Der Feind in meinem Topf? - Susanne Schäfer - E-Book

Der Feind in meinem Topf? E-Book

Susanne Schäfer

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Beschreibung

Essen ist Lifestyle. Und zugleich wird Essen immer häufiger als Bedrohung wahrgenommen. Echte oder gefühlte Unverträglichkeiten und diffuse Ängste vor bestimmten Inhaltsstoffen dominieren den Speiseplan von immer mehr Menschen. Der Trend lautet "Frei von …" Geradezu hysterisch werden wahlweise Gluten, Laktose, Fruktose oder Histamin als Risiko für unsere Gesundheit gebrandmarkt. Etliche dieser Empfehlungen haben eine kürzere Haltbarkeit als die darauf abgestimmten Produkte, an denen die Nahrungsmittelindustrie kräftig verdient - und für Gesunde keinen medizinisch nachweisbaren Nutzen. Susanne Schäfer untersucht aus medizinischer, psychologischer und soziologischer Perspektive, was für das wirklich gute Bauchgefühl nötig ist. Denn viele der Legenden vom gefährlichen Essen verbreiten sich grundlos. Nie war es so einfach wie heute, sich gesund zu ernähren und mit hochwertigen Lebensmitteln zu versorgen!

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Susanne Schäfer

Der Feind in meinem Topf?

Schluss mit den Legenden vom bösen Essen

Hoffmann und Campe

Einleitung

Wer heute Gäste zum Essen einlädt, führt vor dem Einkaufen am besten umfassende Gespräche. Längst muss er nicht nur berücksichtigen, dass der eine vegetarisch lebt und die andere vegan. Heute brauchen auch die Gäste mit echten oder gefühlten Intoleranzen gegen Laktose, Fruktose, Gluten oder Histamin ihr ganz individuelles Menü. »Käse kann ich nicht essen. Eindeutig Laktoseintoleranz, da brauche ich gar nicht erst den Arzt zu fragen.« – »Brot und Nudeln lass ich gerade vorsichtshalber weg. Dieses Gluten verträgt ja kaum noch jemand.« – »Geräucherter Schinken? Da verzichte ich lieber. Du weißt doch, das Histamin.«

Kürzlich sprach ich mit einer Bekannten, die mit jeder Essenseinladung auch gleich das geplante Menü herumschickt. »Einfach auf gut Glück zu kochen und die Gäste zu überraschen, habe ich schon lange aufgegeben«, erklärte sie mir. Einmal bekam die Bekannte von einem Paar diese Antwort gemailt: »Da können wir nur das Baguette essen und den Rotwein trinken.« Immerhin hatten die Gäste offenbar keine Angst vor Gluten und Histamin.

Wenn ihre Tochter die Freunde aus der Grundschule zum Kindergeburtstag einlädt, backt meine Bekannte zwei Kuchen – einen mit und einen ohne Gluten. Inzwischen muss sie, um den Bedürfnissen der kleinen Gäste gerecht zu werden, nur noch einen kleinen normalen Kuchen backen, dafür einen umso größeren glutenfreien. Ich selbst nehme gerne Rücksicht auf alle Sorten von Ohne-Essern, aber manchmal möchte ich auch einfach das kochen, worauf ich Lust habe. Dann lege ich zuerst das Menü fest und lade anschließend die passenden Gäste ein.

Noch vor zehn Jahren waren Verdauungsvorgänge ein Tabuthema bei Tisch, heute breitet sich beim gemeinsamen Mahl die neue Innerlichkeit aus. Jedes Grummeln im Magen, jedes Zupfen im Bauch wird diskutiert und mit ernster Miene kategorisiert. Wer alles klaglos hinunterschluckt und verdaut, sitzt dazwischen wie ein Klotz: unsensibel, unreflektiert – kurz, von gestern.

Munter wird bei den Selbstdiagnosen Halb- und Unwissen durcheinandergewürfelt und weiterverbreitet. Dabei können selbst Laktoseintolerante die meisten Käsesorten problemlos essen, weil diese im Gegensatz zu unverarbeiteter Milch kaum Laktose enthalten. Glutenfreie Produkte haben für Menschen mit gesundem Stoffwechsel keinerlei Nutzen.

Selbstverständlich gibt es echte Allergien und Unverträglichkeiten, und wer unter ihnen leidet, braucht unbedingt Lebensmittel ohne die Stoffe, die ihm schaden können. Aber auch Gesunde, die gar keine Beschwerden haben, machen sich heute selbst zu sensiblen Essern – Unverträglichkeiten haben sich als Mode verselbstständigt.

Inzwischen hat der Trend, Nahrungsmittel zu verschmähen, sogar die Kindergärten erreicht. Die dreijährige Tochter eines Kollegen erzählte zu Hause immer wieder von Spielkameraden in ihrer Hamburger Kita, die Nüsse, Joghurt oder Nudeln nicht mehr essen dürfen. Wie sie jeden Tag etwas Besonderes aus ihren Brotdosen holen, das nur für sie bestimmt ist. Manchen Mädchen und Jungs wärmen die Erzieher mittags sogar eigene Mahlzeiten auf. Eines Tages verkündete die Tochter meines Kollegen stolz: »Wenn ich Nüsse esse, kitzelt es so komisch auf meiner Zunge. Ich glaube, ich bin allergisch.« Man kann sie verstehen – auch sie will etwas Besonderes sein. Beim Elternabend mahnten die Kindergärtnerinnen etwas später an, Sonderbehandlungen beim Essen seien künftig nur noch gegen Vorlage eines ärztlichen Attests möglich, außerdem sei nicht jeder Diätwunsch erfüllbar.

