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der flohmarktbrief auf einem flohmarkt erwirbt die autorin melody maurer einen 120 seitigen, vor etwa 35 jahren von hand geschriebenen liebesbrief eines unbekannten verfassers an eine junge frau, die offenbar dessen liebe nicht erwidert. die leserinnen und leser erhalten einen tiefen einblick in das leben, die psyche, die geistigen irrungen und wirrungen des sich in einer lebenskrise befindenden 44-jährigen marathonschreibers, der sich mit seinen zwei kindern im herbst 1988 ferienhalber in davos aufhält. mit pointierten kommentaren rückt die autorin die oft krassen briefzitate zurecht und setzt diesen die offensichtliche, die faktenbasierte wirklichkeit entgegen. ein "liebesroman" der besonderen art. ekaterina pawlow, zürich
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Seitenzahl: 271
Veröffentlichungsjahr: 2024
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christen. flohmarktbrief. foto 1. 2023.
christen. flohmarktbrief. foto 2. 2023.
eins: melody hatte genug
14. september 2023. 07.00 uhr
«2. januar 1989. 10.35 uhr
«12.10 uhr
23.30 uhr
zwei: schon wieder stress
«dienstag, 4.1.1989, 23.00 uhr
drei: skiwochenende
sonntagabend, 9. januar 1989, nach 23.00 uhr
vier: schulfächlein
«montag, 10. januar 1989, 22.30 uhr
fünf: korrekturarbeiten
«dienstag, 11. januar 1989, 21.30 uhr
«23.30 uhr
«12.1.1989, mittwoch, 15.30 uhr
22 uhr 40 uhr
sechs: sich verlieben
«13.1.1989, donnerstag, 23.30 uhr
«samstag, 15.1.1989, 15.20 uhr
22.00 uhr
«sonntag, 16.1.1989, 00.10 uhr
sieben: ferien
«2.10.1988, 14.30 uhr, davos."
19.30 uhr
acht: pergstigä
sonntag, 3.10.1988, davos, 07.15 uhr
13.20 uhr
14.45 uhr
20.15 uhr
23.45 uhr
neun: gemütlich
montag, 4.10.1988, 09.30 uhr
13.00 uhr
17.30 uhr
19.20 uhr
20.15 uhr
23.45 uhr
zehn: flohmarktbild
samstag, 30. september 2023
elf: sonnenschein
dienstag, 5.10.1988, 09.30 uhr
10.30 uhr
zwölf: eigentlich komisch
eigentlich sei es sehr komisch:
12.50 uhr
15.25 uhr
16.30 uhr
dreizehn: heute
20.55 uhr
vierzehn: was für ein datum
mittwoch, 6.10.1988
10.10 uhr
12.55 uhr
13.45 uhr
16.00 uhr
fünfzehn: herr alzheimer
ob herr alzheimer ihm mal eine frage beantworten
21.20 uhr
sechzehn: ausgehängt
donnerstag, 7. oktober 1988. 08.25 uhr
09.15 uhr
10.55 uhr
13.45 uhr
22.35 uhr
siebzehn: die flucht
freitag, 8.10.1988, 7.57 uhr
09.15 uhr
10.30 uhr
11.15 uhr
16.32 uhr
achtzehn: einkaufen
samstag, 8. oktober 1988. 08.35 uhr
09.20 uhr
16.55 uhr
18.35 uhr
20.15 uhr
neunzehn: voller emotionen
sonntag, 9. oktober 1988. 06.00 uhr
07.00 uhr
9.00 uhr
18.30 uhr
20.30 uhr
zwanzig: von bea geträumt
montag, 12. oktober 1988
08.00 uhr
12.00 uhr
23.25 uhr
einundzwanzig: heute rückkehr
dienstag, 13. oktober 1988. 07.10 uhr
07.30 uhr
08.40 uhr
16.30 uhr
23.45 uhr
zweiundzwanzig: berner orchester
mittwoch, 14. oktober 1988. 08.40 uhr
11.55 uhr
12.30 uhr
16.00 uhr
17.45 uhr
18.30 uhr
18.45 uhr
22.35 uhr
dreiundzwanzig: ohne kinder
donnerstag, 15. oktober 1988, 08.30 uhr
09.25 uhr
10.05 uhr
11.00 uhr
11.45 uhr
13.03 uhr
16.30 uhr
19.45 uhr
23.00 uhr
vierundzwanzig: pedalen
fünfundzwanzig: was für ein unglück
freitag, 16. oktober 1988, 09.40 uhr
20.30 uhr
sechsundzwanzig: nachts aufgewacht
samstag, 17.10.1988, 07.15 uhr
09.05 uhr
11.10 uhr
12.00 uhr
15.40 uhr
21.25
siebenundzwanzig: letzter ferientag
sonntag, 14.10.1988
achtundzwanzig: "meine dame."
montag, 18.10.1988. 06.14 uhr
06.50 uhr
07.10 uhr
08.50 uhr
09.50 uhr
10.20 uhr
neunundzwanzig: der briefschreiber k
donnerstag, 19. oktober 2023, 13.00 uhr
melody hatte genug.
sie war zwar schwanger.
und glücklich über ihren zustand.
mehr als glücklich.
doch:
sie vermisste das schreiben.
die pause
hatte ihr sehr
gut getan.
doch jetzt hatte sie
genug geruht.
