Der falsche Vermeer - Patrick van Odijk - E-Book
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Der falsche Vermeer E-Book

Patrick van Odijk

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Beschreibung

Ein unbekanntes Gemälde Vermeers und eine junge Reporterin auf der Jagd nach der Story ihres Lebens Nach der Befreiung der Niederlande 1945 herrscht ein Klima des Aufbruchs. Jetzt sind neue Stimmen gefragt: So wie die der Reporterin Meg van Hettema, die ihren Mut schon im Untergrund unter Beweis gestellt hat und sich jetzt keineswegs mit dem Schreiben von harmlosen Alltagsgeschichten zufrieden geben will. Bei Recherchen stößt sie auf den brisanten Fall des Malers Jan van Aelst, dem vorgeworfen wird, niederländische Kunst an Nazis verkauft zu haben. Doch van Aelst besteht darauf, die Nazis in Wahrheit raffiniert ausgetrickst zu haben. Um sich in diesem Labyrinth aus Geheimnissen zurechtzufinden, braucht es einen unbestechlichen Blick, Hartnäckigkeit und keine Scheu vor Autoritäten – genau die  Qualitäten, für die Meg steht. Basierend auf einer wahren Begebenheit erzählt Patrick van Odijk nicht nur von einem der größten Kunstskandale der Nachkriegszeit, sondern vermittelt auch einen Einblick in die faszinierende Welt der Malerei, Fälscherwerkstätten und Zeitungsredaktionen. »In seinem Debütroman vermischt Patrick van Odijk äußerst klug und spannend Fakten und Fiktion über den Meisterfälscher Han van Meegeren, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einem viel beachteten Prozess gestand, mehrere ›Vermeers‹ gemalt zu haben.« Jan Pieter Ekker | Het Parool Amsterdam (über die niederländische Ausgabe)

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Patrick van Odijk

Der falsche Vermeer

Für Sonia

Inhalt

1. Teil: Christus & die Ehebrecherin: Mai, Juni 1945

1. Jan van Aelst

2. Die Reporterin

3. Der Kapitein

4. Die Pommesbude

5. Das Bambi

6. Der Scoop

7. Das Tagebuch des Malers

8. Der Freund

9. Der Kronzeuge

10. Christus und die Ehebrecherin

2. Teil: De Waarheid: Juli 1945

1. Sergeant O’Connor

2. De Waarheid

3. Josephine

4. Nelly

5. Schatten der Vergangenheit

6. J. A. van den Berg

7. Die Erkenntnis

8. Grandcafé Wildschut

9. Die Entscheidung

10. Der Plan

11. In medias res – I

12. Abraham Bredius

13. In medias res – II

12. Epilog

Anmerkung

Danke

Allein dadurch, dass jemand für ein Bild so viel bezahlt, wird es echt.

Martin Suter, „Der letzte Weynfeldt“

1. Teil

Christus & die Ehebrecherin

Mai, Juni 1945

1. Jan van Aelst

Jan van Aelst hatte sich Schuhe und Socken ausgezogen. Seine Füße juckten. Sie brannten. Als ob er durch einen Ameisenhaufen gelaufen wäre. Manchmal kribbelten auch die Handgelenke oder die Wirbelsäule. Dann wieder die gesamte Kopfhaut oder ein Ellbogen. Gerade eben hatte er sich bei einem Schweißausbruch Jacke, Pullover und Hose vom Leib gerissen, obwohl es kalt und feucht in der Zelle war. Kaum saß er aber nur noch in Hemd und Unterhose auf der Pritsche, begann er zu frieren. Also zog er sich langsam wieder an. Er wusste nicht, wie lange er es noch aushalten würde. Ohne Zigaretten, Schnaps und Morphium war jeder Tag die Hölle. Aber er musste durchhalten. Sie konnten ihm nichts beweisen. Als er wieder in die Jacke schlüpfte, entdeckte er ein Loch in der rechten Tasche. Er bohrte mit einem Finger darin herum und entdeckte einen Bleistiftstummel. Schnell kramte er ihn hervor. Jetzt müsste er nur noch Papier auftreiben. Aber das war aussichtslos. Sie würden ihm keines geben. Van Aelsts kurze Freude verwandelte sich wieder in Trübsinn. Dass er hier nicht zeichnen konnte, traf ihn ebenso schwer wie der Entzug von Zigaretten, Schnaps und Morphium. Er starrte an die Wand. Er könnte auf den Putz malen. Aber das würden sie entdecken und ihm den Stift wegnehmen. Wie zu Hause als kleines Kind, wenn sein Vater ihn beim Zeichnen erwischt hatte. Dem lieben Gott die Zeit stehlen, hatte es der Vater genannt. Da bemerkte er, dass die Wand mit dicker, leinölhaltiger Farbe gestrichen war, die an manchen Stellen abblätterte. Vorsichtig schob er den Fingernagel unter eine der Platten und schaffte es, ein handtellergroßes Stück zu lösen. Es war stabil genug, um darauf zeichnen zu können. Während er sofort mit eiligen Strichen ein Selbstporträt skizzierte, lachte er leise vor sich hin. Er würde sie ebenso betrügen wie einstmals seinen Vater. Er betrachtete die Zeichnung.

Ein ausgemergelter, alter Mann mit traurigen Augen. Die rechte Hand kratzte an der Schläfe. Sah er derzeit wirklich so aus? Er hatte keinen Spiegel und brauchte auch keinen. Er kannte sein Gesicht auswendig und hatte seinen Gram mit hineingemalt. Das Bild würde stimmen. Eine schnelle Zeichnung. Aus dem Kopf, aus der Vorstellung heraus. Das war schon immer sein größtes Talent gewesen.

Vorsichtig wickelte er die bröckelige Putzplatte in sein Taschentuch und steckte sie in die Brusttasche seines Jacketts. Er legte sich wieder auf die Pritsche und starrte zu dem vergitterten Fenster hoch oben unter der Zellendecke. Eine Luke, hinter der man nicht viel entdecken konnte. Keine Häuser. Keine Straßen. Keine Grachten und Bäume. Keine Menschen. Nur Schwarz, Grau, Blau. Nein, auch kein Blau. Der Himmel über Holland ist nie wirklich blau, dachte van Aelst. Höchstens blau-grau, und es gibt immer ein paar Wolken. Keiner würde in diesem Loch jemals zum Maler werden. Nicht einmal der große Wolkenkünstler Jacob van Ruisdael hätte hier eine Inspiration erlebt. Zwei Drittel Himmel, ein Drittel Horizont. Sein Patentrezept. Jan van Aelst lachte bitter. Vorsichtig holte er wieder das kleine Selbstporträt aus seiner Brusttasche hervor.

Er sah schrecklich aus. Ihm standen die Haare zu Berge. Müde Augen. Ein herunterhängendes Lid. Falten auf der Stirn und tiefe Kerben neben der Nase über dem schiefen Mund. Jan van Aelst war mit der Zeichnung zufrieden. Wie lange halte ich das noch aus, fragte er sich. Zwei mal drei Meter maß die Zelle. Gegenüber dem Gitterfenster war die verschlossene Tür. Was soll er ihnen sagen, damit sie ihn endlich rausließen? Seine Geschichte war gut. Warum glaubten sie ihm nicht? Er war verzweifelt. Auch die Wahrheit würde ihm nichts nützen. Sie war unvorstellbar. Er saß in der Falle.

Dabei hatte der Tag seiner Verhaftung so gut begonnen. Es war ein kalter, verregneter Morgen im Mai 1945. Er hatte den Kamin angezündet. Er war allein und nüchtern. Er hatte einen Plan. Einen Wunsch. Er wollte seine frühere Frau Josephine zurückgewinnen. Sie teilten sich das Haus in der Keizersgracht, lebten aber in getrennten Wohnungen. Bei einer ihrer flüchtigen Begegnungen in der Eingangshalle hatte sie ihm gesagt, dass er doch ihretwegen nicht auf seine gepflegten Hausabende mit Champagner und nackten Mädchen verzichten müsse. Immerhin seien sie ja geschieden. Ihr Spott und ihr Stolz hatten ihn verletzt. Aber er glaubte ihr nicht. Er deutete ihren Sarkasmus als Zeichen der Verletzung und vermutete, dass auch sie unter der Trennung litt. Er hatte geantwortet, man müsse abwarten, wie sich die neuen Zeiten entwickelten. Dann hatte er ein paar furchtbar lange und einsame Tage vergehen lassen, bis er endlich den Mut aufbrachte, sie zu einem Dinner bei sich einzuladen. Sie hatte zugesagt. Genau für den Tag, an dem dieser Kapitein Rosendahl an der Haustür klopfte.

„Jan van Aelst, der Kunstmaler?“ Vor ihm stand ein kleiner Mann mit einem viel zu großen, abgegriffenen Borsalino auf dem Kopf. Neben ihm ein junger, kräftiger Adjutant mit geschultertem Karabiner.

„Ja, der bin ich.“ Van Aelst fühlte sich ertappt. Er trug einen Bademantel und schmale Lederpantoffeln und war nur zur Tür gegangen, weil er dachte, es wäre der Lieferant mit ein paar Leckereien.

„Kapitein Rosendahl, im Auftrag der Militärverwaltung. Dürfen wir reinkommen?“

„Nein, lieber nicht. Warum?“

„Unsere Einheit sucht jetzt, wo der Krieg vorbei ist, nach niederländischem Vermögen und allen möglichen Sachen, die während der Nazi-Besatzung geraubt und meist ins Ausland gebracht worden sind. Also Geld, Diamanten, Gold, Schmuck, Antiquitäten und Kunst. Da haben wir ein paar Fragen an Sie.“

„An mich? Ich bin Niederländer und habe nichts geklaut. Aber bitte. Dann kommen Sie, hier entlang.“ Van Aelst führte sie durch eine große Halle in seinen Salon. „Bitte entschuldigen Sie mich kurz, ich möchte mir schnell etwas anziehen. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Genever?“

Der kleine Mann nickte.

