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Die Sozialarbeiterin Ramona Lindh hat eine besondere Gabe: Sie kann Bruchstücke aus der Vergangenheit und Zukunft von Menschen sehen. Als in der Nähe von Ramonas Wohnort eine junge Frau tot am See aufgefunden wird, bittet die Polizei um Mithilfe. Wie konnte es in dem beschaulichen Ort in Nordschweden zu dieser Gewalttat kommen? Und was hat es mit dem Falken auf sich, der neuerdings häufig über dem See kreist? Ramona berührt das Schicksal der Ermordeten. Sie versucht, ihre Fähigkeiten nützlich einzusetzen, weiß aber auch, dass ihre Gabe Segen und Fluch zugleich ist.
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Seitenzahl: 436
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Sozialarbeiterin Ramona Lindh hat eine besondere Gabe: Sie kann Bruchstücke aus der Vergangenheit und Zukunft von Menschen sehen. Als in der Nähe von Ramonas Wohnort eine junge Frau tot am See aufgefunden wird, bittet die Polizei sie um Mithilfe. Wie konnte es in dem beschaulichen Ort in Nordschweden zu dieser Gewalttat kommen? Und was hat es mit dem Falken auf sich, der neuerdings häufig über dem See kreist? Ramona berührt das Schicksal der Ermordeten. Sie versucht, ihre Fähigkeiten zielführend einzusetzen, weiß aber auch, dass ihre Gabe Segen und Fluch zugleich ist.
Anton Marklund, aufgewachsen in einem kleinen Ort außerhalb von Skellefteå, lebt und arbeitet seit fünfundzwanzig Jahren an der Nordostküste Schwedens, in Umeå. Er hat als Sozialarbeiter mit Menschen mit Behinderung gearbeitet und debütierte 2011 mit dem von der Kritik hochgelobten Roman Djurvänner. Der Flug des Falken ist sein international gefeiertes Spannungsdebüt und der Beginn einer vielversprechenden Reihe mit Ramona Lindh, Sozialarbeiterin mit einer besonderen Gabe.
Anton Marklund
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Thomas Altefrohne
Die schwedische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel
»Under falkens vingar« bei Norstedts, Stockholm.
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Deutsche Erstveröffentlichung April 2025
Copyright © der Originalausgabe 2022 Anton Marklund
Published by agreement with Norstedts Agency
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Covergestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Maria Sundberg und unter Verwendung von Bildmaterial von Adobe Stock (иринакудрина, Johny, Steve Oehlenschlager)
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
MA · Herstellung: BB
ISBN 978-3-641-30677-9V001
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Laut Einer Theorie gibt es unendlich viele Realitäten. Welten, der unseren täuschend ähnlich, aber trotzdem zwangsläufig unterschiedlich zu der, in der wir leben.
Die Theorie besagt, dass sich das Universum bei jedem Ereignis, bei jeder getroffenen Entscheidung in zwei oder mehrere dieser Realitäten spaltet. Dann leben wir in einer davon, bis wir wieder vor eine Wahl gestellt werden. Die Welt verzweigt sich erneut, und so entsteht ein unendlicher Baum von Realitätslinien, der einfach immer größer und größer wird.
Manche Leute meinen, wenn dem so ist, macht uns das unsterblich.
Denk mal darüber nach.
Bei jeder Entscheidung und jedem wichtigen Ereignis gibt es also ein Universum, in dem genau du weiterlebst. Das Flugzeug stürzt ab, und alle Passagiere kommen um bis auf einen. In einem möglichen Szenario bist du es. Das Auto, mit dem du fährst, kracht gegen eine Bergwand. Irgendwo anders steigst du unverletzt aus dem Wrack. Und in genau dieser Realität lebst du. So muss es sein. Es ist schließlich das Einzige, dem du dir bewusst sein wirst.
Ich denke manchmal an diese Theorie. Denn wenn sie wahr ist, bedeutet es, dass die Welt, in der wir leben, meine ist und nicht die von jemand anderem.
*
Manchmal kann ich es sehen. Ich sehe, wie sich die Realität verzweigt. Und einen Augenblick lang folge ich auch der Linie, in der ich nicht zu Hause bin. Ich weiß nicht, wie ich es anders erklären soll.