Dass es manchmal auch die Eltern sind, die übervorsichtig mit ihren Kindern umgehen und sie so erst zu Patienten machen, erlebt Christine Behr-Völtzer, Professorin für Ernährungswissenschaft an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft in Hamburg, in ihrer Ernährungsberatung. »Ein Vater kam zu mir und erzählte, sein Sohn vertrage Erdbeeren nicht in Kuchen, in Joghurt oder als Marmelade, wohl aber in Kombination mit Gelatine. Und ich sollte dann sagen, woran das liegt. Seine Beobachtungen erinnerten schon fast an eine wissenschaftliche Versuchsreihe.« Viele Menschen, die bei Christine Behr-Völtzer Rat suchen, haben echte Unverträglichkeiten, andere fürchten sich ohne erkennbaren Grund vor dem Essen. »Auch Gesunde haben oft unheimliche Ängste – vor Geschmacksverstärkern, vor Pestiziden oder vor einzelnen Lebensmitteln wie Milch, weil sie gehört haben, die sei nur für Babys geeignet, aber nicht für Erwachsene.« Andere hielten sich streng an Diäten wie die makrobiotische Ernährung, die fettarme und ballaststoffreiche Kost vorsieht. »Manchmal kommt es mir vor, als würden sie sich einer Art Heilslehre unterwerfen.«

Dass die freiwilligen Ernährungsasketen schon in der breiten Masse der Bevölkerung angekommen sind, lässt sich mit Zahlen belegen: 23 Prozent der Deutschen verzichten laut einer Umfrage, die Spiegel Online in Auftrag gab, auf bestimmte Lebensmittel, weil sie glauben, diese nicht zu vertragen.[1] Demnach schränken sich 11 Prozent bei Rotwein, Käse und diversen Fisch- und Fleischprodukten wegen des darin enthaltenen Histamins ein. Ob es eine Histaminintoleranz überhaupt gibt, gilt in der medizinischen Fachwelt jedoch noch als unklar. 9 Prozent der Deutschen gaben an, das Getreideprotein Gluten zum Teil oder ganz zu meiden – obwohl nur etwa 0,3 Prozent tatsächlich an Zöliakie leiden, einer Erkrankung, die Betroffene zum strengen Verzicht auf Gluten zwingt. Ob zusätzlich eine Glutensensitivität existiert, ist unter Wissenschaftlern ebenfalls hoch umstritten. 13 Prozent gaben an, andere Nahrungsmittel wie Erdnüsse nur eingeschränkt oder gar nicht zu essen. An Lebensmittelallergien leiden nach offiziellen Angaben aber nur etwa 2 bis 3 Prozent. Mehrere Studien haben bereits belegt: Auch wenn Menschen fest davon überzeugt sind, überempfindlich auf Lebensmittel zu reagieren, bestätigen Tests dies oft nicht.[2]

Viele lassen sich bereitwillig einreden, glutenfreie und laktosefreie Lebensmittel seien generell besonders gut für sie – auch für diejenigen, die gar keine Nahrungsmittelintoleranz haben. Obwohl das nicht stimmt, entsteht hier seit einigen Jahren ein riesiger Markt. Etwa dreimal so viele Menschen wie noch 2007 kaufen heute laktosefreie Produkte, hat die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) herausgefunden. Und das, obwohl die meisten von ihnen gar nicht an einer Laktoseintoleranz leiden. In den USA will schon jeder Dritte Gluten in der Ernährung reduzieren oder sogar ganz darauf verzichten.[3] Nahrungsmittel bewirbt man heute am liebsten damit, was sie nicht enthalten. Und egal ob der böse Stoff Milchzucker oder Gluten, Aroma oder Geschmacksverstärker heißt, wird gerade ganz gezielt die Nachfrage gesteigert. Den Herstellern ist es gelungen, die »Frei von«-Hinweise auf den Packungen (in der Marketing-Sprache »Clean Labels«) als Symbole für Natürlichkeit, Reinheit und eine besonders hohe Qualität aufzuladen. Und uns im Umkehrschluss zu suggerieren, ohne diese Produkte setzten wir fahrlässig unser Wohlbefinden – und das der anderen – aufs Spiel.

Warum sind wir bereit, für Lebensmittel, die uns keinen Nutzen bringen, das Doppelte oder Dreifache zu zahlen? Weil wir glauben, dass wir durch die richtige Ernährung zu besseren Menschen werden – gesundheitlich, marktwirtschaftlich und spirituell. Es sind gleich mehrere gesellschaftliche Entwicklungen, die sich die Strategen der Medizin- und Lebensmittelindustrie zunutze machen: Jeder ist heute aufgefordert, seinen Körper und seine Seele zu pflegen, um morgen und bis ins hohe Alter gesund, fit und leistungsfähig zu bleiben. So ist ein regelrechter Kult der Innerlichkeit entstanden. Wir gehen so achtsam mit uns um, dass wir ein Zwicken im Bauch schnell als Alarmsignal deuten. Die Ernährung dient uns dabei als eine Art Ersatzreligion. Sie verspricht Heil für Körper und Seele, und wer mit Pommes gesündigt hat, findet Vergebung in Detox-Kuren und »Frei von«-Produkten. In der Kantine gedünstetes Gemüse zu nehmen statt der Bratwurst, demonstriert zudem: Ich bin diszipliniert und trage Verantwortung, auf mich und meine Leistung kommt es an. Und festigt damit seinen sozialen Status.