Van Aelst eilte in sein Schlafzimmer und schlüpfte in eine feine graue Gabardinehose. Er zog einen dünnen dunkelblauen Pullover über sein beiges Hemd und schob ein seidenes Halstuch mit Paisleymuster in den Kragen. Was wollte dieser Polizist? Er zitterte. Ruhig bleiben. Lass dir nichts anmerken, sagte er sich. Es würde ihm nicht leichtfallen, denn er litt unter Verfolgungswahn. Eine Folge seiner Trinkerei und der Drogen hatte der Hausarzt gesagt. Er ging in die Küche und stellte eine Flasche Genever und kleine Gläser auf ein Tablett. Schnell kippte er zwei Schnäpse, um sich zu beruhigen.

Kapitein Rosendahl hatte sich derweil im Wohnzimmer umgesehen. Die hohen Wände des Salons hingen voller Bilder, meist düster wirkende Ölgemälde. Rosendahl erkannte etliche alte Meister darunter.

Van Aelst stellte das Tablett auf einen zierlichen Jugendstiltisch, dessen Marmorplatte auf geschmiedeten Lilien ruhte. Er schenkte ein und reichte Rosendahl ein Glas.

„Zum Wohl.“ Der Maler kippte den Schnaps in einem Zug hinunter. „Darf ich Ihnen noch einen einschenken?“

Rosendahl nickte, streckte ihm das Glas entgegen und zeigte mit der anderen Hand auf die Wände. „Eine schöne Sammlung haben Sie da. Muss ein Vermögen wert sein.“

„Wenn man Künstler ist, ergibt sich das von selbst. Man stößt immer wieder auf das eine oder andere Bild.“

„Sie handeln auch mit Kunst?“

„Gelegentlich.“

„Sind Sie deshalb so reich?“

„Ich komme zurecht.“

„Sie sind gut durch den Krieg gekommen.“

„Ich habe vor der Besatzung lange in Frankreich gelebt und dort viele Aufträge von reichen Amerikanern und Briten bekommen. Ich hatte auch etwas Glück beim Lotteriespiel. Ein gutes Händchen, wie man so sagt.“ Van Aelst versuchte zu lächeln. „Sie haben mir noch nicht verraten, weshalb Sie gekommen sind?“

Kapitein Rosendahl betrachtete ein Ölgemälde. Es war das dunkle Porträt eines reichen Mannes im typischen Stil des 17. Jahrhunderts. Ein Pfeffersack. Das rosige Gesicht eingezwängt zwischen Hut und steifem weißen Stehkragen. Sein Blick war streng und selbstverliebt.

„Ein Terborgh. Terborgh, der große Maler meiner Heimatstadt Deventer. Deshalb musste ich es haben. Aber viele solcher Bilder kann ich mir natürlich nicht leisten.“

„Aber Sie haben schon mehr solche wertvollen Gemälde entdeckt?“

„Ja sicher.“

„Und genau deshalb sind wir hier. Uns interessiert Ihr Kunsthandel.“

„Es ist lange her, dass ich Bilder verkauft habe. Der Krieg war schlecht fürs Geschäft.“

„Nicht, wenn man mit Nazis Geschäfte machte. Der Führer und sein Reichsmarschall Göring waren doch ganz verrückt nach Kunst, speziell alten Meistern aus den Niederlanden.“

„Ich habe davon gehört. Aber das meiste haben sie doch einfach geklaut. Außerdem hätte ich niemals mit den Nazis Geschäfte gemacht. Ich bin ein guter Niederländer.“

„Das hören wir oft in dieser Zeit, und dann stellt sich heraus, dass viele dieser ‚guten Niederländer‘ doch zwischendurch auf der ‚falschen Seite‘ standen.“

„Bei mir war das sicher nicht der Fall. Wenn Sie sonst keine Fragen haben, bitte ich Sie zu gehen. Ich erwarte Besuch.“

„Wir haben Ihnen noch gar keine Fragen gestellt.“

„Gut, dann beginnen Sie.“

„Die Amerikaner haben Görings Kunstschätze entdeckt. Darunter ist ein ganz besonders prächtiges Gemälde von Vermeer.“

„Ein Vermeer? Kaum zu glauben. Es gibt nur wenige und die sind meines Wissens alle im Besitz von Museen oder einigen Privatsammlern. Wem hat er das Bild gestohlen?“

„Das ist ja das Eigenartige an der Geschichte. Das Bild ist unbekannt. Es taucht in keinem Werkverzeichnis auf. Außerdem hat Göring es ganz offiziell gekauft. Hier in Amsterdam. Für die unglaubliche Summe von 1 650 000 Gulden.“

Van Aelst schenkte sich einen weiteren Genever ein. Fragend hielt er die Flasche in die Luft. Rosendahl winkte ab.

„Eine Kunstkommission der Alliierten versucht, bei sämtlichen Kunstschätzen, die sie bei den Nazis entdecken, die früheren Besitzer zu ermitteln. Die Nazis sind ihnen dabei indirekt behilflich. Gründlich wie die Deutschen nun mal sind, haben sie genau Buch geführt, was woher kommt. Der Kurator von Görings Kunstsammlung, ein gewisser Walter Hofer, hat bei seiner Flucht eine Liste mit den gestohlenen Kunstwerken verloren. Leider ist er den Amerikanern entwischt. Auf dieser Liste taucht das Bild auf. Es hat den Namen: Christus und die Ehebrecherin. Kennen Sie das Gemälde?“

Van Aelst war zu einer geschnitzten Kommode im Kolonialstil gegangen. Darauf stand eine Holzkiste mit Zigarren. Er spürte die Hitze in seinem Körper. Er umklammerte das Kistchen mit beiden Händen, als er auf Rosendahl zuging und es öffnete. Rosendahl nahm sich eine kleine Zigarre aus Java. Van Aelst steckte sich auch eine in den Mund und stellte die Kiste ab. Er zündete ein Streichholz an und bemerkte, wie der Kapitein auf seine zitternde Hand starrte.

„In der Tat. Ich kenne das Bild. Ich habe den Verkauf an einen Kunsthändler selbst vermittelt.“

Rosendahl zog an seiner Zigarre. „An den deutschen Bankier und Kunsthändler Alois Miedl.“

„Nein. Ich kenne keinen Miedl.“ Van Aelst lief erregt paffend durch den Salon. Der Adjutant an der Tür hielt demonstrativ den Karabiner vor die Brust.

„Ich habe es an einen seriösen niederländischen Kunsthändler vermittelt. Wie es Göring in die Hände gekommen ist, weiß ich nicht.“

„Wie ist der Name des Kunsthändlers?“

„Diese Geschäfte werden diskret abgewickelt.“

„Wir kennen ihn. Rinus van Rijnstra ist weniger diskret.“

Der Maler setzte sich auf einen Stuhl und tupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch. Er schwieg.

„Sehen Sie, wir wollen nur den früheren Besitzer des Bildes finden, um es ihm zurückzugeben und die Umstände des Verkaufs aufzuklären. Denn selbst wenn Göring das Bild für ein Vermögen gekauft hat, war es trotzdem nicht rechtmäßig. Aus Hofers Aufzeichnungen geht hervor, dass ihm das Bild von Miedl angeboten wurde. Der wiederum aber hatte es von van Rijnstra. Von Ihnen war bis dahin keine Rede. Aber als wir van Rijnstra befragten, da hat er uns Ihren Namen genannt. Sie hätten ihm das Bild vermittelt.“

Van Aelst schüttelte ungläubig den Kopf.

„Dieser van Rijnstra. Ich hatte ihm ausdrücklich gesagt, dass er das Bild keinesfalls an die Nazis verkaufen dürfe. Außerdem kein Wort über mich als Vermittler. Man kann wirklich niemandem mehr trauen.“

„Warum keine Geschäfte mit den Nazis, wenn sie gut bezahlen?“

„Wenn sie bezahlen, Herr Kapitein. Schon vergessen? Sie waren unsere Besatzer. Normalerweise haben sie sich genommen, was sie wollten. Außerdem war es der ausdrückliche Wunsch der Familie, die sich von dem Gemälde trennen musste. Keine Nazis.“

„Was für eine Familie? Warum hat sie sich von dem Kunstwerk getrennt?“

Van Aelst zuckte mit den Schultern. „Sie werden ihre Gründe gehabt haben. Ich habe nicht gefragt.“

„Weshalb nicht?“

„Weshalb nicht?“ Der Maler erhob sich von seinem Stuhl und sah Rosendahl spöttisch an. „Weil man nicht nachfragt, wenn man einen Vermeer bekommen kann.“

„Wie viel haben Sie an dem Bild verdient?“

„Es hat kaum meine Unkosten gedeckt. In diesem Fall ging es vor allem darum, den Besitzern zu helfen.“

„Waren es Freunde? Oder warum haben Sie sich ein fettes Honorar entgehen lassen?“

„Das geht Sie nichts an.“

„Aber bestimmt würden die Besitzer sich freuen, das Bild zurückzubekommen.“

„Warum? Sie haben es zu einem guten Preis verkauft.“

Rosendahl zerdrückte seine Zigarre in einem großen Aschenbecher aus schwarzem Marmor.