Zum ersten Mal ist es vor fast fünfundzwanzig Jahren passiert. Ich war zweiundzwanzig, und es war mein erstes Jahr als Sozialarbeiterin. Ich saß an einem Küchentisch zusammen mit einer Frau in meinem jetzigen Alter, und ich sollte entscheiden, ob sie in der Lage war, sich um ihre Kinder zu kümmern.
Die Frau und ich waren ein ungleiches Paar. Ich jung, schlank und hübsch, wenn mich jemand anders beschrieben hätte. Mit dem Leben noch vor mir.
Sie übergewichtig mit schlechter Haut, in abgetragener, frisch gewaschener H&M-Kleidung, die trotzdem nach Zigaretten roch.
Die gesamte Situation war schief. Ich glaube, es schon damals erkannt zu haben. Mir war viel zu viel Macht gegeben worden. Sie hatte dieses Mal Kaffee gekocht und mich dazu gebracht, an ihrem Küchentisch zu sitzen. Sie redete, die ganze Zeit war sie am Reden, über Belangloses, das Wetter, den Wind, einfach irgendetwas, damit es nicht still war. Während sie den Mund bewegte, schnitt sie einen Hefezopf in Stücke, den sie gekauft hatte, nicht selbst gebacken. Das Messer war viel zu groß, und ich vermutete, dass sie alles damit schnitt.
Sie versuchte, mich gnädig zu stimmen. Natürlich tat sie es. Sie, die so viel durchgemacht hatte – ich nahm es wahr, fühlte es –, versuchte, die kleine Prinzessin zu besänftigen, die nicht das Geringste über ihre Familie wusste, trotzdem aber die Macht hatte, sie zu zerstören. So sah sie es.
Sie schnitt den ganzen Hefezopf in Stücke, obwohl wir nur zu zweit waren. Als sie fertig war, hielt sie mir den Teller mit den Stücken hin.
»Es sind wahrscheinlich Pistazien drin«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie mögen das?«
Warum erinnere ich mich an diese Worte?
Man wird Sozialarbeiterin, weil man Menschen helfen und die Welt verbessern will. Für diejenigen da sein, die jemanden an ihrer Seite brauchen.
Aber wenn man seine Ideen in die Realität umsetzt, werden sie zwangsläufig immer zu etwas anderem.
Ich nahm mir etwas vom Hefezopf, sagte, ich würde Pistazien mögen, aber das Stück blieb auf dem Tisch neben meiner Tasse mit dünnem Kaffee liegen.
Ich hätte ihn essen sollen, das gehört sich einfach so. Aber ich konnte nicht, konnte es einfach nicht, weil ich wusste, was ich ihr später antun würde.
In dem Moment, als ich die Frau sah, wusste ich es.
Du verstehst das wahrscheinlich nicht, nicht so richtig.
Wie das ist.
Was es heißt.
Jemandem dasKind wegzunehmen.
Vielleicht hast du selbst Kinder. Dann siehst du sie vor dir, und dann bist du nah genug dran. Aber wenn nicht, ist es zu vage. Für dich sind sie gesichtslos. Du weißt nichts über sie.
Mattias und Felicia, so hießen die Kinder. Eigentlich darf ich so etwas nicht erzählen, aber ich mache es trotzdem. Damit du es dir vorstellen kannst.
Felicia war acht Jahre alt, Mattias sechs. Mattias wollte Polizist werden, wenn er groß ist. Er hatte schon mehrmals welche gesehen. Einmal durfte er in einem Polizeiwagen mitfahren, wollte aber nicht erzählen, wann.
Felicia war gerade in die Schule gekommen. Sie hatte keinen inneren Halt, keine Freunde, war jedoch bereit, ihre Mutter bis auf den Tod zu verteidigen. Kinder sind so.
Sie hatten eine Videokassette, Toy Story, die sahen sie sich jedes Mal an, wenn ich dort war. Als wäre der Film etwas Konstantes, auf das sie sich verlassen konnten und das ihnen einredete, dass der Weg, den man einschlägt – ganz egal, wie verschlungen er auch ist –, zu einem Happy End führt.
Sie lachten nicht mehr über die lustigen Szenen des Films.
Ich glaube, dass sie es begriff, als ich nichts vom Hefezopf aß. Sie verstummte und schaute mich an, sah mir zum ersten Mal richtig in die Augen.
