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Gerd, Ruths bester Freund, wird brutal ermordet. Für die sonst so taffe Frau bricht eine Welt zusammen. Zum Trauern bleibt Ruth keine Zeit. Mit dem Willen den Schuldigen zu finden, macht sie sich auf den Weg in finstere menschliche Abgründe. Die Ereignisse überschlagen sich und weitere Menschen werden auf ähnliche Weise umgebracht. Schnell wird aus der Jägerin eine Gejagte. Und ehe sie sich versieht, gerät Ruth in tödliche Gefahr.
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Seitenzahl: 467
Veröffentlichungsjahr: 2021
Der
Finstere
Weg
Ruth Krolls erster Fall
Buch 1
Ein Thriller
Und möglicherweise etwas mehr als das…
Ein dickes Dankeschön an:
Stephanie, Maira-Lee, Melanie, Markus, Renee,
Kirsten, Björn…
Renee fürs Cover und Sylvia für die ersten Hörproben
Wahrscheinlich noch einige mehr, die ich hier
vergessen habe.
Aber ein Buch schreibt niemand alleine.
Dann sind da noch viele unbekannte, die ich im Laufe
der Recherche im Internet kennengelernt habe.
Ich habe Einblicke in eine Welt erhalten, die ich so gar
nicht erleben wollte. Menschen haben mir Seiten von
sich präsentiert, die ich als sehr verstörend empfunden
habe. Doch es ist ihr Weg und sie müssen ihn gehen
und das Ende ertragen.
Wie nun, ihr zittert? Ihr seid erschreckt?
Doch ach! Ich tadl‘ euch
nicht;
Ihr seid ja sterblich!
Und es erträgt kein sterblich Aug‘ den
Teufel
Anna, aus König Richard III
Prolog
»Ach Herrgott, ich bin doch auch nur ein Mensch. Und Kinder sind…!«
Die Nonne atmet laut aus. Fast schon ein Schnauben. Sie setzt sich auf eine Bank, die unter einer riesigen Rotbuche steht. Mit zwei anderen Schwestern hat sie einmal versucht, den Stamm zu umarmen. Es ist ihnen nur sehr knapp gelungen. Ihre Augen strahlen, als sie die ersten Frühblüher entdeckt. Innerhalb einer Woche, öfter kommt sie nicht hierher, ist der Park förmlich explodiert. Das Beste ist der Geruch des Bärlauchs. Hinter der Bank wächst er munter aus der Erde. Ein schöner breiter Streifen. Vielleicht 4 Meter lang.
Genug für alle. Ein paar Blätter gönne ich mir nachher. Zusammen mit Brot und Tomaten gibt das ein wunderbares Abendmahl.
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, bei diesen Gedanken. Erst jetzt bemerkte sie die alte Frau, die sie anstarrte. Gebeugt über einen Rollator, stand sie da. Die Nonne empfand sofort Mitleid. Wie konnte eine Person nur so verbittert gucken? An solch einem herrlichen Tag.
»Soll ich ihnen sagen, was Kinder sind? Sie sind schrecklich. Laut. Sie haben keinen Respekt. Dazu sind sie wild und frech.
Überall liegt ihr Dreck herum. Am schlimmsten sind die Mädchen. Wie die rumlaufen. Die tragen fast nur noch einen breiten Gürtel. Da hatten wir früher im Schwimmbad mehr an. Und so gehen die einkaufen und ins Kino. Kein Wunder, das sie mit 15 schwanger werden. Was lernen die in der Schule? Ich bin mir sicher, gar nichts. Was haben die nur für Eltern? Wahrscheinlich waren die auch nicht besser.« Als die Nonne nicht sofort antwortet, schüttelt die alte Frau nur den Kopf und geht weiter.
»Kinder sind vor allem Kinder. Sie müssen lernen. Und wir müssen ihnen was beibringen.«
Die alte Frau geht weiter und winkt nur ab.
»Wir sind alle nur Menschen. Ob alt oder jung.« Die Nonne steht auf und geht in eine kleine Kapelle. Deswegen ist sie in den Park gegangen. Sie unterrichtet an einer kleinen Schule. Heute haben die Schüler ihr alles abverlangt. Ihre Nerven sind beinahe zerrissen. Es gibt einige Schüler, die sehr aktiv am Unterricht teilnehmen. Andere lieben es, zu stören und zu provozieren.
Dieser Park mit der kleinen Kapelle, in der schon lange keine Gottesdienste mehr abgehalten werden, ist ihre Oase. 30 Minuten bleibt sie in dem kleinen alten Gebäude. 30 Minuten voller Ruhe und Friedlichkeit. Niemand ist hier außer ihr. Die äußere Welt dringt nur gedämpft zu ihr durch. Spricht sie mit Gott, kann sie alles andere ausblenden. Gibt es einen intimeren Moment? Das ist wahre Liebe. Sie ist eins mit sich und allem anderen. Die Last gleitet von ihren Schultern. Sie spürt förmlich, wie sie sich wiederaufrichtet. Wie sie freier und tiefer atmen kann. Langsam erhebt sie sich von den Knien. Welch ein süßer Schmerz sich in den Beinen ausbreitet. 30 Minuten knien. Auf dem harten Holz. Eine gerechte Buße für ihre Ungeduld am Vormittag. Doch jetzt ist alles wieder gut. Sie tritt wieder ins Freie und atmet den Frühling ein. Der Bärlauch, sie hätte ihn fast vergessen. Als sie sich bückt, erschrickt eine kleine Maus und flieht, so schnell sie kann.
»Oh, das tut mir leid. Bleib da. Ich werde dir nichts tun.« Sie lächelt dem kleinen Nager nach und pflückt ein paar Blätter. Wie köstlich dieses unscheinbare kleine grüne Gewächs duftet und welch leckere Köstlichkeit sich auf einfachste Weise zubereiten lässt. Ein wahres Geschenk des Himmels.
Wenn die Nonne eine Schwäche hat, so ist es wohl die Tatsache, dass sie allem zu sehr vertraut. Nie achtet sie auf ihre Umgebung. Nur wenn sie helfen kann, erkennt sie die Situation und zögert keinen Augenblick. An das Schlechte in einem Menschen kann sie nicht glauben. Was nun passiert, trifft sie vollkommen überraschend. Über die beiden Männer hätte sie gesagt: Es sind nur kleine Sünder. Gott wird ihnen verzeihen. Verzeihen wir ihnen ebenfalls.
»Da ist die Schlampe. Schlag zu. Aber nicht zu hart.« Alles ist anders. Alles ist vorbei. Die Nonne spürt nicht, wie sie auf die Erde fällt. Wie vier kräftige Hände sie an Schultern und Füßen fassen und zu einem alten klapprigen Wagen schleppen. Sie nehmen den direkten Weg zwischen zwei Buchen hindurch und durch noch nicht so dicht gewachsene Büsche. Grob werfen die zwei die Nonne in den Kofferraum. Es scheint für sie vollkommen normal zu sein, eine Nonne am hellen Tag zu entführen. Also sie losfahren, hätte man denken können, sie fahren jetzt zum Einkaufen. Die Musik ist zu laut, jedoch das ist ja nichts Ungewöhnliches in einer großen Stadt.
Als die Nonne wieder aufwacht, ist sie nicht mehr in dem Kofferraum. Sie weiß gar nicht, ob sie in einem gewesen ist, oder wie sie überhaupt in dem Keller gelangt ist. Ihr Kopf schmerzt wie noch nie in ihrem Leben. Panik erfüllt sie. Alles ist fremd. Wo ist sie? Wie lange ist sie schon hier? Warum ist sie hier? Was wird ihr widerfahren? Sie versucht aufzustehen, allerdings war der Schlag auf den Kopf hart. Ihr wird schwindelig. Sie sackt wieder zusammen und erbricht sich auf die alten Säcke, auf denen sie eben aufgewacht ist. O Gott hilf mir. Steh mir bei. Sie keucht. Versucht, um Hilfe zu rufen. Sie muss aufwachen. Das muss ein Alptraum sein. Ihr Herz schlägt wie wild. Pumpt Blut und Adrenalin durch ihren Körper. Ihr wird kalt, um sofort wieder zu schwitzten. Ihre Atmung geht viel zu schnell. Der ganze Stress ist zu viel für sie. Mit einem letzten Gott hilf mir bricht sie ohnmächtig zusammen.