„Verdammt. Jetzt nennen Sie uns endlich die Besitzer des Bildes.“

„Es tut mir leid, das kann ich nicht. Ich habe es versprochen.“ Van Aelsts Stimme zitterte. Er machte eine kleine Pause. „Soviel nur: Es ist eine alte niederländische Familie mit jüdischen Wurzeln. Vor Jahrzehnten haben sie Den Haag verlassen und sind an die italienische Riviera umgezogen. Nach San Remo. In die Nähe der französischen Grenze. Sie hatten etwas Pech. Schlechte Geschäfte, der Erste Weltkrieg, Todesfälle. Einige Zeit konnten sie von ihrem Vermögen leben. Dann war auch das aufgebraucht. Da erinnerte sich die Großmutter an einen Packen aufgerollter Gemälde, den sie damals aus den Niederlanden mitgenommen hatten. Aber sie wurden in Italien nicht aufgehängt, weil die Kunst nicht zur Landschaft und zum Stil Italiens passe. Das hatte die damalige junge Hausherrin entschieden. Das klingt unglaublich, aber es gibt solche Banausen, die einen Vermeer und andere Kunstwerke auf dem Dachboden verkommen lassen.“

„Wo kommen Sie dabei ins Spiel?“

„Ich lebte damals in ihrer Nähe, in Nizza. Ich war bekannt als Kunstmaler und Kunsthändler. Ich war ein Landsmann. Zu mir hatten sie Vertrauen. Ich habe sie nicht enttäuscht. Ich habe ein, zwei Bilder gut verkauft. Genug, dass sie davon eine Weile leben konnten. ‚Der Vermeer ist eure Lebensversicherung‘, habe ich der Familie immer wieder gesagt. Tatsächlich erreichte mich dann, als ich schon wieder in den Niederlanden wohnte, ein Brief ihres Anwaltes in Frankreich. Die Familie, die sich aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln vor Mussolinis Faschisten nicht mehr sicher fühlte, wolle in die USA auswandern. Aber es fehle das Geld. Sie wollten den Vermeer verkaufen. Offiziell ging das nicht, weil ein Gesetz in Italien den Verkauf solcher Kunstschätze untersagte. Zudem befürchtete die Familie zu Recht, dass man ihnen das Bild einfach wegnehmen würde. Über ein paar alte Freunde konnte ich den Schmuggel des Bildes nach Frankreich organisieren und ließ es in einer Bank deponieren. Dort wurde es von einigen Experten und Kaufinteressenten begutachtet. Das geschah alles anonym. Der Name der Familie tauchte nicht auf. Ich hatte für sie ein Treuhandkonto eingerichtet. Um den Rest hat sich dann van Rijnstra gekümmert. Auch er wusste nicht, woher das Bild stammte. Ich war froh, dass es so gut verkauft wurde und die Familie Italien verlassen konnte. Vermutlich in die USA, aber ich habe nichts mehr von ihnen gehört.“

„Van Rijnstra sagt, Sie hätten das Bild persönlich in seine Galerie gebracht, wo er es Miedl und Hofer zeigte.“

„Er lügt, um sich selbst zu retten. Er hat das Bild an Miedl oder an Hofer verkauft. Nicht ich.“

„Sie würden uns und sich selbst sehr helfen, wenn Sie den Namen der Familie nennen. Die könnten dann bestätigen, dass Sie das Bild nicht gestohlen haben.“

Van Aelst ging auf Rosendahl zu und fuchtelte mit seiner glühenden Zigarre vor dessen Gesicht herum. „Das ist eine böse Unterstellung! Ich wünschte, die Familie könnte Ihnen die richtige Antwort geben. Aber es war ihr ausdrücklicher Wunsch, anonym zu bleiben. Daran werde ich mich halten.“

Rosendahl schien nachzudenken.

„Wir werden Sie mitnehmen müssen.“

„Das dürfen Sie nicht. Ich habe nichts getan.“

„Wir müssen ein Protokoll schreiben.“

„Ich komme morgen zu Ihnen auf die Polizeiwache. Aber heute erwarte ich Besuch.“

„In der Tat, und ich wusste nicht, dass du bereits Gäste hast.“

Eine großgewachsene, schlanke Frau stand in der geöffneten Tür. Josephine.

Der Adjutant trat zur Seite, um ihr Platz zu machen. Dabei starrte er erst sie und dann ein großes Ölgemälde über dem Kamin an. Josephine trug, wie auf dem Bild, ein kniefreies nachtblaues Cocktailkleid und zog abwartend an einer langen Zigarettenspitze.

Van Aelst eilte auf sie zu und nahm sie an der Hand. „Es sind keine Gäste. Sie sind von der Militärverwaltung und interessieren sich für ein Bild, das ich an van Rijnstra vermittelt habe. Aber ich kann ihnen nicht weiterhelfen. Also, meine Herren.“ Der Maler deutete auf die Tür.

Rosendahl ignorierte die Geste. Stattdessen betrachtete er Josephine und dann erneut das Gemälde über dem Kamin. „Sind Sie sein Modell?“

„Früher, ja. Als ich noch seine Frau war. Jetzt sind wir geschieden. Und wer sind Sie?“

„Kapitein Rosendahl. Ich fürchte, Sie müssen ihre heutige Verabredung verschieben. Van Aelst, ich fordere Sie auf, uns in die Weteringschans zu begleiten.“ Rosendahl sah dabei zu seinem Adjutanten, der das Gewehr schulterte, auf den Maler zuging und ihn kräftig am Arm packte.

Van Aelst versuchte, sich loszureißen. „Was soll das? Wollen Sie mich verhaften?“

„Zunächst wollen wir Ihre Aussage protokollieren. Vielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein.“

„Sie werden von mir nichts Neues erfahren. Josephine, es tut mir leid.“

„Es ist kein Problem, Jan. Ich habe schon so oft auf dich gewartet.“ Es klang spöttisch. Mit kurzen, schnellen Schritten verließ sie das Zimmer und eilte das Treppenhaus hinauf.

Und so war er in seine momentane Misere geraten. Eingesperrt in der Weteringschans bis, so hatte ihm Rosendahl gedroht, er den Namen der Familie, die den Vermeer verkauft hatte, preisgeben würde. Van Aelst war verzweifelt, denn er konnte der Polizei niemals den Namen der Familie geben. Sie hatten Recht in der Annahme, dass er ihnen etwas verheimlichte, auch wenn die Wahrheit über das Bild sie überraschen würde. Dennoch konnte er diese Wahrheit niemals preisgeben. Also würde sie ihn weiter verdächtigen, und so wie die Stimmung derzeit im Land war, bestimmt bald wegen Kollaboration verklagen. Er würde zu den ‚falschen Niederländern‘ gehören, und mit denen ging man nicht zimperlich um. Van Aelst wusste, dass er in höchster Gefahr war.

2. Die Reporterin

Margriet van Hettema, die von ihren Eltern Rita, von ihren Freunden aber Meg genannt wurde, hatte sich für einen engen schwarzen Rock entschieden. Er bedeckte nur knapp ihre Knie. Dazu trug sie eine kakifarbene Militärbluse, deren aufgesetzten Brusttaschen ihre Figur betonten. Für die echten Nylons hatte sie auf dem Schwarzmarkt eine ganze Stange Chesterfield geopfert. Sie hoffte, dass die Investition sich beim geplanten Besuch im Café Lessing auszahlen würde.

Das beliebte Art-déco-Lokal war während der Besetzung wegen seines deutschen Namens von Nazis bevölkert worden. Jetzt war es Treffpunkt kanadischer Offiziere, Mitgliedern der Militärverwaltung und der niederländischen Übergangsregierung. Unter Führung des Generalmajors Kruls bestand sie vor allem aus früheren Regierungsbeamten und Vertretern der Wirtschaft wie von Philips und Shell. Meg schlüpfte in Pumps mit nicht allzu hohen Absätzen und einen abgetragenen Trenchcoat, den sie mit einem Gürtel um die Taille festzurrte. Sie wusste, dass viele der neuen Gäste im Lessing brave und biedere Männer waren. Doch im Krieg, fern der Heimat und Familie, waren manche einem Rendezvous nicht abgeneigt. War man aber zu aufgedonnert, wurde man noch vor der Tür des Cafés von der Militärpolizei abgewiesen. Meg betrachtete sich noch kurz im Spiegel. Das knapp schulterlange, dichte schwarze Haar fiel ihr ins Gesicht, wenn sie es nicht, wie jetzt, hinter die Ohren steckte, um eine Baskenmütze aufzusetzen. Unter dem ausgefransten Pony und stark geschwungenen Augenbrauen lagen tiefe, blaugraue Augen. Sie hatte eine leichte Stupsnase und blassrote Lippen. Meg verzichtete auf jegliche Schminke. Schließlich sollte ihre Aufmachung nur die Eintrittskarte in den exklusiven Offiziersclub sein. Sie war nicht auf Geld aus, sondern auf Informationen. Meg war Reporterin bei der Zeitung Het Parool und brauchte dringend eine gute Geschichte.

Ein freundlicher, gut aussehender Sergeant hatte sie auf die Idee mit dem Offiziersclub gebracht. Von ihm besaß sie noch eine weitere Stange Chesterfield und eine angebrochene Flasche kanadischen Whisky. An einem der ersten warmen Tage des Jahres hatte sich Meg in der lauen Luft, unter den wenigen blühenden und duftenden Bäumen entlang der Amsterdamer Grachten, die den Krieg überlebt hatten, verführen lassen. Hinter ihr lag ein langer Hungerwinter. Kälte und Schnee hatten dem Frühling lange keine Chance gelassen. Es war, als hätte die Natur in den nördlichen Niederlanden in einer Verzweiflungstat beschlossen, so lange innezuhalten, bis die deutschen Besetzer endlich das Land verlassen hatten. In den letzten Wochen vor der Kapitulation waren noch Tausende an Hunger und Schwäche gestorben. Jetzt, nach der Befreiung, kehrte mit der wiedererrungenen Freiheit und trotz andauernder Not auch die Leichtigkeit der Liebe in die Stadt zurück.