In diesen Strukturen verfangen wir uns leicht. Wir halten uns für besonders kritisch und aufgeklärt, weil wir zu wissen meinen, dass wir mit Pestiziden, Zusatzstoffen und jetzt auch noch mit Laktose, Fruktose und Gluten vergiftet werden. Dabei machen uns gerade diese undifferenzierten Ängste zur leichtgläubigen Kundschaft für diejenigen, die daran gut verdienen. Ärzte, Labore und Heilpraktiker ermitteln mit obskuren Tests ganze Listen an Lebensmitteln, die uns angeblich schaden. Selbsternannte Wissenschaftler schüren mit Büchern namens Weizenwampe oder Dumm wie Brot unsere Angst vor Grundnahrungsmitteln – und wir machen sie dafür zu Bestsellerautoren. Die Lebensmittelindustrie freut sich über unsere neuen Empfindlichkeiten und füllt im Supermarkt ganze Regale mit »Frei von«-Produkten für »Ernährungssensible«. Und wir sind noch dankbar, dass uns jemand dabei hilft, unsere Gesundheitspflichten zu erfüllen und eine ganz individuelle Ernährungsidentität auszubilden.

Weizenesser sterben früher, Gluten verklebt den Körper von innen, und Milch macht sowieso krank – all den dramatisierten Unsinn, den Buchautoren, Blogger und Unternehmen verbreiten, darf man getrost ignorieren. Wir sollten uns nicht länger von einer selbsternannten Ernährungspolizei die Lust am Essen verderben lassen, sondern die Gelassenheit wiederentdecken. Denn nie war gute und gesunde Ernährung so einfach wie heute.

Wir Sensibelchen

1Sehnsucht nach damals

Unser Essen erscheint heute vielen als Bedrohung. Wir fürchten, schleichend durch all das vergiftet zu werden, was die Lebensmittelindustrie uns ins Essen mischt. Weil wir an der Qualität unserer Lebensmittel zweifeln, träumen wir uns zurück in eine kulinarische Vergangenheit, in der die Nahrung noch gut und natürlich war. Dann wären wir gerne ein bisschen wie die edlen Wilden aus der Steinzeit, die am Lagerfeuer Mammutschenkel grillten. Und übersehen dabei, dass unsere Nahrung in Wirklichkeit gerade jetzt so sicher, vielfältig und im Überfluss vorhanden ist wie nie zuvor.

Oma wusste noch, wie es geht. Auf dem Bauernhof um die Ecke holte sie ein Huhn und dazu Rübchen, die der Bauer gerade erst aus dem Acker gezogen hatte – frei von Pestiziden, dafür voller Nährstoffe und Aromen. Am heimischen Herd bereitete sie daraus nach ihrem ganz eigenen Rezept eine Suppe, die sie drei Tage lang kochen ließ. Direkt vom Acker in den Topf, ohne dass die Industrie Chemie hineinpanschen konnte. Vielleicht hatte sie sogar das weiße Haar zum Dutt gebunden und ein Häubchen aufgesetzt, die ideale Oma.

Solche Bilder mag ich. Als die Regionalküche vor ein paar Jahren vergessene Gemüsesorten aus Großmutters Zeiten wiederentdeckte, darunter sympathisch klingende Geschöpfe wie einen Grünkohl namens Ostfriesische Palme, gefiel mir das so gut, dass ich unbedingt auf meiner Fensterbank selbst alte Sorten säen und die Rückkehr der Urmöhre feiern wollte. Wenn ich die Außenseiterkartoffel Augsburger Gold zu Püree stampfte, freute ich mich, dass ich ihr im Kampf gegen die Übermacht der ewigen Sieglinde helfen konnte. Ein besonders gutes Gefühl gab mir der Gedanke, dass mich all das ehrliche Essen von irgendwann damals nicht vergiftet, weil da ja noch nicht so viel Chemie war.

Natürlich ist besser als Künstlich, und deshalb ist Alt besser als Neu – so denken im Moment viele. Manche lassen sich von ihrer Nostalgie noch weiter zurücktreiben als bis zu Omas Zeiten, in eine noch fernere, also noch bessere kulinarische Vergangenheit. Bei den Azteken haben sie das neue Superfood entdeckt: Chia-Samen, die für ihre Ballaststoffe, Antioxidantien und Omega-3-Fettsäuren gelobt werden. »In Deutschland sind Chia-Samen noch Exoten, in Südamerika hingegen wurden sie schon vor Tausenden von Jahren von den Azteken als Grundnahrungsmittel und Heilsamen verwendet«, schreibt das Onlinemagazin Eat Smarter.[4] Andere Medizinportale schwärmen von den Heilkräften der Wundersamen und ihrer Fähigkeit, Giftstoffe abzubauen oder, etwas martialischer, einen Krieger 24 Stunden lang kampfbereit zu halten (schon zwei Esslöffel genügen). Noch wichtiger als der Hinweis auf die einzelnen Nährstoffe scheint die Rahmenhandlung zum neuen Ernährungswunder zu sein. In den Berichten heißt es immer wieder, schon das Urvolk der Azteken habe von den Zauberkräften der Samen gewusst, ein jahrtausendealtes Wissen sei wiederentdeckt worden. Dass die Azteken gar keine so alte Kultur sind, sondern etwa zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert existierten, spielt für die Mythenbildung keine Rolle. Geschichten von der uralten Weisheit, die vergessen war, wiedergefunden wurde und an der wir teilhaben dürfen, scheinen uns zu faszinieren.

