für ihren Boss gerade erst der Tag an. Kaum lasse ich die Straße der Deep-Designer hinter mir, bin ich auch schon in der Off-Line-Einbahnstraße. Das ist die Adresse, die auf dem Auftrag steht.

Eine schöne Villa.

Mit einem prachtvollem Garten drumherum. An Steinmauern rankt sich wilder Wein hoch, in einem Springbrunnen steht eine Skulptur, ein nackter Jüngling, der eine Schlange gepackt hält. Aus dem Maul des Tiers schießt der Wasserstrahl hinauf in den Himmel. Was um alles in der Welt soll mir diese Skulptur sagen?! Ich beuge mich vor, um die Tafel am Sockel zu lesen: Gezähmte Tiefe.

Schmerz durchzuckt mich.

Hätte ich den Auftrag doch bloß abgelehnt! Sollen die doch ihren inexistenten Flügel selbst in ihre inexistente Villa schleppen! Aber in Deeptown gibt es zu viele Arbeitslose, als dass ich mir dergleichen hätte erlauben können.

»Junger Mann!«

Eine Frau kommt mit verführerischem Hüftschwung die Stufen der Veranda herunter und lächelt mich an. Sie begnügt sich mit einem Minimum an Kleidung, ihr Äußeres ist auf Manga getrimmt: zu große Augen und der Körper eines Mädchens.

»Junger Mann, sind Sie der Lastenträger?«

»Ja, junge Frau«, antworte ich mürrisch.

»Sie wollen den Flügel ins Haus bringen?«

Kluges Mädchen.

»Ja.«

»Das Problem ist, dass er nicht geliefert wurde«, erklärt sie, ohne dass ihre Stimme sonderlich traurig klingt. »Angeblich hatten sie zu viele Aufträge. Können Sie vielleicht morgen noch einmal vorbeikommen?«

»Schreiben Sie eine Anforderung, dann kommt jemand. Aber ich …«

»Das tut mir ja so leid! Ehrlich!« Sie ist die Verführung in Person. »Und wie peinlich mir das ist! Aber daran ist allein mein Mann schuld, denn er hat nie Zeit, sich um irgendetwas zu kümmern. Allerdings hat er mich gebeten, Sie für Ihre Mühe zu entlohnen! «

Schweigend halte ich ihr das Formular hin.

Die Frau unterschreibt, ohne einen Blick auf den Wisch zu werfen, und bezahlt die volle Summe für die Entlade- und Transportarbeit. Mit gerunzelter Stirn denkt sie über etwas nach. Dann zieht sie einen Geldschein aus der Tasche.

»Vielen Dank.« Ich stecke den Schein in eine spezielle Tasche in meinem Overall, die ausschließlich fürs Trinkgeld gedacht ist. Schon im nächsten Moment ist das Geld weg. Die eine Hälfte ist bereits auf dem Konto von HLD eingetrudelt, die andere auf meinem. Ganz wie es sich für eine seriöse mittelständige Firma gehört.

»Darf ich Ihnen vielleicht einen Kaffee anbieten?« In ihrem Blick mischen sich Anmache und Bescheidenheit.

Ich sehe auf die Uhr. »Ich weiß nicht«, antworte ich. »Ich kann mich heute vor Aufträgen kaum retten.«

»Ich müsste übrigens im Schlafzimmer noch den Frisiertisch verrücken!«, fällt ihr da ein. »Könnten Sie mir da nicht behilflich sein? Wir schreiben auch gleich einen neuen Auftrag!«

Alles klar.

Eine unerfahrene Frau, auf der Suche nach einem Abenteuer. Und ihr Mann ist vermutlich ein kluger Kopf.

Genau wie ich.

»Dann wollen wir mal ein bisschen rücken und schieben«, erlaube ich mir eine lässige Zweideutigkeit.

Den Frisiertisch zu verrücken dauert nicht länger, als den Blankoauftrag dafür auszufüllen. Anschließend trinken wir Kaffee und genehmigen uns auch einen Likör dazu. Grinsend harre ich der Dinge, die da kommen. Die Puppe klimpert mit den großen Augen und rückt mir Stück für Stück auf die Pelle, bis sie schließlich auf meinem Schoß sitzt. Wir küssen uns lange und leidenschaftlich. Ich achte genau auf die Bewegungen ihres vorwitzigen Händchens.

»Was ist denn?«, bringt sie plötzlich heraus. Ihre Stimme zittert bereits, doch in ihr Verlangen schleicht sich Unverständnis. Ihre Augen werden immer runder und stellen jeden japanischen Comic in den Schatten. Aber aus dem Hentai wird leider nichts.

»Junge Frau, ich bin bei einer seriösen Firma angestellt«, erkläre ich ihr. »Dieser Körper ist ausschließlich für körperliche Arbeit gedacht. Für jede Art von Vergnügungen ist er völlig ungeeignet. Haben Sie das etwa nicht gewusst?«

»Du Schuft!«

Ich würde am liebsten laut loslachen, behalte aber eine steinerne Miene bei. Schließlich schiebe ich die Frau von meinen Knien, stehe vom Sofa auf und knöpfe den Overall zu.

»Junge Frau, wenn es an meinem Verhalten etwas auszusetzen gibt, können Sie sich jederzeit mit einer offiziellen Beschwerde an meine Vorgesetzten wenden. Im Übrigen bin ich ganz Ihrer Meinung: Es würde diesem Körper nicht schaden, mit etwas mehr Drumherum ausgestattet zu werden.«

»Verpiss dich, du Arsch!«

Ich nehme ihr das nicht mal krumm, sondern kämpfe immer noch mit einem Lachanfall. Als ich das Haus dann verlassen habe und wieder auf dem Motorroller sitze, könnte ich sogar tatsächlich losprusten.

Zu dieser Körperfunktion ist der »freundliche Arbeiter« nämlich imstande.

Aber ich verkneife es mir.

 

Es ist Abend in Deeptown. Kaum liegt die Arbeit hinter mir, senkt sich der Abend herab. Das gefällt mir. Natürlich ist es für den armen Kerl, der mit einer Aktentasche durch die Straßen hetzt, noch früh am Morgen. Und für einen Dritten dauert der laute, grelle Partyabend rund um die Uhr an.

Na, von mir aus. Für mich wäre das eh nichts.

Bei HLD trudeln gerade die Leute aus der zweiten Schicht ein. Über dem Nachbarspind leuchtet ein rotes Lämpchen: Ilja ist also entweder noch nicht zurück oder schon wieder unterwegs. Ein paar Kollegen ziehen sich um, aber die kenne ich kaum, mehr als ein »Guten Tag und guten Weg« verbindet mich nicht mit ihnen.