Zwei Tage später steht Janwillem Kooemann mit grimmigem Gesicht in seiner Kneipe hinter der Theke. Noch war das Verschwinden der Nonne der Zeitung nur ein kleiner Artikel wert. Apeldoorn ist beruhigend weit entfernt, von dem kleinen Ort Dahldeech in dem Janwillem lebt. Die wenigen Zeilen haben ihm gründlich die Laune verdorben. Natürlich ist es eine tragische Angelegenheit, wenn eine Nonne entführt wird, und weiß der Himmel, was nun mit ihr geschieht. Schlimmer als die eigentliche Tat sind die Erinnerungen, die sie weckt. Selbst eine ähnliche Tat auf den äußeren Ringen des Saturn hätte ihn mehr als beunruhigt. Der Wirt hat eine sehr genaue Vorstellung, in welchen Reihen die Entführer zu finden sind.
»Hallo Jan. Pass auf, dass deine Biergläser nicht zu Bruch gehen. Du bist ein wenig grob zu ihnen. Was ist denn los?« Statt einer Antwort knallt Janwillem seinem Bruder Robert nur die Zeitung auf den Tresen. Robert überfliegt den kleinen Artikel nur. Seine gutmütigen Gesichtszüge verfinstern sich sofort. »Ich brauche einen Schnaps!«, faucht er, um mit eiskalter Stimme fortzufahren: »Geht das wieder los? Aber sicher, es ist Frühling. Es war in den letzten Jahren nicht anders. Was der Herr Pastor und all die anderen wohl sagen werden?« »Du kannst Fragen stellen, Robert. Es wird ihm nicht gefallen. Ebenso wenig wie dir oder mir. Das Beste wird sein, du hältst die Augen offen und den Mund geschlossen. Das hat sich in den letzten Jahren bewährt.«
Der Wirt greift nach der Flasche und gießt ihnen beiden eine klare Flüssigkeit in kleine Trinkgläser. Voller Zorn trinken sie den Schnaps. Roberts Glas zersplittert, als er es mit Wucht auf die Theke knallt. Derbe fluchend betrachtet er seine Hand. Zum Glück blutet sie nicht.
»Janwillem, es geht so nicht weiter. Du weißt es genauso gut wie ich.« Der Wirt schaut einen kurzen Moment auf die Spüle, beinahe so als hätte er dort Ungeziefer entdeckt. Schließlich stößt er laut schnaubend den Atem aus: »Ich weiß, wir brauchen Ruhe und keine Presse und diesen Rummel. Ich will diese Paparazzi hier nicht. Sollen sie woanders herumschleichen. Ebenso wie alle anderen, die kommen werden. So wird nie Gras über die Sache wachsen.«
Die entführte Nonne durchwandert in den nächsten zwei Tagen ein Wechselbad der Gefühle. Wut. Verzweiflung. Angst.
Hoffnungslosigkeit. Sie fleht um Gnade. Weint in die alten Säcke und Decken, die bereits sehr lange in dem Keller liegen. Wirft diese voller Wut an die Wände. Wie ein Tier tobt sie durch den Raum. Schreit. Gibt der Welt alle möglichen Schimpfnamen, von denen sie denkt, sie kennt die gar nicht. Sie hat eine Menge von den Schülern gelernt. Sie verflucht ihre Geiselnehmer. Ihre Ohnmacht. Und bittet Gott inbrünstig um Vergebung. Immer wieder weint sie voller Verzweiflung. Es gibt natürlich die Phasen der Hoffnung: »Es muss jemand im Park gesehen haben, was passiert ist. Die alte Dame. Irgendwer. Dieser jemand hat die Polizei gerufen. Sie kennen das Kennzeichen. Also wissen sie, wo sie sich befindet. Sie werden bald kommen und mich retten. Es muss so sein! Es muss so sein!«
Als ihr dämmert, wie es wirklich um sie steht, bricht sie wieder zusammen und weint und schreit ihre Qual heraus, weil ihr klar wird, dass niemand kommen wird. Niemand hat darauf geachtet, was passiert ist. Weil niemand in dem Park unterwegs gewesen ist. Weil niemand hinsieht. Von ihren Entführern hört sie kaum etwas. Sie bleibt allein. Zwei Flaschen Wasser hat sie bekommen. Mehr nicht. Kein Essen. Sie darf nicht auf die Toilette. Sie kann sich nicht waschen. Die einzigen menschlichen Geräusche sind Stimmen, die durch die geschlossene Tür dringen. In den Nächten, sie glaubt, dass es Nächte sind, hört sie laute Schreie. Menschen werden gequält. Sie flehen um Gnade. Schließlich herrscht wieder Stille. Ruhe bereitet sich aus. Fast friedlich. Fast.
Plötzlich kommen zwei Männer in den Raum und drücken ihr ein nasses Tuch vor Mund und Nase. Sie sagen kein Wort. Starren die Nonne nur böse und finster an. Der Schlaf ist tief und traumlos. Stunden vergehen. Wie viele weiß sie nicht. Als sie aufwacht, befindet sie sich in einer Kirche. Nackt liegt sie auf einem Altar. Im selben Moment zweifelt sie an allem, was ihr bisher wichtig gewesen ist. »Soll sie hier und jetzt ihren Gott verleugnen? Möglicherweise kommt sie wieder frei. Genau darum geht es, redet sie sich ein. Die Entführer wollen sich an ihr rächen und sie dazu zwingen, Dinge zu sagen, die sie sich nie verzeihen kann.«
Sie geht die Liste ihrer Schüler durch. Immerhin unterrichtet sie nun beinahe 20 Jahre an einer kleinen Schule. Es sind einige dabei, denen so ein übler Streich durchaus zuzutrauen ist. Wenn man dies denn einen Streich nennen kann. Noch ihr ist kein Leid geschehen. Keine Verletzungen, niemand hat sie unsittlich berührt. Auch wenn sie jetzt nackt ist. Auch, wenn sie nicht weiß, was in den letzten Stunden passiert ist. Das ist alles naiv. Ein Rettungsanker, der an keiner Kette sitzt. Ihr Verstand versucht, ihr Leid zu ersparen. Ihr Herz weiß bereits, was sie erwartet. Sie wird nicht überleben.
Fast hofft sie, dass es bald vorbei sein wird. Nur schnell soll es gehen.
01.12.92 Tagebuch Georg Koch
Wie beschissen ist das eigentlich? Wenn ich doch nicht mehr in diese beschissene Schule müsste! Der Rektor, mein Klassenlehrer und natürlich meine Eltern . Alle haben sie Schlange gestanden , um mir zu sagen , was ich schon lange weiß: Mein Verhalten ist kindisch . Wie sie es nennen . Immerhin bin ja schon 15 Jahre alt. Ich kann nicht mehr einfach fortlaufen . Ist man mit 15 erwachsen?
Es ist doch egal was wir während des Sports machen . Mich kümmert das nicht. Hat es noch nie. Der Lehrer ist ein blöder Matcho, der den Mädchen nur auf die Möpse guckt. Sind die groß genug, gibt es eine gute Note. Was die im Sport bringen , ist doch egal . Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen , das nicht so zusagen . Meine Klappe ist einfach zu groß und zu schnell .
Der Rest ist dann erwartungsgemäß abgelaufen: Gespräch mit dem Rektor. Allerlei Strafen , die mich überhaupt nicht kümmern . Verwarnung. Ich mache dieses dumme Jahr noch zu Ende. Dann geht es Arbeiten . Ich habe Geld. Und kann meine eigenes Leben führen . Doch erst einmal musste ich bei Pa antreten . Er hat mal wieder gesagt, ich habe den Familiennamen beschmutzt. Scheiße! Die Sprüche höre ich jedes Mal , wenn Stress angesagt ist. Er hat da eben seine Methoden . Ich habe zwei Wochen Hausarrest, kein Fernsehen , nix. Mist. Gäbe es nur einen Weg geben , all das zu ändern . Ich würde alles ausprobieren . Ich finde mich zum Kotzen! Ich habe Schiss vor morgen . Alle aus der Klasse werden über mich herziehen . Sie halten mich ohnehin schon für einen Idioten , und es wird noch schlimmer werden . Es ist alles meine Schuld. Ich bin zu doof, um zu entscheiden , wie die Sportstunde abläuft. Ich bin der größte Spinner der Nation! Markus, mein bester Freund, meinte nur, ich wäre völlig uncool . Voll peinlich . Er will sich schon fast nicht mehr neben mich setzen wollen . Gibt es nichts Wichtigeres? Soll er sich doch woanders hinsetzen . Von mir aus sitze ich eben alleine. Aber wollte irgendjemand wissen , warum ich solche Blackouts habe? Ich hasse es! Nein ich hasse sie. …Oder hasse ich mich?