»Sie werden sie mir wegnehmen, oder?«
Sie klang nicht wütend. Und es war eigentlich keine Frage. Eher ein Flehen. Es nicht zu tun. Wenn man nur auf die Stimme achtet, sagt sie oft etwas anderes.
Ich antwortete nicht. Nicht einmal das brachte ich fertig.
Aber die Stille sagte schon genug.
»Habe ich nicht alles gemacht, worum Sie mich gebeten haben?«, flehte sie mich an. »Fragen Sie Felicia und Mattias. Fragen Sie doch mal, was sie wollen.«
Das Ding ist, dass sie recht hatte. Sie hatte alles gemacht, was sie sollte. Wirklich. Alles, was ich ihr gesagt hatte. Sie hätte noch eine Chance bekommen sollen.
Aber ich kann es nicht erklären. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt und hatte noch kaum etwas von der Welt gesehen, trotzdem wusste ich es einfach.
Wie es sein musste.
Auf diese Art und Weise darf es nicht ablaufen. Es gibt Richtlinien dafür, wie Menschen erfahren sollen, dass sie ihre Kinder verlieren. Jedenfalls nicht so wie an jenem Küchentisch vor mehr als zwei Jahrzehnten.
Aber sie sah mich weiter an. Und anstatt auszuweichen und zu sagen, dass eine Untersuchung durchgeführt wird, dass ich sehe, wie sie sich bemüht hat, und dies mit den anderen Faktoren in Betracht ziehen würde, statt mich zu entschuldigen und damit herauszureden, dass viele Personen daran beteiligt sind, dass sich auch die Schule und der Kindergarten äußern müssen und dass ich an einem anderen Tag zurückkommen würde, mit einem Sozialberater, mit Unterstützung, mit Hilfe – stattdessen höre ich mich selbst sagen:
»Es tut mir leid, Marianne.«
Wörter bekommen ihre Kraft durch den Zusammenhang.
Damals, genau in diesem Moment, sah ich zum ersten Mal, wie sich die Realität aufspaltet.
Etwas flammte in ihren Augen auf. Eine Wut, die mir eine Riesenangst einjagte. Instinktiv schaute sie auf das glasurverschmierte Küchenmesser, das neben den geschnittenen Hefezopfstücken lag.
In der Realitätslinie, der wir jetzt folgen, tat sie nichts. Wir saßen einfach nur weiter an der ungebügelten Tischdecke, und ich konnte sehen, wie der Zorn allmählich aus ihren Augen verschwand.
Aber in meiner Wahrnehmung spielte sich ein ganz anderes Szenario ab. In dem Universum, von dem wir gerade getrennt worden waren, sprang sie auf und ergriff das Messer. Ich versuchte zu fliehen, aber sie war stärker als ich, hielt mich fest und stach mir mit dem Messer in die Brust.
Die Glasur auf dem Messer breitete sich auf meiner Bluse aus, aber es spielte keine Rolle, weil das weiße Geschmiere bald von schwarzem Blut getränkt wurde, das aus mir herausströmte. Das Blut spülte mich mit sich fort, und das, was ich war, verschwand langsam in seinem sickernden Strom.
Aber wie gesagt ist nichts davon passiert. Nicht in meiner Realität. In der sank sie einfach nur in sich zusammen.
Tränen.
Stattdessen kamen Tränen.
Sie schniefte, schluchzte. Wie Erwachsene es nur selten tun. Sie hatte alles gemacht, was ich ihr gesagt hatte. Alles, was sie machen sollte. Trotzdem würde sie ihre Kinder verlieren.
Doch ich nahm meine Worte nicht zurück. Konnte es nicht. Weil ich es schließlich wusste. Genau so, wie ich es heute, nach all diesen Jahren, manchmal immer noch weiß.
Einfach weiß.
Wie manche Dinge sein müssen.
Als Peter undich mitdem Auto voller Einkaufstüten aus Solbacken zurückkommen, wartet ein Mann in blauer Uniform vor unserem Haus. Er ist jung und kräftig gebaut, sieht aus wie die Karikatur eines Polizisten. Selbst ohne die Uniform hätte ich erraten können, was er beruflich macht.
Er hat einen Platz an der Hauswand gefunden, wo die Frühjahrssonne wärmt, und schaut mit leicht abwesendem Blick auf den See.