Der Tag ist nicht schlecht gewesen. Zwei Aufträge, davon einer, der mir kaum etwas abverlangte. Dazu dieses komische Missverständnis mit der Frau … Sollte etwa tatsächlich jemand noch nicht gehört haben, dass die Körper der Proletarier von Windows Home genauso geschlechtslos sind wie ein Maultier oder eine Arbeitsbiene?

Ich pfeife eine fröhliche Melodie vor mich hin und hole den Körper des Bikers aus dem Spind. Der ist nun wirklich ein ganzer Kerl, allerdings mit dem Manko, dass auch er ein absoluter Standardtyp ist. Der darf sich jedes Liebesabenteuer abschminken. Das ist allerdings nicht der Grund, warum ich ihn mag. Nein, je einfacher und unprätentiöser eine Figur ist, desto leichter kannst du dich mit ihr über die überlasteten Server bewegen. Es gibt Leute, die sich hartnäckig weigern, das einzusehen. Sie behängen ihren Avatar mit allerlei Firlefanz, designen ihm ein kompliziertes individuelles Gesicht … Aber gut, jedem das Seine.

Ich schmiege meine Stirn an seine, starre in das verspiegelte Visier des Helms und warte, bis das Programm durchgelaufen ist. Dann stopfe ich den »freundlichen Arbeiter« in den Spind. Gute Nacht, mein Freund, bis morgen!

Und auch ich werde jetzt meinen Feierabend genießen.

Am Schalter sitzt immer noch Tanja. Als sie mich sieht, lächelt sie verlegen, sodass ich zu ihr gehe.

»Tut mir leid, Ljonka.«

»Schon gut, da hab ich halt mal ein bisschen mehr verdient.«

»Dann hast du also tatsächlich … das Piano ganz allein hochgeschleppt? «

»Mhm.«

Sie sieht mich fassungslos an.

»Tanja«, sage ich mit einem Seufzer, »glaubst du etwa, ich wäre ohne Grund Packer geworden? Ich habe sieben Jahre im Möbelgeschäft hinter mir! Was meinst du, was ich da alles durch die Gegend buckeln musste?! Und es ist auch nicht das erste Mal, dass ich allein ein Piano schleppe! Ciao!«

Jetzt wird sie wahrscheinlich darüber rätseln, wie breit meine realen Schultern sind.

10

Seit einiger Zeit betrinke ich mich lieber in der Tiefe, genau wie alle User. Erstens ist das wesentlich gesünder, denn du kriegst bei Bedarf zwar einen Rausch, weil dein Organismus ihn sich dazudenkt, aber deine Leber nimmt keinen Schaden. Zweitens – und das ist entscheidend – ist es viel billiger, schließlich würde niemand für einen gezeichneten Drink genauso viel berappen wie für einen realen. Eine Flasche Baileys kostet in der Tiefe einen halben Dollar, ein vorzüglicher Scotch achtzig Cent. Für russischen Wodka musst du fast einen Dollar hinlegen, aber den kann ich ja auch in der Realität trinken.

Klar, es gibt auch Kellerkneipen, wo alles noch billiger ist. In ihnen bekommst du einen fünfzig Jahre alten Burgunder für ein paar Dollar. Aber wozu? Alle, die wissen, wie ein solcher Wein schmeckt, werden sich nie im Leben in diese Spelunken hinabbequemen. Jemand wie ich würde den Unterschied zu einem moldawischen Cabernet jedoch sowieso nicht schmecken – warum sollte ich ihn dann also trinken?

Deshalb gebe ich einer soliden, anständigen Kneipe wie dem Fischerkönig den Vorzug. Sie ist für drei Dinge berühmt: Die Getränke kann sich jeder leisten, und selbst ein Durchschnittsrusse hat schon mal von ihnen gehört. Die Fischkarte ist ausgezeichnet. Und es gibt Livemusik. Ausländer verirren sich übrigens nur selten hierher, eine angenehme Dreingabe. Und die wenigen, die trotzdem hier herkommen, leben schon lange in Russland. Sie wissen eine dampfende Fischsuppe, das Bier Otschakowskoje spezialnoje und alten Rock’n’Roll zu schätzen.

Keine Ahnung, wie es anderen geht, aber mir sind diese Kneipen die liebsten. Im realen Leben ebenso wie in der virtuellen Welt. Weder die großen und lauten Restaurants noch die teuren In-Lokale, wo die Touris scharenweise einfallen, mag ich besonders. Von Moskau einmal abgesehen, würde ich in jeder Stadt ein kleines, unauffälliges und unscheinbares Restaurant vorziehen. In Prag das U Fleků, in Berlin das Zur Letzten Instanz, in Paris das Maxim’s. Etwas Gemütliches eben.

Der Fischerkönig liegt ein wenig versteckt am Platz der Freiheit. Solche Plätze gibt es in fast allen Vierteln in Deeptown, nur wurden sie im amerikanischen oder französischen Viertel von mehr oder weniger zwielichtigen Vergnügungseinrichtungen aufgekauft, während sich im russischen dort Büros breitmachen. Aber gut, jeder Kultur das ihre.

Das Schild ist unauffällig und absichtlich primitiv gehalten. In dieser Schlichtheit stecken jedoch wesentlich mehr Kreativität und Talent als in all den bunten Leuchtreklamen über teuren Restaurants. Ein Bilderbogen, in dem karikaturhaft dargestellte Treidler einen Stör von monsterhafter Größe aus dem Fluss ziehen, darunter der geradezu hingeschmierte Name des Restaurants …

Ich öffne die Tür und trete ein. Meine Laune hebt sich sofort, als ich sehe, dass es noch freie Plätze gibt. In der letzten Zeit ist der Fischerkönig nämlich angesagt, sodass ich meine Besuche hier wohl irgendwann aufgeben werde. Entweder baut die Kneipe aus und verwandelt sich zu einem Schickimicki-Restaurant, oder du musst demnächst einen Tisch bestellen und das Gegröle von Reisegruppen ertragen.

Aber noch entspricht der Fischerkönig genau meinen Wünschen.

Ich wähle den Tisch neben der Tür zur Küche. Die Kellnerin kenne ich nicht, sie eilt aber gleich herbei. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf die Speisekarte.

»Heute gibt es in Folie gebackene Forelle«, teilt mir die Frau mit. »Die kann ich nur empfehlen!«

Oje. In Folie gebackene Forelle habe ich zwar schon mal gegessen, allerdings vor ziemlich langer Zeit. Da hat sie mir nicht geschmeckt – und das würde heute nicht anders sein.

