Der Flötenspieler - Rudolf Bussmann - E-Book

Der Flötenspieler E-Book

Rudolf Bussmann

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Beschreibung

Hier fühle man sich wie im Labyrinth von Minotauros, notiert der Versicherungsangestellte Thomas Waller in sein Tagebuch. Das Geschäftshaus der Perduta-Versicherung hat es in sich. Man verläuft sich im Gewirr von Wänden und Möbelstücken, Teppiche verschlucken die Schritte, das Treppenhaus ist mit einer Alarmanlage gesichert. Waller, Anfang 30, registriert an sich sonderbare Symptome, über die er genauestens Buch führt. Zu seiner psychischen Verwirrung gesellen sich körperliche Merkwürdigkeiten. Finger und Augen versagen dem talentierten Flötisten beim Spiel den Dienst, zeitweise verliert er seine Stimme. Der Körper wird Waller fremd, sein Leben droht ihm zu entgleiten. Der ärztlichen Diagnose einer larvierten Depression begegnet er mit abwehrender Ironie. Als ein Konflikt mit seiner Frau Mathilda eskaliert und in Gewalt endet, flieht Waller auf der Suche nach Einfachheit und Ursprünglichkeit in ein Bergdorf im Jura. Bei E., einer stumm gewordenen Sängerin, hofft er, seinen Grundton

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Rudolf Bussmann

Der Flötenspieler

Roman

»Du musst auf einem andern Wege fort«,

Sprach er zu mir, den ganz der Schmerz bezwungen,

»Willst du entfliehn aus diesem wilden Ort.

Denn dieses Thier, das dich mit Graun durchdrungen,

Lässt keinen ziehn auf seines Weges Spur,

Hemmt jeden, bis es endlich ihn verschlungen.«

Dante, Die Göttliche Komödie

Inhalt

Erstes Heft

Zweites Heft

Drittes Heft

Nachwort

Drei Jahre sind es nun her, seit man Thomas Wallers Leben für beendet erklärt hat. Seine Freunde waren noch einmal zusammengekommen, seiner zu gedenken; die Blumen musste jeder wieder mitnehmen, da es kein Grab gab, auf das man sie hätte legen können. Wir gaben die Hoffnung, Waller würde eines Tages wieder auftauchen, lange Zeit nicht auf; doch hat er nichts mehr von sich hören lassen. An welchem Ort er seinen Frieden gefunden hat, bleibt sein Geheimnis. Den Behörden ist es nicht gelungen, sein Verschwinden aufzuklären, auch wurde nie ein Leichnam gefunden. So verschied denn Waller mit abgeschlossener Untersuchung auf dem Amtsweg: mangels Beweisen. Ein Bekannter, der aus Paris zurückkehrte, brachte letzthin die Rede auf einen Flötenspieler. Der Mann habe auf Plätzen und vor Bistros gespielt, umringt von Schaulustigen und tanzenden Paaren. Übrigens spreche er den Dialekt unserer Stadt. Diese Bemerkung liess mich aufhorchen; sie hat die Erinnerung an Waller neu geweckt. Wieder habe ich das Material um mich versammelt, um es, mit wachsender Distanz, zu sichten. Die Tagebücher und Notizen von Thomas, der eigentlich gar nicht Thomas heisst, fanden sich an seinem letzten Aufenthaltsort, einem kleinen Dorf im Jura. Ich zeigte sie weder seiner Frau, die nach Schwangerschaft und Fehlgeburt keiner zusätzlichen Belastung ausgesetzt werden durfte, noch den Behörden. So bin ich der Einzige, für den Wallers Tod nicht eine beschlossene Sache ist. Trotz manchem Zweifel glaube ich, es der Öffentlichkeit schuldig zu sein, die Dokumente zugänglich zu machen. Wenn die Publikation das Andenken an Thomas Orfeo Waller lebendig erhält, hat sie ihren Zweck erreicht.

Der Herausgeber

Erstes Heft

Montag, den 7. April

Wusste heute früh beim Erwachen nicht gleich, wo ich mich befand. Statt der Geräusche, die sonst um mich gewesen waren, hörte ich die Sirene des Krankenwagens. Ins Dunkel des Zimmers setzten sich verschwommene Lichtflecke, die nach einer Weile erloschen. Ich wollte, in die warme Decke gehüllt, eben darangehen, mich auf den unbekannten Tag zu freuen, da läutete der Wecker. Zu Hause war das also. In meinem Körper rührte sich nichts, die Glieder lagen stumpf nebeneinander, unzugänglich jedem Aufruf. Sie waren nicht einmal dazu zu bewegen, das Klingeln abzustellen, und liessen mich einfach stehen. Vielmehr liegen. Es brauchte übermenschliche Kräfte, sie davon zu überzeugen, dass sie Teile eines Körpers waren, der aus dem Bett wollte. Kaum hatte ich es geschafft, auf den Beinen zu stehen, hängten sie sich mit ihrer ganzen Schwere an mich, brachten mich aus dem Gleichgewicht, zerrten mich zu Boden. Ich musste ihnen jede Verrichtung, jeden der Handgriffe, die sie seit Jahren kennen, in Erinnerung rufen. Auf die Gewohnheit, die in ihnen sitzt und sie führt, war heute kein Verlass. Sie blieben vor dem Haus unschlüssig stehen, und an der Haltestelle gingen sie gedankenlos weiter, dem Park zu. Als ich sie endlich auf dem richtigen Weg hatte, suchten sie an Abschrankungen und Signaltafeln nach Halt. Es schien, die Glieder wollten mir eine dringende Mitteilung machen.

Im Stadtzentrum nahm ihr Widerstand sichtlich ab, und je näher wir dem Verwaltungsgebäude kamen, auf dem der bekannte Schriftzug PERDUTA LEBEN – Unsere Leistung, Ihre Sicherheit weithin zu sehen ist, desto geschmeidiger wurden sie. Meine Rückkehr ins Geschäftshaus der PERDUTA-Versicherung vollzog sich reibungslos; aufrecht und schwindelfrei betrat ich die große Vorhalle. Nach dem Passieren der Drehtüre meldete sich allerdings der Magen; ihm liegt das Haus seit jeher schwer auf. Ich schluckte im Gehen eine Tablette, um mir nach den Ferien nicht gleich den ersten Morgen durch geschäftsfremde Angelegenheiten verderben zu lassen. Im Lift erinnerte ich mich wieder daran, dass ich mich hatte freuen wollen.