»Anscheinend ist hier irgendetwas passiert«, sagt Peter, als wäre mir nicht gerade der gleiche Gedanke gekommen. Einen Augenblick lang zögert mein Mann, weil unser Auto normalerweise dort steht, wo der Polizist seinen blau-weißen SUV ein wenig nachlässig geparkt hat. Aber dann stellt Peter einfach den Motor ab, lässt den Wagen dort am Wegrand stehen, und wir steigen aus und gehen dem uniformierten Mann entgegen.
Der Polizist sieht mit seinem niedrigen Haaransatz aus wie ein Gorilla. Während er Peter so fest die Hand schüttelt, dass sie weiß wird, nennt er seinen Namen, aber ich verstehe ihn nicht. Jonny? Jimmy? Irgendetwas in der Richtung.
»Was ist passiert?«, fragt Peter.
Jonny-Jimmy schüttelt auch mir die Hand, ohne mich anzusehen.
»Das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen«, antwortet er. »Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Sie mitkommen.«
Peter lächelt bemüht, wie er es immer macht, wenn er nicht versteht, was man meint.
»Ich stehe doch nicht wegen irgendetwas unter Verdacht?«, erwidert er und lacht, um zu zeigen, dass es ein Witz war.
Aber Jonny-Jimmy lacht nicht mit, er lächelt nicht einmal.
»Zum jetzigen Zeitpunkt steht noch jeder unter Verdacht«, sagt er und macht Anstalten, zum Auto zu gehen.
»Worum geht es?«, fragt Peter noch einmal.
»Ich werde Sie zu einem Tatort bringen«, sagt Jonny-Jimmy. »Mehr kann ich nicht sagen. Kommen Sie, oder wollen Sie, dass ich die Handschellen raushole?«
Jetzt lächelt er.
Jonny-Jimmy beginnt zu protestieren, als ich mich ebenfalls auf den Rücksitz des Polizeiwagens setze.
»Nein, nur Peter«, sagt er und dreht sich zu uns um. »Sie sollen nicht mitkommen. Von Ihnen haben sie nichts gesagt.«
Aber ich bringe ihn dazu, seine Meinung zu ändern.
Ich gebe nichts auf Aussehen. Das mache ich wirklich nicht, weil es keine Rolle spielen sollte.
Aber ich weiß, was für eine Macht Schönheit hat. Was auch immer ich in meinem Leben zustande bringe, es wird nie so viel wert sein wie mein rabenschwarzes Haar, meine eisblauen Augen und mein schlanker Körper, der mich offenbar noch immer nicht im Stich gelassen hat.
Höher entwickelt sind wir Menschen nicht.
Jonny-Jimmy wird rot von dem Blick, den ich ihm zuwerfe und etwas zu lange halte. Ich zwinkere ihm nicht zu, aber das hätte genauso funktioniert.
»Bitte«, sage ich.
Er dreht sich verlegen weg.
»In Ordnung. Die werden Sie dort sowieso fernhalten.«
Er gibt Gas und rast ungestüm den Schotterweg hoch, der ins Zentrum des Dorfes führt und dort in Asphalt übergeht. Am Dorfladen biegt er in den kleineren Schotterweg ein, der nach Svedjan führt, das Dorf auf der anderen Seite des Sees.
Peter hatte das offensichtlich nicht erwartet und sieht sich unsicher um.
»Wo fahren wir denn hin?«, fragt er. »Können Sie wenigstens das sagen?«
Jonny-Jimmy grinst im Rückspiegel.
»Patience is a virtue.«
Seine englische Aussprache ist miserabel. Wie die des ehemaligen Ministerpräsidenten Göran Persson. Wie die meiner alten Lehrerin.
So langsam geht mir der Polizist auf die Nerven. Er weiß, dass wir ihm ausgeliefert sind, trotzdem spielt er mit uns. Oder genau deswegen tut er es. Zu viel Bosheit in dieser Welt stammt eben daher, von Menschen, die auf anderen herumtrampeln, einfach nur weil sie es können.
Vermutlich ärgere ich mich über seine Art und tue deshalb, was ich tue.
»Wir fahren an den Maltesviken in Svedjan«, sage ich zu Peter.
Du fragst dich jetzt wahrscheinlich, woher ich das weiß?