Andere sehnen sich gleich zurück in die Steinzeit, zu den Anfängen der Menschheit, als das Essen noch richtig ursprünglich war. Schließlich macht uns der Jäger und Sammler vor, wie menschliche Ernährung eigentlich geht: Statt Käsebrot gab es bei ihm frisch erlegtes Tier mit selbstgepflückten Nüssen und Beeren. In kalifornischen Supermärkten werden schon ganze Salatbars mit dem Begriff »Paläo« gekennzeichnet. Auch in Deutschland findet die Ernährungsmode Anhänger: In Onlineforen tauschen sich Menschen darüber aus, wie viel schöner, gesünder und glücklicher sie schon sind, seit sie Steinzeitdiät machen. Edeka schreibt auf seiner Internetseite über Möhren: »Schon in der Steinzeit schätzte man das Gemüse als sehr nahrhaft.« Und in Berlin kocht das Restaurant Sauvage für die Anhänger der Paläo-Diät. Das bedeutet, dass vor allem sehr viel nicht gekocht wird: kein Gluten, auch sonst kein Getreide, keine Milchprodukte, nicht einmal pflanzliche Öle. Stattdessen gibt es »Natur Pur, so wie es der Mensch schon seit Millionen Jahren macht«. Serviert werden zum Beispiel Steaks (nicht zwangsläufig roh), Süßkartoffel-Gnocchi und Maniok-Brot.

Trotz meiner grundsätzlichen Offenheit für nostalgische Romantisierungen komme ich irgendwo zwischen Azteken und Steinzeitmenschen an den Punkt, an dem ich mich frage: Kann es sein, dass wir ein bisschen übertreiben? Je mehr wir die Vergangenheit verklären, desto mehr werten wir die Ernährungsgegenwart ab. Sorgsam pflegen wir unsere Empfindlichkeiten, Ängste und Irrationalitäten, betrachten unsere Nahrung als potenzielle Bedrohung und meiden ganze Gruppen von Nahrungsmitteln kategorisch – auch dann, wenn das medizinisch gar nicht notwendig ist. Konzentrieren wir uns vielleicht so sehr darauf, was an unserem Essen schlecht sein könnte, dass wir übersehen, in welchem Schlaraffenland wir eigentlich leben? Und zwar jetzt, nicht zu einem diffusen Damals.

Natürlich kann man an der modernen konventionellen Landwirtschaft einiges kritisieren: Mit Monokulturen und Düngemitteln schadet sie der Umwelt, Tiere werden unter unwürdigen Bedingungen gehalten. Richtig ist auch, dass es heute nur wenige Obst- und Gemüsesorten in die Supermärkte schaffen – nämlich vor allem jene, die so zurechtgezüchtet sind, dass sie sich mit großen Maschinen ernten lassen und lange Transportwege und Lagerzeiten überstehen. Aber vielen Fortschrittsskeptikern geht es gar nicht um all das, sondern um ihr eigenes Wohl. Auch Menschen, die körperlich gut dabei sind, fürchten, von der Agrarwirtschaft und der Lebensmittelindustrie mit Pestiziden, Dioxin, Geschmacksverstärkern, Konservierungsstoffen und Gluten vergiftet und mit nährstoffleerem Gemüse geschwächt zu werden.

Alles voller Gift?

Ein Blick in die Statistiken bestätigt die grassierende Furcht vor dem Essen. »Welche Themen sind für Sie persönlich die größten gesundheitlichen Risiken des Verbrauchers?«, fragten Marktforscher im Auftrag des Bundesinstituts für Risikobewertung in einer Studie. An erster Stelle nannten die Teilnehmer Ängste aus dem Bereich Umweltverschmutzung, Strahlung und Klimawandel, gleich an zweiter Stelle folgten Lebensmittel – knapp ein Drittel der Deutschen betrachtet unsere Nahrung als eine der größten Gefahren für die Gesundheit.[5] Eine andere Erhebung ergab, dass gut 70 Prozent der EU-Bürger beunruhigt sind wegen möglicher Pestizidrückstände im Essen, fast genauso viele sorgten sich um Antibiotika oder Hormone im Fleisch oder um Schadstoffe wie Dioxin und Quecksilber.[6] Selbst unsere Nostalgie lässt sich in Zahlen erfassen: Mehr als 40 Prozent der Deutschen fürchten, dass Lebensmittel heute generell weniger gesund und stärker mit Schadstoffen belastet sind als noch vor 20 Jahren.[7]

Generell lässt sich sagen, dass wir mit unserer Einschätzung der Risiken, die von Lebensmitteln ausgehen, oft danebenliegen. Denn die Mechanismen, mit denen wir Gefahren im Alltag bewerten, sind alles andere als rational. Wissenschaftler nennen das, was dann in unseren Köpfen vorgeht, »intuitive Toxikologie«: Nehmen wir ein vermeintliches Risiko neu wahr, halten wir es leicht für eine besonders große Gefahr – siehe Gluten –, altbekannte Gesundheitsrisiken wie Salmonellen treiben uns dagegen weniger um. Vom Menschen verursachte Risiken, zum Beispiel den Zusatz von Konservierungsstoffen, empfinden wir oft als bedrohlich, natürliche Risiken wie Pflanzengifte unterschätzen wir dagegen. Haben wir das Gefühl, dass wir eine Gefahr selbst kontrollieren können, etwa Keime durch Küchenhygiene, fürchten wir uns in der Regel nicht. Gerade das zeigt aber, dass unsere Wahrnehmung manchmal täuscht, denn Lebensmittelvergiftungen durch mangelnde Küchenhygiene gehören in Europa zu den häufigsten Erkrankungen, die durch Nahrungsmittel verursacht werden.