Das Schlimmste ist: Die Mädchen lachen über mich . Ich werde ausgelacht, wie ein Clown . Wer will so jemanden zum Freund. Ich werde nie eine abkriegen .
02.12.92
Es war nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte, es war viel schlimmer!!! Noch vor der ersten Stunde haben mich 2 gefragt, ob ich das jetzt regelmäßig mache. Das wäre nicht schlecht, denn so könnte ich jeden Unterricht zum Platzen bringen . Sie haben schon Wetten abgeschlossen , wann ich denn wieder solch eine Show abziehen werde. Warum kann ich nicht auf eine andere Schule? Dort wäre sicher alles anders. Ich kann neue Freunde finden . Oder besser, ich kann überhaupt welche finden . All die Nachmittage, die ich allein durch die Welt streife, oder vor der scheiß Glotze sitze, sind vorbei .
Bin ich eigentlich der Einzige, der so ein Leben hat? Es gibt doch eine Menge Leute da draußen . Da muss doch jemand sein , der genauso ist wie ich! All das, was ich hier in mein Tagebuch schreibe, braucht nicht mehr dort 'rein . Nicht alles, aber vieles.
Ich habe meine Eltern belauscht.
Obwohl , ich brauchte mich nicht doll anstrengen . Pa war betrunken , zum Glück ist er das nicht oft. Er sagt immer, was er denkt, ohne 'rum zu drucksen . Es ging um mich . Er hatte geplant, mir in der Firma, in der er arbeitet, eine Lehrstelle zu besorgen , aber jetzt will er das nicht mehr. Aus mir wird doch nichts mehr. Er hält mich für einen Versager. Und das wird sich in seinen Augen auch nicht mehr ändern .
Blamieren will er sich nicht mit mir. Aber er fragt sich doch immer wieder, von wem ich das wohl habe. Von ihm jedenfalls nicht. Wir müssen wohl das Beste aus allem machen .
Oh , wie ich diese Reden hasse. Das Beste aus allem machen . Was machen wir denn noch? Am Wochenende ist Autowaschen angesagt. Und Fußball . Manchmal gehen die beiden noch ins Kino. Im Doppelkopf ist er auch ein Held. Aber, wann war er mit Ma und mir mal weg??? Schon lange nicht mehr. Es gibt Bilder, da waren wir in anderen Städten . Aber da waren wir auch noch zu viert. Wie ich meinen Bruder vermisse!!!
10.12.92
Es war mal wieder soweit. Wie ich diesen Mann hasse, der mein Vater ist. Es gab Zoff wegen dieser blöden Geschenke, die ich zu Weihnachten bekommen soll . Ich kann mir ein Rad oder einen PC aussuchen . Ich kann wählen . Kann ich eben nicht!!! Ich kann nicht mal zwischen 2 beschissenen Hosen wählen , die ich am Morgen anziehen soll .
Stundenlang bin ich durch die Stadt gelaufen . Von einem Laden zum nächsten . Bis ich Svenja und Merrit kennen gelernt habe. Die gehen auch auf meine Schule. Nur sind sie eine Klasse unter mir. Beide standen vor einem Schuhgeschäft. Es ging um 2 Paar Schuhe, zwischen denen sich die Mädchen nicht entscheiden konnten . Merrit sagte etwas von einem Pendel , das ihnen immer hilft, sich zu entscheiden . Ich muss sie lange so doof angeglotzt haben , bis mich Svenja schließlich angesprochen hat.
»Hast du noch nie was vom Pendeln gehört?«, fragte sie mich . Sie hat mich nicht für doof gehalten . Oder mich ausgelacht. Es war einfach Neugier in ihrer Stimme. Ich habe nur mit dem Kopf genickt. Hatte ich ja auch nicht. Merrit hat gelacht. »Svenja, du hast einen Schüler. Du kannst ihm alles beibringen .«
Ich wusste von Merrit, dass sie einmal hängen geblieben war. Sie war viel mit älteren Jungs zusammen . Sie sagte immer, sie würde nicht nur Händchen halten . Jetzt stießen die beiden Mädchen sich an und kicherten . Schließlich wandte sich Svenja wieder zu mir: »Du bist Georg, oder? Ich habe von dir gehört. Du streitest dich immer mit den Lehrern . Ich finde das gut! Der Sportlehrer hat mich schon mal beim Duschen überrascht. Natürlich ganz zufällig. Gehen wollte er auch nicht wieder. Aber egal .
Wenn du Lust hast, dann komm morgen zu mir. Ich erkläre dir das Pendeln gern .«
Sie haben mich beide angelächelt. Als wäre es selbstverständlich , jemandem so etwas zu zeigen . Dabei kennen die mich kaum. Ich werde hingehen . Svenjas Lachen ist wie Sonnenschein!!! Was schreibe ich hier eigentlich? Merrit hat mich irgendwie anders angesehen . So abschätzend und lauernd. Als hätte sie etwas vor. Aber was weiß ich schon .
11.12.92
Es war unglaublich!!! Sie weiß alles! Ihr
Zimmer ist sooo geil!!! Wenn sie hier hinkommt, in mein Zimmer, lacht die sich kaputt! Ich mit meinem Yoda Poster und dem ganzen Star-Wars-Scheiß! In ihrem Zimmer hängen Schauspieler: Bela Lugosi , Boris Karloff, Klaus Kinski , alle als Vampire. Cool! Ich habe mir die Namen heimlich aufgeschrieben . Wie ein Idiot komme ich mir vor! Woher soll man die auch kennen? Mama hat nur gelächelt und gesagt, wir werden mal Videos kaufen . Sie kennt jemanden , die solche alten Schinken , wie sie es nennt, verkauft. Manchmal ist Mama toll . Das Pendeln hat sie mir auch gezeigt. Sie kann es natürlich perfekt. Sie hat mir eins gemacht. Ein einfacher Ring an einem Faden . Ganz einfach . Ich werde Jahre brauchen , bis ich es kann . Wenn sie mich wieder sieht, fragt sie mich bestimmt, ob ich es schon drauf habe. Habe ich natürlich nicht. Sie wird lachen , gehen und das war ’s. Dabei ist sie so toll . Könnte sie doch nur meine Freundin sein . Sie und Merrit und ich , wir wären ein Klasseteam.
14.12.92
Wir haben uns auf dem Schulhof getroffen . Wie selbstverständlich sind beide zu mir gekommen . Wir haben unser Pausenbrot geteilt. Geteilt stimmt nicht so ganz. Sie hat sich von meinem Brot genommen , was sie wollte. Dann hat sie mir ihres mit einem Lachen gegeben . Merrit hat nur mit dem Kopf geschüttelt. Was dann kam, war wirklich unglaublich :
»Weißt du«, fragte sie mich , »was ich mit dem Ring von deinem Pendel gemeint habe?«
Natürlich habe ich es nicht verstanden . Es ist ein Freundschaftsring. Sie hat mich gefragt, ob wir Freunde sein wollen . Sie, Merrit und ich . Sie findet die Idee toll . Sie hat gelacht. Nur für mich . Es ist unglaublich .
Eins (Offenbarung)
»Diese kleine, arglistige, duselig, drömelige Aushilfskommandantin eines rollatorschiebenden Kukidentgeschwaders! Hat die zu viel schlechte Muttermilch als Kind bekommen, oder was? Das Teil sollte sich Hemmungen und Skrupel zu legen. Und du gibst dem schlechten Etwas auch noch Welpenschutz! Warum?«
»Ruth, du arbeitest für die Staatsanwaltschaft. Oder mit ihr. Oder doch für sie. Wie auch immer. Obwohl ich mir das irgendwie nicht vorstellen kann. Trotzdem bist du noch lange nicht immun gegen Ärger aus dieser Richtung. So eine Ordnungstante hat eben fast immer Rückendeckung.«
»Ich erkläre es dir gern Franziska. Fangen wir bei der Staatsanwaltschaft an. Die kümmern sich um alle Bösewichte in der Welt. Naja, fast alle. Kümmern heißt, sie bereiten alles vor, um einen Täter zu verurteilen. Das macht natürlich das Gericht. Was aber, wenn der Täter sich bei dem Opfer entschuldigen will und mit ihm Reden möchte. Erklären, warum geschehen ist, was vorgefallen ist. Das ist im Gericht oft unmöglich, oder es kommt zu kurz, weil keine Zeit dafür eingeräumt wird. Für das Opfer ist dieser Moment enorm wichtig, um die Tat zu verarbeiten. Und da komme ich ins Spiel. Ich rede mit beiden. Bringe sie zusammen. Und dann einigen sie sich. Zum Schluss übergebe ich den kompletten Vorgang an die Staatsanwaltschaft und die hat noch mal ein Wörtchen mit zu reden. Entweder sie ist mit der Einigung zu frieden. Oder sie verhängt noch mal eine zusätzliche Strafe. Kommt natürlich drauf an, was passiert ist. Ich bin allerdings nicht bei der Staatsanwaltschaft angestellt, sondern arbeite für einen gemeinnützigen Verein. So. Haben wir das geklärt? Ja? Super. Kommen wir wieder zum spannenden Thema der Stunde. Liebe Franziska, was hätte Frau Abschaum denn machen sollen? Es wollte sich geistig duellieren und hatte die Waffen nicht mit. Sie hat sie noch nie an Bord gehabt.« Franziska blieb stehen und musste laut lachen. Ihr Hund setzte sich. Er kannte aus Erfahrung, wie lange sich das Ganze jetzt hinziehen würde. Zweibeiner waren eben immer sehr trödelig unterwegs. Was hätte er nicht alles schon erschnüffeln können.