sie wollte, sie musste wieder
zum laptop greifen.
sie hatte allen grund dazu.
weil sie am 20. juli auf dem badener flohmarkt für
25 franken ein graues umweltschutz-c4-couvert
gekauft hatte, in dem ein 120-seitiger,
handgeschriebener umweltschutzpapier-brief
eines unbekannten steckte, der schwer
entzifferbar zu sein schien und der sie aus
irgendeinem unerklärlichen grund interessierte,
sie magisch anzog, sie dazu brachte, die etwa 82-
jährige verkäuferin zu fragen, wieviel er koste, der
brief, worauf sie zur antwort erhielt:
«fünfundzwanzig».
die frage, ob sie auch «per twint» zahlen könne,
liess sie jedoch bleiben, denn ein derart blöder
scherz schien ihr wegen des ernsten und etwas
traurigen gesichtsausdrucks der
flohmarkthändlerin und des kostbaren
umschlaginhalts unangebracht zu sein.
eher hätte sie sich, obwohl sie üblicherweise
jeden franken, bevor sie diesen ausgab, zweimal
umdrehte, erkundigt, ob sie ihr auch dreissig
geben könne, was ihr aber im letzten moment
doch als zu absurd erschien, so dass sie die
zwanzigernote und einen ihrer zwei fünfliber aus
ihrer dunkelblauen secondhand-stoff-geldbörse
herausklaubte und ihr wortlos überreichte.
so war das gewesen.
zu hause hatte sie, weil sie sowieso total
überbeschäftigt war mit ihrem tsunamihaften
schwangerschaftswunsch, dem merapi-buch, der
vereinsgründung, der metagogik, der frauen-
fussball-wm, den katzen, dem haushalt, der lokal-,
der weltpolitik, der sp, den bevorstehenden
einwohnerratswahlen und ekaterina, ihrer
partnerin, das couvert nicht achtlos auf die seite
gelegt, sondern sorgfältig, wohlüberlegt und
-bedacht in der zweitobersten, linken schublade
des weissen schubladengestells, das ein wenig den
küchenbereich vom wohnzimmer abtrennte,
verstaut, an einem ort, den sie sich garantiert gut
würde merken und einprägen können.
und den sie dann trotzdem, wahrscheinlich
aufgrund ihrer sie rund um die uhr
beschäftigenden schwangerschaft, sofort wieder
vergass.
und erst am dreizehnten september, als sie ein
ziehen in ihrem schon bald sichtbar werdenden
bäuchlein verspürte, das sich bis in ihre unteren
lendenwirbel ausdehnte, durchwühlte sie, weil sie
ihr einziges allerweltsheilmittel – zur
homöopathischen tröpfchenweisen einnahme
oder zur äusseren anwendung – gesucht und
nicht gleich gefunden hatte, alle schubladen und
entdeckte dabei das dicke c4-couvert wieder,
nahm die 120 seiten heraus und begann, das
oberste blatt zu lesen.
die schrift war doch lesbarer, als sie sie in
erinnerung hatte.
offenbar war der rund 35-jährige wahnsinnsbrief
von einem männlichen unbekannten verfasst
worden, gerichtet an sich selbst – ohne jedoch
den eigenen namen zu verraten. einzig der
anfangsbuchstabe hätte einen hinweis geben
können, wäre melody dieser person in ihrem
leben je einmal begegnet.
«lieber k.»,
begann er, was konrad, karl, kurt, klemens –
andere namen fielen ihr nicht ein – hätte
bedeuten können.
und ganz zuoberst stand das datum:
allein zuhause.
es hat geschneit.»
«aha: damals vor 34 jahren hat es im winter also
noch geschneit», dachte melody, «nicht so wie
heute...»
und sie dachte an die vergangenen, praktisch
schneelosen, nicht sehr kalten winter und die
vergangenen septembertage mit
hochsommerlichen temperaturen um oder über
30 grad.
«lieber k.
das ist die richtige anrede: «lieber k.»...
du wirst dieses jahr 45 – wer hätte das gedacht:
45!
so alt war dein vater, als du bereits im
lehrerseminar in wettingen warst..."
zweites melody-aha:
also wahrscheinlich ein lehrer – wie hätte es auch
anders sein können... nur männliche lehrpersonen
können auf die verrückte idee kommen, endlos
lange briefe zu schreiben – wer stundenlang
dauerreden kann, wird auch pausenlos tagelang
notizen machen können, ohne einen
schreibkrampf zu bekommen...
und: lehrperson im mittelalter – in den kritischen
jahren – noch nicht richtig alt, aber auch nicht
mehr jung.
"45:
ein grufti?
ein oldie in den «besten jahren»?
45:
es ist an der zeit, dass du dich überdenkst, dich,
dein leben, deine zukunft – denn du hast noch eine
zukunft vor dir, deine eigene, die deiner kinder...
die nächsten 10, 15 jahre werden, sollen, müssen
entscheidend sein:
du musst jetzt die weichen stellen, diese eventuell
neu einstellen und vielleicht umgestalten...»
drittes m.-aha:
aha: vater mehrerer kinder ist er, dieser k. – und
offenbar an einem scheideweg (kein mann, den
sie kannte, würde bei diesem begriff nicht an
etwas anderes denken und sich das nicht auch
noch bildlich vorstellen) angelangt – ganz klar:
midlife-crisis.
die typische, männliche midlife-krise also, ein
zustand der unsicherheit, die maskulinen
"wechseljahre".
interessant-interessant!
das würde etwas neues werden für sie, mit
diesem thema hatte sie sich noch nie beschäftigt...
und bei ihrem vater hatte sie sowas nie
festgestellt... oder doch? wann hatten sich ihre
eltern getrennt?