Und ich freute mich im Lift.

Fritz Füchslin, der mich in unserem Stockwerk erwartete, stieß mich heimlich in die Seite: An seinem Arbeitsplatz stand Abteilungschef Harald Aornis und studierte den Spruch, den Füchslin auf den Aktenschrank geklebt hat: Lasciate ogni speranza voi ch’entrate. Harald Aornis wollte wissen, was das heisse. Füchslin las die Worte langsam vor, als sähe er sie zum ersten Mal. Er zuckte die Achseln und blickte zu mir.

»Vielleicht kann Herr Kollege Waller … ?«

Verständlich, dass er den Vorgesetzten nicht schon am Montagmorgen mit der Devise bekannt machen wollte, wer hier eintrete, müsse alle Hoffnung fahren lassen. Ich räusperte mich, bescheiden und verbindlich, in der Mischung, die man bei uns draufhat.

»Wenn ich behilflich sein darf – übersetzt lautet der Vers: ›Kommen Sie zu uns herein, es könnte Ihre Rettung sein!‹ Ein Werbespruch unserer Tessiner Filiale, der PERDUTA VITA in Lugano.«

Aornis nickte wohlwollend, als hätte er uns auf die Probe stellen wollen. Im Weitergehen raunte ich ihm zu, der Satz stamme von Herrn Füchslin selber, mein Kollege mache in der Freizeit Werbetexte für die Firma, ehrenamtlich. Anerkennende Zufriedenheit glättete die verkniffenen Züge des Vorgesetzten; ich konnte mich nicht enthalten, Aornis des Weiteren wissen zu lassen, Herr Füchslin habe überhaupt, vertraulich gesagt, das Herz auf dem rechten Fleck. Das Mitglied des Vereins zur Förderung des Wehrwillens und der Wehrwissenschaft verstand mich: »Eine seltene Erscheinung! Der Gefahren sind viele, Waller, und der Versuchungen. Sehen Sie sich vor! Bleiben Sie wachsam, Waller!«

Ich setzte mich vor den Haufen Papier, der sich in den Tagen meiner Abwesenheit angesammelt hatte. Mit eiserner Disziplin würgte ich alles Schwächliche ab. Ich hatte mich im Griff.

Um zehn Uhr liess mich einer der stellvertretenden Direktoren ins Büro holen. Der Dicke war es, der mir eine, wie er sich ausdrückte, der gelegentlichen Beförderung nicht undienliche Angelegenheit vorzutragen hatte. In ein paar Wochen, sagte er, feierten wir den dreijährigen Einzug in das Limbus-Hochhaus, die Direktion spendiere aus diesem Anlass in der Kantine über Mittag ein Essen. Dazu plane man eine kleine Überraschung: Tafelmusik. Die Solisten, dies der Wunsch des Generaldirektors, sollten den eigenen Reihen entstammen. Wie man höre, spielte ich außerordentlich talentiert Querflöte, andere aus dem Haus hätten sich bereits spontan zu Einlagen bereit erklärt. »Sie wissen, was wir von Ihnen möchten. Nehmen Sie sich Bedenkzeit, natürlich selbstverständlich klar, geben Sie mir in ein paar Tagen Bescheid, es wäre für Sie, auch für uns, eine ehrenvolle Sache, gewiss.«

Ärgerlich, dass ich nicht sofort abgesagt habe. Ich muss dem Dicken bei nächster Gelegenheit klarmachen, dass ich nicht daran denke, mein Instrument für die Jubiläumsfeier eines Bürokomplexes zu missbrauchen, in dem kein Einziger, der dort arbeitet, noch hat warm werden können. Es ist ein schlechter Scherz, das Haus zu feiern. Jedermann weiss es, jeder wusste es vom ersten Tag an, jeder erzählt es hinter vorgehaltener Hand: Dieses Gebäude …