Pedro legte Franziska eine Hand auf die Schulter, als er sich ins Gespräch einmischte: »Es? Ruth, sie wollte dich anzeigen. Und womit? Mit Recht! Sie hätte es auch getan, wenn wir sie nicht davon abgehalten hätten. Das wäre schlimm teuer für dich gewesen. Unser Kicherfaktor wäre umso höher gewesen. Aber ich sehe schon, mit dir wird es nicht langweilig werden. Wurde es ja bisher noch nie. Wie wird es wohl nachher auf dem Geburtstag sein? Ein Spaziergang in einem Park mit einem Hund, der zugegebenen Maßen nicht angeleint war, endet beinahe im Knast. Mit was muss ich rechnen, wenn du auf die neue Freundin deines Exfreundes triffst.«
Ruth schaute zuerst zu Franziska, die immer noch lachte und dann zu ihrem Freund. »Exexfreund. Wenn überhaupt. Pedro, Mausebärchen, mein kleines Opossum, es gibt eine alte Weisheit: So wie Furie in den Wald schreit, so wird sie vom Echo begrüßt. Oder erschlagen? Frau, ich halte allen meine großen Brüste ins Gesicht, hat nicht mehr zu bieten als genau das. Kommt sie mir in die Quere, werde ich testen, ob die Dinger Silikon sind, oder nicht. Eine Nadel wird es in der kleinsten Hütte geben! Das Küken ist noch keine 30. Was will Mark mit der?« Ruth schüttelte ein wenig den Kopf und ließ ihre dichten Augenbrauen tanzen. Da war es wieder. Pedro starrte Ruth mit großen Augen an. Hatte er auch nur eines ihrer Worte vernommen? Nein. Seine Ohren waren gerade geschlossen. Außerbetrieb. Jegliche Wahrnehmung wurde erfolgreich verweigert. Sein Fokus lag auf ihren grünen Augen. Genauer, auf den Augenbrauen. Es schien eine enge Verbindung zwischen ihnen und dem Mund zu bestehen. Denn fast immer, wenn sie herumalberte, hüpften die beiden munter auf und ab. Franziska lachte laut auf. Sie stolperte zwei Schritte zurück, um ihr Gleichgewicht wieder zu erlangen. Der Hund wechselte vom Sitzen ins Liegen. Das würde noch dauern. Neugierig schnupperte er an einem Grashalm, auf dem ein Insekt saß. Interessant? Nein, eher nicht. Er stieß laut schnaubend den Atem aus und verscheuchte das kleine Tier. Er wedelte zögerlich mit dem Schwanz und schaute sein Frauchen fragend an: »Gehts noch mal weiter?« Sie antwortete ihm natürlich nicht. »Als die Möpse verteilt wurden, hast du dich doch selbst zweimal angestellt. Und jetzt beschwerst du dich?« Sie nahm ihrem Hund wieder die Leine ab, da die Frau vom Ordnungsamt hinter Büschen verschwunden war. Die fällige Strafe war sowieso fällig. Der Hund sollte auch etwas davon haben. »Allerliebste Franziska, das ist nur ein Gerücht. Ich stelle mich nie an. Nirgendwo. Erst recht nicht zweimal. Das sieht so gierig aus. Der feine Unterschied ist doch der: Ich halte sie niemandem immerzu ins Gesicht. Und trage keine Dekolletés, die einem auch noch den Bauchnabel zeigen. Du kannst da gerne Pedro fragen. Er wird dir genau sagen, was ich ihm vor geflüstert habe. So und jetzt lass dich drücken. Wir müssen uns hier rechts halten und du willst ja die Hügel da rauf. Denk dran, so etwas ist sehr anstrengend.« Der Hund kommentierte den plötzlichen Aufbruch mit einem überraschten Bellen.
Pedro und Ruth setzen ihren Weg durch den Park fort. Ziel war die kleine Geburtstagsfeier der Zwillinge Mark und Gerd Pohl. Da Pedro nicht wusste, was ihn erwartete, klärte Ruth ihn rasch auf: »Pedro, sie sind weltweit bekannt für leckeres Essen und Trinken und noch bessere Unterhaltung. Es wird ein langer Tag. Ich habe mir ja extra Morgen Urlaub genommen. Mark kümmert sich um das Frühstück und um das Abendessen. Für das Mitternachtsmahl ist Gerd zu ständig. Und glaube nicht, es wird nur eine Kleinigkeit werden.«
»Was ist das für eine Nummer? Sind die schwer reich, oder was?« Pedro schaute seine Freundin fragend an.
»Pedro, nicht so kleinlich denken. Sicher haben sie nicht mehr Geld als du oder ich. Sie leben in Askese. Sie fahren beide kein Auto. Also haben sie ein bisschen Geld übrig.« Ein Seitenblick verriet ihr, dass Pedro ihr auf den Leim gegangen war. Mit einem Lächeln fuhr sie fort: »Unsinn, es weiß niemand mehr, wie das alles entstanden ist. Am Anfang, vor zehn Jahren etwa, war es eine einfache Party. Irgendwann haben wir spontan begonnen vom einen in den anderen Geburtstag zu feiern. Allerdings bleiben nur die engsten Freunde so lange.« Ruth hob einen kleinen Stock und begann mit den Fingernägeln die Rinde abzuschälen.
»Warum an zwei Tagen?« Es war Pedro deutlich anzuhören, er hatte so etwas noch nie gehört.
»Ganz einfach. Sie haben an zwei Tagen Geburtstag. Gerd heute, am Sonntag. Mark morgen. Und glaube mir, es gab schon rauschende Feste, die mittlerweile Kultstatus haben.« Sie nickte, als wäre es die wichtigste Tatsache der Welt.
»Wie alt werden sie?« Ruth dachte einen Moment nach. »Öhm, ich glaube 77. Ne Quatsch, geht ja gar nicht. Zusammen? 76. Den Rest überlasse ich dir.« Dreißig Minuten später standen die beiden im Flur von Gerds Wohnung. Noch während der herzlichen Umarmung sagte Mark: »Ihr habt getrödelt und seid spät. Kommt also schnell rein. Die Cocktail-Bar ist auf dem Balkon.« Als Mark Ruths ernstes Gesicht sah, musste er laut auflachen: »Verarscht, nänänä. Ich weiß doch, du trinkst keine gemischten Geschichten. Also es gibt Bier und Wein und sonst noch einiges, was dein Herz und Magen verlangen und Wünschen. Wenn du mir jetzt sagst, wo mein Bruderherz ist, bist du meine spezielle Heldin.« Ruth war schon dabei in die Küche zu eilen, doch jetzt hielt sie inne. Der letzte Satz barg einiges an Klärungspotential in sich. Das konnte nicht so einfach im Flur stehen bleiben. »Gerd ist nicht hier? Er reagiert nicht auf sein Telefon und so?« Ruth war verwundert. Gerd war Mister superzuverlässig. An solch einem Tag nicht da zu sein, war schlicht unvorstellbar. »Genau!«, gab Mark nur mit einem Nicken zurück. »Du hast den ganzen Morgen hier allein alles vorbereitet? Du hättest was sagen sollen.« Beinahe lag so etwas wie ein Vorwurf in ihren Worten. »Pedro, frag mal deine Freundin, warum sie ihr Handy missachtet.« Ruth zückte ihr Spielzeug, sie hatte keine SMS erhalten. »Vielleicht kommt noch was. Ich helfe dann gerne. Kann ich jetzt plündern gehen?« Mark winkte nur ab. Er wusste genau, er würde noch einige Zeit hier im Flur verbringen. Gäste begrüßen. Gäste verabschieden. »Ab in die Küche mit euch. Ihr seht schon, wie es weiter geht.« Mark wies mit dem Kopf Richtung Küche und begrüßte wieder neue Gäste. Ruth schenkte ihm ein mitleidvolles Lächeln. Sie mochte es gar nicht Gäste zu haben. Solche Augenblicke oder Abende waren stets hochkonzentrierter Stress. Nie konnte sie sich sicher sein, ob sich die Besucher wirklich wohl fühlten. Sie traf lieber Freunde in einer Kneipe. War es dort nicht angenehm, ging man eben woanders hin.