Der Sergeant war eines Tages als Begleiter eines hohen kanadischen Offiziers in die Redaktion gekommen. Sie hatten echten Bohnenkaffee, Schokolade, Whisky und Zigaretten mitgebracht und sahen sich schnell von einer kleinen Runde ausgemergelter Reporter und Redakteure umzingelt. Meg gehörte als einzige Frau dazu. Nach vier Jahren im Untergrund und der andauernden Angst, erwischt zu werden, waren neben der frisch erworbenen Freiheit Kaffee, Zigaretten, Whisky und Schokolade genau das Lebenselixier, das sich die Widerstandskämpfer der unter den Nazis illegalen Parool und ihre neuen Kollegen herbeisehnten. Meg hatte sich daran gemacht, Kaffee zu kochen. Sie sog den intensiven Duft der frisch gemahlenen Bohnen in sich hinein und schnupperte am Aroma des aufgebrühten Kaffees. Als sie dann das metallische Schnappen der Benzinfeuerzeuge und das Klirren der Gläser hörte, wusste sie, dass die Männerriege nicht auf sie warten würde. Rasch trug sie das Tablett mit Kaffee und Tassen in den Konferenzraum. Dort saßen bereits alle am Besprechungstisch. Es war kein Platz mehr frei. Der neue Chefredakteur, Gerrit van Zomeren, lehnte sich etwas zur Seite, um ihr zu ermöglichen, den Kaffee zu servieren. Aber Meg stellte das Tablett mit einem freundlichen ‚Help yourself, please‘ mitten auf den Tisch, zog sich einen herumstehenden Stuhl heran und quetschte sich neben ihren blasiert dreinblickenden Chef. Während alle anderen sich gierig einschenkten, zögerte Gerrit van Zomeren. Er wartete, ob sie ihn nicht doch noch bedienen würde. Als das nicht geschah, goss er sich selbst eine Tasse ein, räusperte sich und stellte Meg mit den Worten vor: „Margriet van Hettema. Unser Mädchen für alles, wie Sie sehen.“

Meg spürte, wie sie wütend wurde. Sie war Reporterin. Sie war fast von Anfang an, seit Februar 1941, dabei gewesen. Damals war die Parool noch illegal gewesen und sie hatten im Untergrund unter Lebensgefahr gearbeitet. Wo van Zomeren sich da herumgetrieben hatte, wusste sie nicht. Sie hatte gerade ihre Ausbildung bei der großen Tageszeitung De Telegraaf beendet, und man hatte sie als Jungreporterin eingestellt.

Das war die perfekt Tarnung für sie. Denn die Zeitung wurde wegen der guten Beziehungen ihres Verlegers zu Anton Mussert, dem Führer der National-Sozialistischen Bewegung NSB, von den deutschen Nazibesatzern weiter geduldet. Es hieß, ihr Verleger habe Mussert 25 000 Gulden für NSB- und WA-Uniformen gespendet und ein Mittelsmann bekomme jeden Monat eine Apanage von 1 000 Gulden. Immerhin hatten die Nazis den Chefredakteur und seine Redaktion im Amt gelassen. Die wussten allerdings, dass sie nicht über „Alles“ schreiben durften. Meg störte das. Sie hatte noch in normalen Zeiten beim Telegraaf begonnen. Aber was sollte sie tun? Wirklich unabhängige Zeitungen gab es nicht mehr in den Niederlanden, und als junge Frau würde sie in diesen schwierigen Zeiten nicht so schnell einen Job finden.

Eines Morgens hatte neben ihrem Frühstücksteller ein kleiner Karton mit einem handgeschriebenen Zettel gelegen. Es war die Schrift ihres Vaters. „Fotografiere alles, was du siehst und sorge dafür, dass viele die Bilder zu sehen bekommen. Bewahre die Filme gut auf. Sei vorsichtig. Gott schütze dich.“ Meg hatte die Kamera ausgepackt. Es war eine Zeiss Ikon Contax. Ein handlicher Fotoapparat mit eingebautem Belichtungsmesser. Der Traum einer jeden Reporterin. Meg waren die Tränen gekommen. Sie hatte ihren Vater seit Monaten nicht mehr gesehen. Er war vor den Nazis untergetaucht. Aber manchmal besuchte er heimlich die Mutter. Das durfte niemand mitbekommen. Nicht einmal Meg.

Ein paar Tage später, am 22. Februar 1941, war Meg auf dem Weg zur Arbeit am Waterlooplein vorbeigekommen und hatte gesehen, wie deutsche SS-Männer und niederländische Nazis willkürlich jüdische Männer verprügelten und festnahmen. Schon seit einigen Wochen hatten die Schwarzhemden der WA, der niederländischen SA, Gastwirte, Ladenbesitzer, Kino- und Theaterbetreiber terrorisiert – hatten sie gezwungen, Schilder mit der Aufschrift ‚Juden nicht erwünscht‘ aufzustellen. Wer dem nicht sofort nachkam, dessen Mobiliar wurde zertrümmert. Immer öfter griffen in den Straßenbahnen WA-Männer Juden an und warfen sie an der nächsten Haltestelle zur Tür hinaus. In den Straßen rund um den Waterlooplein, wo viele Juden seit Jahrhunderten lebten, regte sich Widerstand. Junge Männer, viele aus dem Umfeld der jüdischen Boxerschule Maccabi, hatten begonnen, sich zu wehren und sich mit den niederländischen Nazis zu prügeln. Darauf hatten die Nazis mit massiven Razzien reagiert.

Meg hatte heimlich die schweren Unruhen fotografiert und war zum Telegraaf gerannt. Stolz hatte sie ihrem Redakteur berichtet, während die Fotos im Labor entwickelt wurden.

Der Redakteur blieb still, zögerte und schimpfte. Ihr müsse doch klar sein, wie gefährlich das alles sei! Wenn man sie erwischt hätte, wäre sie im Lager gelandet. Und wenn sie die Bilder veröffentlichten, dann würden die Nazis sie alle verhaften und die Zeitung schließen. In diesen Zeiten müsse man vorsichtig sein. Natürlich wusste Meg von der Gefahr, aber das Unrecht, das sie erlebt und fotografiert hatte, ließ ihr keine Wahl.

„Sie haben nicht gesehen, was da draußen los ist. Sie überfallen grundlos friedliche Menschen. Los, kommen Sie!“

Sie zog den schwitzenden Redakteur hinter seinem Schreibtisch hervor und schleppte ihn ins Fotolabor. Die frischen Abzüge hingen tropfend an Wäscheleinen, die quer durch eine muffige Dunkelkammer gespannt waren. Man sah SS-Männer, die verängstigte Jungen aus Hauseingängen zerrten. Niederländische Schwarzhemden rissen Vätern schreiende Babys aus den Armen. Verzweifelten Frauen, die sich vor ihre Männer stellten, wurden Gewehrläufe ins Gesicht gedrückt. Ein Foto zeigte, wie die festgenommenen Männer mit erhobenen Händen auf dem kalten Pflaster des Jonas Daniël Meijerplein knien mussten. Im Hintergrund wurden die Gefangenen in Armeelaster gestoßen. Auf einem Foto sah man einen kleinen, zierlichen Mann in einem schwarzen Regenmantel und mit Schlapphut. Er hielt einem SS-Kommandanten einen Ausweis vors Gesicht und schrie ihn an. Auf einem weiteren Foto sah man niederländische WA-Schergen, die den Mann abführen wollten. Meg hatte eine ganze Serie mit dem Mann fotografiert. Denn er war offensichtlich der Einzige, der sich wehrte. Plötzlich hatte er eine Waffe in der Hand. Die WA-Leute waren zurückgewichen. Aber der SS-Kommandant hatte ebenfalls eine Pistole gezogen und zielte mit ausgestrecktem Arm. Der Mann rannte weg. Es war das letzte Foto, dann war der Film voll gewesen. Aber Meg hatte noch gesehen, wie der Mann entwischen konnte.

„So, so, unser guter Kommissar Rosendahl“, murmelte der Redakteur. Meg war verblüfft: „Sie kennen den Mann? Ist er ein niederländischer Polizist?“

„Ja. Und außerdem Jude.“ Der blasse, schmallippige Redakteur grinste vielsagend.

Meg zeigte auf ein Foto. „Dann hält er dem SS-Mann seinen Polizeiausweis unter die Nase?“

„Vermutlich. Es wundert mich, dass er überhaupt noch Polizist ist. Die meisten unserer Behörden haben ihre jüdischen Mitarbeiter schon entlassen. Auch die niederländische Polizei hat kein Interesse an einer Konfrontation mit den Besetzern. Aber vielleicht hat er einfach seinen alten Ausweis gezückt. Seine Pistole scheint er ja auch noch zu haben.“

„Aber die Polizei kann doch nicht einfach zuschauen, wie man willkürlich Niederländer, auch wenn es Juden sind, misshandelt und verhaftet.“

„Ach nein, das können sie nicht? Bisher sind wir damit doch ganz gut gefahren. Im Gegensatz zu anderen besetzten Ländern wie Polen oder Frankreich halten sich die Nazis bei uns doch ziemlich zurück. Schau dir unsere Zeitung an. Oder unsere Behörden, die alle noch mit Niederländern besetzt sind. Wir dürfen uns weiter selbst regieren. Natürlich unter ihrer Aufsicht. Hitler scheint uns zu mögen. Also das mit den Fotos vergessen wir dann mal besser. Du hast mich verstanden?“ Der Redakteur verließ die Dunkelkammer und lief zu seinem Büro.

Meg war empört und eilte ihm hinterher. „Aber wir müssen darüber berichten. Das ist unsere Pflicht.“

„Was willst du schreiben? Deutsche Barbaren misshandeln niederländische Juden? Sie werden dir sagen, dass das eine berechtigte Polizeiaktion war. Erst vor wenigen Tagen haben jüdische Schlägertrupps einen niederländischen WA-Mann zu Tode geprügelt.“

Meg spürte die Ohnmacht, mit der sie alle seit dem Einmarsch der Deutschen leben mussten. Auch, wenn man gar nicht so schlecht lebte. Zumindest, wenn man kein Jude war. Man hatte sich mit den Besatzern arrangiert. Es gab in Amsterdam schon Restaurants und Cafés mit zweisprachigen Speisekarten.