»Ich nehme gefüllten Hecht«, sage ich.

Den habe ich noch nie gegessen. Aber wahrscheinlich sieht er appetitanregend aus, und meine Fantasie würde sich schon ausdenken, wie er schmeckt.

»Als Vorspeise Fischsuppe«, fahre ich fort, während mein Blick über die Karte wandert, »und ein kleines Fläschchen Wodka. Einfachen, ohne Aroma. Dazu Schwarzbrot.«

»Noch etwas?«

»Einen Tomatensaft.«

Wodka mit Saft hinunterzuspülen ist vulgär. Aber im Moment will ich genau das: vulgär sein.

Ich muss auf mein Essen warten. Natürlich könnten sie mir alles sofort bringen – doch wozu die Illusion zerstören? Als mein Blick durch den Raum schweift, mache ich ein paar bekannte Gesichter aus, andere sehe ich zum ersten Mal. Auf der Bühne sitzt einsam und verlassen ein Gitarrist. Entweder ist seine Band noch nicht vollständig eingetroffen oder er gönnt sich einen Soloauftritt. Ich lausche der leisen Stimme:

Klar, ich hab’s gleich erkannt: Ein Viertel, auf Leinwand gebannt. Künstler würd’ich ihn nicht nennen, eher einen Spiegel Der Zeit und von uns, auch das ein Gütesiegel.

 

Wie Benzin als Regenbogen auf den Fluss sich legt, Wie bunte Kreide sich vom schwarzen Asphalt abhebt, So sind wir, ohne Frage, so sind du und ich.

 

Auf Preise war er echt nicht scharf, Auch für Lob bestand kein Bedarf, Nur konnt’er nicht unterlassen, was er tat, Er, der bunten Kreide Gott, der bunten Kreide Sklav’.

 

Wie Benzin als Regenbogen auf den Fluss sich legt, Wie bunte Kreide sich vom schwarzen Asphalt abhebt, So sind wir, ein Bild, das beim ersten Regen vergeht.

 

Klar, Regen und Schnee gibt’s überall, Und jedes Jahrhundert kommt zu Fall. Doch freu dich nicht zu früh und spotte nicht all dessen! Wir leben im Zeitalter der Spiegel, das darfst du nie vergessen.

 

Wie Benzin als Regenbogen auf den Fluss sich legt, Wie bunte Kreide sich vom schwarzen Asphalt abhebt, So sind wir, ein Bild, das wie Phönix sich aus der Asche erhebt.

Der Sänger lässt die Gitarre sinken und blickt auf die Gäste. Niemand hat ihm zugehört, die Leute sind zu sehr mit ihrem Essen beschäftigt. Unsere Blicke kreuzen sich kurz, und ich habe den seltsamen Eindruck, das Lied sei speziell für mich geschrieben worden.

Wie es immer bei einem guten Song der Fall ist.

Als der Sänger aufsteht und die Bühne verlässt, hält er die Gitarre irgendwie merkwürdig oben am Hals. So trägt man sein Instrument doch nicht. Und trotzdem wirkt die Geste völlig natürlich.

Ich sollte wirklich öfter herkommen. Wir leben im Zeitalter der Spiegel …

»Ist hier noch frei?«

Ich drehe mich um.

Oho.

In Deeptown begegnen dir nur selten alte Leute. Alle wollen jung und schön sein, wenn schon nicht im Leben, dann doch wenigstens in ihren süßen Träumen. Wenn sich jemand für das Äußere eines alten Menschen entscheidet, denkt er sich etwas dabei.

»Hallo, Igel«, begrüße ich ihn und fordere ihn mit einer Geste auf, sich zu setzen.

Igel ist der Spitzname dieses Stammgastes. Ich habe ihn ziemlich lange für ein Programm gehalten, bis ich dann irgendwann selbst mit ihm gesprochen habe: Dieser Mann, der einen großen Teil seines Tages in der Tiefe verbringt, ist echt. Er ist um die sechzig, faltig und korpulent. Sein Gesicht ist ziemlich schwabbelig, aber frisch rasiert. Das graue Haar ist militärisch kurz geschnitten, daher auch sein Spitzname. Er wirkt etwas heruntergekommen, im Großen und Ganzen aber anständig. Das hat er vor allem seiner altmodischen, aber ordentlichen Kleidung zu verdanken. Kurz und gut: Du ekelst dich nicht vor ihm, eher macht er dich neugierig.

»Hast du schon von dem Einbruch gehört?«, will Igel wissen, als er sich zu mir setzt. Er schielt zur Kellnerin, die mir bereits den Wodka und den Saft bringt.

»Noch ein Glas«, bitte ich, obwohl mir nicht entgeht, dass auf dem Tablett bereits zwei Gläser stehen. Igel dürfte sich nicht ohne Hintergedanken im Fischerkönig herumdrücken. Möglicherweise ist er sogar hier angestellt, denn genau wie die Frauen in den Bordellen die Freier zu einem teuren Getränk animieren, spornt auch er die Gäste zum Trinken an.

»Danke«, bringt der Alte mit einem würdevollen Nicken heraus. Mit leicht zitternder Hand gießt er uns ein. Wir stoßen an und trinken auf ex. Igel hustet, isst aber nichts nach, sondern hält sich bloß den Arm vors Gesicht. Wie ein Trinker. Das habe ich bei ihm noch nie beobachtet.

»Was für ein Einbruch?«, will ich wissen, als seine Aufmerksamkeit wieder mir gilt. Ich hole eine Schachtel Zigaretten heraus und biete ihm eine an.

»Da ist diese Firma … New boundaries …«

»Von der habe ich schon gehört«, sage ich. »Die machen in Software, oder?«

»Nö«, widerspricht Igel und kichert. »Du steigst nicht ganz dahinter, was die machen. Anscheinend entwickeln sie neue ergonomische Tastaturen, designen Helme und besondere Stühle, auf denen du dir keine Hämorrhoiden einfängst. So Kram halt.«

»Aha«, brumme ich. Seinen Wodka muss sich der Alte mit einer guten Geschichte verdienen, aber bisher hat er nicht mal die Zigarette abgearbeitet.

»Ich muss los«, schnauft Igel. »Bin blank … kann nicht länger bleiben …«

Ich sehe Igel fest in die Augen. Willst du etwa behaupten, Freundchen, es lohne sich, dir für deine Geschichte deinen Aufenthalt in der Tiefe zu bezahlen? Okay, ein Dollar macht mich nicht arm. Trotzdem!

Geschlagene zehn Sekunden messen wir uns mit Blicken. Dann steht Igel auf – und ich kapituliere.