In der Küche herrschte ein gesundes kreatives Chaos. Nichts war fertig. Obst, Gemüse, Fleisch und Käse warteten darauf, angerichtet zu werden. Kräuter wollten noch geschnitten werden. Pedro machte sich sofort an die Arbeit. Ruth hingegen nahm sich ein Bier, setzte sich an den Tisch in eine Ecke, so dass sie den großen hellen Raum überblicken konnte, und begann genüsslich ihr Frühstück. Immer wieder wurde die Tür kurz geöffnet und ein Augenpaar scannte den Raum. Ne, das sah nicht so lecker aus, wie erwartet. Ich geh lieber brunchen. Zack war die Tür wieder zu. Ruth lächelte und freute sich, dass sie nicht teilen musste.
»Findest du das in Ordnung? Draußen sind doch noch andere Gäste, die auch was wollen.« Pedro versuchte tatsächlich so etwas wie Autorität in seine Stimme zu legen. Ruth schüttelte nur den Kopf.
»Pedro, du hast Recht, es ist noch sehr viel zu tun. Arbeit für Stunden. Und du willst sie allein schaffen? Vergiss es und mach dir ein Brot. Der Schinken ist recht lecker. Aber du könntest noch eben die Gurke klein schneiden. Das wäre fein. Es sieht nicht alles so schön aus, wie es sonst hier zu dieser Zeit Art und Sitte ist, aber so ist es eben. Ich mag es nicht zu warten, das weißt du schon. Also lass uns einfach Essen und Trinken und den Tag genießen. So haben wir alle etwas davon. Ich bin auch friedlicher und alle sind entspannter.« Ganz zufrieden mit sich und der Welt, biss sie herzhaft in ihr Brot. »Ja ich weiß, warten kannst du nie. Was werden Mark und Gerd davon halten?« Statt zu antworten, schob sich Ruth ein Stück Birne in den Mund. Mit verklärtem Blick gab sie Pedro die andere Hälfte. Sie spülte den Bissen mit einem Schluck Bier runter. Dann antwortete sie: »Gerd ist nicht da. Wenn er kommt, hat er andere Sorgen als das alles hier. Er hat uns im Stich gelassen. Das soll er mal erklären. Und Mark freut sich, wenn sich alle Gäste freuen. Und jemand, der lecker isst, der kann sich doch nur freuen, oder?« Alle Augenbrauen hüften wieder nach oben.
»Wie schick du dir alles immer zurecht reden kannst!«
Ruth nickte begeistert. »Pedro, das ist lange Übung. Du wirst das noch oft erleben. Es sei denn, du läufst weg. Willst du weglaufen?«
Pedro machte nur eine abwägende Handbewegung und belegte sich ein Brötchen mit Lachs. »Freundchen, das habe ich gesehen. Die richtige Antwort habe ich auch nicht gehört. Ersticke nicht an deinem Brötchen. Ich weiß nicht, ob es sich noch lohnt, dich zu retten.«
Pedros Hände erstarrten und konnten das Brötchen knapp festhalten. Er blickte Ruth mit weit offenem Mund und großen Augen an. Sie zuckte nur mit den Schultern: »Du weißt ja, wie man in den Wald ruft, so fliegen einem die Äste um die Ohren. Oder so ähnlich.«
Mark brachte neu Gäste, denen anzusehen war, es gefiel ihnen ebenfalls gar nicht, was sie erblickten. Sie hatten eine fein hergerichtete Tafel erwartet und kein Chaos. Sie waren genau das, was Ruth noch zu ihrem Glück brauchte. Der Vormittag verging. Gerd tauchte nicht auf. Sein Handy war eingeschaltet, er reagierte aber nicht auf Anrufe. Ruth schwankte zwischen Momenten des Vergnügens und Augenblicken der Sorge. Bis zum späten Nachmittag hielt sie es aus. Schließlich siegte die Unruhe. Sollte sie Gerd besuchen?
Mark lachte nur laut auf, als er davon hörte. »Zähle mal eins und eins zusammen. Du bist der Störenfried, wenn du das Wort kennst. Vielleicht wirst du auch was sehen, was du gar nicht sehen möchtest!«
Ruth sah ihren Freund mit großen Augen an. Pedro machte sich im Geiste eine Notiz.
»Mark, was deutest du da an?« Ihr Mund schloss sich und öffnete sich wieder. Jedoch kam weder etwas herein noch heraus. Ruth war sprachlos. Hatte Pedro das schon einmal erlebt? Er musste den Moment auszunutzen. Wann bot sich erneut solch eine Gelegenheit?
»Ruth, sprich nur. Du hast unsere ganze Aufmerksamkeit.«
Ruth winkte nur ab. Da begriff jemand die Tragweite des Augenblickes nicht. »Du erinnerst mich gerade an meine Mutter.«, Mark prostete ihr zu und fuhr dann fort: »Als ich ihr meine erste Freundin vorstellte, fand sie es auch nicht so passend. Sie wollte keine anderen Frauen neben sich in meinem Leben. Erst recht keinen Punk.« Ruth schüttelte den Kopf. »Du verwechselst da was. Ich habe viel. Muttergefühle empfinde ich nicht für Gerd. Eigentlich für niemand. War wohl in der Muttermilch nicht drin. Also sag mir, was du weißt!« Sie nickte Mark auffordernd zu. Sie mochte es nicht auf die Folter gespannt zu werden. Und ihr Gastgeber tanzte bereits zu lange um den heißen Brei herum. So langsam musste der kalt geworden seinen. »Seitdem du mit Pedro zusammen bist, hat Gerd sich im Netz verstärkt nach schnellen Dates umgeblickt. Die Bedingungen waren für alle immer gleich. Es sollte unkompliziert sein und die Frauen sollten einige Kilometer entfernt wohnen. Nicht das sie noch einen Nachschlag verlangten.«
Ruth war sprachlos. Schon wieder. Zwei Jahre hatten sie eine gemeinsame Affäre genossen. Sie wollten genau das. Keine Beziehung, jedoch auch kein enthaltsames Leben. Pedro hatte das alles geändert. Gerd hatte nur den Kopf geschüttelt und ihr Glück gewünscht. »Werde glücklich. Aber keine Tränen, wenn es nicht geklappt hat. Es ist dein Wunsch.«
Mehr hatte er dazu nicht gesagt. Na gut, eine Woche war er bockig gewesen. Nur eben sehr leise. Das störte Ruth nicht weiter. »Mark, du meinst, er hat dieses beinahe heilige Ritual geschändet, wegen einer schnellen Nummer aus dem Internet?«
Mark nickte und lächelte ein wenig. »So ist es eben. Ewig lockt das Weib. Lass ihm seinen Spaß. Wir werden diese Party auch ohne ihn durchstehen, natürlich fehlt er. Allerdings habe ich den Eindruck, du glaubst du mir immer noch nicht. Vielleicht musst du ja sehen, ehe du begreifst. Ich kann dir die Schlüssel zu seiner Wohnung gerne geben.«
Ruth winkte nur ab. »Danke, lass nur. Mir reicht mein Kopfkino!« Pedro blickte erstaunt auf. Er wusste von der Affäre. Doch glaubte er, jetzt beinahe Grund zur Eifersucht zu haben. Ruth bemerkte, wie sich ihr Freund ein wenig verkrampfte, und legte ihm beruhigend die Hand aufs Knie. Eine kleine zärtliche Geste, die ihm warm ums Herz werden ließ. Alles war wieder gut. Der eine war vorher. Er war jetzt. »Wenn das alles so ist, kannst du ja deinen Pflichten als Gastgeber nachkommen und uns noch ein Bier holen. Pedro möchte sicher auch.« Mark winkte nur ab. Er tat vieles für seine Gäste. Ruth war aber eine so gute Freundin, dass sie sich überall in der Wohnung bei allem bedienen durfte. »Am Arsch. Bier steht im Kühli. Bring uns allen was mit. Denk aber dran, dass du Neues reinstellst. Ich bin gespannt, was Pedro so für Musik mag.«
»Geht das wieder los!« Ruth schlenderte kopfschüttelnd in den Vorratsraum, wo sich auch der Kühlschrank befand. Das war ein Raum, in dem sich jeder Hobbit heimisch gefühlt hätte. Sie öffnete ein Bier und betrachtet wieder einmal die großen Kräuter, die sich auf der Fensterbank versammelt hatten. Sie wucherten munter um die Wette. Es war ihr ein Rätsel, warum sie nicht vertrockneten. Kaufte sie sich eine Basilikumpflanze, schaffte sie es meist nicht, ihren Mozzarella damit zu würzen. Auf alle Fälle nicht mit frischen Blättern.