Wir waren damals zu einer Besichtigung geladen, kurz vor dem Umzug. Auf der Einladung war zu lesen: Walkthrough durch unser neues Gebäude. Ob man da Wanderschuhe braucht?, fragte ich Hilde. Sie riet zu einem Buschmesser. Zusammen mit den andern Gästen nahm ich in einem kahlen Saal Platz. Wir wurden von einem der Generaldirektoren, Professor Dalamona, persönlich willkommen geheissen. Er sagte, wir könnten den Dienst am Kunden hier noch effizienter erbringen, und wir erfuhren bei dieser Gelegenheit, dass wir jeden zweiten Haushalt des Landes mit einer Dienstleistung erfreuten. Rund 1300 Mitarbeiter aus zwölf Komplementärgebäuden würden hier zusammengezogen, was die Betriebsabläufe erheblich vereinfache. Professor Dalamona glaubte dies eine Vereinheitlichung im guten Sinne des Wortes nennen zu dürfen. Gleichzeitig werde die Arbeit rationalisiert, was nicht zuletzt uns, den Mitarbeitern, zugutekomme. Wenn die Beschäftigungspolitik des Hauses etwas vorsichtiger geworden sei, so habe das nicht, wie eine Zeitung am Platz hartnäckig zu behaupten fortfahre und wie leider auch da und dort in der Belegschaft zu hören sei, mit der neuen Computer-Ausrüstung zu tun. Vielmehr sei man in der letzten Zeit mit der Einstellung neuer Leute etwas zu unbedenklich gewesen, was die Geschäftsleitung durchaus als Selbstkritik verstehe. Der Bau, schloss der Professor seine Einleitung, sei mit der Devise »Der Mensch steht im Mittelpunkt« geplant und ausgeführt worden. Welcher Mensch, sagte er nicht. Der Generaldirektor stellte die weiteren Referenten vor, und der eine von ihnen begab sich an ein Mischpult mit vielen Lämpchen und Knöpfen, von denen er ein paar drückte. Die Storen glitten geräuschlos hinunter, ein Projektor bestrahlte die Wand vor uns, die Stimme der Tonbildschau hiess uns erneut willkommen und sprach von einem Gebäude, das nach neuesten Erkenntnissen realisiert worden sei. Einiges wusste ich schon aus den Baubulletins, die regelmäßig erschienen waren, um uns das Gefühl zu vermitteln, wir gehörten mit zur Bauherrschaft. Fritz Füchslin hatte das »Mitbeteiligung der Gorillas an der Vorfreude über ihren neuen Käfig« genannt. Der Entscheid, Großraumbüros einzurichten, die wir wegen ihrer Nachteile aus der Mode gekommen glaubten, hatte unter dem Personal zu heftigen Diskussionen geführt; die Tonbildschau sprach nun aber zuversichtlich von modernen Studien und weitläufigen Testverfahren, die das Großraumbüro als jene Form erwiesen hätten, die sich den Bedürfnissen der Menschen am besten anpasse. Unterdrückte Lacher aus dem Publikum. Natürlich war es nicht Absicht, dass die Tonbandstimme sich mit den, wie sie sich ausdrückte, Zellenbüros in den oberen Etagen auseinandersetzte und der Projektor gleichzeitig die Kühlfächer zeigte, die uns zur Verfügung stehen sollten. Als die Rede auf die Konferenz- und Schulungsräume kam und wir die Cafeteria im Bild sahen, vollends aber, als von den achthundert Grün-Arrangements in den Großraumbüros gesprochen wurde und gleichzeitig die Beton-Glaskonstruktion der Außenwand erschien, war allen klar, dass der Zufall die Technik überlistet hatte. »Seit den Vierzigerjahren ist bei uns eine wertvolle Kunstsammlung im Entstehen«, lobte die Stimme und machte uns mit den Toiletten bekannt. Da schon der Kultur Erwähnung getan werde, solle auch darauf hingewiesen sein, dass der Bau harmonisch in die Umgebung integriert und insbesondere der Baumbestand des Botanischen Gartens im ehemaligen Limbus-Park nach Möglichkeit belassen worden sei. Das eingeblendete Bild vom leeren Vorplatz aus eingelegten Steinquadern vermochte uns hinlänglich davon zu überzeugen. »Das Gebäude«, fuhr die Stimme unbeirrt fort, »ist zentral gelegen, zu Fuß und mit dem Tram gut erreichbar« (Bild des unterirdischen Parkings), »sodass die Abstellplätze« (Bild eines Großraumbüros) »auf ein Minimum beschränkt werden können. Was unsere Mitarbeiter betrifft« (eine Bildschirmtastatur erscheint), »so hilft ihnen die modernste technische Gerätschaft, ihre anspruchsvolle Arbeit« (Frau Zerber beim Kaffeetrinken, ein Schnappschuss; erlösendes Gelächter) »optimal zu erledigen, ohne unter dem vielzitierten Stress zu leiden.«

Der Operateur brach mit rotem Kopf unter dem Hinweis auf die Tücken der Technik die Vorführung ab und erwähnte, während er wieder an den Knöpfen hantierte, beiläufig den Namen von Hermann Ares aus der PR-Abteilung, der die Dia-Schau zusammengestellt habe und für sie verantwortlich sei. Der nächste Herr warf mit Umsatz- und Bilanzzahlen um sich, die er uns schriftlich hatte vorlegen wollen, Herr Grutschnig von der Hausdruckerei habe den Auftrag jedoch unter falschem Datum in die Agenda eingetragen. Ich versuchte während des Referats herauszufinden, woher das Licht kam, das den Raum erhellte. Die Lichtquelle befand sich entweder entlang des Deckenrandes, der mir heller vorkam, oder sie war in die Decke eingelassen, die ich doppelbödig vermutete, da sie erleuchtete runde Öffnungen aufwies. An der Seitenwand spiegelten sich die übrig gebliebenen Bäume von draußen, während die roten Lämpchen des Mischpults von den Fensterscheiben hereinschauten. Alles schien hier indirekt zu sein. Manchmal ertönte ein feines Piepsen im Raum, das selbst den Professor aufhorchen liess, wie ich bemerkte. Woher es kam, war nicht auszumachen. Aus der Decke? Vom Rednerpult? Von den Lautsprechern der Tonbildschau? Das Piepsen war überall gleichmäßig verteilt, genau wie das Licht. Ein vierschrötiger Kerl mit einer Knollennase, den ich zum ersten Mal unter der Belegschaft erblickte, zählte die Vorkehrungen auf, die man gegen den Brandfall getroffen hatte. Als wichtigste Sicherheitsgarantie hob er die Motivation des Personals hervor, was nichts anderes hiess, als dass man mit Brandstiftung rechnete und uns schon vor dem Ausbruch des Feuers verdächtigte. Es lägen Evakuationspläne vor; entsprechende Übungen würden mit uns durchgeführt, versprach der Referent. In gewissen Räumen seien Sprinkleranlagen vorhanden, die bei einem Brand das entsprechende Zimmer mit Wasser besprühten. Irgendwie verband sich das irritierende Piepsen in meinem Kopf mit dem Wort Sprinkleranlage; würde man uns demnächst unter Wasser setzen? Als hätte die Knollennase meine Gedanken erraten, fügte sie hinzu, was zu tun sein werde mittels einer eingebauten Durchsagevorrichtung rechtzeitig bekannt gegeben. An alles war gedacht worden!