Ein weiteres Beispiel: Gehen wir ein gesundheitliches Risiko freiwillig ein, halten wir es tendenziell für ungefährlich – und grillen Steaks schwarz –, werden wir diesem dagegen unfreiwillig ausgesetzt, überschätzen wir die Gefahr.[8] Gerade im letzten Punkt erkenne ich mich selbst gut wieder: Es kommt vor, dass ich einen Apfel gründlich mit heißem Wasser abspüle, so wie ich es von Greenpeace gelernt habe, weil dann die Pestizide am besten abgehen. Kurz darauf aber entferne ich im Bad – freiwillig – den Nagellack von meinen Fingern und habe dabei nicht einmal das Bedürfnis, das Fenster zu öffnen. Dabei weiß ich aus diversen Recherchen, dass in Deutschland schon seit Jahren kaum mehr Rückstände von Pflanzenschutzmitteln oberhalb der zulässigen Höchstmengen auf Obst und Gemüse gefunden werden. Auf meinem Nagellackentferner jedoch steht, er bestehe hauptsächlich aus Ethylacetat. Über den Stoff heißt es in einer Chemie-Datenbank, er werde »inhalativ gut aufgenommen« und dann »weitermetabolisiert«. Außerdem: »In hohen, fast letalen Konzentrationen wirkt Ethylacetat narkotisch und schädigt die Lunge. Zielorgane im Tierversuch nach wiederholter Exposition gegenüber subnarkotischen Konzentrationen sind Lunge, Leber, Niere und Milz.« Auch von einem »tödlich verlaufenen Fall einer berufsbedingten inhalativen Exposition« ist die Rede.[9] Aber Hauptsache, ich wasche den Apfel gut ab.

Technische Entwicklungen tragen zusätzlich zur Verwirrung bei. »In den vergangenen Jahrzehnten sind die Messinstrumente immer genauer geworden«, sagt Mark Lohmann vom Bundesinstitut für Risikobewertung. Inzwischen könne man schon geringste Konzentrationen von Schadstoffen in Lebensmitteln feststellen, selbst wenn das Verhältnis dem eines Stücks Würfelzucker im Bodensee entspricht. »Das heißt aber nicht, dass die entdeckten Stoffe in geringer Menge schädlich sind, und auch nicht, dass sie früher nicht da waren. Vielleicht konnte man sie nur noch nicht messen.«

Die Kombination aus verzerrter Risikowahrnehmung, der Sehnsucht nach dem ursprünglichen Leben und echten Lebensmittelskandalen ist ein fruchtbarer Boden für Mythen rund um die Ernährung damals und heute. Diese haben sich verselbstständigt und Ängste verstärkt. Es lohnt sich, einmal genau nachzufragen, welche Sorgen berechtigt sind und welche nicht.

So viel vorab: Bei näherer Betrachtung stellen sich viele Ängste zum Glück als etwas überzogen heraus – und manche Zeichnungen der Vergangenheit als ein bisschen sehr rosig.

Omas geheime Pülverchen

Ich fange mal in meiner eigenen Essbiographie an, den Nebel der Nostalgie zu lichten. Meine Oma kochte auch gut, ich erinnere mich an buttrige Bratkartoffeln und sahnigen Gurkensalat. Aber das, was mir als Kind bei Oma immer am allerbesten schmeckte, stand im Küchenschrank. Wenn ich den Hocker dorthin schob, kam ich alleine dran: an den gelben Streuer mit dem roten Schriftzug »Fondor«. Das Pulver darin war ziemlich pures Glutamat. Ich schüttelte etwas davon in meine Handfläche und leckte es ab. Damit konnte ich mich eine Weile beschäftigen. Ich habe Grund zu der Annahme, dass meine Oma nicht die Einzige war, die bei der Suppe ein wenig nachhalf: Schon 1908 brachte Maggi den ersten Brühwürfel auf den Markt, er verkaufte sich gut.[10]

Die große Vielfalt von Lausitzer Nelkenapfel, Teltower Rübchen und Kesselheimer Zuckererbse, die heute so viele von einem Fantasie-Früher schwärmen lässt, war bis vor einigen Jahrzehnten, wenn überhaupt, nur zur Erntezeit und kurz danach verfügbar. Saisonal und regional zu kochen ist toll, aber nur, wenn es auch etwas gibt. Wer sich einen langen deutschen Winter mit Kohl und noch mehr Kohl vergegenwärtigt, dem vergeht vielleicht schon bei diesem Gedanken der Appetit auf Damals. Früchte können die Deutschen erst das ganze Jahr über essen, seit diese im großen Stil importiert oder in Kühlhäusern gelagert werden. Gerade dank geschlossener Kühlketten und optimierter Lagermethoden behalten Obst und Gemüse ihre Nährstoffe. Und doch befremdet manche Nostalgiker die Vorstellung, dass Äpfel monatelang in anonymen Hallen konserviert werden. Sie träumen sich zurück in Omas Keller, wo die Kartoffeln, Äpfel und Rüben feucht und kühl in Kisten lagerten und vor sich hin dufteten.