Die Zeit verrann. Ruth ärgerte sich über die Ignoranz der Jazzmusikliebhaber. Dabei hatte es ein begnadeter schwedischer Buchschreiberling doch auf den Punkt gebracht. Rockmusik war ein Hobby. Jazz war Arbeit. Was blieb noch weiter? Genau. Blues war Leidenschaft. Auch wenn sie kaum jemand verstand. Oder sich die Ruhe nahm, um sie zu erleben und zu entdecken. Wieder läutete die Klingel. Mark stand mit einem Schulterzucken auf und ging zur Tür. Aus den Augenwinkeln sah Ruth, wie er mit dem Besuch in seinem Arbeitszimmer verschwand. Ihm folgten zwei Männer, die Ruth sofort erkannte. Die Last, die die Männer trugen, war erdrückend. Mark bekam Besuch von der Kriminalpolizei. Sofort sprangen alle Alarmsignale an. Sollte sie dem Trio folgen? Dass es sich dabei nur um schlechte Neuigkeiten handeln konnte, war mehr als eindeutig. Unbedingt wollte sie ihrem Freund beistehen.
Ehe sie sich entschieden hatte, betrat einer der Polizisten bereits die Küche. »Mein Name ist Robert Baumann. Ich suche Frau Ruth Kroll!«
»Das bin ich. Was ist denn passiert?« Auf seitens des Polizisten war ein Erkennen zu entdecken. Die Situation wurde dadurch nicht leichter. »Nicht hier. Kommen Sie bitte nach nebenan. Wir bereden das besser in kleinem Kreis.« Ruth tauschte mit ihrem Freund einen langen Blick. Zuerst war er noch voller Liebe. Schnell wandelte er sich zu einem flehen: Verlass mich nicht. Nicht jetzt!
Rasch, je klarer Ruth begriff, was sie erwartete, wurden ihre Augen eisig. Etwas sehr Schlimmes erwartete sie. Ruth war niemand, die immer sofort das Schlechte sah. Sie dachte nicht augenblicklich an Katastrophen, wenn jemand zu spät kam. Dieser Polizist hatte eindeutig eine schlechte Nachricht zu überbringen. Die wenigen Schritte ins Arbeitszimmer führten sie in den Abgrund. Allein, so fürchtete sie, würde sie nicht wieder herauskommen. Langsam folgte sie dem Kommissar. Langsam. In Zeitlupe. Die Blicke der anderen Gäste folgten ihr wie gierige Schlangen. Jede einzelne zischte: Da ist etwas passiert. Schlimme Dinge haben sich zugetragen.
Mark stand am Fenster. In diesem Raum fühlte man sich ebenfalls wie in einem Urwald. Pflanzen in allen Größen und Arten. Jetzt wirkte alles Leben hier unscharf und farblos. Wut umgab ihn wie eine zweite Haut. Zorn, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Ruth hatte Mark noch nie so erlebt. Sie traute sich kaum, zu ihm zu gehen. »Was ist passiert? Geht es um Gerd? Ist euren Eltern etwas passiert?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Frau Kroll, wir haben leider schlechte Neuigkeiten. Mein Kollege Walter Siegberg.«, antwortete Baumann mit einem Nicken in Richtung seines Kollegen, »Es geht um Gerd Pohl. Er ist heute in der Frühe tot aufgefunden worden. Wir haben noch keine Spur der Täter. Können Sie uns sagen, warum er an einem Sonntag an seinem Arbeitsplatz gewesen ist?« Ruth nahm die Frage nicht wahr. Sie sprang beinahe durchs Zimmer, um sich in Marks Arme zu stürzen.
Die Polizisten gönnten ihnen einen Augenblick des Zusammenseins. Rasch trennten sie die beiden. Sie wussten, gerade am Anfang eines Falles kam es auf jede Minute an.
»Frau Kroll, es tut mir leid. Wir sind auf Antworten angewiesen. Es mag schrecklich und herzlos klingen. Helfen Sie uns. Jede Kleinigkeit ist für uns wichtig.«
Es war Baumann anzusehen, wie sehr er diesen Teil seiner Arbeit hasste. Obwohl Ruth später noch der Meinung war, er hatte die Aufgabe sehr souverän bewältigt.
»Mir fällt nichts ein. Wenn Sie von Tätern sprechen, war es kein Unfall!«
Ruth redet mehr in Marks Pullover als in Richtung der Polizisten. Es war nicht klar, ob Ruth ihren Freund stützte oder halt suchte.
»Es war Mord. Die Spuren sind eindeutig. Wann haben Sie das letzte Mal mit Gerd Pohl gesprochen, Frau Kroll?« Siggi übernahm das Gespräch. »Gestern am Nachmittag. Wir haben darüber geredet, ob ich beim Einkauf helfen sollte. Musste ich nicht. Es war nur ein kurzes Gespräch. Immerhin hatte er sehr viel vorzubereiten!«
»Gab es etwas Ungewöhnliches während des Telefonates. Klang seine Stimme anders als sonst? Hatte er Angst? Wirkte er besorgt?«, hakte Siggi noch einmal nach. »Nein. Gar nicht. Gerd war lediglich gestresst. Er hatte zu spät mit dem Vorbereiten angefangen. Wäre irgendetwas gewesen, hätte ich es gemerkt. Es ist immer leicht, in seiner Stimme zu lesen.« Ruths Stimme war immer ein gutes Barometer, um ihre seelische Verfassung abzulesen. An guten Tagen klang sie sehr weich, melodiös. Ein angenehm rauchiges Alt. Jetzt gab sie nur gepresste Töne von sich. Leise. Kraftlos. Voller Schmerz. »Frau Kroll, Herr Pohl, ich weiß, es ist in solchen Momenten nie einfach. Aber bitte glauben Sie uns, es ist wirklich wichtig. Alles am Tatort deutet darauf hin, dass es ein geplanter Mord war. Keine Affekthandlung!«
»Was bedeutet das?« Ruth drehte sich endlich um und schaute die Polizisten an. Ihr Blick war eine Mischung aus Wut, Angst, Ohnmacht und Hass. Sie hasste die Polizisten in diesem Moment. »Frau Kroll, wir dürfen und können hier nichts sagen. Wir tappen da selbst noch im Dunklen.« Kommissar Siegberg schüttelte nur den Kopf.
»Komm Baumann, sie erfahren es doch sowieso! Es wird besser sein, wir sagen es ihnen, als dass sie es in den Zeitungen lesen oder im Radio hören. Gerd Pohl ist hingerichtet worden. Sie haben ihn durch Schüsse in den Kopf getötet. Es sieht danach aus, als wären es mehrere Täter gewesen. Aber es kann ebenfalls ein Einzeltäter gewesen sein. Aussagen, die wir von Zeugen erhalten haben, sind nicht eindeutig. Leider! Tatort scheint der Laden zu sein. Also die Räumlichkeiten, in denen das Fanprojekt unseres Fußballvereins untergebracht ist. Sicher ist das allerdings noch nicht.«
Während Siegberg sprach, sah Baumann ihn entsetzt an. Er hielt es für wenig sinnvoll, Verwandten und Freunden des Opfers solche Details zu erzählen. Die Wahrheit war hart genug. Sicher war es in so einer Situation besser, wenn man sie nach und nach erfuhr. Im Gegensatz zu Siggi war er aufgestanden und zum Fenster gegangen. Wenn er nicht fortkonnte, so wollte er wenigstens wegsehen.