Ein weiterer Herr erhob sich; er erinnerte uns an die Spielwiesen, die uns zur Verfügung gestellt worden seien. »Spielwiesen?«, fragte jemand. Der Herr führte aus, zum Wohlbefinden des Menschen gehöre ein begreifbarer Arbeitsplatz. Deshalb sei man von einer Layout-Philosophie ausgegangen, die eine Mitsprache des Personals ermöglicht habe. Das Layout hatte auf den Spielwiesen stattgefunden. Statt Buchstaben und Sätzen hatte man auf den maßstabgetreuen Modellen Menschen und ihre Arbeitsplätze hin und her geschoben, bis die definitive Aufstellung gelungen war. Damals hatte ich mir den Platz gewünscht, wo jetzt mein Schreibtisch steht. Der Vortragende, der im Militär Korporal sein mochte, sprach davon, dass jede Organisationseinheit über ihren eingegrenzten Raum verfüge; die Zonen würden durch Hauptverkehrswege miteinander verbunden, die am Nebenkern (damit meine er Lift und Toiletten) vorbeiführten, sodass ein Minimum an Verkehrsfläche entstehe. Kopierapparate und Aktenvernichter seien den Hauptverkehrswegen entlang aufgestellt, Tränkestellen vergleichbar, an denen das unvermeidliche Palaver abgehalten werden könne, ohne die Konzentration der Arbeitenden zu stören. Die Verkehrswege sollten verhindern, dass zusätzliche Trampelpfade im Dschungel der Pflanzen und Stellwände entstünden.

Ich bereute es, das Buschmesser nicht mitgenommen zu haben, schickte man uns doch jetzt gruppenweise in die mysteriöse Bürolandschaft. Dass ein Führer voranging, der die gefährlichsten Stellen zu meiden wusste, war mir angenehm. Unserer Gruppe stand der vierte Stock zur Besichtigung offen. Jedes Möbelstück war nummeriert. Die Nummer 1001 sei zufälligerweise das Klappbett im Sanitätszimmer, berichtete der Führer.

Herr Gruber war nach kurzer Zeit abhandengekommen, hatte sich im Gewirr der Wände und Möbelelemente verloren. Er sollte nicht der Letzte bleiben; in der Zeit nach dem Einzug kämpften alle mit dem, was Füchslin auf den Begriff Minotauros-Gefühl brachte, einem Verlorensein in der raum-zeitlichen Schwerelosigkeit. Als ich einmal, um etwas Bewegung zu haben, die Treppe statt den Lift benutzte, ging die Alarmanlage los: Treppenbenutzung war nicht vorgesehen. Wir erfuhren bei dieser Gelegenheit, jeder Wechsel von einem Stockwerk zum andern werde automatisch registriert. Gleichzeitig wurden die Gerüchte dementiert, wir stünden unter ständiger Televisionsüberwachung: Diese werde erst am Abend eingeschaltet. Die Überwachung sei nötig, weil die Spannteppiche, die schallschluckenden Wände und Decken den Schritt unhörbar machten, sodass unerlaubter Besuch sich im ganzen Haus bewegen könne, ohne bemerkt zu werden. Die Stille im Raum ist denn auch unheimlich, vor allem am Abend, wenn nur wenige Personen sich in den weitläufigen Büros aufhalten. Damit nicht Angst unter den noch Arbeitenden aufkommt, spielt man nach fünf Uhr über die Deckenlautsprecher Geräusch ein: das Knittern von Papier, leises Schreibmaschinengesumm, gedämpfte Bürolaute. Doch nur auf jenen Stockwerken, die das per Abstimmung gewünscht haben. Man hatte an alles gedacht.

Die Beklommenheit blieb bei vielen Angestellten dennoch bestehen. Alle Stockwerke sehen gleich aus, auch wenn sie verschieden gestrichen sind, da lila, dort grün, auch wenn die Pflanzen da ein Blatt mehr haben als dort und auf diesem Pult ein kleiner Teddybär aus Plüsch sitzt, auf jenem ein getöpferter Uhu. Am Anfang spann sich ein roter Faden voller Geschichten durch das Haus, an denen wir uns tagelang ergötzten, um der Gleichförmigkeit, die uns wie ein gefräßiges Tier erwartete, nicht in die Augen sehen zu müssen. Die beliebteste war jene vom Abenteuer des Generaldirektors in der Tiefgarage. Dalamona kam ziemlich spät zu seinem Wagen. Er fand die Tatsache, dass er den Schlüsselbund auf dem Arbeitstisch hatte liegen lassen, nicht weiter beunruhigend, war er doch mühelos vom Bürotrakt ins Limbus-Parking gelangt. Im umgekehrten Sinn aber liess sich die Stahltüre, wie er sogleich feststellte, nicht öffnen, und der Professor sah sich ein- respektive ausgesperrt. Die Ausfahrt war ihrerseits mit einem so ausgeklügelten elektronischen Öffnungssystem bedacht worden, dass sich das Tor nur für Autos öffnete, nicht aber für einen Fußgänger, und sei er Generaldirektor. Professor Dalamona muss in diesem Augenblick zu den Sicherheitsvorkehrungen, die auch vor den unteren Stockwerken nicht haltgemacht hatten, ein unbeschränktes Vertrauen gefasst haben, das sich in den anschliessenden Stunden nur vertiefte. Es hatte, das stellte der Professor fest, während er die farbig bemalten Wände frierend auf- und abging, noch einen Wagen in der Garage. Als zweite Wohltat dieses Abends mag ihm die Gewissheit erschienen sein, dass die Sicherheit des Gebäudes noch übertroffen wurde durch die Hingabe vereinzelter Angestellter. Die Hingabe erschien gegen Mitternacht in Form eines eng umschlungenen Paares, das in die Garage platzte, als Professor Dalamona der Türe den Rücken kehrte, sodass er, als er sich umdrehte, zwei von der Arbeit gezeichnete, aber gefasste Gesichter vor sich hatte, die ihn hilfsbereit vom Höhlendasein erlösten. Seither wartet der aus dem Elsässischen stammende Herr Gneu auf die Beförderung. Ihm haben wir die Geschichte zu verdanken samt den pikanten Anspielungen, die sich indes nicht beweisen lassen. Hingegen haben diese möglicherweise den Weg über die Stockwerke bis ins Zellenbüro des Generaldirektors gefunden, der nach Kenntnisnahme keinerlei Verpflichtung fühlte, sich Gneu gegenüber erkenntlich zu zeigen. So blieb als einzige Folge die Auswechslung des Schlosses zum Limbus-Parking; die Türe kann nun auch vom Inneren des Hauses her nur mit Schlüssel geöffnet werden.