45+34 1/2: heute wäre der verfasser dieser 120
seiten also beinahe 80. ob der wohl noch lebte?
irgendwo allein in einem einfamilienhäuschen mit
garten? in einer kleinen einzimmerwohnung? in
einem alters-, einem pflegeheim? oder ruhte er
eventuell schon eingeäschert in einer urne auf
irgendeinem friedhof?
dass der brief auf einem flohmarkt verkauft
wurde, legte jedenfalls die vermutung nahe, er
könnte bereits tot sein und irgendein in diesem
bereich tätiges unternehmen hätte die wohnung
oder das haus geräumt und alles, was irgendwie
verwertbar gewesen wäre, im internet, bei
secondhand-, ramsch- und flohmarkthändlerinnen
etc. verscherbelt...
im internet? nein, das gab’s damals bestimmt
noch nicht: weder internet, noch handy, laptops,
ricardo, amazon, ebay und wie die alle heissen...
und lehrpersonen leben normalerweise länger als
leute, die harte körperliche arbeiten verrichten:
also könnte der noch immer quicklebendig sein
und das schulfreie ahv-leben geniessen – hier oder
irgendwo auf der welt...
wie wahr!
«du sitzt am esstisch, trinkst eine tasse kaffee –
die zweite bereits heute – draussen ist es weiss:
eine zwanzigzentimeter-schneeschicht bedeckt die
dächer, felder, den wald – und du denkst nach,
schreibend – noch hast du etwas zeit – nutze sie!
deine familie kehrt frühestens in zwei, drei stunden
nach hause zurück...
lass alles stehen und liegen, vergiss die schule und
was du sonst noch alles «dringend» erledigen
solltest, müsstest, gib dich deinen gedanken hin
und schreib sie auf...»
von hand, denn damals gab’s ja wahrscheinlich
höchstens schreibmaschinen, eventuell sogar
elektrische, vermutete melody.
irgendwo lagerte im haus ihrer mutter im gfill in
rothrist noch eine alte, hellblaue olivetti, jedoch
ohne farbband, und als sie und ihr bruder noch
kinder waren, hatten sie so lange darauf
herumgetrommelt und
-gehämmert, bis fast alle metallenen
buchstabenärmchen unentwirrbar und fest
miteinander verhängt waren:
kein einziger buchstabe hätte mehr geschrieben
werden können, kein einziger...
eventuell hatte ihre mutter dieses defekte ding
sowieso schon lange entsorgt...
«du weisst: das ist wichtig, sehr wichtig, eminent
wichtig...
du stehst am anfang eines neuen jahres:
ein guter zeitpunkt, um etwas ändern zu wollen, zu
können, um motiviert zu sein, «vorsätze zu
fassen», etwas bewirken zu wollen – wie schon so
oft, leider – ohne dass daraus allzuviel geworden
wäre.
frag dich, wie du vorgehen willst:
denn mit diesen zwei, drei stunden, die dir heute
zur verfügung stehen, darfst du’s nicht bewenden
lassen. erst wenn du dir im klaren bist, wenn du dir
rechenschaft abgelegt hast, wenn du mit dir im
reinen bist, kannst du anfangen zu planen, dich
neu zu orientieren.»
nächstes melody-aha:
der briefschreiber hatte also im sinn, neujahrsvorsätze
zu fassen und diese auch umzusetzen.
inzwischen gab es wohl niemanden mehr, der so
etwas versuchte, denn alle wissen und wussten
aus eigener erfahrung und jener der urgrosseltern,
grosseltern und eltern, dass das sinnlos,
chancenlos ist und war und nie und nimmer
klappte, klappen kann und wird...
«konzentrier dich, lass dich nicht ablenken, bleib
am ball, bei dir, in dir:
heute ist der richtige zeitpunkt, jetzt ist der
moment gekommen, der richtige, nicht einfach der
letzte...
du hast viel gutes getan, vieles «richtig» gemacht
– vergiss das falsche nicht, das negative, das
schlechte:
nur, wenn du bereit bist, dich kritisch über dich zu
äussern, selbstkritisch, aber immer mit der nötigen
selbstliebe («liebe dich so, wie du deine nächste
liebst»), kannst du dich auf den weg machen zu dir
selbst, zu dir und deiner zukunft..."
oh: etwa ein evangelischer, christlicher,
sektiererischer lehrer, der sich und seine
schülerinnen und schüler zum einzig richtigen
glauben anhalten und eventuell bekehren wollte?
eventuell ein missionar mit missionarischem eifer
und geifer?