Siggi hingegen rührte sich keinen Millimeter. Er schaute Ruth und Mark offen und teilnahmsvoll an. Aber vollkommen ruhig. Zu oft hatte er solche Momente in den langen Jahren seiner Dienstzeit erlebt. Wenn er der ruhende Pol war, gab das allen anderen Halt und ein wenig Kraft. Nervös und unruhig durchs Zimmer zu laufen war wenig hilfreich. Sein junger Kollege Baumann war ein begabter Polizist. Aber er musste noch viel lernen. Nur wenn er selbst ruhig blieb, konnte er die Reaktion aller Beteiligten einschätzen. Immerhin war der Mörder sehr oft in den Reihen der Angehörigen zu finden. »Hat die Schüsse denn niemand gehört? Der Laden liegt doch mitten im Wohngebiet!« Ruth schüttelte nur fassungslos den Kopf. Es hörte sich nach einem schlechten Film an. Sie wartete noch immer auf einen Anruf, der alles aufklärte. Gerd konnte nicht in solch ein Drama verwickelt sein. Es musste ein Versehen sein. Die Polizisten hatten sich in der Adresse geirrt. Gerd schneite sicher gleich herein und sie lachten alle vor Erleichterung. Tat er aber nicht.
»Es ist nicht klar, ob es dort geschehen ist. So weit sind wir noch nicht!«, antwortete Baumann.
»Stimmt. Alle Aussagen, die wir bisher haben, sind da nicht eindeutig, wie vorhin gesagt. Es muss ein Kommen und Gehen gewesen sein. Möglich ist ja, das Opfer ist an einem anderen Ort erschossen worden. Aber wenn man die Leiche bewegt, liegt darin immer ein Risiko. Natürlich kann man entdeckt werden. Geht der Täter diese Gefahr ein, gibt es immer einen Grund. Wir wissen noch gar nicht, wem und was wir glauben sollen! Wir stehen noch ganz am Anfang. Was aber schon jetzt klar zu erkennen ist, ist die hemmungslose Gewalt. «, ergänzte Siegberg.
»Warum diese Gewaltsamkeit? Warum? Wer konnte Gerd Böses antun?«
Ruth war deutlich anzuhören, wie verzweifelt sie war. Ihre Stimme zitterte und klang gebrochen.
Sie konnte ihre Tränen nicht zurückhalten.
»Auch darauf haben wir noch keine Antwort«, entgegnete Baumann, »solch brutales Auftreten hat es hier noch nicht gegeben.«
Er stand noch immer am Fenster und schaute in den kleinen Hinterhof von Marks Wohnung. Kinder spielten in einem kleinen Sandkasten. So unschuldig, wie es nur irgendwie sein konnte.
»Was soll Gerd mit solchen Kreisen zu schaffen haben? Niemals gibt es da einen Zusammenhang. Gerd hasst Gewalt. Er verachtet Menschen, die nur schlagende Argumente nutzen. Er liebt die Arbeit mit den Menschen. Aber er hasst es, wenn sie Spuren von Schlägereien tragen.« Ruth legte eine kurze Pause ein und fuhr die beiden Polizisten plötzlich scharf an: »Warum sind Sie hier? Warum tun sie nichts, um die Täter zu fassen. Wir wissen nicht, warum er heute nicht hier war. Wir wissen nicht, wo er war. Und auch nicht warum er weggeblieben ist.«
Ruth blickte die Polizisten kurz an und schlug die Hände vor ihr Gesicht. Sie saß zusammengekauert in einem Sessel. Ihr ganzer Körper bebte unter dem Schluchzen. In ihrem Weinkrampf spürte sie nicht, wie Pedro sie in den Arm nahm.
Sie bekam von der Welt um sich herum nichts mehr mit. Baumann wollte aufbrausen, aber Siggi hielt ihn mit einem Kopfschütteln zurück. Die Situation war ihm entglitten.
Er hatte nicht bemerkt, dass jemand leise die Tür geöffnet hatte und hereingekommen war. Sein Blick war zu sehr auf die Mark und Ruth gerichtet. Verbrechen innerhalb der Familie waren keine Seltenheit. Aber das hier, war eine ganze andere Art Verbrechen, dessen war er sich bewusst, seitdem er den Tatort besichtigt hatte.
»Sie sind wer?«, fragte er freundlich. »Pedro Joselu. Ich bin der Lebensgefährte von Frau Kroll. Um was immer es hier geht, ich werde es sofort erfahren, sobald sie hier fort sind!« Sein Blick sprach Bände. Sein Platz war an Ruths Seite. Siggi beschloss, aus einem Impuls heraus, Pedro nicht wieder hinauszubitten. Wer konnte wissen, für was es gut war. Es existierten genug Zeugen, die sich einfach verplappert hatten. Nur, es gab nichts mehr zu bereden. Der erste Eindruck war eindeutig. Der Mörder war hier nicht zu finden.
»Komm Robert, wir gehen. Ich lasse Ihnen eine Karte da. So können Sie uns jeder Zeit erreichen. Wir werden in den nächsten Tagen noch öfter Verbindung zu Ihnen aufnehmen.« Siggi erhob sich und gab den dreien die Hand. Baumann nickte nur und verließ als Erster die Wohnung.
Als die zwei Polizisten gegangen waren, blieb kaltes unangenehmes Schweigen zurück. Was sollte sie jetzt sagen? Ruth wusste nichts. Sie kam sich überflüssig vor. Ohnmächtig.
Mehr als alles andere hasste sie es, hilflos zu sein. »Mark, sag was. Wir wollen nicht stören. Willst du allein sein? Können wir etwas tun?«, fragte Pedro und legte leicht seine Hand auf Marks Schulter. Eine kleine Geste, die dennoch Halt gab.
»Pedro, da draußen sind etwa acht Gäste. Ich kann da nicht hinausgehen und es ihnen sagen.«
»Gerne.« Wenig später waren Mark, Ruth und Pedro unter sich.
»Möchtest du allein sein?« Mark nickte erst und brachte dann schließlich ein paar Sätze zustande. »Ja Ruth. Versteh mich nicht falsch. Aber Sylvia kommt gleich. Ihr beiden habt es nicht einfach zusammen. Auf Eifersucht kann ich gut verzichten.«
Ruth nickte. »Kein Problem. Wir machen uns auf den Weg. Wann immer du reden möchtest, ruf an. Ich kann nicht von Augen lesen, wenn ich sie nicht sehe.«
Ruth und Mark umarmten sich lange. Als Ruth ging, fiel es ihr schwer, die Tür hinter sich zu schließen. Es schien, als verschloss sie damit den Weg zu dem Leben, das einmal ihres war.
03.02.93 Tagebuch Georg Koch
Ma und ich waren bei dieser Freundin . Carmen heißt sie. Sie hat nicht nur alte Videos. Wir haben richtig Geld ausgegeben: Kerzenständer. Poster. T Shirts. Armbänder. Sie hat echt viele coole Dinge. Ich werde mit Svenja und Merrit mal zu gehen . Sie hat Besuch immer gern . Und wenn sie Geld verdient, ist auch nicht böse.
Ich habe mein Pendel schon seit Wochen immer bei mir. Es funktioniert. Es ist unglaublich . Egal , wo ich bin . Und wenn es das Klo in der Schule ist. Pa lässt mich endlich in Ruhe. Voller Stolz sagt er, ich lerne noch , meinen Mann zu stehen . Ich erinnerte ihn mehr und mehr an den Mann , der er einmal selber war, in meinem Alter damals vor 25 Jahren . Wenn ich ihn nach Musikbands frage oder nach Discotheken, oder ob er eine Freundin gehabt hat, druckst er nur 'rum. An nichts erinnert er sich , der Spinner. Es gibt auch wohl nichts, an das er sich erinnern kann .
Das Beste ist, Svenja und Merrit sind genau die Freunde, die ich mir immer gewünscht habe. Es ist total toll . Zu Anfang dachte ich noch , sie lachen mich auch nur aus. Jetzt bin ich mir sicher, sie lachen über mich . Oder über die Dinge, die wir tun . Meist jedoch lachen wir zusammen , viel und laut.
06.02.93
Es ist geschehen . Svenja hat mich geküsst. Auf den Mund, so wie im Film. Nur, der Kuss ist echt gewesen . Es war toll , so zärtlich , sanft und behutsam. Ich wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte. Ich saß einfach nur da und und habe meinen Mund hingehalten . Was sollte ich auch tun??? Plötzlich hat ihre Zunge über meine Lippen geleckt. Ich war erschrocken . Hab den Kopf zurückgezogen . Svenja hat nur gelächelt. Sie mein Gesicht in ihre Hände genommen . Diese Augen . Ich konnte nicht denken . Nur in ihre Augen sehen . Es war nur ein Flüstern: »Mach den Mund etwas auf.« Sie hat mich noch mal geküsst. Plötzlich war ihre Zunge in meinem Mund. Es war komisch . Was sollte ich machen? Wieder ihr Lächeln .