Kaum war dieses Problem gelöst, machte die Drehtüre für Angestellte von sich reden. Sie öffnet sich nur, wenn die Personalkarte in einen Schlitz geschoben wird, der sich neben der Türe befindet. Mit dem Einschieben wird, zusätzlich zur Türe, der Personalcomputer bedient und die Zeit des Kommens und Gehens eingetragen. Im Sinne der Transparenz kann jeder Angestellte die Karte einem weiteren Kästchen im Erdgeschoss eingeben, das ihm anzeigt, ob er über einen Zeitüberschuss oder über ein Minus verfüge oder ob eine Unregelmäßigkeit vorliegt, über die der Vorgesetzte innerhalb der nächsten Tage Aufklärung erwartet. Damit das Personalkärtchen den Eingang auch wirklich nur einer Person freimacht, mussten die Zwischenräume der Drehtüre notwendigerweise eng gehalten werden. Diesmal war es der Dicke, der sich von der Zuverlässigkeit des Systems überzeugen konnte, indem ihm die Drehtüre ohne Ansehen der Person den Aktenkoffer eindrückte. Größeres Handgepäck muss nun der Reception gemeldet werden, die den Sicherheitseingang neben der Drehtüre mit dem Schlüssel öffnet und auf diese Weise Übersicht über die ins Haus gebrachten Gegenstände behält. Wie schwer es der internationale Terrorismus hätte, in diesem Haus Fuß zu fassen – ihm haben wir, wenn wir dem Generaldirektor glauben dürfen, die Sicherheitsmaßnahmen zu verdanken –, bekam auch der Schirm von Herrn Pedrazzini zu spüren, als er sich beim Eintreten normwidrig in der Horizontalen befand und ihn die Metallkante des Drehflügels – ratsch – entzweischnitt. Er wurde anstandslos ersetzt, die Haftpflichtversicherung ist schliesslich im Haus …

Dass der Hausverwalter Geryon, dessen Körperfülle jene des stellvertretenden Direktors bei Weitem übertrifft, auch ohne Handgepäck nicht zur Drehtüre hereinkommt, ist ein Gerücht, dessen Wahrheitsgehalt ich nicht nachprüfen konnte. Es hielt sich hartnäckig wie so manches, das in der Kantine hin- und herlief. Sorge machte uns, als es sich als wahr erwies, jenes andere über den Weggang von Frau Neukom. Frau Neukom war eine allseits beliebte Sekretärin im Bereich Nichtleben. Sie litt nach dem Einzug unter der trockenen Luft, die ihre Kontaktlinsen nicht vertrugen, doch fiel sie damit nicht besonders auf, da unter jenen, die neu am Bildschirm arbeiteten – fast ausnahmslos Frauen – ein allgemeines Klagen über Kopfschmerzen und müde Augen umging. Es müssen damals mehrere Beschwerden angemeldet worden sein, denn Hauptdirektor Dr. Styk fühlte sich veranlasst, in der Hauszeitung Beschwichtigendes zu schreiben: Erfahrungen in andern Unternehmen hätten gezeigt, dass nach einer Phase der Eingewöhnung die Schmerzen von selbst verschwänden. Frau Neukom aber kündigte, sie wollte ihren früheren Beruf als Textildesignerin wiederaufnehmen. Es stellte sich heraus, dass sie ihn vollkommen verlernt hatte. Sie sagte, sie habe nicht einen einzigen Entwurf fertiggebracht und sei dagesessen ohne Gedächtnis. Nach wenigen Wochen wurde sie mit einem Nervenzusammenbruch in die Klinik gebracht und musste die Stelle aufgeben. Seit heute ist sie wieder im Haus. Sie bildete das Tagesgespräch, sah sie doch aus wie eine Schwerkranke. Die Gespräche verstummten, wo sie auftauchte und mit steifem Rücken, ohne den Kopf zu bewegen, vorüberging. Wir konnten uns nicht darauf einigen, was Frau Neukom falsch gemacht hat. Die einen waren der Meinung, sie hätte niemals kündigen dürfen, die andern, es sei unverzeihlich, dass sie wiedergekommen sei. Füchslin blieb mit der Äußerung allein, der entscheidende Fehler sei gewesen, überhaupt den Fuß in dieses Haus gesetzt zu haben. Tatsache ist, dass die Klagen all jener, die sich mit dem neuen Arbeitsplatz schwergetan hatten, allmählich aufhörten. Man kann nicht jahrelang vom selben reden. Die Frauen am Bildschirm haben sich Augentropfen zugelegt, die sie in der Kantine vergleichen, andere tragen Brillen, rechnen damit, dass sie bald heiraten, oder warten darauf, dass sich Gewöhnung einstellt.

»An alles haben sie gedacht«, räsoniert Füchslin, »auch an die Gewöhnung.«

Nicht nur haben sie an Gewöhnung gedacht: Die Gewöhnung ist der eigentliche Hauptpunkt ihrer Berechnungen.

Den 8. April, Dienstag

Dabei habe ich über ganz anderes schreiben wollen. Noch als ich vor zwei Tagen beim Haus am Dorfeingang stand in der Absicht, zur Bahnstation zu gehen und in die Stadt zurückzufahren, konnte ich mir nicht vorstellen, das Limbus-Hochhaus je wieder zu betreten. Jetzt sehe ich den Augenblick, der mich von der Landschaft des Jura getrennt hat, aus der Totale eines Films, in dem ich aus unbekannten Gründen Mitspieler gewesen bin. Die Kamera gleitet über die tiefgezogenen Dächer des Dorfes am Rand der Hochebene. Teilnahmslos stehen die Häuser in ihren weissen Mauern, auf denen die Fenster ihre krummen Rechtecke aneinanderreihen. Teilnahmslos und in sich versunken, aber doch zur Gemeinschaft verurteilt. Vorne ein rötliches Gebäude, abgerückt an der Landstraße, als wollte es den andern Häusern davonlaufen; im Hintergrund eines mit quer gestellter Fassade, das nicht nur die Siedlung beschliesst, sondern auch die geteerte Straße, ja die Zivilisation überhaupt. Hinter ihm brechen die Felder schroff zum tiefgelegenen Fluss hin ab, und die Wiesen, die auf der jenseitigen Talflanke sichtbar sind, gehören bereits einem andern Land, einer Randregion seitab und vergessen wie diese hier.