"erkenne dich selbst... denk positiv... begeistere
dich... sei spontan...
geh also vor ohne dispositiv:
das wird sich ergeben:
sei sicher:
der aufbau kommt von selbst, wird dir gegeben
werden, «eingegeben», und es wird richtig sein:
sei zuversichtlich, es wird gut herauskommen,
positiv, erfreulich, sehr erfreulich...!
halte dich nicht an vorbilder – halte dich an dich
selbst, denn du bist das grösste, wichtigste,
richtigste vorbild für dich selbst:
sei dein eigenes vorbild, denn deshalb bist du
mensch, deshalb kannst du denken, hast du ein
bewusstsein, hast du tausend fähigkeiten und
träume, hast du gefühle, empfindungen – und
alles ist bereits vorhanden, alles ist in dir, allesalles."
immerhin: "gott" fehlt, also doch ziemlich neutral
und "unchristlich", das heisst, wohl eher die
neujahrsansprache eines esoterischen
mentaltrainers...
sei bescheiden... sei nicht nachtragend... sei
freundlich, höflich auch zu leuten, die dir nicht
freundlich gesinnt sind... verurteile niemanden
vorschnell, denn alle haben ihre geschichte...
kämpfe, kämpfe, kämpfe:
- für dich
- für das leben
- für das positive
- für alles, für was es sich zu leben lohnt
- für die zukunft
- für die gegenwart
- für die kinder, die frauen, die unterdrückten, die
vernachlässigten
- für die natur, für jeden baum, jeden strauch,
jedes tier, denn alles ist eins..."
für melody klang das nun doch etwas politisch:
eher eine erste-mai-rede als die eines heilands,
eher die erstaugustrede eines linken als das wort
zum sonntag..., was immerhin bedeuten würde,
politisch nicht allzuweit von ihr selbst, melody,
entfernt...
"sei stark... sei mutig... wage viel... habe
zivilcourage... setz dich ein... nutze deine zeit,
denn noch hast du im überfluss – noch:
bevor es zu spät ist, und irgendeinmal ist es zu
spät:
in zehn jahren könnte es zu spät sein, bereits
definitiv zu spät..."
sehr pathetisch zwar, etwas übertrieben, ein
wenig zu theologisch, zu pädagogisch, zu
missionarisch – doch wenn der mann sich
tatsächlich in einer krise, einer lebenskrise befand,
waren das wahrscheinlich durchaus angebrachte
rhetorische mittel...
"beginne mit deiner gegenwärtigen situation,
damit, was du bist, was du kannst, wie du lebst,
wie du denkst, wie du schreibst, wie du dich siehst,
wie du über das leben, deine situation, die anderen
denkst...
was willst du zuerst klären, geklärt haben?
deine arbeitshaltung? deine selbstdisziplin? deine
ständige unordnung? deine zerfahrenheit? deine
emotionalen und sexuellen ausschweifungen? dein
familiäres verhalten? deine unzuverlässigkeit?
deine rücksichtslosigkeiten? deine negativen
seiten? deine vielen unvollkommenheiten? deine
«abstürze»? deine verschwendungssüchte? deine
motivationsprobleme? deine oberflächlichkeit?
deine gedankenlosigkeit? deine peinlichen seiten?
deine früste?
noch steht der künstliche weihnachtsbaum auf
dem holztisch:
das jahr ist noch jung, noch nicht 2 tage alt.
ein anfang ist immer positiv:
setz dir ein ziel, setz dich in bewegung, mache
einen schritt:
den ersten, den richtigen..."
melody war nun doch schon beinahe beeindruckt
von der wortwahl dieser mitten in einer krise
steckenden lehrperson, denn dieser mann schien
vor 35 jahren wild entschlossen gewesen zu sein,
sich, seine situation zu analysieren, zu beurteilen,
entscheidungen zu treffen, sich zu ändern, sein
umfeld zu ändern, alles, was in seiner macht
stünde, zu ändern... und wenn einer es schaffte,
120 seiten darüber zu schreiben, dann musste er,
davon war melody fast überzeugt, bis zu einem
gewissen grad auch erfolg gehabt haben.
wenn sie selbst etwas ändern wollte, was
manchmal vorkam, dann spielte sich alles in ihrem
kopf, in ihrer gefühlswelt ab – sogar fast
ausschliesslich auf der ebene der empfindungen:
sie fühlte, spürte, dass es zeit war, irgendetwas
anders zu machen als bisher – ihr kopf war da
wenig gefragt – es war ihr gemüt, das ihr ihre ziele
vorgab.
bestes beispiel schwangerschaft:
mit ihrem intellekt, ihrem geist, ihrem willen, mit
vernunft hätte sie sich diesem wunsch niemals
widersetzen können – dieser war ein einfach ein
blanker befehl, ein hundertprozentiges
kommando, dem sie sich zu beugen hatte, eine
mächtige innere stimme, der sie nichts
entgegensetzen konnte.
doch dieser briefschreiber hier versuchte
offenbar, sich selbst in eine neue richtung zu
lenken, neue, unbekannte wege zu gehen,
unbekanntes neuland zu betreten, bewusst seine
eigene zukunft in die hand zu nehmen.
sollte sie ihn dafür etwa bewundern? – nein,
natürlich nicht – er war ja ein mann, und da war
sowieso immer vorsicht geboten...