»Setz dich!«, verlange ich und packe ihn beim Arm. »Ich hab heute die Spendierhosen an.«

»Danke.« Der Alte schafft es, sich so locker wieder hinzusetzen, dass sogar ich mich frage, ob er wirklich gehen wollte. »Also … diese Firma ist nicht sehr groß, arbeitet aber anscheinend für größere … für richtige Giganten.«

Die Kellnerin bringt meine Suppe, von der ein köstlicher Duft ausgeht. Ich habe nicht die Absicht, Igel auch noch durchzufüttern, aber er macht auch keine entsprechenden Anspielungen. Ich fange an zu essen und bringe mit meinem ganzen Verhalten zum Ausdruck, dass ich bisher noch nichts gehört hätte, was sein Geld wert wäre.

»Also, gestern wurde bei denen eingebrochen«, fährt Igel fort.

Merkwürdig.

»Gestern?«

Die virtuelle Welt führt ein schnelles Leben. Die Nachrichten von gestern – sind der Schnee von gestern.

»Ganz genau.« Igel ist nicht entgangen, dass ich gestutzt habe. »Der Kerl wurde auf frischer Tat geschnappt.«

Mein Herz setzt fast aus.

Der Kerl wurde auf frischer Tat geschnappt.

Noch vor zwei Jahren hätte nun jeder an meiner Stelle gefragt: »Und? War es ein Hacker? Oder ein Diver?«

Zwischen diesen beiden Gruppen hatte damals ein grundlegender Unterschied bestanden. Sowohl, was ihre Verteidigungsmöglichkeiten anging, wie auch in punkto ihrer Arbeitsmethoden.

Er hatte bestanden … Heute erübrigt sich diese Frage jedoch – denn heute gibt es keine Diver mehr.

»Den armen Kerl hat’s erwischt«, schnauft Igel. »Die haben einen guten Schutz. Ich meine jetzt nicht New boundaries, sondern einer der Giganten, für die sie arbeiten …«

»In der Tiefe gibt es einen Hack pro Stunde«, bemerke ich, während ich den Rest der Suppe auslöffle. Die ist wirklich gut! Genau so eine Fischsuppe habe ich mal an der Wolga gegessen, nachts, an einem Lagerfeuer … »Nein, pro Minute. Mal entkommt der Dieb, mal nicht. Was soll an dieser Geschichte so besonders sein?«

»Dass sie ihn in der realen Welt erwischt haben«, antwortet Igel.

»Dann muss er hinter einer echt heißen Sache her gewesen sein.«

»Und dass er in der Realität tot war.«

Während ich langsam den Kopf hebe, den Löffel zur Seite lege und mir mit der Serviette über den Mund wische, schafft Igel es, uns erneut einzugießen.

»Erbarme dich, o Herr, der Seele deines Sklaven Bastard, der kein untalentierter Hacker war, grob, aber mit einem guten Herzen«, nuschelt Igel. Wir trinken auf ex, stoßen aber, wie es der Brauch verlangt, nicht an.

»Bastard?«

»Dieser Name wird genannt, ja. Wie er eigentlich heißt, weiß ich nicht.«

»Was ist mit der Polizei?« Der Spitzname sagt mir nichts. Aber die Tatsache als solche … dass ein Mann, der in der Tiefe umgebracht wird, in der Realität stirbt!

»Offiziell war es ein Zufall. Angeblich litt dieser Bastard an einem schwachen Herzen. Die Aufregung war zu viel für ihn, da ist er gestorben. So was kann doch passieren, oder?«

Ich zucke die Achseln.

Sicher. Man hat ja auch schon Pferde kotzen sehen.

Es gibt Leute, die sind bei einem Spiel in der Tiefe voll bei der Sache – und kriegen dann in der normalen Welt einen Herzinfarkt. Andere driften nach einer Niederlage auch in eine solche Depression ab, dass sie den Helm absetzen und sich den Strick nehmen.

Wie gesagt: Nichts ist unmöglich.

»So ist das Leben«, bemerke ich. »Eine traurige Geschichte, Igel.«

»Es wird übrigens auch gemunkelt, dass die Polizei immer noch ermittelt. Das ist nun wirklich mal was anderes.«

Ach ja? Doch auch mich hatte man schon gejagt. Und einmal ist auf meinen Kopf sogar ein Preis ausgesetzt worden. Aber gut, die Jugend will ihren Spaß haben.

Wenn ein Hacker allerdings in der Tiefe und in der Realität geschnappt wird, wenn die Jagd weitergeht …

»Stimmt, das ist wirklich mal was anderes«, sage ich. »Echt. Danke, Igel, das war eine interessante Geschichte!«

»Und ist meine Geschichte vielleicht auch einen jämmerlichen Dollar wert?«, fragt der Alte scheinheilig.

Okay, ein Geheimnis hat er mir mit seiner Story nicht verraten. All das hätte ich auch anders in Erfahrung bringen können – wenn ich danach gesucht hätte. Aber du kriegst eben nie alle Neuigkeiten mit, was sowohl deine Rettung wie auch dein Unglück ist. Und Igel verdient sich sein Geld nun mal damit, dass er genau abwägt, wem er was erzählt. Neunzig Prozent aller Gäste in diesem Restaurant wäre diese Story keinen Pfifferling wert gewesen. Weitere neun Prozent würden sie zur Kenntnis nehmen und vergessen.

Aber ich habe mich irgendwie an ihr festgebissen …

»Das ist sie, Igel«, entscheide ich und halte ihm eine Dollarnote hin.

Igel lässt sie geschickt in seiner Hand verschwinden und zieht ab. Gleich wird er jemand anderem etwas erzählen. Und ist es nicht völlig egal, was? Jeder wird etwas finden, was ihn fesselt. Denn Igel ist kein Alki, sondern ein ausgemachter Profi.

Genau deshalb schätzen ihn ja auch alle, die Gäste ebenso wie der Besitzer des Fischerkönigs.

Nun kommt auch mein Hecht.

»Wie ist er zubereitet worden?«, erkundige ich mich mit einem Blick auf den gewaltigen Fisch.

»Unser Chefkoch fühlte sich geehrt, ein derart extravagantes Gericht kreieren zu dürfen«, erwidert die Kellnerin lächelnd. »Das Hechtfleisch wurde zusammen mit in Milch eingeweichtem Weißbrot püriert …«

All das muss ich wissen. Wenn ich etwas bestelle, das ich noch nie gegessen habe, muss man mir genau erklären, was ich zu mir nehme.

Doch da vibriert die Welt plötzlich wie bei einem Erdbeben, fällt auseinander, versinkt in Dunkelheit.