Ein Auto fährt in Richtung Landstraße und hält vor dem rötlichen Gebäude. Die zwei Personen, die ihm entstiegen sind, gehen ohne Hast auf den zu, der hier wartet oder einfach steht, haken sich ihm ein, eine links und eine rechts, führen ihn um den Mercedes herum, bedeuten ihm einzusteigen.

In dem Moment, da sich der Fuß des Einsteigenden dem Vordersitz zuhebt, wird die Gegend lebendig. Kinder bespritzen sich gegenseitig am Brunnen, ein Schwarm Vögel erhebt sich vom Dach, der Wind treibt zwei Plastiksäcke über die Felder. Wie ein fliehendes Tier duckt sich dort ein umgestürzter Baum, während die zum Trocknen aufgehängten Überkleider sich bewegen wie ein Trupp uniformierter Reiter.

Der Rücken krümmt sich zusammen, der Kopf schwenkt unter das weisse Dach des Autos, die Hände lösen sich vom Wagenblech. Man meint die Ställe zu riechen und den schweren Atem, der aus den Poren der Erde strömt. Wenn der Tag sich seinem Ende entgegenneigt, nimmt hier jegliches den eigenen Geruch an, Belebtes und Unbelebtes; selbst der Staub der Straße riecht – nach Staub und nach Straße.

Der Körper verschwindet im Mercedes. In die Stille fallen die Schläge der Wagentüren. Dann setzt Schmerz ein. Menschliche Stimmen, nah, fremd, zudringlich.

Wahrscheinlich war ich es, den man nun anredete. Wahrscheinlich war ich es, den man anrief, dem man auf die Schulter schlug, den man schüttelte. Wahrscheinlich bist es doch du, sagte ich mir, den man von diesem Ort wegbringt, dem man Zigaretten anbietet. Du und kein anderer, es sei denn, du selber wärst dieser andere. Der Motor war angesprungen. Die Sonne lag knapp über dem flachen Land und versank in der Heckscheibe. Kaum hatte sich der Fahrer ans Steuer gesetzt, redete er pausenlos. Er schien aus einem bestimmten Anlass froh. Er drehte sich zu der Person um, die auf dem Hintersitz Platz genommen hatte.

Wie eine endlose Parade zogen die Tannen vorbei. Auf ihren Spitzen lag fahles Licht, während die Senken sich mit Schatten füllten. Die Venus glänzte im Osten, der Himmel stand scharf und wolkenlos hinter vereinzelten Höfen.

Hier hätte ich bleiben wollen.

Und hier blieb ich. Die Lider gesenkt, holte ich Bilder aus den vergangenen Tagen herauf. Die Stimme des Fahrers, die unentwegt auf mich einredete, beschlug die Scheiben mit ihrem Hauch. An meine Ohren drangen Namen von Leuten, die mich nichts angingen, und Namen von Örtlichkeiten, die ich nicht kannte. Weghören war ausgeschlossen, der Fahrer beobachtete mit Seitenblick mein Gesicht. Ich hörte unbeteiligt zu.

»Ungestraft verlässt man unser Reich nicht. Das habe ich zu ihr gesagt.«

Ich legte die Querflöte, die ich mit der einen Hand umklammert hielt – fester als nötig, wie mir auffiel –, in die am Boden stehende Reisetasche und zog den Reissverschluss zu.

»Sehen Sie jetzt, dass es ein Fehler ist, einfach wegzugehen, Frau Neukom?, habe ich zu ihr gesagt. Die Neukom heulte in ihre Taschentücher. Erschien letzte Woche mir nichts, dir nichts in ihrer früheren Abteilung, als wäre sie nie fortgewesen, und fragte: Nehmt ihr mich wieder? Ideen haben die Leute! Sehen Sie, Frau Neukom, habe ich gesagt, als man sie zu mir brachte, ungestraft verlassen Sie unser Reich nicht. So wie früher wird es für Sie nicht mehr sein. Ihr war alles recht, Hauptsache sie war wieder bei uns. Ich bin zu nichts verpflichtet, sagte ich ihr, es ist pure Anständigkeit, Leute in Ihrem Alter weisen wir sonst glatt ab. Mir hat sie es zu verdanken, dass sie wieder bei uns beginnen kann. Hilfsarbeit, mehr liegt nicht drin. Ein Bündner hat eben ein großes Herz. Ich lasse keinen im Stich, das ist Charaktersache.«

Jemand erzählt jemandem in einem fahrenden Auto über jemanden etwas, das jener nicht wissen will. Vom Hintersitz war ein Räuspern zu vernehmen. »Nimm den Mund nicht zu voll«, sagte eine weibliche Stimme.

»Frau Alekto, weiss Gott, der war selbst mein großes Herz nicht groß genug. Kennen Sie Frau Alekto? Putzerin. Griechin. Hat sich nie dafür interessiert, richtig zu uns zu gehören. Wurde von Halbjahr zu Halbjahr durchgeschleppt. Uns war das soweit recht, es wäre an ihr gewesen, sich um einen langfristigen Vertrag zu bemühen. Nun liegt sie im Spital, Kreislauf. Der Vertrag lief letzten Monat aus. Wer zahlt? Wir nicht. Wir können nicht, die Grundlage ist nicht da, rechtlich. Die Alekto jammert am Telefon, auch ein Mann hat angerufen, der Vater oder Freund, was weiss ich, auf einmal wollen sie dabei sein, verlangen Sicherheit und Schutz. Die Alekto kann uns auf den Knien danken, wenn sie wieder bei uns putzen darf. Ein anderes Haus hätte sie längst rausgeschmissen. Wir sind kulant; manchmal sage ich, unser Großmut gefährdet das Unternehmen. Man nützt uns aus. Wir betreuen lauter Kranke, lauter Psychos, man kommt sich vor wie ein Anstaltspfleger.«

Trockenes Auflachen auf dem Fahrersitz. Erzählen als Nötigung. Erzählen als Angriff. Meine Hände verkrampften sich ineinander, der Hals wurde trocken. Die Stimme setzte wieder ein. Erzählen als Folter.