Ein Bekannter erzählte mir kürzlich vom Vorratskeller seiner Großeltern. Da habe es immer dieses Pulver gegeben, erinnerte er sich. Streu mal die Kartoffeln damit ein, wurde ihm als Kind aufgetragen, aber pass auf, dass es nicht auf die Finger kommt! Später fand er heraus, dass es sich bei dem Pulver um ein Mittel handelte, das die Kartoffeln vom Keimen abhält. Solche Präparate, die seit den fünfziger Jahren eingesetzt werden, enthalten meist Chlorpropham, das bei Hautkontakt eine ätzende Wirkung hat. In hoher Dosierung geschluckt oder eingeatmet, kann der Stoff Organe schädigen und vermutlich Krebs erzeugen. Die zugelassene Höchstmenge für Rückstände auf den Kartoffeln ist so berechnet, dass sie beim Verzehr nicht schadet.[11] Bis zum Jahr 2001 waren solche Mittel frei verkäuflich, auch an Omas mit Kartoffelkeller. Heute dürfen nur noch Unternehmen Keimhemmer mit Chlorpropham verwenden. »Da Kartoffeln im nichtgewerblichen Bereich auch bei größter Sorgfalt von Hand nicht gleichmäßig einzupudern sind, können einzelne Knollen hohe Rückstände aufweisen«, schreibt mir Nina Banspach, Sprecherin des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Deshalb habe man beschlossen, dass Privatleute diese Mittel nun nicht mehr kaufen dürfen – im Gegensatz zu früher. Ganz so wildromantisch und natürlich ging es also auch in Omas Keller nicht zu.

Die Geschichte von den verlorenen Nährstoffen geht so: Weil die Agrarindustrie die Böden auszehrt, bilden sich in Obst und Gemüse kaum mehr Vitamine, Mineralstoffe und sekundäre Pflanzenstoffe. Klingt plausibel, stimmt aber nicht. »Richtig ausgelaugt würden die Böden nur, wenn ein Landwirt jahrzehntelang die gleiche Pflanze darauf anbauen würde, das tut aber keiner. Und wenn es zu einer leichten Ermüdung des Bodens kommt, hat das keinen großen Einfluss auf die Nährstoffe in dem Obst und Gemüse, das darauf wächst«, sagt Günter Schumann, der am Julius-Kühn-Institut das Institut für Züchtungsforschung an gartenbaulichen Kulturen leitet. So können Düngemittel zum großen Teil Nährstoffverluste in Böden ausgleichen, neben der Bodenqualität beeinflussen auch Licht, Luft und Wasser den Nährstoffgehalt in Obst und Gemüse. Das bestätigen Untersuchungen des Max-Rubner-Instituts zu Äpfeln. Ein Vergleich der Jahrgänge 1988 bis 2009 zeigt, dass der Anteil an Vitamin C stark schwankt, aber nicht kontinuierlich abnimmt.

Dass sich der Mythos vom innerlich erschlafften Gemüse trotzdem so hartnäckig hält, mag damit zusammenhängen, dass die Hersteller von Vitaminpillen ihn erfolgreich kultivieren. »Ausgelaugten Böden können auch noch so gesunde Pflanzen nur spärlich ausreichend Mineralstoffe entziehen. Entsprechend mineralstoffarm können auch Obst und Gemüse sein, wenn sie auf ausgelaugten Böden angebaut werden«, heißt es auf der Internetseite eines Anbieters.[12] Die Firma empfiehlt, man solle die entstandenen Defizite durch Nahrungsergänzungsmittel ausgleichen. Solche Pillen, die medizinisch hoch umstritten sind, kann der Leser gleich im Online-Shop erwerben.

Urmenschen tranken keine Milch

In unserer Vorstellung ging es auch bei unseren ganz alten Vorfahren wunderbar natürlich zu – wenn wir uns ausmalen, wie das Steinzeitmädchen im Fellrock über Sommerwiesen streift, wilde Beeren von den Sträuchern pflückt und gegen den kleinen Hunger zwischendurch ein Nüsschen zerknurpst, bevor sie abends gemeinsam mit den anderen edlen Wilden am Lagerfeuer Mammut grillt. In Wirklichkeit kaute sie wohl auch auf Käfern und Schnecken, die schließlich eine weniger begrenzte Saison haben als Beeren und Nüsse. Aber ein solches Ausmaß an Realität ist in unserer Steinzeitfolklore nicht vorgesehen.

Nicht ganz klar ist mir, wann genau die Paläo-Romantiker den ultimativen menschlichen Naturzustand verorten: bevor der Mensch lernte, Feuer zu machen? Dann fiele die gesamte Lagerfeuer-Fantasie weg. In den ganz alten Zeiten zogen die verlausten Urmenschen höchstwahrscheinlich in kleinen Horden durchs Land, Lagerplätze richteten sie nur vorübergehend ein. Vermutlich steckten sie sich Gräser, Nüsse, Samen und Wurzeln gleich dort, wo sie diese fanden, in den Mund.[13]