«werde dir bewusst,
wie das vergangene jahr zu ende gegangen ist, wie
das neue angefangen hat.
denn dass du über bea schreiben willst, mit ihr
beginnen willst, habe ich gleich gedacht und
gewusst – du willst unbedingt mit etwas
angenehmem anfangen, mit gedanken, die dich
und dein herz erfreuen, dich aufheitern."
als ob sie es geahnt hätte: die "krise" dieses
manns bestand also aus einer frau, wahrscheinlich
einer jüngeren, in die er sich verliebt zu haben
glaubte...
so simpel waren sie also, die männer...
simpel, simpel – und so berechenbar. denn so und
nicht anders funktionierten die männchen: nicht
ihr kopf lenkte sie, sondern ihr schwanz...
ihr eingebauter mechanismus funktionierte
automatisch – wie auf knopfdruck: hopp! mach
dich auf! und vergiss alles um dich herum.
ein einziges, drei buchstaben langes zauberwort
genügte, und alles und jedes konnte sich ändern,
auf einen schlag und in alle richtungen:
s.e.x.
und darum war melody lesbisch.
geworden.
und eine gewisse ähnlichkeit mit dem
diktatorischen wunsch, schwanger werden zu
wollen, stellte sie gar nicht in abrede...
kaum tauchte also eine junge, frische, fröhliche,
sympathische frau in ihrer nähe auf – und schon
genügte 1 kleines weibliches, jugendliches lächeln
und die männlein waren hin und weg, vergassen
frau, familie und kinder, vergassen
verpflichtungen, beruf und ehre, machten sich
zum trottel, zum affen, zum hoffnungslosen fall...
also sicherlich nichts, absolut nichts
"bewundernswertes" – ganz im gegenteil...
"lies noch einmal ihre letzte karte, die sie am
freitag, dem 23.12., geschrieben hat:
lies und denk nach... vielleicht fällt dir dabei etwas
auf oder ein über dich.
nun: wie ein elefant im porzellanladen hast du dich
benommen:
frech, rücksichtslos, peinlich...
und trotzdem ist was schönes draus geworden:
bea hat dich nicht verdammt, verletzt,
abgekanzelt, hat sich wunderbar und klar
verhalten, hat zum schluss einen so schönen brief
geschrieben, den du schon zehnmal gelesen hast.
und es war richtig gewesen, ihr nochmal zu
schreiben zum schluss, ihr das nichtgesandte auch
noch zu übergeben und ihr nochmals zu
bestätigen, dass sie "eine wunderbare frau" sei...
wie’s weitergehen soll, weisst du nicht – das
müsste vielleicht doch noch besprochen werden:
das «knallharte» nein ist ja ein verlässlicher
rahmen..."
"das knallharte nein ist ja ein verlässlicher
rahmen": offenbar nicht, wie es schien. sonst
hätte der typ auch nicht ein derartiges briefbuch,
einen soo langen buchbrief verfasst...
gab's damals, vor 35 jahren, etwa die klare
verhaltensbotschaft an die gesamte männerwelt
"nein heisst nein!" noch nicht? vermutlich – und
vor allem nicht in der schweiz: denn die frauen
hier galten bis 1982 zum dirigierbaren,
unterdrückbaren, versklavbaren gut – denn erst
von diesem jahr an wurden die ehefrauen
gesetzlich gleichberechtigt neben ihre männer auf
die gleiche stufe gestellt. die unterdrückung der
frauen durch die machos dauerte in der schweiz
besonders ewig lange, nämlich bis 1971, bis
endlich die macho-diktatur beendet werden
konnte – ein zentraler grund übrigens, weshalb
sie, melody, der sp beitrat, denn diese ehemalige
männerpartei hatte bereits nach dem ersten
weltkrieg die gleichberechtigung der frauen
gefordert.
"bald ist es zwölf, bald kommt die familie nach
hause, bald musst du aufhören mit schreiben... du
hast es auch bea versprochen – und dass du nun
dir selbst – statt an sie – schreibst, ist pure
projektion...
hast du dich selbst in bea gesucht?
was hätte sie dir bedeutet?
was wäre aus dir geworden – zusammen mit ihr?
bea konnte ja gar nicht und nie anders, auch wenn
sie eventuell gewollt hätte...
alles war so angelegt, von anfang an, dass sie
keine chance gehabt hätte, anders zu reagieren –
es sei denn, sie wäre ebenso rücksichtslos gewesen
wie du...
du kannst froh sein, dass es so herausgekommen
ist, wie es ist...
du musst ihr dankbar sein, dass sie sich so
wunderbar verhalten hat...
bea hat dir – trotz allem – sehr viel gegeben:
hast du’s überhaupt bemerkt?"
melody konnte nur ahnen, was hätte passiert,
vorgefallen sein können vor 35 jahren:
1. k. gestand ihr ev. seine liebe (dumm-dümmeram
dümmsten), wahrscheinlich schriftlich...
2. b. ("bea") wies ihn darauf hin, dass er
verheiratet sei und kinder habe.
3. k. habe eventuell darauf geantwortet, dass er
nur noch seine kinder liebe und er vor dem schritt
stehe, sich trennen zu wollen.
4. für eine affäre sei sie nicht zu haben – wenn er
irgendwelche absichten hege, solle er sich zuerst
trennen, jedenfalls würden die voraussetzungen
für eine liebesbeziehung fehlen.
5. aber ... etc. etc.