„Hör mal, ich hab eine wirklich gute Geschichte für dich. Eine richtige Reportage. Kleiner Ausflug nach Den Haag. Da gibt es eine Pommes-frites-Bude, die verkauft ihre Pommes jetzt als ‚Bratkartoffeln‘, weil die Deutschen ‚Pommes frites‘ nicht kennen. Mach eine schöne halbe Seite. Natürlich mit einem Foto des Frittenverkäufers und mit Landsern, die Pommes essen. Gerade wenn ein paar unschöne Sachen jetzt passieren, möchten die Leute so etwas lesen. Das Leben geht weiter. Den Nazis wird so eine Geschichte auch gefallen, was wiederum uns hilft.“ Der Redakteur notierte für Meg die Adresse der Frittenbude.

Meg steckte den Zettel ein. Sie ärgerte sich, aber sie musste gehorchen.

In der Dunkelkammer nahm der Laborant die trockenen Fotos von der Leine. Er steckte sie in ein Kuvert zusammen mit den entwickelten Negativstreifen. „Er schickt dich nach Den Haag, oder? Ich kenne da jemanden, der an den Bildern interessiert ist.“ Der Laborant, ein stiller Mann mit schlechter Haut und dünnem blondem Haar, legte das Kuvert auf einen kleinen Tisch. Er sah Meg nicht an, sondern spülte die Entwicklerdosen mit frischem Wasser aus. „Auch an dem, was du sonst noch gesehen hast.“

Meg nahm das Kuvert.

„Wer ist das?“

„Das spielt keine Rolle.“ Der Laborant wirkte ängstlich. „Die Adresse ist in dem Kuvert. Entscheide, was du tun willst. Gehe zu der Adresse oder vergiss die Sache einfach, aber vernichte den Zettel in jedem Fall. Hier hast du zwei neue Filme. Geh jetzt. Ich habe zu tun.“

Meg nahm den nächsten Zug nach Den Haag. In einem leeren Abteil öffnete sie das Kuvert. Auf einem kleinen Zeitungsausschnitt stand Calliopestraat 13. Sie warf den Zettel zum Fenster hinaus. Sie war neugierig, was sie dort erwartete.

In der Nähe des Bahnhofes sah sie schon von Weitem eine Gruppe deutscher Soldaten, die aus spitzen Papiertüten Pommes frites aßen. Hinter ihnen, auf einer Leiter, stand ein Mann in karierter Kochhose und mit weißer Jacke. Er malte gerade den letzten Buchstaben eines neuen Schriftzuges über seinen Imbiss. Es war das große rote ‚R‘ von ‚Das Reich‘. Darunter stand, etwas kleiner in Schwarz, „Beste Fritten und Bratkartoffeln“. Meg machte das erste Foto. Der Mann kletterte die Leiter herunter und betrachtete zufrieden sein neues Schild. Dabei fuhr er sich mit dem Finger der rechten Hand über seinen gestutzten Adolf-Hitler-Oberlippenbart. Als er Meg bemerkte, fühlte er sich ertappt. Sie fragte ihn schnell, wie der Frittenstand früher geheißen hatte. Er sah sich etwas verlegen um und flüsterte ihr dann zu: „Frittenecke.“ Aber man müsse sich ja den neuen Zeiten anpassen. Die Deutschen wären ganz begeistert von seinen ‚Bratkartoffeln‘. Ein paar Soldaten bestätigten den Frittenverkäufer und Meg machte ein Foto von ihm, flankiert von vier Landsern.

„Eine echte Spezialität!“, sagte ein Deutscher. „Vor allem diese fantastische Soße zu den ‚Sieg-Heil-Bratkartoffeln‘!“

Meg wunderte sich. Sie kannte Pommes nur mit der üblichen Frittensoße, einer Art dünner Mayonnaise. Eifrig erklärte ihr der Imbissbudenbesitzer, er habe sich von den Farben der Hakenkreuzfahne inspirieren lassen und eine kalte, süßsaure Tomatensoße erfunden. Wegen der roten Farbe. Die käme als Erstes auf die Fritten. Dann ein Klecks der hellen Frittensoße oben drauf, und dort hinein male er mit englischer Worcestersauce ein kleines Hakenkreuz. Fertig wären die ‚Sieg-Heil-Fritten oder Bratkartoffeln‘.

„Und du hast keine Angst, dass unsere Landsleute dich boykottieren könnten?“

„Keinesfalls! Es sind nun Mal andere Zeiten. Ich bin auch schon in die NSB eingetreten. Ein paar alte Kunden bleiben zwar weg, aber dafür kommen ja neue hinzu.“

Meg mochte den Typen nicht, aber sie wusste, dass er die perfekte Figur für ihre Reportage war. Sie verabschiedete sich von ihm und den Landsern und lief zur Calliopestraat, die nur ein paar Minuten entfernt war.

Nummer 13 war ein kleiner Tabakladen, der auch Zeitungen und Postkarten verkaufte. Meg beobachtete das Geschäft aus sicherer Entfernung. Als längere Zeit kein Kunde mehr das Geschäft betreten hatte, ging sie rasch hinein. In dem schummrigen Raum roch es intensiv nach Tabak. Neben der Kasse züngelte aus einem Zinkrohr eine kleine Gasflamme. Daneben standen offene Holzkisten mit unterschiedlichen Zigarren, die man einzeln kaufen konnte. Viele Kunden zündeten sich hier gleich einen Zigarillo an, bevor sie weiter zur Arbeit oder ins Café hasteten. Hinter der Theke erhob sich ein etwa 50-jähriger, dünner Mann mit etwas zu langen Haaren und einer runden Nickelbrille. Er trug eine graue Strickweste über einem weißen Hemd ohne Krawatte. Die Finger seiner rechten Hand waren vom Tabak und Teer gelbbraun verfärbt.

„Was kann ich für Sie tun?“

Meg nahm das Kuvert mit den Fotos aus ihrer Tasche und reichte es ihm. „Das würde Sie interessieren, hat man mir gesagt.“

Der Ladenbesitzer nahm das Kuvert und zog ein paar Fotos heraus. Er sah sie hastig durch und steckte sie zurück. „Wer hat dich geschickt?“

Meg wollte gerade antworten, da ertönte die Türglocke und ein bulliger Mann in einem schwarzen Ledermantel betrat den Laden. „Goedendag“, polterte er mit breitem deutschem Akzent und stellte sich wartend neben Meg.

Der Ladenbesitzer grüßte leise zurück. Noch immer hielt er das Kuvert in der Hand. Meg sah, wie sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Sie musste etwas sagen.

„Es sind die Vorschläge für die neuen Postkarten. Stadtmotive und vom Strand.“

„Ach ja, schön, dass sie schon fertig sind.“ Er schob das Kuvert unter den Ladentisch. „Wenn Sie erlauben, bediene ich erst den Herrn, dann können wir sie in Ruhe anschauen.“

„Kein Problem“, sagte der Kunde, der trotz seines Akzentes sehr gut Niederländisch sprach. „Lassen Sie mal sehen. Das interessiert mich auch. Ich liebe Ihr Land. Ich lebe schon seit über zehn Jahren hier.“

„Vielleicht probieren Sie erst mal einen Zigarillo. Eine Sumatra. Ich habe sie gerade hereinbekommen.“ Der Ladenbesitzer streckte ihm ein geöffnetes Holzkistchen entgegen.

Der Deutsche griff zu. „Ja, Sie haben Glück mit Ihren Kolonien“, bemerkte er, bevor er sich den hellbraunen Zigarillo in den Mund steckte und sich über die Gasflamme beugte. Tief sog er den Rauch in seine dicken Backen. „Bestens! Sehr, sehr gut. Und die Kolonien gehören dann jetzt auch zum Reich. Jetzt haben wir alle was davon!“ Es folgte ein rollendes Lachen, das in ein leises Husten überging.

Es entstand eine Pause. Der Deutsche paffte vor sich hin, wartete. „Na, nun zeigen Sie mal Ihre Fotos. Ich bin schon ganz gespannt.“

„Nein, lieber nicht.“ Meg sah auf den Boden. Zur Seite. Biss sich auf die Lippen. „Wissen Sie, es sind meine ersten Postkarten. Ich bin noch in der Lehre, aber würde mir gerne etwas dazuverdienen, und“, sie sah den Ladenbesitzer an, „ich dachte mir, er könnte mich beraten, und vielleicht hat er auch Interesse und möchte sie hier verkaufen. Aber mein Chef darf es nicht wissen. Außerdem sind auch sehr persönliche Motive dabei.“

Der Deutsche sah sie an. Er hatte ein gutmütiges, rundes Gesicht. Feiste Backen. Halbglatze. Die restlichen Haare mit Pomade nach hinten gekämmt. Er musterte Meg freundlich. Dann den Ladenbesitzer. Er grinste und paffte. „So, so. Der Chef darf es nicht wissen. Persönliche Motive. Kann ich mir schon was bei denken. Da will ich mal nicht stören. Dann packen Sie mir von diesen Sumatra und auch von den etwas Größeren mal ein Kistchen ein.“ Er sah wieder zu Meg. Forsch. Kumpelhaft. „Hm“, brummte der Deutsche. „Würden Sie auch mal mich fotografieren, so vor dem Schloss oder am Strand? Wäre ein nettes Souvenir für die Familie.“

„Ich weiß nicht.“

„Wissen Sie was?“ Der Deutsche legte Geld auf den Tisch, steckte sich die beiden Zigarrenkistchen unter den Arm und zog eine Visitenkarte aus der Manteltasche.

„Sie sind ein nettes Ding. Sollen natürlich keinen Ärger kriegen. Wenn es Ihnen passt, rufen Sie mich an. Oder kommen gleich vorbei. Soll Ihr Schaden nicht sein.“ Dann gab er Meg die Visitenkarte, steckte das Wechselgeld ein und verabschiedete sich mit einem lauten, zischenden: „Also Tschüss … äh, Tot zzziens.“

Als sich die Tür wieder geschlossen hatte, sackte der Verkäufer auf einen Stuhl und Meg schaute auf die Visitenkarte.