Und wilde, pflanzliche Rohkost bedeutet harte Arbeit: viel zähes, sperriges Gehölz im Mund, auf dem man lange kauen muss. Der Harvard-Anthropologe Richard Wrangham glaubt, dass unsere frühen Vorfahren sich ähnlich ernährten wie wilde Schimpansen heute. Dass die Tiere mal eine leckere Beere finden, ist eher die Ausnahme. Den größten Teil des Tages verbringen sie damit, faserige Wildpflanzen zu suchen – und ausdauernd darauf zu kauen, um sie irgendwie genießbar zu machen. Um das Lebensgefühl nachzuempfinden, habe er einen Selbstversuch unternommen, erzählte Wrangham einem Reporter der New York Times.[14] In den siebziger Jahren habe er als junger Forscher eine Weile in Tansania verbracht, um Schimpansen zu beobachten. Er fragte seine damalige Projektleiterin Jane Goodall, ob er eine Weile wie ein Schimpanse leben dürfe. Eigentlich wollte er ganz authentisch sogar nackt losziehen, aber das ging Jane Goodall zu weit. Er solle wenigstens einen Lendenschurz tragen, sagte sie. Wrangham aß, was er unterwegs fand. Und behielt vor allem eines in Erinnerung: Er hatte die meiste Zeit schlimmen Hunger.

Der Urzustand war also keineswegs der Idealzustand. Einen evolutionären Sprung erlebte die Menschheit, als sie lernte, Feuer zu machen und Nahrung zu kochen, sagt Wrangham. Das Essen wurde auf diese Weise weicher, sodass das grobschlächtige Gebiss des Steinzeitmenschen sich langsam zurückbilden konnte. Es wurde sicherer, weil man Parasiten und Keime abtöten konnte. Und es lieferte mehr Energie, weil der Körper weniger Verdauungsarbeit leisten muss, um gekochte Nahrung zu verwerten – ein großer Vorteil, wenn man permanent damit beschäftigt ist, genug zu sammeln und zu jagen, um überhaupt zu überleben.

Die Nahrungsbeschaffung blieb über Jahrtausende hinweg ziemlich anstrengend. Der amerikanische Anthropologe George Frison macht sich in seinem Buch Survival by Hunting über die naiven Vorstellungen seiner Studenten lustig. Auf die Frage, wie die Menschen das mit dem Jagen wohl angestellt hätten in prähistorischen Zeiten, antworteten die gemeinhin: »Wenn sie Hunger bekamen, ging einer los und tötete einfach einen Bison, oder was für ein Tier auch immer sie an dem Tag als Ziel aussuchten, und brachte es zurück ins Lager.« Dann breitet der Wissenschaftler ein ganzes Buch lang aus, wie die Jagd vor einigen tausend Jahren bei paläoindianischen Jägern und Sammlern in Nordamerika wohl eher ablief.[15] Er rechnet vor, dass die Menschen praktisch ununterbrochen jagen mussten, um überleben zu können. Um an Bisonfleisch zu kommen, mussten sich wahrscheinlich mehrere Gemeinschaften zusammentun, damit sie das Tier in eine Falle hetzen und dort töten konnten. Ein einziges Tier zu jagen und ins Lager zu bringen, konnte mehrere Tage dauern.[16] Trockene Sommer und harte Winter reduzierten zum Beispiel in den Rocky Mountains oft drastisch die Anzahl der Tiere, die in der Gegend lebten. »Folglich mussten prähistorische Gruppen von Menschen sich auf das Schlimmste gefasst machen und auf das Beste hoffen.«[17] Gerade im Winter war es oft schwierig, überhaupt satt zu werden. Wenn es nichts zu jagen und nichts zu sammeln gab, mussten die Menschen gelagerte Reste essen, solange es welche gab. Die Nahrung aufzubewahren, muss ein Riesenproblem gewesen sein. Nordamerikanische Urmenschen versuchten, Fleisch und Pflanzen zu trocknen und so haltbar zu machen. Doch es war schwierig, einen geeigneten Ort für die Lagerung zu finden. Wenn die getrockneten Nahrungsmittel feucht wurden, verdarben sie. Oder wilde Tiere fraßen die Vorräte auf. Einige Raubtiere sind sehr gut darin, Fleisch aufzuspüren. Und selbst wenn man das Essen vergrub, buddelten Bären, Wölfe, Kojoten oder Nagetiere es einfach wieder aus.[18]

Die Anhänger der Steinzeitdiät argumentieren, die Gattung Homo habe sich über Jahrmillionen von viel Fleisch ernährt, aber nur von sehr wenig Getreide und praktisch keiner Milch. Erst vor etwa 10000 Jahren begann der Mensch, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben und in der Folge viel Getreide und Milchprodukte zu verzehren. Und erst im 20. Jahrhundert wuchs der Anteil schnell verwertbarer Kohlenhydrate in Form von Zucker, weißem Mehl und geschältem Reis. Aus evolutionärer Sicht seien 10000 Jahre eine kurze und 100 Jahre eine sehr kurze Zeit, argumentieren die Paläo-Esser. So schnell könne man sich allein durch natürliche Auslese nicht anpassen. Folglich sei es unnatürlich, Milch zu trinken. Tatsächlich zeigt aber gerade dieses Beispiel, dass die Argumentation nicht überzeugend ist. Ursprünglich konnte der Mensch genetisch bedingt nur in den ersten Lebensjahren Milchzucker verdauen, was für ein Säugetier wichtig ist. Nach dem Abstillen verlor er diese Fähigkeit. Erst als der Mensch begann, Kühe zu halten und zu melken, hatten diejenigen einen enormen Überlebensvorteil, die Milch auch als Jugendliche und Erwachsene noch vertrugen. Dank Eiweiß, Fett und Kohlenhydraten konnten sie schnell Kalorien aufnehmen. So verbreitete sich innerhalb weniger Generationen in der Bevölkerung eine zuvor bedeutungslose genetische Mutation, die es ermöglicht, das Enzym Laktase zu produzieren. Dieses spaltet den Milchzucker und macht ihn verdaulich.