Offenbar darf ich mir das Essen abschminken …

 

»Ljonka!«

Ich schüttelte den Kopf und blinzelte. Die Welt nahm nur langsam und widerwillig wieder Farbe an.

»Ljonka, hallo!«

Vika betrachtete mich mit leicht ironischem Ausdruck. Sie hielt den Helm in der Hand, den sie mir abgenommen hatte, ohne ihn aus der Schnittstelle zu ziehen. In ihm flimmerten weiter irgendwelche Bilder.

Ich warf erst mal einen Blick auf den Bildschirm. Die Anzeige Nicht-standardisierter Austritt aus der Tiefe wunderte mich nicht. Aber die Zeit …

Fünf Uhr nachmittags. Was dachte sich Vika eigentlich? Um die Zeit konnte ich doch gut und gern noch arbeiten!

»Vika, wieso hast du …«

»Ljonka.« Sie ging neben mir in die Hocke. »Wir kriegen heute Besuch. Hast du das vergessen? Um sechs kommt Besuch. In der realen Welt.«

»Scheiße!« Ich biss mir auf die Lippe. Das hatte ich in der Tat vergessen. »He, Rechner, Exit!«

Soll der Rechner heruntergefahren werden?

Vika seufzte, stand auf und ging in die Küche, während ich den Sensoranzug auszog. Der Computer ließ sich Zeit, bevor der Bildschirm schließlich schwarz wurde und das Gerät sich abschaltete.

Ja … ich wollte den Rechner herunterfahren. Früher hatte er mich mit einer Stimme, die Vikas zum Verwechseln ähnlich war, gefragt: »Bist du sicher?«

Gerade war ich mir mehr als sicher. So sicher, dass es mich selbst ankotzte.

»Was soll ich einkaufen?«, fragte ich.

»Das haben wir doch schon besprochen!«, kam es aus der Küche von Vika zurück.

»Also … Kartoffeln?«, rief ich. »Gemüse, Tomaten … Gurken …«

»Richtig geraten. Und? Fällt dir vielleicht noch was ein?«

»Huhn?«, ließ ich einen Versuchsballon starten.

»Ich taue das Fleisch schon auf. Um Hacksteaks zu machen. Bring Pflanzenöl mit, unsers ist fast alle. Und dann … aber das ist eh klar.«

»Willst du heute Wodka trinken?«

Manchmal machte Vika das. Wenn sie in Stimmung war.

»Nein, wahrscheinlich nicht«, antwortete sie nach kurzer Überlegung. »Bring für mich eine Flasche trockenen Wein mit. Oder Bier.«

»Was ist dir lieber?«

»Egal. Aber beeil dich, ja?«

Mist! Der Abend fing nicht gut an. Gesten hatten wir darüber gesprochen, wann die Gäste kommen und was ich kochen sollte, während Vika arbeitete. Doch heute hatte ich mir den Helm aufgesetzt – und war abgetaucht.

Und hatte unser Gespräch vergessen. Völlig.

Es war ziemlich kalt. Graues, nasses und ungemütliches Wetter. Wir hatten zwar noch keinen Frost, auch die Blätter an den Bäumen waren noch grün, aber die beißende Herbstfeuchtigkeit hing bereits in der Luft. Sie stürzte sich auf mich, sobald ich einen Fuß vor die Tür setzte, kroch mir unters Sweatshirt und ließ mich frösteln.

Vor zwei Jahren hatte Vika mich ohne große Mühe davon überzeugt, dass im Vergleich zu dem miesen Petersburger Wetter in Moskau fast tropisches Klima herrschte. Abgesehen davon war ich selbst nie ein großer Fan des Klimas in der nördlichen Hauptstadt gewesen. Doch ehrlich gesagt wartete ich auch hier, in Moskau, vergeblich auf den legendären Goldenen Herbst.

Aber vermutlich war in der Himmlischen Verwaltung endgültig das Chaos ausgebrochen: ein total verregneter Sommer, ein trüber Herbst – und wie es aussah ein früher Winter.

Ein alter Witz fiel mir ein: Wie gefällt dir der russische Winter? Wenn er grün ist, ganz gut. Aber wenn er weiß ist …

Mit einer leeren Tüte bewaffnet, stürmte ich in den Laden um die Ecke. Also: Kartoffeln, Tomaten, Mohrrüben … Oder doch keine Mohrrüben? Gut, nehmen wir sie lieber mit, vergammeln werden sie schon nicht.

Natürlich gab es beim Gemüse eine kleine Schlange, schließlich kamen normale Menschen gerade von der Arbeit. Ich stellte mich hinter eine Frau, die trotz Brille ziemlich gut aussah. Sie las ein Buch, Ada für Anfänger. Ob sie am Ende auch in die Tiefe ging? Um sich als Möbelpackerin oder Postbotin etwas dazuzuverdienen …

Eine Frau in der realen Welt anzuquatschen, das gehört sich nicht. Vor allem dann nicht, wenn zu Hause eine geliebte Ehefrau wartet. Nur die virtuelle Welt verzeiht solche Abenteuer.

Abgesehen davon wäre es ziemlich dämlich, eine Frau in einer Schlange für Kartoffeln anzuquatschen.

»Zwei Zitronen«, verlangte sie.

Ich erwischte mich dabei, wie ich sie mit einer Neugier musterte, die überhaupt nicht angemessen war. Und dass mir ihr Einkauf gefiel. Diese Frau musste einfach zwei knallgelbe Zitronen kaufen! Zwei Kilo erdverkrusteter Kartoffeln und ein Kohlkopf – das wäre auf gar keinen Fall gegangen. Jetzt stellte ich mir vor, wie sie in einem Sessel saß, zu dem als unabdingbares Attribut eine Stehlampe gehörte, wie sie Tee mit Zitrone trank und las – und zwar kein Lehrbuch, sondern einen guten Roman. Ein richtig gutes Buch, keine Schundliteratur.

Oder wie die Frau die Zitronen in Scheiben schnitt, sie mit Zucker und gemahlenem Kaffee bestreute, in kleine Schwenker Kognak einschenkte und wartete. Auf einen Mann. Auf mich zum Beispiel.

»Was darf’s sein?«

Und aus war mein Traum.

Der Verkäufer sah mich fragend an. Er war eine komische Erscheinung, ein typischer Vertreter der Intelligenzija, der noch zu Sowjetzeiten im Gemüseladen gelandet war und dort seine Erfüllung gefunden hatte.

»Zwei Zitronen«, sagte ich völlig geistesabwesend.