„Alois Miedl – Bankier und Kunsthändler“, darunter eine Adresse in Amsterdams bester Gegend im Grachtengürtel. Auch der Ladenbesitzer starrte auf die Karte.

„Mein Gott, und ich habe schon gedacht, er wäre ein Gestapo- oder SD-Mann.“ Dann eilte er zur Tür, verschloss sie und hängte ein Schild mit der Aufschrift ‚Bin gleich zurück‘ ins Schaufenster.

„Also, wer hat dich geschickt? Oder nein, warte. Sag nichts. Je weniger wir voneinander wissen, desto besser. Keine Namen.“ Er nahm das Kuvert und verteilte die Fotos auf dem Ladentisch. „Verdammt! Wann hast du die Fotos gemacht?“

„Heute Morgen. Auf dem Weg zur Arbeit. Ich bin Reporterin beim Telegraaf. Aber mein Redakteur will die Fotos nicht bringen. Er sagt, es sei zu gefährlich.“

„Womit er natürlich recht hat. Hat nur er sie gesehen?“

„Nein, auch noch unser Laborant. Sonst niemand.“

„Wie zuverlässig sind die beiden?“

„Der Laborant hat mir Ihre Adresse gegeben. Der Redakteur ist“, Meg überlegte, „er ist ein Opportunist. Aber er wird mich nicht verraten. Er mag die Nazis auch nicht, weil sie ihn jetzt kontrollieren. Er hat sich arrangiert. Wie so viele.“

Der Ladenbesitzer sah sie an. „Pack sie trotzdem wieder ein. Vernichte die Fotos. Wir können sie gleich hier verbrennen.“ Er zeigte auf einen Kanonenofen in der Ecke.

„Ich dachte, Sie können die Fotos gebrauchen.“

„Schon, aber es ist zu gefährlich. Ich kenne zwar jemanden, der dafür sorgen würde, dass Leute vom Widerstand sie bekommen – Leute, die für die illegale Zeitung Het Parool arbeiten – aber dann bist du in höchster Gefahr, wenn nur einer deiner Kontakte doch nicht ganz koscher ist. Du bist ein junges Ding. Du hast das Leben noch vor dir. Also verschwinde und vergiss die Sache einfach.“

Meg hatte von der illegalen Parool gehört. Seit Anfang Februar erschien sie einmal in der Woche. Mehrere Seiten mit kritischen Artikeln gegen die Nazis. „Bitte, die Fotos müssen rauskommen. Die Leute müssen sehen, was hier passiert. Ich bin Reporterin. Ich schreibe Ihnen auch noch einen Text dazu. Wenn Sie sich nicht darum kümmern wollen, dann sagen Sie mir, wo ich die Leute der Parool finden kann.“

„Du kannst da nicht einfach hingehen. Es ist eine Untergrundzeitung. Sie arbeiten im Geheimen.“

Meg war zu allem entschlossen.

„Mein Vater ist auch untergetaucht. Er hat mir den Fotoapparat geschenkt, damit ich alles fotografiere, was hier passiert. Aber nicht fürs Familienalbum. Ich möchte zu Het Parool.“

Der Ladenbesitzer überlegte. „Also gut. Wenn du noch etwas dazu aufschreiben willst, dann mach das gleich hier.“ Er zog einen Vorhang hinter der Ladentheke zur Seite. Dahinter war sein Büro. Auf einem abgewetzten Schreibtisch brannte eine Messinglampe mit grünem Glasschirm.

Meg setzte sich, zog ihren Notizblock aus der Tasche und begann hastig zu schreiben. Ihre Überschrift lautete: ‚Deutscher Terror in der Hauptstadt‘.

Währenddessen hatte der Ladenbesitzer das Geschäft wieder geöffnet. In kurzen Abständen hörte Meg die Ladenglocke. Als sie fertig war, schob sie den Vorhang etwas zur Seite, spähte hinaus. Es war kein Kunde da. Sie steckte ihre Reportage zu den Fotos in das Kuvert.

„Wie geht es jetzt weiter?“

„Ich werde mich darum kümmern. Heute Abend noch werden sie die Fotos bekommen. Und jetzt verschwinde.“

Zwei Tage später, es war ein Sonntag, fuhr Meg mit dem Fahrrad zum Waterlooplein. Aber das Gebiet war von niederländischen Schwarzhemden und der SS hermetisch abgeriegelt. Noch immer wurden Juden verhaftet. Lastwagen verließen das Sperrgebiet. Meg traute sich nicht, zu fotografieren. Sie spürte ihre Machtlosigkeit. Niedergeschlagen verbrachte sie den Tag im Bett.

Montags schrieb sie in der Redaktion widerwillig die Bratkartoffel-Story. Der Redakteur hatte beim Betrachten der Fotos zufrieden gebrummt und gleich drei Bilder ausgewählt.

„Wir machen eine ganze Seite mit den ‚Sieg-Heil-Bratkartoffeln‘. Gut gemacht.“ Als Schlagzeile textete er: „Rot-Weiße-Fritten verführen deutsche Landser“ Auf seine subtile Botschaft, dass die niederländischen Pommes die deutschen Besatzer verführen würden, war er besonders stolz. Schon am nächsten Tag erschien die Reportage. Unpassender hätte der Zeitpunkt nicht sein können.

Meg war auf dem Weg zu einer Haltestelle, als sie bemerkte, dass keine Straßenbahnen fuhren. Sie holte ihr Fahrrad, und schon am nächsten Platz erblickte sie eine große Menschenmenge. Überall hörte sie das Wort Streik. Rasch holte sie ihre Contax heraus und fotografierte wütende Redner, die zur Solidarität mit den Juden aufriefen. Vor der Deutschen Schule von Amsterdam skandierten Demonstranten: „A-B-C-D-E-F-G – Weg mit den Nazis und dem NSB!“ Von überall her strömten Menschen durch die Straßen. Manche untergehakt, die „Internationale“ singend und mit Transparenten, auf denen stand: „Stoppt die Judenpogrome“ oder „Weg mit den Besatzern“. Aber es waren nicht nur Kommunisten und Gewerkschafter unterwegs. Ganz Amsterdam schien auf den Beinen zu sein. Die Geschäfte, Schulen, selbst die Kindergärten waren geschlossen. Neben Arbeitern sah man gut angezogene Geschäftsleute und Beamte. Mütter mit ihren Kindern. Verkäuferinnen und Hausmädchen. Selbst Priester, Reformierte neben Katholiken, hatten sich den Demonstranten angeschlossen. Neben der „Internationale“ wurde nun auch das „Wilhelmus“, die beliebte Nationalhymne gesungen. Die großen Drehorgeln spielten dazu ihre Volkslieder und Schlager. Die Betreiber klapperten wie gewohnt im Takt mit ihren flachen Messingbüchsen. Das Geld ging an jüdische Familien, deren Männer verschleppt worden waren. Ganz Amsterdam war ein einziges Volksfest. Überall spürte man eine furchtlose Freude am Ungehorsam. Eine heimliche Lust, es den Besatzern zu zeigen. Deutsche und niederländische Nazis waren nicht zu sehen. Der Generalstreik hatte sie ebenso überrascht wie die Amsterdamer selbst. Meg wunderte sich, wie schnell es gelungen war, die ganze Stadt zu mobilisieren. Sie fotografierte einen Zeitungskiosk, an das ein Mann hektisch Plakate klebte und dann wegrannte. Sie erkannte den Schriftzug in fetten schwarzen Blockbuchstaben HET PAROOL. Direkt unter der Schlagzeile DEUTSCHER TERROR IN DER HAUPTSTADT war ein großes Foto. Es zeigte verängstigte Männer, die mit hoch erhobenen Armen auf dem Pflaster knieten und von SS-Leuten bewacht wurden. Es war ihr Foto. Meg war nun ganz nah an dem Plakat und las mit Stolz die ersten Worte ihrer Reportage. Dann entdeckte sie hinter dem Verkaufsfenster des Kiosks die Morgenausgabe des Telegraaf. Auf der Titelseite strahlte ein zufriedener Pommes-Verkäufer mit einer Portion ‚Sieg-Heil-Bratkartoffeln‘. Das Hakenkreuz auf der Frittensoße war deutlich zu sehen. Unter der peinlichen Schlagzeile ROT-WEIßE-FRITTEN VERFÜHREN DEUTSCHE LANDSER prangte ihr Name. Eine Reportage von Margriet van Hettema. Meg schämte sich. Plötzlich spürte sie, dass jemand dicht hinter ihr stand. Sie drehte sich um. Es war ein junger Mann, groß, schlank und mit Schiebermütze auf dem Kopf. Sein grauer Wollmantel war ausgebeult und er drückte den linken Arm fest gegen seine Brust. Er schien etwas zu verbergen. Er lächelte.

„Margriet van Hettema?“

Meg reagierte nicht.

„Ich bin dir gefolgt. Ich sah dich fotografieren. Ich dachte mir, vielleicht ist sie das.“

„Ist wer?“

„Die Fotografin vom Waterlooplein.“ Er zeigte auf das Parool-Plakat. „Und dann hab ich dich hier stehen sehen und hab es einfach mal mit dem Namen probiert.“ Jetzt zeigte er auf die Sieg-Heil-Bratkartoffel-Reportage.

„Oh nein! Das ist ein Missverständnis. Ich meine, ich wollte die Geschichte nicht schreiben.“

„Kein Problem. Ich heiße Henk. Zwei Titelstorys an einem Tag. Wer schafft das schon?“ Er streckte ihr eine Hand entgegen. Meg war unsicher.

„Komm schlag ein. Du bist unsere Heldin. Die Gewerkschaften und Linken haben zwar gestern schon zum Streik aufgerufen und ein Flugblatt verteilt, aber es ist unsere Zeitung mit deiner Geschichte, die die Amsterdamer auf die Straßen getrieben hat. Hier.“ Er öffnete den Mantel und streckte Meg ein Exemplar der Parool entgegen.