»Vom neuesten Fall haben Sie wohl noch gar nichts gehört? Herr Gruber, Schriftgutablage. Schiebt im Untergeschoss eine ruhige Kugel. Niemand stört ihn, niemand hetzt, in seinem Bereich herrscht Frieden. Das gönnt man dem Alten. Er aber nutzt es aus. Das Geschäft ist keine Privatwohnung, trotz allem. So gut wie man von einem Angestellten verlangen kann, dass er pünktlich kommt und seine Zeit über anwesend ist, kann man erwarten, dass er wieder geht und schläft und sich erholt. Was aber tat der alte Gruber? Der Gruber blieb. Er liess sich abends, ohne dass es jemand bemerkte, in das Hochhaus einschliessen und war am Morgen wie die andern da. Nur schwächer eben. Machte sich Kaffee, aß plastikverschweisste Brote, schlief auf einem Notbett. Wurde bleich, setzte Bartwuchs und schlechten Geruch an. Als es mir zu Ohren kam, liess ich ihn holen. Erbärmlich. Herr Gruber, sagte ich, Herr Gruber: Sie gehen heute Abend unter die Dusche und anschliessend in ein gutes Lokal. Sie essen tüchtig, schauen sich in einem seriösen Etablissement ein paar pralle Schenkel an, Sie putzen wieder einmal richtig durch, ich gebe Ihnen eine Adresse, es bleibt unter uns. Sie schlafen aus, Sie kommen wieder, wenn Sie frisch sind, und wir vergessen die Sache. – Wissen Sie, was er mir entgegnete? Du sollst keine Götter haben neben mir. Was sagen Sie?, schrie ich ihn an, ich dachte, der Alte narrt mich. Er aber zog eine dieser Taschenbibeln hervor, die sie haben, die Leute, zu denen er gehört, die Dings-Brüder, was weiss ich, ein abgewetztes Ding, und las mir vor, zweites Buch Mose: Und Gott redete alle diese Worte. Da soll einer die Nerven behalten.«

Die weibliche Stimme versprach, ein Kreuz an die Decke zu machen, wenn ihr Mann einen Tag, einen einzigen Tag: ja nur einen halben, Gian! nicht von der PERDUTA spreche.

Die Straße senkte sich und wurde kurviger. Vereinzelte Nebelschwaden leuchteten im Scheinwerferlicht, Dämmerung verwischte die Umrisse der Bäume und Felsen. Die Gedanken wanderten ab in die zurückliegende Zeit, in das Dorf, das so rasch im Rückspiegel verschwunden war. Die Bilder zitterten unsicher, so wie das Spiegelbild zittert, wenn man sich am Ufer über das Wasser beugt. Ohne sich zu unterbrechen, zündete der Mann eine Zigarette an.

»Das verstehst du nicht, Rita. Das versteht nur, wer es kennt. Der Mensch braucht einen höhern Zweck, Rita. Wenn der höhere Zweck fehlt, wird alles zufällig, was du tust. Der Mensch ist wie Efeu, er braucht eine feste Stütze, woran er wächst. Er muss wissen, woran er sich halten kann. Nicht dass ein Wochenende im Jura nicht auch sein Gutes hätte, Sonne, Bewegung, klar. Forellen, klar. Obwohl, das nebenbei, die Bündner Alpen schöner sind. Aber sonst, ideell, meine ich, geistig, musst du den Ort kennen, wo du hingehörst. Er gibt dem Leben seinen Schwerpunkt. Man erfährt, wer man ist.« Der Mann redete nun wieder zu mir. »Morgen beginnen dreissig Lehrlinge bei uns. Die schlecken sich die Hände, Sie. Kommt nicht jeder rein, das ist bekannt, es wird hart geprüft. Gut, es gibt die prüfungsfreien, die – nicht mit Vitamin B, wie man es ab und zu hören muss, ich würde sagen: die zum Kreis der Familie gehören. Ein höheres Kader empfiehlt sie persönlich, ein Patenkind, eine Nichte, es gibt da kaum einen Reinfall. Die andern hingegen: auf Herz und Nieren. Charakter spielt heute wieder eine Rolle, nicht nur Zeugnisse, ich pfeife Ihnen auf die Matura. Kann einer sich einordnen? Hat er einen Sinn für das größere Ganze? Sie sind willig, die Neuen, ich gebe jede Garantie. Die Auswahl ist wieder da, man muss nicht jeden nehmen. Die Qualität steigt. In ein paar Jahren, wenn die Alten weg sind, haben wir nur noch Leute, wie wir sie brauchen, durch und durch eingespielt in die Elektronik. Zuverlässig wie die Programme.«

Die als Rita angesprochene Person räusperte sich. »Jetzt singst du in den höchsten Tönen, und kaum sind wir zu Hause, hast du den Moralischen. Morgen früh braucht nur noch die Zerber ins Telefon zu schluchzen, und …«

»Ach, die Zerber, du lieber Himmel! Nun ja, unter uns, sie ist ein armer Teufel, man muss sie Morgen für Morgen aufrichten. Ohne meinen Zuspruch wäre sie schon lange eingegangen.«

»Ich sage nichts!«, rief Frau Rita nach vorne.