"bea ist – trotz ihres alters – eine reife, kluge,
eigenständige frau – wunderbar eben... das
hättest du ruhig etwas deutlicher schreiben
können in deinem letzten brief...!
nun:
du kommst vom thema ab, weichst dir aus, wählst
immer gerade das aus, was dir gerade passt, was
dir einfällt, was dir am angenehmsten ist, was
wenig arbeit erfordert...
weich nicht immer aus!
geh den problemen nicht aus dem weg!
gehe auf sie zu, analysiere, löse sie!
dann bleibt auch kein schlechtes gewissen übrig,
dann tust du auch etwas für dein gefühlsleben, für
deine gesundheit, für deine umgebung."
genau: melody registrierte sogar eine gewisse
form von selbstkritik – ob die jedoch wirklich ernst
gemeint gewesen sein könnte, bezweifelte sie –
denn k. hatte definitiv noch zur
"familienoberhaupts-generation" gehört, die
beispielsweise mietverträge unterzeichnete, ohne
dass ihre ehefrauen irgendein recht gehabt
hätten, dagegen etwas einzuwenden...
"morgen wirst du bea wieder sehen, ihr erneut
begegnen:
was sagst du ihr? was fragst du sie?
wie verhält sie sich?
lass bea den vollen handlungsspielraum!
misch dich nicht mehr in ihr leben ein!
lass bea los... definitiv...
aber sei ihr dankbar, achte sie, freue dich, dass du
ihr begegnen kannst..."
jemand, der nicht loslassen, ein "nein" nicht als
"nein" akzeptieren kann, schreibt und drängt und
immer weitermacht, würde heute als "stalker"
bezeichnet... so weit wollte melody im moment
noch nicht gehen, denn wie gesagt: eine gewisse
form von selbstkritik schien bei k. vorhanden
gewesen zu sein...
"thema liebe:
die wichtigste kraft, die «sanfte gewalt», die
energie, die «berge versetzen» kann, die alle
probleme, konflikte lösen, die wunden heilen, die
kinder «erziehen», die welt retten kann!
die liebe kann wunder vollbringen!
liebe kann totes zum leben erwecken!
die möglichkeiten der liebe sind grenzenlos!»
hatte k. etwa die idee, seine eigene, unerwiderte
liebe würde "berge", also auch herzen, konkret:
beas herz, so versetzen können, dass ein
"wunder" geschähe und sie ihn plötzlich ebenfalls
lieben würde?
denn genauso interpretierte melody k.s
klischeehaften, weinerlich-esoterisch-kitschig-religiösen,
männlichen herzschmerz-text...
melody war etwas ratlos, was sie von so einem
menschen, so einem brief, so einem gelaber
halten sollte.
doch immerhin war bea standhaft geblieben,
hatte ihn zurückgewiesen...
war das nun positiv oder negativ?
wie hätte sie an ihrer stelle reagiert?
aber natürlich: sie war ja lesbisch, hatte jedoch
einige männliche typen als freunde gehabt, war
mit ihnen auch ins bett gegangen und
ausnahmslos enttäuscht worden.
aus-nahms-los!
s-e-h-r enttäuscht!
das ist ein anfang.
fahr weiter.
immer, wenn du zeit hast.
und du hast sehr oft zeit.
denn nur dann lebst du, wenn du zeit hast – für
dich, für die andern, für deine gedanken...
nimm dir die zeit, die du brauchst, nimm sie dir!
viel zu wenig
erledigt! viel zu wenig...
um 21.00 gemerkt, dass du noch einige arbeiten
korrigieren müsstest, arbeiten, die du schon längst
hättest korrigieren können...
also erledige sofort, was du erledigen kannst, auch
das unangenehme!
was du erledigt hast, liegt dir nicht mehr auf dem
magen, macht dir freude...
versuche, zuverlässiger zu sein, nichts mehr zu
verschlampen:
die schülerinnen und schüler, die dir anvertraut
sind, haben ein recht darauf, prompt bedient,
ernst genommen zu werden:
bemühe dich, diesen ansprüchen gerecht zu
werden...
noch einmal beas karte gelesen:
weshalb freut sie sich so «riesig»?
das muss sie offenbar sehr belastet haben, das
gefühl, du könntest das vertrauen in sie verloren
haben – aber das hast du ja gar nicht, nie – nur für
eine ganz kurze zeit, wenige minuten waren es...
und du denkst an den film «when sally met harry»
mit der frage, ob ein mann und eine frau «einfach
so» befreundet sein könnten, ob das überhaupt
funktionieren würde...
und was alles hast du über weihnachten/neujahr
nicht erledigt!!
kein einziges deutschprojekt hast du beurteilt! kein
einziges...
na ja – die arbeitswoche beginnt ja erst morgen
beziehungsweise gerade in diesem moment:
es schlägt nämlich mitternacht...»
melodys fazit:
k. schien ein hoffnungsloser, wirklich
hoffnungsloser fall gewesen zu sein, der die
einfachsten dinge, nämlich dass ein "nein" nichts
anderes als ein "nein" sei und nichts anderes als
"nein" bedeute, nicht checkte, nicht checken
wollte.
was konnte daran kompliziert, unklar, ungewiss
sein?
k. war von vorgestern, ungegenwärtig, respektlos,
konnte nicht unterscheiden zwischen realer welt
und fiktion, zwischen fake und wahrheit...
christen. flohmarktbrief. foto 3. 2023.
stress, schon wieder stress:
gestern von 22 uhr bis halb zwei uhr kopiertkopiert...
die projektarbeiten der klasse 4e –
teilweise absolut beeindruckend!
richtige bücher, seminararbeiten! kompliment!
und um 6 uhr 30 bereits wieder in der schule:
englisch vorbereiten...
planen:
besser planen. die eigene arbeit, die arbeit der
schülerinnen und schüler.
mach es wie früher:
plane am wochenende mindestens die ganze
woche im voraus – und erledige nicht immer alles
im allerletzten moment – daher der stress.
bereite, wie früher manchmal, detailliert zwei tage
im voraus vor – inklusive kopieren etc., das gibt
gleich ein anderes gefühl – von ruhe und
gelassenheit..."
k. war also einer, der zwar viel arbeitete, jedoch
bei vernünftiger planung und besserer
selbstorganisation mehr und auf effizientere weise
hätte leisten können – was sie aber auch an sie
selbst erinnerte – ihre eigene selbstdisziplin war
oft ebenfalls nicht über jeden zweifel erhaben.