Vor allem in Gegenden, in denen viel Viehzucht betrieben wurde, konnten immer mehr Menschen Laktose verdauen, zum Beispiel in Mittel- und Nordeuropa. Diese Entwicklung dauerte nur etwa 5000 Jahre, hier liefen evolutionäre Prozesse also sehr schnell ab. In Deutschland vertragen heute etwa 85 Prozent der Bevölkerung Laktose. In vielen Gegenden Asiens sind dagegen auch heute noch fast alle Menschen laktoseintolerant. Milch zu trinken, ist also keineswegs unnatürlich. Wer die genetische Variante hat, verträgt Laktose – und wer nicht, der nicht.

Als der Mensch sesshaft wurde und begann, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, hatte er auch einen besseren Zugang zu Kohlenhydraten in Form von Getreide und Milch. Das schadete ihm nicht, im Gegenteil: Die Ackerbauern und Viehzüchter brachten etwa viermal so viele Kinder durch wie die Jäger und Sammler. Das verlieh ihnen einen so hohen Status, dass manche Menschen aus nicht sesshaften Gruppen sich bemühten, in diese Gesellschaften einzuheiraten, wie Joachim Burger, Professor für Anthropologie an der Universität Mainz, herausgefunden hat. Die prähistorischen Jäger und Sammler selbst waren also offenbar gar nicht so begeistert von ihrem Dasein wie die heutigen Paläo-Romantiker. Kohlenhydrate waren damals kein Teufelszeug, sondern hoch begehrt. »Von den physiologischen Voraussetzungen her können wir unsere heutige Nahrung durchaus verdauen, auch Kohlenhydrate«, sagt Joachim Burger und fügt einen entscheidenden Satz an: »Nicht unsere Nahrung ist das Problem, sondern unser Verhalten.« Das heißt: Wir essen zu viel und zu einseitig und bewegen uns zu wenig, ganz einfach.

Ackerbau und Viehzucht brachten den Menschen einen enormen Entwicklungsschub, weil die Versorgung etwas weniger unsicher wurde. Trotzdem litten die Menschen auch in Europa noch bis vor wenigen Jahrhunderten phasenweise unter Hunger und Mangelernährung. Im Mittelalter war die Auswahl an verfügbaren Lebensmitteln so begrenzt, dass die meisten Menschen sich vorwiegend von Getreidebrei ernährten. Kein sauberes Trinkwasser zu haben, war der Normalzustand. Der ärmeren Bevölkerung stand so wenig Nahrung zur Verfügung, dass man sogar Verdorbenes schluckte. Man hatte ja nur wenige Möglichkeiten, Lebensmittel haltbar zu machen.

Die Frage, ob Vergammeltes schmeckt oder gesund ist, stellte sich nicht, weil es ums Überleben ging. Und selbst wer zu essen hatte, musste ständig fürchten, Lebensmittel könnten ihn vergiften – nicht durch Chemie, sondern durch Natur. Damals erkrankten vor allem in Jahren mit feuchtem Frühjahr und heißem Sommer viele Menschen am oft tödlichen Antoniusfeuer. Erst nach mehreren Jahrhunderten erkannte man, dass diese Krankheit durch das giftige Mutterkorn verursacht wird. Dieser Pilz befällt Roggen und andere Getreidearten. Während im Mittelalter viele Menschen starben, nachdem sie verseuchtes Getreide gegessen hatten, ist Mutterkorn heute dank des technischen Fortschritts in der Landwirtschaft in Europa sehr selten geworden – Saatgut wird kontrolliert und so beheizt, dass Pilze sich nicht wohlfühlen. Getreide wird heute vor dem Mahlen gereinigt und gesiebt, um womöglich enthaltenes Mutterkorn zu entfernen.

Diesen Luxus konnte sich der arme Bauer im Mittelalter aber vor allem in Hungerzeiten nicht leisten. Fatalerweise hielten die Bauern das Mutterkorn lange für verfaulten Roggen, und weil die Not so groß war und sie die Gefahr nicht kannten, mischten sie es unter das gute Getreide, um mehr Menschen versorgen zu können – oder auch um mehr Geld zu verdienen. Über das Mehl gerieten die Giftstoffe ins Brot oder den Getreidebrei. Erst im 19. Jahrhundert erkannte man das Mutterkorn als gefährlichen Pilz.[19]

Warnung vor Basilikum

Damals war also nicht alles besser. Dafür ist heute nicht alles ganz so schlimm, wie es sich manchmal anfühlt. Vor Fütterungshormonen im Fleisch muss sich in Europa heute niemand fürchten, denn diese wurden schon 1988EU-weit in der Tiermast verboten. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) fand bei Kontrollen auf Rückstände medizinischer Produkte in Tieren und Lebensmitteln tierischer Herkunft so gut wie keine Verstöße gegen das Verbot: Im Jahr 2011 war gerade einmal 0,1 Prozent der Proben positiv.[20] Auch zu dem gefürchteten Stoff Dioxin gibt es erfreuliche Neuigkeiten – besonders interessant für die 40