Ich kann es eigentlich nicht erklären. Wie schon gesagt, manchmal weiß ich so etwas einfach. Ich spüre, was im Inneren von Menschen verborgen ist. Als Jonny-Jimmy das Wort Tatort gesagt hat, wusste ich genau, was er meinte, den Bootsstrand in der Bucht Maltesviken auf der anderen Seeseite. Dass er am Vormittag dort gewesen ist und dass er uns jetzt dorthin bringen würde.
Jonny-Jimmys Miene entgleist bei meinen Worten. Natürlich tut sie das.
»Wie zur Hölle können Sie das wissen?«, ruft er.
»Sie haben es doch vorhin gesagt«, erwidere ich und begegne seinem Blick im Rückspiegel ebenso herausfordernd wie vorhin.
Auch jetzt weicht er fast sofort aus. Aber ich merke, wie es weiter in ihm arbeitet.
»Ich habe nie gesagt, wo wir hinfahren«, murmelt er nach einer Weile.
»Nicht? Dann bin ich wohl einfach selbst draufgekommen.«
»Das … Also …«
»Sie hatten es erwähnt, kurz bevor Sie erzählt haben, dass Sie sich am Strand übergeben mussten, als Sie das tote Mädchen gesehen haben«, sage ich. »Dass Sie deswegen hierherfahren und uns holen sollten. Weil man Sie dort für unbrauchbar gehalten hat.«
»Das tote Mädchen?«, fragt Peter, aber wir ignorieren ihn.
Jonny-Jimmy kämpft damit, es zu verstehen.
»Hat Tomas das erzählt?«, fragt er schließlich. »Dieser Mistkerl verarscht einen immer.«
Ich zucke mit den Schultern. Das Blatt hat sich gewendet, ich habe jetzt Mitleid mit ihm.
Ist es nicht immer so? Dass man andere Menschen versteht, sobald man Zugang zu ihren Gefühlen bekommt? Man sieht, was sie sehen. Der Jonny-Jimmy hier benimmt sich so, weil er verwundbar ist, er hat sich übergeben beim Anblick des ersten toten Menschen, den er gesehen hat.
So etwas sollte ein Polizist nicht tun.
Vier Polizeiwagen stehenam Graben,wo der kleine Traktorweg hinunter zum Maltesviken abbiegt. Mit dem von Jonny-Jimmy sind es fünf. Zwei uniformierte Männer sperren den Weg für Unbefugte ab. Sie nicken Jonny-Jimmy zu, gehen ein paar Schritte zur Seite und lassen uns durch.
»Pause vorbei?«, sagt der eine zu ihm.
»Ha, ha«, murmelt er.
Peter ist jetzt deutlich ruhiger. Sein Gesicht hat wieder Farbe angenommen, und ich denke, dass er gleich die schöne Aussicht hier kommentieren wird. Die frühlingsgelben Kuhweiden, die zum blauen Spiegel des Sees abfallen, der Nadelwald, der am gegenüberliegenden Ufer eine feine Silhouette bildet. Man sieht so etwas deutlicher, wenn das Normale zur Seite geschoben wird.
Aber er verkneift es sich.
»Es scheint sich noch nicht herumgesprochen zu haben«, sagt er stattdessen.
Ich nicke. An der Absperrung oben am Weg hat keine neugierige Menschenmenge gestanden, und es scheinen auch keine Boote vom Wasser aus herumzuschnüffeln.
Unten am Strand kann ich eine Gruppe Polizisten sehen, die sich dort versammelt haben. Sie stehen einfach nur herum, niemand scheint auf dem Boden herumzukriechen und das Gebiet nach Spuren abzusuchen, wie sie es im Fernsehen machen.
Zwischen den Polizisten steht jemand aus dem Dorf, den ich sofort erkenne. Nils ist ein bescheidener Mann in den Dreißigern, der hier in Svedjan wohnt. Er sieht sehr erleichtert aus, uns zu sehen. Oder vielleicht eher, Peter zu sehen. Vermutlich war er es, der sie meinen Mann holen geschickt hat und ihnen gesagt hat, dass Peter alles über die Menschen hier und deren Absichten weiß und alle ihre Fragen beantworten kann. Denn das kann er.
Der Polizist, der neben Nils steht, kommt auf uns zu. Er ist vielleicht fünfundfünfzig oder sechzig Jahre alt, groß, aber nicht dick, hat höchstens ein paar Kilo zu viel. Er trägt ein blaues Sakko, in dem er sich nicht richtig wohlzufühlen scheint.