"und was hast du sonst noch erledigt? dem
erziehungsdepartement telefoniert, abteilung
administration, auskunft erhalten betreffend
geburtsdatum von bea... – und wurdest prompt
bedient: am 7. 2., am montag, mitten in den
ferien!
du hast es ja fast geahnt:
du setztest auf den 6.2., wie sabine damals, nun ist
es halt der 7.2..."
was erlaubte sich dieser kerl? heute wäre das
undenkbar, dass einer bei der kantonalen
verwaltung einfach so eine derartige auskunft
erhielte! doch vor 35 jahren war das scheinbar
ohne weiteres möglich: die weitergabe
persönlicher, vertraulicher daten!
was waren das für zeiten und zustände gewesen –
unglaublich!
"kein wort gesprochen übrigens heute, keine
gelegenheit, keine notwendigkeit?
du ertapptest dich dabei zu denken, du müssest
dich zwingen, negativ zu denken:
«blöde kuh» oder ähnlich – das würde helfen, sie
«zu vergessen»...
doch was soll das eigentlich?
du hast mühe, das zu tun, sie als «kuh» zu sehen,
als «blöd und dumm», als «nicht ganz hundert»
und die gründe fehlen natürlich ebenfalls:
es gibt höchstens einen einzigen grund, so zu
denken:
mit keinem einzigen wort hat bea nämlich dir
gegenüber bisher zu verstehen gegeben, ob sie das
nachträglich geschickte – den zweiten (und
letzten) teil des «letzten kalenderblattes»
überhaupt irgendeinmal erhalten und zur kenntnis
genommen hat...
wie du dich verhalten müsstest, musst, scheint klar
zu sein:
kein einziges schriftliches wort mehr, keine infos
mehr, nichts-nichts-nichts...
oberflächliches, belangloses geschwätz, wenn
überhaupt...
du hast dich lange und intensiv genug um sie
bemüht – nun ist schluss – diesen emotionalen
aufwand willst und kannst du dir nicht mehr
leisten...
war sie’s überhaupt wert, dass du ihr um die 150
seiten geschrieben hast? dass du ihr bücher
gekauft und geschenkt hast?
und was kam zurück?
wenige zeilen auf «fresszetteln» – das war’s dann
gewesen...
«undankbare, eingebildete, saudumme kuh!»
nun konnte sich melody nicht mehr zurückhalten:
was für ein a. k. doch gewesen war – nicht zu
fassen!
wenn sich die männer damals so idiotisch,
respekt- und rücksichtslos, bar jeden anstands
verhalten konnten, wie schlimm musste das dann
vor hundert oder zweihundert jahren gewesen
sein?
unerträglich! katastrophal! grauenhaft schlimm!
"natürlich bist du jetzt unfair, ungerecht, und was
du eben geschrieben hast, ist komplett daneben!
wer ist schliesslich an allem schuld? wer hat das
ganze überhaupt angezettelt und inszeniert? wer
hat mit allem – ohne veranlassung – angefangen?
sei also nicht gemein, sondern nett, höflich,
dankbar, so, wie es richtig ist, so wie sie es
tatsächlich und wirklich verdient!"
und zum essen am donnerstag ist nicht nur der
klassenlehrer, bist also nicht nur du eingeladen,
sondern auch weitere...
etwa eifersüchtig oder was?
statt dich zu freuen, regst du dich auf...!
bea misstraut dir:
zu recht, das musst du doch zugeben!
denn du tust es ja selbst!
du musst dich zwingen, nicht ständig an sie zu
denken, sie nicht ständig in deine
handlungsweisen einzubeziehen!
bea hat recht, wenn sie dir misstraut, wenn sie
vorsichtig ist, wenn sie’s nur schwer glauben kann,
du hättest es endlich überstanden...
ach, wie schön ist das leben...!
schön einfach, schön kompliziert!»
hier schaltete melody eine pause ein:
ununterbrochen hatte sie abgetippt, was kaum
leserlich und in kleiner kugelschreiberschrift auf
hellbraunem umweltschutz-briefpapier
festgehalten war, machte sich eine tasse
max-havelaar-kaffee, setzte sich hin, reflektierte, was
sie eben geschrieben hatte.
dieser mann, ein oberstufen-, wahrscheinlich ein
bezlehrer, wie’s den anschein machte – sie selbst
hatte die bezirksschule in rothrist besucht, erste,
zweite, dritte, vierte bez, bei einer tollen,
kreativen, empathischen klassenlehrerin, die ihren
schülerinnen und schülern zu vielen positiven
erlebnissen und erinnerungen verhalf – diese
männliche lehrperson hier versuchte also, sich aus
der perspektive eines zweiten ichs zu beobachten,
zu kommentieren, zu beurteilen.