Die Frau stand noch in der Nähe und stopfte die Zitronen in die Taschen ihrer Jacke.

»Und sonst?« Die Zitronen hüpften auf der Waage, von dort aus flogen sie in meine Tüte.

»Drei Kilo Kartoffeln. Und ein Kilo Paradeiser.«

Was sollte das jetzt schon wieder? Welcher Teufel ritt mich, Tomaten Paradeiser zu nennen? Wollte ich mich hier unbedingt lächerlich machen?!

»Darf es vielleicht auch noch eine andere Wurzelfrucht sein? Oder vielleicht etwas von den Kreuzblütlern? Auch Nachtschattengewächse hätten wir.«

Der Verkäufer behielt seine freundliche und aufgeschlossene Miene bei.

»Das gibt eine Eins in Bio«, murmelte ich. »Noch ein Kilo Gurken, das war’s dann. Danke.«

Als ich bezahlte und den Laden verließ, war die Frau schon weg.

War auch besser so.

Früher wusste ich, dass mir solche Kleinigkeiten bleiben würden, ein interessantes Gesicht, eine komische Szene oder der kuriose Erwerb von zwei Zitronen in einer Schlange für Kartoffeln und Kohl. Denn früher hatte ich ein Haus. Ein großes Haus mit vielen Wohnungen, wenn auch nicht in der realen, sondern nur in der virtuellen Welt. Und in dieses Haus konnte ich jeden x-beliebigen Menschen pflanzen.

Damals hätte ich mich einfach an meinen Computer gesetzt und gesagt: »Vika, geh in die Tiefe!« Dann hätte ich mich an das Gesicht und die Gesten erinnert und all das hinzugefügt, was ich nicht wusste. Auf diese Weise hätte ich die Wohnung eingerichtet, in der diese Frau leben sollte.

Es brachte nichts, der Vergangenheit nachzutrauern. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um eine kleine Wohnung voller Gerümpel handelte, in der sich wochenlang das dreckige Geschirr in der Spüle stapelte, im Kühlschrank nur Tiefkühl-Pelmeni, Würstchen und Bier warteten, und ich mich nur von einem Prinzip leiten ließ, wenn ich ein Hemd aus dem Schrank zog: Es sollte nicht allzu verknittert sein.

Nein, dem trauerte ich wirklich nicht nach.

Pflanzenöl und Wodka wurden in derselben Abteilung verkauft. Ich inspizierte kurz das Angebot. Kristall war besser, Topas billiger. Eine einfache Entscheidung: Ich kaufte beide. Unsere Gäste würden auch was zu trinken mitbringen – aber Wodka kann man nie genug im Haus haben.

Nun konnte ich zurückkehren. Der Algorithmus war durchlaufen, das Programm wurde beendet.

Return.

End.

Mir war schon öfter aufgefallen, dass ich alles, was ich in der realen Welt zu erledigen hatte, gedanklich in Phasen unterteilte, die irgendwie den Zeilen eines simplen Programms entsprachen. Und erst in der Tiefe lebte ich ein normales, alltägliches Leben. Ohne jeden Software-Vergleich.

Vielleicht sollte ich Vika mal davon erzählen, schließlich war das ihr Gebiet. Ihr Kampfplatz. Aber nein … es wäre mir zu peinlich.

Ich verließ das Geschäft und spähte zum Himmel hoch. Graue Wolken. Bald würde es den ersten Schnee geben. Wenn es doch nur schon so weit wäre. Wie heißt es doch so schön? Es gibt nichts Besseres als schlechtes Wetter.

Doch leider war auch das bloß ein Symptom. Ein klares und alarmierendes Symptom. Ich wollte nicht mehr aus der virtuellen Welt raus, ich wollte nicht in der Welt der Menschen leben. Denn hier war es schlecht, hier war es schmutzig und ekelhaft. Manchmal wurde man hier sogar umgebracht.

Doch inzwischen nicht nur hier. Wenn Igel die Wahrheit gesagt hatte …

Erbarme dich, o Herr, der Seele deines Sklaven Bastard, der kein untalentierter Hacker war …

Früher habe ich mich immer gefreut, wenn ich einen Hacker traf. Ich war einer von ihnen, ja, vielleicht stand ich sogar eine Stufe über ihnen. Denn es gab viele Hacker – aber nur wenige von uns Divern. Und wir konnten etwas, das sie niemals hinkriegten.

Aber die Zeiten waren vorbei.

Im Grunde war das nichts Besonderes. Ich war nicht der Erste, den die Gesellschaft nicht mehr brauchte. Wo sind sie denn alle, die Virtuosen an der Setzmaschine? Die Sattler und Glasbläser? Auch sie gehören der Vergangenheit an, treten bloß noch in Bilderbüchern für Kinder, historischen Filmen und Enzyklopädien in Erscheinung.

Von uns dagegen ist nicht mal das geblieben.

11

»Warum klingelst du?«, fragte Vika, nachdem sie mir die Tür geöffnet hatte. Sie hatte eine Schürze umgebunden, an ihren Händen klebte Hackfleisch. Schuldbewusst zog ich den Finger vom Knopf, beinah als sei ich ein Bengel, der beim Klingelstreich erwischt worden war.

»Ich hab meinen Schlüssel vergessen.«

»Bring alles in die Küche!«

Vika kehrte zu ihren Hacksteaks zurück, die erste Fuhre brutzelte bereits in der Pfanne. Ich verstaute das Gemüse im Kühlschrank, legte den Wodka ins Gefrierfach und stellte das Öl auf den Tisch.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte ich.

Vika sah mich aus den Augenwinkeln heraus an. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr. »Nein. Wenn du willst, tauch noch eine Runde. Aber stell dir den Timer auf eine halbe Stunde ein, damit du den Tisch decken kannst.«

Verlegenheit und ein schlechtes Gewissen setzten mir zu – und zogen beide wieder ab.

»Und du brauchst wirklich keine Hilfe?«, versicherte ich mich noch einmal.

»Also, falls du unbedingt darauf bestehen solltest …« Vika ließ den Satz unvollendet. »Na los, geh schon, die Kartoffeln kann ich auch allein schälen.«

»Mhm.« Ich schlüpfte aus der Küche. Den Timer auf eine halbe Stunde. Damit ich anschließend den Tisch decken konnte.

Der Computer erwachte zum Leben, kaum dass ich die Maus berührte. Noch ehe er bereit war, stand ich schon im Sensoranzug da, hatte ich das Kabel in die Schnittstelle am Gürtel gesteckt und den Helm aufgesetzt.

Meine Finger glitten über die Tastatur.

Deep.

Enter.