»Danke, Jonte«, sagt er.
Er nickt Jonny-Jimmy zu.
»Christian, Kriminalkommissar«, begrüßt er uns dann.
Ich beschließe sofort, dass ich ihn mag. Er strahlt etwas Authentisches aus. Vielleicht ist es seine Stimme. Oder einfach nur der Kontrast zwischen ihm und Jonny-Jimmy.
»Danke, dass Sie kommen konnten«, sagt er in einem breiten Dialekt, den ich nicht richtig zuordnen kann. Piteå? Die Region um Norsjö?
Dann wendet er sich an Peter.
»Nils sagt, dass man hier mit Ihnen reden muss, wenn man etwas wissen will?«
»Es gibt viele, die sich hier gut auskennen«, sagt Peter. »Aber natürlich, ich wohne hier schon lange.«
»Hat Jonte erzählt, was passiert ist?«
»Ein bisschen was hat er gesagt«, erwidert mein Mann diplomatisch.
»Nils hat sie vor ein paar Stunden gefunden.«
Der Kommissar dreht sich zum kleinen steinigen Strand, an den eine Handvoll Boote gezogen und mit Seilen an ihren rostbraunen Ankern befestigt worden sind.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich, dass Sie mitkommen und sich die Frau ansehen«, fährt er fort. »Vielleicht erkennen Sie sie wieder.«
Genau wie Jonny-Jimmy protestiert der Kommissar, als auch ich mitkomme.
»Das hier ist nichts, was Ihre Frau sehen will«, sagt er zu Peter, so als könnte ich so etwas nicht selbst entscheiden. »Es ist am besten, wenn sie hierbleibt.«
»Ramona ist Sozialarbeiterin«, sagt Peter. »Sie hat mehr gesehen, als ich jemals sehen werde.«
Christian zögert eine weitere Mikrosekunde, dann nickt er.
»Okay, dann kommen Sie mit.«
Und dann folgen wir ihm zu den Booten. Aus irgendeinem Grund gehen wir hintereinander, so vorsichtig wir können, um keine Beweise zu zerstören. Als würde es eine Rolle spielen, wie fest wir auftreten.
Es ist ein wunderschöner Frühlingstag. Auf dem Weg zu den Booten kommt es mir wieder in den Sinn. Auf einem Flecken Gras am Ufer sprießt eine Gruppe Huflattiche. Kleine leuchtend gelbe. Überall um uns herum kann ich sehen, wie sich grüne Halme einen Weg durch das Gras vom letzten Jahr suchen. Das Weidendickicht im Graben hinter dem Strand hat ausgetrieben, die Birke dort am Waldrand ebenso. Zaghafte Wellen gluckern gegen die freigelegten Steine am Ufer.
Das Schöne, das erfüllt einen. Und macht den Kontrast zu dem, was wir sehen werden, so viel größer.
Peter hat recht. Ich habe in meinem Leben eine ganze Menge gesehen.
Ich stempele mich auf der Arbeit ein und fahre zu Orten, die ich manchmal nie ganz verlassen kann.
Den Teich mit der toten Zweijährigen. Die Kleine haben sie sie genannt.
Das versteckte Baumhaus, aus dem der Teenager Simon gefallen ist. Er hat Frösche gesammelt, sie lagen um ihn herum.
Und die Wohnung, in der die so hübsche Frau an ihrem eigenen Erbrochenen erstickt ist. Alice, hieß sie so?
Wie kann ich ihren Namen vergessen haben?
Der Beruf, den ich gewählt habe, hat mich zu einer Reihe von Menschen geführt, denen ich helfen wollte, es aber nicht konnte.
Natürlich, zu vielen bin ich durchgedrungen, ich habe ihnen den Weg aus dem Sumpf gezeigt, in dem sie versunken sind. Aber andere musste ich dort lassen, wo sie sind.
Sie dort lassen und gleichzeitig mitnehmen. Denn was ich auch tue, diejenigen, denen ich nicht geholfen habe, übertönen die, für die ich etwas tun konnte.
Ich frage mich, was es mit einem Menschen macht, wenn er sein Leben einer Sache widmet, bei dem die Niederlagen zwangsläufig die Siege überschatten?