was ihr eigentlich als gar nicht so schlechte
methode erschien – vielleicht sollte sie ihre
schwangerschaft, ihr leben, ihre beziehung zu
ekaterina auch einmal «von ausserhalb», aus der
sicht einer anderen person zu betrachten
versuchen:
«melody, melody, das hast du gut hingekriegt: vier
romane in zwei jahren! wer schafft das schon!
und schwanger! – ohne sich auf einen mann und
dessen problembeladenes ego einlassen zu
müssen!
das hast du toll gemacht, ist dir phänomenal
gelungen!
du bist beinahe schon genial! schon fast ein genie!
und dann erst noch dieser zufall da mit diesem
brief!
wie machst du das bloss, melody?»
um sich selbst loben zu können, brauchte sie
keinen perspektivenwechsel – das war nur sinnvoll
und nötig, wenn man «mit sich ins gericht gehen»,
sich kritisieren, sich «auseinandernehmen» wollte,
wenn man sich vornahm, sich oder etwas
wichtiges verändern zu wollen:
«so, melody, jetzt stehst du aber auf und –
marsch! – in die küche! mach endlich den
haushalt, wie es sich gehört! schau dir mal den
boden an! grauenhaft! grässlich! unerträglich!
überall krümel, flecken, katzenhaare!
was bist du für eine unordentliche, unfähige,
schlampige person! und erst die fensterscheiben!
der kühlschrank! das puff in den schubladen!
wie soll das noch herauskommen, wenn dein
töchterchen oder dein söhnchen geboren ist!
willst du, dass es in einem schweinestall
aufwächst? willst du das wirklich? melody,
melody! reiss dich zusammen, streng dich an! tu
das, was jede normale frau tut! putz! reinige! bis
alles glänzt!
melody: ich bin enttäuscht von dir!»
auch für einen knockout war die aussensicht
offenbar ungeeignet, schlussfolgerte sie und
wandte sich wieder der siebten männlichen
briefseite zu.
«die einzige, die wirklich einzige chance, die du
hast, ist, bea zu «vergessen», zu «ignorieren», ist,
sie zu behandeln, als wäre sie «irgendeine»
kollegin, irgendeine-irgendeine...
du darfst nicht mehr agieren oder reagieren:
tu einfach ab sofort nichts mehr, nichts, nichts,
n-i-c-h-t-s! und zwar ab genau jetzt!
und wenn das nicht helfen sollte:
denk, wie gemein sie sich dir gegenüber verhält,
wie abweisend, unklar, gleichgültig! doch lass es
sie nicht merken, dass du so negativ über sie
denkst."
wirkungslos: k. hatte null autorität über sich
selbst, war steuerungsunfähig, sein gehirn befand
sich in seiner hose, sein kopf war und blieb
schwanzgesteuert.
schwanzgesteuert.
christen. flohmarktbrief. foto 4. 2023.
skiwochenende mit der 2f!
alles klappte, null probleme, deine schülerinnen
und schüler waren die ganze zeit sehr nett und
pünktlich, «anständig» zur hotelchefin und zum
begleiter, einem mitglied der schulpflege.
wirklich: eine freude!
sogar das skifahren hat dir einigermassen spass
gemacht!
doch dafür erneut dieser arbeitsrückstand, dieses
puff:
wie immer, keine besserung des zustands, und das,
was du noch in den weihnachtsferien erledigen
wolltest, hast du noch immer nicht geschafft...!
grässlich!
hier noch eine ergänzung zu oder über bea:
erneut hast du ihre karte vom 23.12. gelesen:
warm, gefühlvoll, empathisch...
erstaunlich, dass sie mich nicht liebt..., nicht lieben
soll..., dass sie vorgibt, keine beziehung mit mir
eingehen zu wollen..."
melody:
zwar wirklich toll, ein skiwochenende mit
der eigenen klasse zu organisieren, wirklich super,
doch vollkommen unnachvollziehbar deine
verstocktheit, deine verbohrtheit, dein brett vor
dem kopf!
du warst verheiratet, hattest zwei kinder!
welche normale frau würde da schon eine
beziehung eingehen wollen?
keine! keine einzige!
warum u.g.w. konntest du, wolltest du das nicht
einsehen, k.?
warum?
"mittagessen am donnerstag:
gemüselasagne – sehr gut.
du sassest als klassenlehrer die ganze zeit neben
bea, hattest oft gelegenheit, einige worte mit ihr
zu wechseln...
dein «paketchen» erwähnte sie mit keinem wort,
...»
wie auch?
wenn melody das richtig verstand, hatte die klasse
gekocht und einige lehrpersonen zum
gemeinsamen essen eingeladen – wie hätte sie,
bea, die fachlehrerin, da «private dinge», die
«nicht an die grosse glocke gehängt» werden
sollten, mit ihrem kollegen, der mit ihr «ein
verhältnis eingehen wollte», besprechen sollen?
wahrscheinlich war den schülerinnen und schülern
sowieso schon längst aufgefallen, dass ihr
klassenlehrer ein auge auf eine ihrer sie
unterrichtenden lehrerinnen geworfen hatte und
sie waren deshalb bestimmt hellhörig und erpicht
darauf, neues über die sich anbahnende
beziehung zu erfahren, zum beispiel dass es da ein
ominöses «päckchen» gäbe, das er, der