Meg war sprachlos.

„Wir wussten sofort, dieser Reporter ist ein Teufelskerl. Selbstverständlich sind wir davon ausgegangen, dass nur ein Mann so mutig sein kann. Man hat uns allerdings nicht gesagt, wer der Reporter ist, wir wissen alle so wenig übereinander wie möglich. Kannst dir sicher denken, warum. Na ja, aber bei so einem Artikel ist die Neugierde natürlich groß. Dem Chef ist dann rausgerutscht, die Story käme von einer jungen Frau. Sie hätte auch die tollen Fotos gemacht. Und als ich dann gesehen hab, wie du den Aufstand knipst und mit diesem breiten Grinsen auf das Plakat starrst, hab ich eins und eins zusammengezählt.“

Meg wusste noch immer nicht, was sie sagen sollte.

Henk nahm sie am Arm. „Ich verstoße gerade gegen alle Regeln und hab dir meinen Namen gesagt. Egal. Er ist nicht echt. Oder vielleicht doch?“ Er lachte. „Stell dir vor, was bei uns los war, als wir die Fotos gesehen haben. Es war klar, dass wir die Reportage bringen. Aber normalerweise haben wir keine Fotos. Das ist viel zu kompliziert. Heimlich, schnell, spurlos, das ist unsere Devise. Aber bei diesen Fotos!“ Henk sah Meg eindringlich an. „Der Chef sagte: ‚Das müssen wir bringen.‘ Er kennt eine kleine Druckerei, die auch Repros machen kann. Ein Familienvater. Na ja. Deshalb hat er bisher noch nie etwas bei ihm drucken lassen. Aber jetzt. Zu dem Generalstreik wollte er es riskieren. Tja, und jetzt haben wir die erste Parool mit einem Foto. Du kannst stolz sein.“

Meg war verlegen und wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Es waren nicht nur seine Worte. Er gefiel ihr. Henk hatte so viel Energie und konnte sie zudem auch noch zur Parool bringen.

„Hast du weitere Filme? Du kannst sie mir gleich mitgeben.“

Meg hatte tatsächlich schon zwei Filme verknipst, aber sie wollte sie nicht so einfach herausrücken.

„Nein, es sind noch ein paar Bilder auf dem Film übrig. Ich kann sie euch geben, aber ich will richtig bei euch mitmachen. Also – wo bringe ich sie hin?“

Henk überlegte.

„Kennst du das alte Café Het Zwaantje beim Noordermarkt?“

Meg nickte.

„Geh dort hin und bestell an der Theke bei dem älteren Mann mit Glatze einen ‚Koffie verkeerd‘. Der Mann wird nachfragen. ‚Koffie verkeerd?‘ Ob du da sicher bist. Dann sagst du. Natürlich. Ich möchte einen ‚Koffie verveerd‘. Alles Weitere ergibt sich dann. Erst verkeerd, dann verveerd. Hast du das verstanden?“

„Ja, natürlich. Erst Koffie verkeerd, also Milchkaffe, dann Koffie verveerd. Was für ein komisches Wort?“ Henk zeigte auf die Zeitung, die Meg noch in den Händen hielt. Unter dem fetten Schriftzug: HET PAROOL stand das Motto. VRIJ – ONVERVEERD – Also furchtlos.

„Es ist aus dem „Wilhelmus“, unserer Nationalhymne. Aber jetzt muss ich weiter. Bring die Filme dorthin.“ Dann rannte er los. Drei, vier Schritte. Er stoppte und drehte sich noch mal um. „Sei vorsichtig.“ Er zögerte kurz. „Ich möchte dich gerne wiedersehen.“

Meg war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob sie ihm die Filme nicht doch hätte mitgeben sollen. Inmitten der zahlreichen ausgelassenen Demonstranten fühlte sie plötzlich eine unheimliche Bedrohung. Sie war sicher, dass die Nazis diesen Aufstand niederschlagen würden. Sie hörte ein dumpfes Brummen. Noch entfernt, aber es kam näher. Vermischt mit dem metallischen Klirren von Panzerketten.

Die Demonstranten erstarrten und verstummten. Immer deutlicher, bedrohlich nahe jetzt, hörte man schwere Militärfahrzeuge. Plötzlich stoppten die Motoren und das Scheppern der Panzerketten erlosch. Kurz breitete sich eine unheimliche Stille über der Stadt aus. Dann ertönten raue Befehle und das Klacken genagelter Stiefelsohlen auf dem Straßenpflaster. Sie ließen die schweren Fahrzeuge auf Plätzen rund um den Stadtkern stehen und kamen in Gruppen zu Fuß durch die schmalen Gassen und Grachten der Innenstadt. Sie hielten ihre Maschinenpistolen im Anschlag. Auf ihren Helmen prangte das Symbol der SS, am Uniformkragen ein Totenkopfabzeichen. Die Demonstranten zogen sich schnell zurück, verschwanden in Seitengassen und Hauseingängen. Meg fotografierte hastig die einmarschierenden SS-Totenkopfregimenter. Dann floh sie über mehrere Hinterhöfe in Richtung des Cafés Het Zwaantje und bestellte atemlos einen Koffie verkeerd.

Meg eilte weiter zum Café Lessing und spürte wieder die Angst, die sie damals, Jahre zuvor, gehabt hatte. Sie lief schnell im Nieselregen durch die dunkle, fast ausgestorben wirkende Stadt. Obwohl es keine Ausgangssperre mehr gab, blieben viele Amsterdamer abends lieber zu Hause. Die Versorgungslage war noch immer schlecht. Es brannten keine Straßenlaternen, nur einzelne Trambahnen fuhren, und erst langsam öffneten wieder einige Cafés, Bars und Kinos.

Colonel Brown, der kanadische Presseoffizier, hatte bei seinem Besuch in der Redaktion wortreich die Verdienste der Parool während des Krieges gelobt. Doch auch jetzt, nach der Befreiung, käme der freien Presse eine besondere Bedeutung zu. Eine wichtige Aufgabe für sie, die Journalisten, die er gerne unterstützen würde. Deshalb sei er gekommen. Er könne für Papier und Druckfarbe sorgen und natürlich auch für weiteren Kaffee und Whisky. Die Reporter klopften begeistert auf den Tisch und der Colonel lächelte. Natürlich könne er auch mit Informationen behilflich sein. Er machte eine Pause. Jetzt gehe es vor allem darum, der Bevölkerung Vertrauen in die Zukunft zu geben und zu zeigen, dass sich das Leben doch langsam normalisiere. Auch wenn es noch viel Not gebe. Wichtig sei auch, bei allem Verständnis für die Wut und Rachegefühle in der Bevölkerung gegenüber Kollaborateuren, den ‚Falschen‘, wie man sie nenne, zu zeigen, dass die provisorische Regierung die Sache unter Kontrolle habe. Viele ‚Falsche‘, also Kriegsverbrecher und Unterstützer der Nazis, seien schon interniert, und niederländische Gerichte bereiteten erste Prozesse vor. Aber, auch wenn es im Vergleich zum Kriegsende immer seltener geschehe, es dürfe nicht mehr vorkommen, dass man Frauen, die ein Verhältnis mit einem Nazi hatten, öffentlich die Haare abschneide, oder NSB-Mitglieder in irgendwelchen Kellern foltere und ohne Verfahren einsperre oder gar töte. Man müsse wieder Vertrauen in die eigenen Behörden und Justiz haben. Dafür sollte die Zeitung eintreten. Chefredakteur van Zomeren hatte bedeutungsvoll genickt und erklärt, er habe dazu schon einen Leitartikel begonnen, in dem er an das Gewissen und die freiheitliche und republikanische Gesinnung seiner Landsleute appelliere. Er würde ihn in den nächsten Tagen vollenden. Daraufhin hatte Meg vorgeschlagen, die Zeitung sollte mehr über spektakuläre Verhaftungen berichten. Die hatte es doch gegeben. Das würde den Leuten zeigen, dass Kollaborateure und Kriegsverbrecher nicht ungeschoren davonkämen. Dafür bräuchten sie aber mehr Informationen der Übergangsregierung und der Polizei, wo sie jedoch meist abgewiesen würden. Vielleicht könne er, der Colonel, etwas behilflich sein. Van Zomeren hatte sich durch Megs Idee brüskiert gefühlt und befürchtet, ihr Vorschlag könne die Bedeutung seines Leitartikels schmälern. Er meinte, das wäre noch zu früh. Er lobte aber das Engagement der jungen Kollegin und schlug vor, dass Meg doch gleich mit ihrer Reportageserie zum Alltag in der Not und dazugehörenden Kochrezepten ‚Wie man aus Nichts etwas Leckeres zaubert‘ beginnen könnte. Er erwarte für den übernächsten Tag eine gute halbe Seite mit dem Porträt einer echten holländischen Hausfrau und ihren praktischen Vorschlägen, wie sie in dieser Zeit die Familie über Wasser halte. Es waren fast die gleichen Worte, die Meg vor Jahren von ihrem damaligen Chef zur Reportage über die „Sieg-Heil-Bratkartoffeln“ gehört hatte. Meg war aufgestanden, nickte und verließ die Konferenz.

Auf der Straße vor dem Zeitungsgebäude hatte sie vergeblich in ihren Taschen nach einer Zigarette gekramt, als plötzlich der Sergeant des Colonels neben ihr stand.

„Gestatten Sie. Sergeant Bill O’Connor. Colonel Brown hat mich geschickt. Ich soll Ihnen helfen, falls Sie Unterstützung brauchen.“ Lächelnd hatte er ihr eine Zigarette angeboten.