»Wenn du mal väterlich den Arm um sie legst, arbeitet sie wieder zwei, drei Wochen reibungslos. Als Sekretärin ist sie Gold wert, als Mensch hingegen … Was haben wir denn schon vom Leben, Herr Scharong! Diesen Ausruf sollte sie sich abgewöhnen. Was kann ich der PERDUTA geben: Darum geht es. Wenn die PERDUTA lebt, leben auch wir. Die PERDUTA bleibe bestehen, während wir sterben müssen. Sie überdauert den Einzelnen. Wir gehen in ihr auf, wir gehen mit in ihr Bestehen ein. Unauslöschbar stehen unsere Namen über den Tod hinaus in den archivierten Computerlisten. Die PERDUTA LEBEN stellt eine höhere Existenz dar, an der wir teilhaben, jeder. Das ist meine Philosophie.«

Die Talfahrt war beendet, es ging in der Ebene fort. Die Kurven wurden seltener, die Straße wurde breit, ihr Belag ruhig. Dunkelheit ringsum, unterbrochen von den größer werdenden Dörfern. Eine Frage wurde gestellt, es ging um eine Adresse, doch war es keine richtige Frage, vielmehr ein Anlass für den Mann am Steuer, Frau Rita etwas zu beweisen. Er nannte die Adresse, um die er gefragt hatte, aus dem Kopf, Hausnummer und Postleitzahl.

»Hier ist alles gespeichert«, gab er nach hinten. »Hier ist alles beisammen. Personalchef Scharong. Scharong das Genie. Ich rufe sie ab, unsere Leutchen, dem Alphabet nach mitsamt Dienstjahr und Abteilung. Das macht dir kein Computer nach, der Hauptdirektor weiss es, ein solches Ding braucht man dem Scharong nicht ins Büro zu stellen. Ich mache Appell, wann immer ich will. In meinem Schädel treten sie an in Reih und Glied. Keiner fehlt. Vorwärts, marsch! Sie gehen auf Posten, keiner klemmt. Bis hinauf zum Generaldirektor hat Hauptmann Scharong sie im Griff.«

»Gefreiter«, warf Frau Rita milde ein.

»Hauptmann Scharong zur Stelle. Nach rechts schwenkt, marsch. Halt, eins, zwei. Abtreten. Feierabend. Dumm ist er nicht, der Gruber. Wohnt gratis bei uns ein. Das ist nun vorbei. Wir geben den vollen Lohn, dafür wollen wir den ganzen Menschen. Keine Wracks. Keine Patienten. Jeder Angestellte hat die Pflicht, zum Dienst ausgeruht und im vollen Besitz seiner Kräfte zu erscheinen. – So, Herr Kollega, da sind wir. Wer hätte gedacht, dass wir Sie am Ende Ihrer Ferien am einsamsten Platz der Welt aufgabeln, vor fremden Häusern bang und hilflos irrend.«

»Ich war eben im Begriff …«

»Wer weiss, ob Sie den Zug noch erreicht hätten. Sah nicht danach aus. Ohne unsern rettenden Arm hätte man Sie morgen womöglich im Straßengraben gefunden, ohne Ausweise und ohne Geld. Clochard. Ab auf den Polizeiposten. Alles schon passiert. Fragen Sie Pedrazzini, Aktive und Passive Rückversicherung, ein Stock unter Ihnen, Pedrazzini kann Ihnen ein Lied davon singen. Den müssen wir jeden Sommer aus den Fängen irgendeiner Sicherheitspolizei herausholen, gar nicht so einfach. Letztes Jahr sass er in Libyen fest. Nicht dass Sie uns zum zweiten Pedrazzini werden; einer reicht uns, ich schwör’s Ihnen. Da, Ihre Tasche. Zwölf Stunden gehören noch Ihnen. Dann ist Ihre Frist abgelaufen. Morgen, Verehrter, haben wir Sie wieder!«

Ein teuflisches Lachen. Der Wagen raste davon.

Wie ich dann in die Wohnung gekommen bin, weiss ich nicht, jedenfalls stand ich auf einmal in der Stube, die Tasche in der Hand und etwas müde. In meinem Kopf herrschte Konfusion; mehrere Bilder schoben sich ineinander und verwischten sich gegenseitig. Ich griff, um Ordnung in sie zu bringen, zu meiner Flöte, eilte vor den Notenständer und spielte, was gerade obenauf lag, die Sonate a-Moll von Johann Sebastian Bach, mit der ich mich schon so lange abmühe. Ich rang mit dem schwierigen Thema, rang mit der Luft, kämpfte um jede Note. Der Atem flog, das Herz arbeitete, ich hörte sein Klopfen, tack tack tack. Unterbrach mich, um ihm zu lauschen. Lauter pochte es, von unter dem Fußboden: Das Ehepaar Gangwisch verlangte mit dem Stiel des Flaumers nach Ruhe. Weg waren die Töne, weg war der Schnauf, ich legte die Flöte mit leisen Fingern in den kleinen Lederkoffer, den ich geräuschlos verschloss, schlich auf den Zehenspitzen aus der Stube und unterliess es, im Bad die Wasserspülung zu betätigen. Mein Studierzimmer, in das ich mich darauf verzog, hat mit Studieren nicht viel zu tun; ich fülle hier vorwiegend Einzahlungsscheine und Steuerformulare aus. Wenn ich mich an den Schreibtisch setze, weiss ich haargenau, was zu tun ist. Am Abend meiner Rückkehr wusste ich es nicht. Ich sass da, um etwas zu regeln. Einen Augenblick war es mir, es sei gar nicht ich, der da sitze, sondern ein anderer; oder ein anderer, der sich gesetzt habe, sitze nun als ich auf dem Stuhl. Die Anwandlung verschwand gleich wieder, aber der Schreck ist geblieben, bis heute.

Der Schreibtisch ist noch immer so, wie ich ihn am Sonntagabend angetroffen habe, nämlich leer. Die Postzustellung, für die Zeit der Ferien abbestellt, ist nicht wieder in Gang gekommen. Da es auf dem Tisch nichts zu ordnen gibt, versuche ich die Gedanken zu ordnen. Erreiche aber das Gegenteil. Womit habe ich vorhin beginnen wollen? Weiss nicht mehr. Morgen kommt hoffentlich die Post ins Haus, dann wird es einfacher werden. Hier die Rechnungen, hier die Prospekte, da die Zeitung; mit dem sichtbaren Überblick wird sich auch der unsichtbare einstellen, der heute fehlt. Es gibt nichts Fürchterlicheres, als nichts zu tun zu haben.

[Ohne Datum, eingeklebt]Feldhase wütet in der City