Der wahnsinnige Regenbogen, dieses Zufallsprodukt von Dima Dibenko, lodert auf den Displays des VR-Helms auf.

Das Deep-Programm, jene chaotische Farbenpracht, all die aufflammenden und erlöschenden Sterne und regenbogenfarbenen Tropfen, die sich über die Displays ausbreiten wie Benzinspritzer auf Wasser – dieses Programm ist der Dreh- und Angelpunkt des Ganzen. Ohne das ist die Tiefe tot. Erst dieses Programm verwandelt die gepixelte virtuelle Welt in eine erkennbare und authentische Realität. Bislang kann niemand erklären, wie die bunten Kleckse auf den Displays das Bewusstsein und das Unterbewusstsein manipulieren, warum das Deep-Programm auf jedem Rechner und mit fast jeder Grafikkarte läuft und warum sich die Details, welche die Menschen sich dazudenken, bei allen Altersgruppen und Kulturen sowie bei beiden Geschlechtern so ähneln. Tausende von Monografien und populärwissenschaftlichen Werken sind bereits zu dem Thema veröffentlicht worden, in Zeitungen und Magazinen erscheinen regelmäßig Artikel, an den Universitäten und in Geheimlabors wurden und werden entsprechende Experimente durchgeführt …

Alles umsonst. Es gibt das Deep-Programm – und das funktioniert. Und es gibt Programme, die praktisch identische Bilder auf den Monitor bringen, bei denen aber rein gar nichts passiert. Ebenso wenig wie irgendjemand erklären kann, warum das Deep-Programm, das auf dem Sehvermögen basiert, tadellos bei Farbblinden wirkt, während es bei Leuten, die von Geburt an taub sind, völlig versagt.

Die Tiefe …

 

Der erste Moment ist immer der schwierigste. Ich stehe vom Stuhl auf, wobei meine Bewegungsfreiheit schon nicht mehr durch die Kabel eingeschränkt wird. Ein Blick nach links, nach rechts …

Ich befinde mich in einem Zimmer in einem billigen Hotel, oder, warum drumherum reden: in einer Absteige aus Sowjetzeiten. Ein Bett, ein Nachttisch, ein Schrank. Ein Tisch mit dem Computer drauf, dazu ein Drehstuhl, das einzige Detail, das nicht zum spartanischen Gesamtbild passt. An der Tür ist ein Briefkasten angebracht, daneben in weiser Voraussicht ein Papierkorb aufgestellt. Durch das Fenster schaue ich auf eine leere und öde Gasse.

»Hallo«, sage ich.

Die Tiefe schweigt. Egal. Wer würde ihr das denn krummnehmen?

Warum bin ich hier? Ausgerechnet jetzt? Während Vika, die gerade von der Arbeit gekommen ist, in der Küche hantiert, um das Essen für unsere Gäste vorzubereiten, die übrigens wirklich unsere Gäste sind, nicht nur ihre. Wenn ich nur eine halbe Stunde habe … Scheiße! Ich habe vergessen, den Timer einzustellen!

Und Vika ist davon ausgegangen, dass ich ihr helfe. Als ich ihr vorhin mit dieser Floskel meine Hilfe angeboten habe, hat sie abgelehnt, okay, aber eigentlich hat sie eben doch damit gerechnet. Zuzugeben, dass du dich wie ein Schwein benommen hast, tut weh. Doch inzwischen kenne ich diesen Schmerz schon. Er ist süß und ekelhaft, wie das Leiden eines Masos.

»Eine halbe Stunde«, gebe ich mir selbst einen Befehl. »Nein, eine Viertelstunde.«

Ich öffne den Briefkasten und gehe die eingegangene Post durch. Ein Dutzend Werbezettel, ein Packen Zeitungen, drei Briefe. Nichts Wichtiges.

Warum verdammt noch mal bin ich überhaupt in die Tiefe gegangen?

Um zu arbeiten?

Quatsch! Dazu ist die Zeit viel zu knapp.

Um meinen Fisch zu essen?

Wozu das, wenn bei mir zu Hause richtiges Fleisch in der Pfanne brutzelt?

Um mit jemandem zu reden?

Aber mit wem? Und vor allem: worüber?

Mit einem Mal fällt mir auf, dass ich mitten im Zimmer stehe, mir auf die Lippe beiße und die Post anstiere, die ich in den Papierkorb geworfen habe.

Was hat mich in die Tiefe gezogen?

Erbarme dich, o Herr, der Seele …

In der Tiefe stirbst du nicht. Okay, es kann zu allen möglichen Unfällen kommen. Ein schwaches Herz setzt vielleicht angesichts der Belastung aus. Wenn jemand auf die geniale Idee kommt, die Sicherheitsvorkehrungen auszuschalten, kann er sich selbst bei einer fiktiven Wunde einen Schmerzschock holen. Aber das dürfte bei einem keineswegs untalentierten Hacker ausscheiden.

Bleibt die Frage, warum ich mich an dieser Geschichte so festbeiße.

Ein Hacker dringt in eine gut geschützte Firma ein. Er fliegt auf und stirbt in der Tiefe. Doch dann stirbt er auch in der realen Welt … Vielleicht haben ihn ja irgendwelche angeheuerten Schläger extrem schnell gefunden und direkt an der Kiste erledigt, noch in Helm und Sensoranzug. Ja, so muss es gewesen sein. Er ist nicht der Erste und nicht der Letzte, der für seine virtuellen Sünden von höchst realen Glatzköpfen eins vor den Latz gekriegt hat.

Trotzdem gibt es da noch was, das mir keine Ruhe lässt …

Ich öffne die Tür, trete in den Gang des Hotels hinaus und sehe mich um. Der graue, unscheinbare Körper des Bikers taugt nur für schnelles Fortkommen im Straßenverkehr. Jetzt brauche ich etwas anderes.

Falls ich es denn brauche …

Ich stehe gegen die Wand gelehnt da, die in tristem Grün gestrichen ist. Solche Farbe haben die Klos in billigen Wohnsilos. Der Anstrich zeigt Nasen, hier und da blättert er auch ab. Die Glühbirnen unter der Decke sind trüb und staubig. Das Hotel hat schon bessere Zeiten gesehen, denn die meisten User begeben sich heute von ihrer eigenen Wohnung aus in die virtuelle Welt, nicht mehr von einem Schweinestall wie diesem aus.

Warum tu ich mir das an?