Meg zog hastig an der filterlosen Virginia und sah sich den Sergeant genau an. „Sie sprechen sehr gut Niederländisch für einen Kanadier.“

Der Sergeant lächelte. „Ich habe friesische Vorfahren. Mennoniten. Sie nannten sich noch Conijn. Daraus wurde im Laufe der Zeit erst Conner und dann O’Connor, als einer meiner Vorfahren Bürgermeister in einem Dorf in Ontario wurde. Ich bin zwar in Toronto mit Englisch aufgewachsen, aber zu Hause wurde immer Niederländisch gesprochen. Deshalb meinte der Colonel auch, ich könnte Ihnen vielleicht behilflich sein. Zusammen mit meinem Jeep.“

Meg musste lachen. „Zusammen mit Ihrem Jeep ganz bestimmt. Gerne. Obwohl ich für diese Story nicht mal das Haus verlassen muss. Ich gehe zu meiner Nachbarin mit ihren fünf ausgemergelten Kindern und lasse sie erzählen, wie sie mit ein paar Schrumpelkartoffeln, fleckigen Karotten, welkem Kohl, einer Speckschwarte und eurem Eiweißpulver, von dem so vielen schlecht wird, wenn sie es roh essen, einen mageren Eintopf zaubert. Anschließend fotografiere ich sie in ihrer blitzblanken Küche und lasse die Kinder die Backen aufblasen, damit sie wohlgenährt aussehen. Schon habe ich meine Alltagsheldin und außerdem den Rest des Tages frei. Ist doch prima, oder?“

„Hm, sieht tatsächlich nicht so aus, als ob Sie da Unterstützung bräuchten. Schade.“ Er rauchte und grinste. „Aber vielleicht könnten Sie meine Hilfe für den Rest Ihres freien Tages gebrauchen.“

„Ach so, Sie meinen, Sie könnten mir beim Freihaben helfen, und müssten nicht Ihrem Colonel hinterherrennen.“

„Na ja, vielleicht. Der Colonel meint, Ihr Chef sei nicht fair zu Ihnen. Er behandele Sie wie eine Hausangestellte. Dabei habe er gehört, dass Sie eine der besten und mutigsten Reporterinnen während des Krieges waren.“

„Der Krieg ist vorbei. Die Zeitung ist jetzt offiziell und der Chefredakteur ist neu. Er konnte mich von Anfang an nicht ausstehen.“

„Aber Ihre Idee mit den Reportagen über Kriegsverbrecher und Kollaborateure ist gut. Wir in Kanada würden das auf jeden Fall so machen.“ Der Sergeant sah sie grinsend an. „Also, soll ich Ihnen jetzt beim, wie nennen Sie das, Freimachen, helfen?“

Meg fragte sich, ob der Versprecher absichtlich gewesen war. Immerhin sprach er recht anständig Niederländisch. So hatte er also neben seinem guten Aussehen auch noch Charme. Möglicherweise kam er auch an Informationen in der Militärverwaltung. Der Preis dafür war vermutlich eine kleine Affäre. Meg hatte nichts dagegen. Ganz und gar nicht. So ein Rendezvous würde ihr helfen zu vergessen, wie mühsam und oft schmerzlich die Zärtlichkeiten im Krieg gewesen waren. „Wissen Sie, heute Abend möchte ich meine Nachbarin nicht mehr stören. Morgen Mittag reicht auch noch. Dann ist der Artikel für die nächste Frühausgabe am Nachmittag fertig. Bis dahin habe ich also frei.“

Der Sergeant lächelte. „Sehr gut. Wo fahren wir hin?“

Meg war am Rembrandtplein angekommen. Neben der fehlenden Straßenbeleuchtung waren auch die meisten Wohnungsfenster dunkel. Aber beim Café Lessing brannte ein kleines Licht über der Tür und die schweren Gardinen der Fenster schimmerten bordeauxrot. Im spärlich beleuchteten Schaufenster einer Buchhandlung überprüfte Meg ihr Aussehen. Sie nahm die Baskenmütze ab. Das letzte Stück bis zum Café würde der Regen ihrer Frisur nicht schaden. Sie öffnete den Gürtel des abgetragenen Trenchcoats, sodass sie beim Betreten des Lokals nur einen Knopf öffnen musste, um ihn zurückzuschlagen und seine Schäbigkeit zu verbergen.

„Colonel Brown hat sich erkundigt, ob ich dir helfen konnte“, hatte ihr Bill bei einem weiteren Rendezvous erzählt. Sie waren in seinem Jeep ans Meer gefahren. Meg hatte einen Fischhändler ausfindig gemacht, der aus stinkenden Fischresten und ein paar starken ostindischen Gewürzen schmackhafte Kroketten formte. Es sollte eine neue Folge ihrer Serie mit Kochtipps werden. Jetzt lagen sie geschützt in den Dünen, aßen Armeezwieback mit Corned Beef und tranken dazu kanadischen Whisky.

„Beim Freimachen auf jeden Fall“, hatte Meg lachend gesagt.

„Ich glaube, so weit reicht Browns Fantasie nicht. Er ist sehr anständig. Er meinte, er habe ein paar Informationen über verhaftete Kriegsverbrecher. Das Problem sei nur, dass die Niederländer peinlich genau darauf bedacht sind, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Sie wollen sich nicht bevormunden lassen. Aber er könne vielleicht Kontakte herstellen.“

„Wie will er das machen?“

„Bei aller Tugendhaftigkeit besucht auch Colonel Brown gelegentlich das Café Lessing und trifft dort Mitglieder der Militärverwaltung und eurer Übergangsregierung. Da hört er so manches. Unter anderem soll ihnen vor kurzem ein großer Fang gelungen sein. Es hat etwas mit aus den Niederlanden geklauten Bildern zu tun. Geraubte Kunst. Mehrere Niederländer sollen darin verstrickt sein. Es sei aber alles sehr kompliziert.“

„Weißt du, um wen es sich genau handelt?“

„Keine Ahnung. Brown hat vorgeschlagen, dass er dich im Lessing trifft und einigen Leuten vorstellt.“

„Wie komme ich da rein? Es ist ein Offiziersclub.“

„Es soll so aussehen, als ob du ihm dort zufällig begegnest und ich soll dir dabei helfen.“

„Dann gehen wir zusammen ins Lessing?“

„Das geht leider nicht. Als sein Sergeant sollte ich möglichst nicht mit dir gesehen werden.“

„Wie soll es dann funktionieren?“

Sergeant Bill sah sie an. „Nun ja, wie du weißt, gefällt es vielen der Offiziere, wenn sie im Club auch ein paar Frauen treffen können. Aber nicht jede darf rein. Du musst die Jungs von der Militärpolizei überzeugen. Es heißt, die Frauen hätten da so ihre Methoden.“

„Und wie?“ Meg war auf Bills Antwort gespannt.

„Du machst dich hübsch. Aber dezent. Es sollte Stil haben. Streng und ein bisschen nach Uniform aussehen. Nicht zu aufreizend. Weißt du, dort sind viele Männer, die Huren ‚gefallene Mädchen‘ nennen und sie am liebsten zum Priester schicken würden, wenn sie nicht, na ja, du weißt schon.“

„Und da reicht es schon, dass ich mich etwas hübsch mache?“

„Nicht für die Militärpolizei.“ Bill grinste.

Meg sprang auf. „Du meinst … Nein, das glaub ich nicht.“ Unsicher sah sie auf ihn hinunter.

„Ich soll denen also vorher gefällig sein? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das gut findest.“

„Ich folge nur Befehlen.“ Bill drehte sich schnell zur Seite, weil Meg ihm mit dem Fuß Sand ins Gesicht schippte.

„Du Schuft. Ich dachte doch tatsächlich“, weiter kam sie nicht, denn Bill hatte sie an den Armen gepackt und zu sich heruntergezogen. Meg wehrte sich, aber Bill hielt sie fest umschlungen.

„Natürlich würde mir das nicht gefallen. Es ist auch nicht nötig. Es gibt ein Codewort, um reinzukommen.“

Meg entspannte sich und setzte sich neben Bill. Er wollte sie küssen, aber sie wich ihm aus. „Das reicht? Glaub mir, für eine gute Story würde ich auch mehr machen.“

„Davon bin ich überzeugt.“

3. Der Kapitein

Das schwache Licht über dem Eingang zum Café Lessing beleuchtete die Gesichter von zwei kanadischen Soldaten. Sie trugen die Uniform der Militärpolizei. Dazu einen breiten weißen Gürtel und einen etwas schmaleren Riemen, der quer über der Brust spannte. Sie flankierten die Tür und starrten geradeaus. Aber natürlich hatten sie Meg längst bemerkt. Kurz bevor sie die Eingangstür erreichte, machte einer der beiden einen Schritt zur Seite und versperrte ihr den Weg.

„Ma’am, Fräulein?“ Meg hörte hinter der angelehnten Tür Musik. Sie erkannte das röhrende Saxofon aus Little Brown Jug und kurz bevor die kreischenden Trompeten einsetzten, öffnete sie den Knopf ihres Trenchcoats und schlug den Mantel zur Seite.

„Sie sprechen Niederländisch, Officer?“

Der Soldat grinste. „Und auch Französisch, wenn Sie mögen.“

Meg lächelte freundlich. „Das ist schön für Sie. Aber ich bin leider schon verabredet.“

„Das sagen sie alle.“ Dabei starrte er Meg unverfroren auf die Brusttaschen ihrer Militärbluse.

„Nun, meine Verabredung heißt General Eisenhower.“

Der Militärpolizist nahm sofort Haltung an und öffnete die Tür. „In diesem Fall, Ma’am, wünsche ich einen angenehmen Aufenthalt.“

Die Musik wechselte gerade zu Moonlight Serenade, als Meg das Café Lessing betrat. Sie spürte die verstohlenen Blicke, mit denen einige Männer versuchten, so zu tun, als ob sie Meg nicht bemerkt hätten.

Das Codewort ‚General Eisenhower‘, kennen nur ausgewählte Gäste, hatte ihr Bill gesagt. Es wechsle regelmäßig. General Patton, Montgomery, Churchill und sogar Präsident Truman wären auch schon dran gewesen.

Meg sah sich um. Sie war lange nicht hier gewesen, aber das Lessing