Das Schönste, was ich je erlebt habe. »Wir müssen das noch üben .« Sie hat meine Hand genommen und wir sind durch den Park gegangen .
14.03.93
Lange nichts mehr in mein Tagebuch geschrieben . Warum auch? Was immer mir passiert, ich kann mit Svenja darüber reden . Sie weiß vieles. Oder wir fragen einfach ihre Ma, die hat immer eine Antwort. Sie kann zuhören . Und sie lacht mich nicht aus, womit auch immer ich ankomme. Sie ist viel besser als mein Tagebuch . Trotzdem haben beide gesagt, ich soll weiter rein schreiben . Es ist wichtig. Für mich . Für später, wenn ich mich mal erinnern wollte. Geschriebene Wörter sind genauer als Erinnerungen .
Svenja hat mich gefragt, ob ich schon mal über Sex nachgedacht hätte, also so richtig. Ich weiß gar nicht so genau, was ich da machen muss.
Mutter schreit immer dabei imm so etwas wie: Ja machs mir. Oder sie ruft häufiger: Schneller. Gib’s mir! Wie auf dem Sportplatz.
Ich habe Angst. Und mein Pendel kann mir auch nicht helfen . Scheiße. Ich mache sicher irgendwas falsch , Svenja hat überhaupt keine Zweifel , aber sie beherrscht das Pendeln auch perfekt. Was das angeht, kann ich noch `ne Menge von ihr lernen .
15.03.93
Ich war bei dieser Carmen . Ich wollte gar nicht, aber sie hat mich gesehen , wie ich mit dem Rad durch die Gegend gefahren bin . Sie kam vom Einkaufen , ich habe ihr die Taschen ins Haus getragen . Sie hat mich sehr lange umarmt. Ich wäre ein kleiner Engel . Das hätte sie sofort gewusst. Wir sind auf den Dachboden gegangen und sie hat mir ihre alten Kleider gezeigt. Es war cool . Nicht, weil ich die Kleider gesehen habe. Die waren mir egal . Aber sie hat sich immer wieder ausgezogen . Nur die Unterhose hat sie angelassen . Ich konnte die ganze Zeit ihre kleinen Brüste sehen . Es war ihr egal . Einmal ist sie zu mir gekommen und hat mir mit einer Hand in den Haaren herum gewuschelt. Ihre Brüste waren direkt vor meinem Gesicht. Ich habe ihre Brustwarzen gesehen . Ich hatte einen steifen Penis und bin knallrot geworden . Carmen hat nur gelacht. Es müsste mir nicht peinlich sein . So seien die Männer eben . Hat sie mir angesehen , was mit mir los war? Ich bin schnell nach Hause gelaufen . Am Abend im Bett habe ich mir wieder diese Brüste vorgestellt. Sie waren so groß wie Svenjas. Wie es wohl ist, sie anzufassen? Ich habe meinen Penis gestreichelt. Mein Herz raste wie verrückt. Trotzdem konnte ich nicht aufhören . Wollte nicht aufhören . Die Bilder gingen mir nicht aus dem Kopf. Carmen in den Kleidern . Und dann die Küsse von Svenja. Plötzlich war alles so klebrig und schleimig. Ich lag laut keuchend in meinem Bett. Warum war niemand da zum Reden? Immer nur dieses scheiß Buch .
16.03.93
Svenja, Merrit und ich haben etwas Neues ausprobiert. Wir haben Gläser gerückt. Es war total spannend. Merrit wollte unbedingt die sein , die Fragen stellt. Langsam hat sich das Glas von Buchstabe zu Buchstabe bewegt, und von Zahl zu Zahl . Es war richtig unheimlich . Aber wir haben Antworten erhalten . Der Geist trug den Namen Isabella. Als Erstes erfuhren wir nur, dass ihre Seele im Mittelalter durch das Feuer aus ihrem Körper gerissen worden ist. Wir haben anfangs gar nichts verstanden . Svenja war es, der einfiel , damals wurden Hexen verbrannt. Isabella musste für eine solche Hexe gehalten worden sein . Ihr Geist findet keine Ruhe und streift immer noch zwischen den Welten umher. Wir werden versuchen , Isabella beim nächsten Mal wieder zu finden . Ihre Beschreibungen waren so echt, ich glaube nicht, dass sich irgendwer so etwas ausdenken kann .
Und selbst wenn , wie sollte das mit dem Glas vor sich gehen?
Wir haben lange darüber geredet, ob es so was wie eine zweite Ebene gibt. Der Name kommt natürlich von Svenja. Gibt es eine Seele? Wo ist sie? Im Herz? Im Bauch? Im Kopf? Was bleibt, wenn man stirbt? Kann man von einem Geist besessen sein? Uns sind viele Fragen durch den Kopf gegangen , aber wir haben nur wenige Antworten gefunden .
17.03.93
Merrit hat mich wieder zu einer Seance eingeladen . Seance, cooles Wort. So nennt man das, wenn man Karten legt oder Gläser rückt oder pendelt. Wir werden mehr Leute sein . Sie hat was von einer richtigen dunklen Hexe erzählt. Genau das, vor dem mich Carmen immer gewarnt hat. Dunkle Hexen gibt es nicht nur im Märchen oder im Film, meint sie. Carmen sagt, diese Frauen verführen Männer nur zum Spaß. Sorgen für Unglück.
18.03.93
Wir waren zu viert. Sie heißt Ines. Was für eine coole Frau. Sie sagt, sie wäre ein Gothic. Auch etwas mehr als ein Gothic. Sie ist erfüllt von Dunkelheit und Bösem. Sie hätte der Sonne und dem Licht abgeschworen . Sie wäre eine Tochter des Gefallenen . Die 666 wäre ihre Zahl . Dann hat sie laut gelacht. Es wäre alles nur Unsinn . Sie hat ein wenig erzählt, von den Konzerten auf denen sie gewesen ist. Ihre Arme und der Rücken sind voller Tattoos. Jedes Tattoo ist ein Spiegel ihres Glaubens. Es gibt noch mehr Bilder auf ihrem Körper. Doch die hat sie uns nicht gezeigt. Wir wären noch zu jung. Sie hat wieder laut gelacht und mich dabei lange angestarrt. Ich konnte Svenja ansehen , was sie dachte. Sie mag so laute Leute nicht. Merrit fängt auch so an . Zum Glück ist es bei ihr noch nicht so schlimm. Doch Svenja ist richtig einen Schritt zurückgegangen .
Sofort hat sie mich gefragt, ob ich etwas erfahren wollte. Über meine Vergangenheit. Sie sagte: »Geister sind mächtige Geschöpfe. Verbündete, die einem viel Gutes tun , oder einen fürchterlichen Schaden anrichten können . Sie sind beinahe allwissend.« Ich war natürlich völlig neugierig. Und gleichzeitig traute ich ihr nicht. Ich dachte, jetzt kommt irgendetwas wie von meinem Pa: Ein Rumgedruckse. Nichts Genaues. Nette Geschichten , aber man durfte nicht nachfragen . Bei Ines war alles anders. Sofort war dort ein Geist, als er hätte er nur auf uns gewartet. Als das Glas auf die einzelnen Buchstaben zu glitt, wusste ich bereits, welcher Name dabei heraus kommt. Peter! Unmöglich! Aber ich habe mit meinem Bruder gesprochen . Wie geil!!! Es kann keinen Zweifel geben . Alle Antworten stimmten . Sein Leibgericht! Unser Lieblingsspiel , das wir seit meiner Zeit im Krankenhaus spielten . Ich war Karl und er war Jonathan . Nach der Geschichte der Gebrüder Löwenherz. Das konnte niemand wissen . Nicht einmal Svenja.
Mein Bruder hat versprochen , auf mich aufzupassen . Wir müssen nur immer weiter mit einander reden . Das war wie Svenja küssen nur anders!!! Ines hat viel erzählt an dem Abend. Ich sollte mich von dem Wissen , das mir die Schule vermittelte, verabschieden . Vor allem schweigen . Lehrer, meine Eltern , sie alle würden abstreiten , dass alles, was ich jetzt erlebt hatte, also das Gespräch mit meinem Bruder, real wäre. Wenn ich