»Geht es Ihnen nicht gut?«

Ich drehe mich um. Der Concierge der Etage hat sich lautlos genähert. Trotzdem gab es einmal Zeiten, da hätte ich ihn bemerkt …

»Doch, es ist alles in Ordnung.«

Er sieht absolut standardmäßig aus, Typ »aufmerksamer Beamter«. Auf der Arbeit darfst du zwar in einem selbstdesignten Avatar erscheinen, viele bevorzugen aber dennoch eine Standardausführung, vor allem wenn der Job stinklangweilig und blödsinnig ist. Zum Beispiel der eines Möbelpackers, Verkäufers oder Hotelangestellten.

»Sind Sie das erste Mal in der Tiefe? Brauchen Sie Hilfe?«

»Nein, danke, es ist wirklich alles okay.«

Daraufhin gibt er sich zufrieden und zieht mit einem Nicken ab. Es gehört sich nicht, die Gäste zu nerven, zumindest das hat das Hotelpersonal inzwischen begriffen.

Mich zum nächsten Schritt aufzuraffen fällt mir schwer. Extrem schwer. Trotzdem stapfe ich den Gang hinunter, wobei ich die Nummern, die schief an den Türen befestigt sind, im Blick behalte.

Da! 2008.

Ich ziehe vorsichtig an der Klinke – und wundere mich überhaupt nicht, dass nicht abgeschlossen ist, frei nach dem Motto, bitte einzutreten und es sich bequem zu machen.

Aber was hatte ich denn erwartet? Dass mir das Hotel ein Zimmer, für das ich schon seit einem Jahr nicht mehr zahle, frei hält?

Weiter!

2017.

Die Tür ist abgeschlossen.

Das heißt noch gar nichts. Ich habe es zwar fünf Jahre im Voraus bezahlt – aber mit einer gefälschten Kreditkarte. Vielleicht ist das Hotel also längst dahintergekommen, dass es das Geld für dieses Zimmer von seinem eigenen Konto abbucht.

In dem Fall hat also möglicherweise gerade ein anderer User das Zimmer gemietet. Oder das Hotel hat die Polizei eingeschaltet – und ich bräuchte nur die Tür aufzumachen, und schon würde ich in die Falle tappen.

Während ich diese Möglichkeiten in Gedanken durchspiele, machen sich meine Hände selbstständig. Sie tasten nach der Tür, schieben die Abdeckung über dem Zahlenschloss zur Seite und wandern über die Tasten.

Ein Code aus zwölf Ziffern. Ich erinnere mich nicht mal an ihn, aber meine Finger schon. Ganz kurz zögere ich noch, dann drücke ich auf Enter.

Im Schloss knackt es, die Tür öffnet sich.

Der Raum sieht fast genauso aus wie jenes Zimmer, das ich zurzeit im Hotel benutze. Nur das Bild an der Wand durchbricht die billige Standardgemütlichkeit. Das ist nämlich nicht die übliche Reproduktion alter Meister, die in der Tiefe so gern an die Wände gepappt wird. Kein Aiwasowski, Schischkin oder Dalì.

Ich stehe an der Schwelle und kämpfe mit meinen Gefühlen. Irgendwo in meiner Brust tickt erbarmungslos ein Metronom.

Ist das ein Hinterhalt? Oder ist das Zimmer sauber?

Das Polizeirevier liegt genau gegenüber dem Hotel. Ein, zwei Minuten – mehr bräuchten die nicht, um hier zu sein.

Im Gang ist nach wie vor alles ruhig und leer. Noch ist keine Wache aufgetaucht. Seit zwei Jahren benutze ich nun diese leicht fragwürdige Kreditkarte, und noch ist mir niemand auf die Schliche gekommen. Maniac hat gute Arbeit geleistet, da kann man wirklich nicht meckern.

Dann mal rein!

Mit einem Mal kapiere ich, dass ich das nicht packe, dass mir dazu einfach die Kraft fehlt.

Dieses Zimmer zu betreten ist, als blättere ich in einem alten Fotoalbum oder als würde ich einen halbvergessenen Film in den Videorecorder schieben. Das hier ist die Vergangenheit. Und die ist tot. Begraben, beheult und vergessen.

Du solltest deinen Weg nie zweimal gehen – denn da lauern nur Schatten.

Die Tiefe bietet dir jedoch die Möglichkeit, geradezu leichten Schrittes in die Vergangenheit zurückzukehren. Sie lässt diese authentischer und farbenprächtiger aufleben als jedes Foto, als jedes Video. Das Gestern wartet hier stets um die Ecke. Wünsch es dir herbei, und schon wird es wieder lebendig.

Nur dass es allein Gott vorbehalten ist, die Toten aus ihren Gräbern zu holen.

Vorsichtig und behutsam, als fürchte ich, jemanden zu wecken, der in dem leeren Zimmer schläft, schließe ich die Tür wieder. Das Schloss klackert enttäuscht und rastet ein. Obwohl mich nur zwanzig Schritt durch den Hotelflur von meinem anderen Zimmer trennen, bringe ich nicht einen davon zustande.

Tiefe, Tiefe … verpiss dich doch …

 

Ich nahm den Helm ab und hängte ihn an einen Haken, den ich irgendwann mal an der Wand angebracht hatte. »Schließe das Programm, du alte Kiste«, murmelte ich.

Okay, jetzt musste ich mich umziehen. Es wäre eine grobe Unhöflichkeit, unsere Gäste in einem Sensoranzug zu begrüßen, der wie der Aufzug eines verrückten Professors in einem Hollywoodschinken aussah. Ich zog mich bis auf die Unterhosen aus, faltete den Sensoranzug akkurat zusammen und legte ihn auf das Fensterbrett neben dem Computertisch. Ein Blick ins Wohnzimmer: Der Tisch war bereits gedeckt. Ich lauschte. In der Küche war alles still.

»Vika?«, rief ich.

»Ich bin im Schlafzimmer. Hast du etwa schon Schluss gemacht? «

Ich ignorierte die übertriebene Verwunderung in ihrer Stimme und stiefelte ins Schlafzimmer. Vika war gerade dabei, sich umzuziehen.

»Kannst du mir mal helfen?«, bat sie.

Ich zog den Reißverschluss ihres Kleides nach oben. Vika hatte sich wirklich herausgeputzt und sogar die Haare hochgesteckt.

»War ich zu lange weg?«, fragte ich leise, wobei ich mein Gesicht in ihr Haar grub.

»Nein«, erwiderte sie schulterzuckend. »Es waren ja nur vierzig Minuten.«

»Tut mir leid. Ich habe geglaubt, es sei höchstens eine Viertelstunde. «

»Macht ja nichts, außerdem habe ich eigentlich noch später mit dir gerechnet.«

Ich rührte mich nicht, blieb mit den Händen auf ihren Schultern stehen.