Das Mädchen liegt in einem der Boote. Dem Ruderboot, das kleiner als die anderen ist. Das morsch aussieht. Spontan denke ich, dass es ein Mädchen ist, sehe dann aber, dass das vermutlich nicht stimmt. Der Körper ist der einer jungen Frau. Vielleicht ist es vor allem ihr Gesicht, das mich an ein Kind denken lässt. Es erinnert ein wenig an das einer Puppe.
Wir stellen uns um das Ruderboot und schauen sie an. Ihre Augen ähneln denen eines toten Fisches. Wie von einem Barsch, der im Eimer liegt, wenn Peter und Jonas angeln waren. Den Peter gerade in die Hände genommen und ihm den Hals nach hinten gebogen hat, bis sein Leben mit einem Knacken aus ihm entwichen ist.
Sie liegt auf dem Boden des Bootes. Vor Kurzem war noch Winter, sodass sich der geschmolzene Schnee und der kalte Regen der letzten Zeit im Rumpf gesammelt haben. Ihr Körper ist von einer grünen schleimigen Flüssigkeit bedeckt, die fast bis zu den Dollen reicht.
Sie trägt keine Kleidung. Vollkommen unbedeckt liegt sie in einer unnatürlichen Pose im Wasser, wodurch ihre Nacktheit vollständig entblößt wird.
Es wird sehr deutlich: Die Wege des Lebens haben hier nicht dorthin geführt, wo sie hinsollten.
Christian räuspert sich, als ob er unsere Aufmerksamkeit will, aber ich kann den Blick nicht von ihr losreißen. Ich muss mich fast zurückhalten, damit ich nicht meinen Mantel ausziehe und ihren Körper bedecke. Es fühlt sich an, als würden wir sie mit unseren Blicken ebenfalls schänden.
»Wissen Sie, wer sie ist?«, fragt Christian leise.
»Sie ist nicht hier aus der Gegend«, sagt Peter. »Ich habe sie noch nie gesehen.«
»Ich weiß auch nicht, wer es ist«, bekomme ich heraus.
Christian nickt.
»Ja, das habe ich mir schon fast gedacht.«
»Sie sieht nicht schwedisch aus«, sagt Peter.
»Nein, das tut sie nicht.«
Tatsächlich fällt mir jetzt erst auf, dass sie wahrscheinlich nicht hier geboren ist. Der Tod hat sozusagen alle ihre Merkmale ausradiert, als würde es keine Rolle mehr spielen, woher sie kommt, sondern nur, dass ihre Reise hier geendet hat.
Ich kann nicht erkennen, woher sie stammt.
Osteuropa? Russland?
Christian räuspert sich wieder, ich glaube, es ist ein Zeichen, dass wir gehen sollen, aber trotzdem bleiben wir stehen und betrachten ihren nackten Körper. Ich weiß nicht, warum. Wir nehmen Dinge in die Dunkelheit unseres Unterbewusstseins auf, mehr erreichen wir damit nicht.
»Sie war anscheinend gefesselt«, sagt Peter.
Auch das habe ich vorher nicht gesehen. Die blauen Flecken an den Handgelenken. Dünne blaue Linien, die niemals verschwinden werden.
Christian nickt noch einmal.
»Ja, sieht so aus. Wir haben den Körper noch nicht berührt. Eine Kriminaltechnikerin aus Stockholm ist auf dem Weg hierhin, und irgendein Ermittler, aber es gab wohl Schwierigkeiten mit ihrem Flug. Wir warten mit dem Technischen, bis sie einen Blick darauf geworfen haben. Es schwimmen auch Blüten im Wasser herum, nicht einmal die haben wir angefasst.«
Die Blüten stammen von Frühblühern. Eine Art kleinerer Tulpen.
Diese Sorten mag ich irgendwie am liebsten. Sie werden im Herbst gepflanzt und treiben dann im Frühling als allererste aus, dünn, fragil, kurzlebig. Sie verwelken, wenn die anderen Pflanzen um den Platz kämpfen, so als hätten sie ihren eigenen Weg gefunden.
»Wie ist sie gestorben?«, frage ich.
Ich sehe kein Blut. Keinen deutlichen Hinweis darauf, wie sie getötet wurde.
Christian schüttelt den Kopf.
»Wie gesagt, wir warten auf die Kriminaltechnikerin aus Stockholm.«
Er räuspert sich wieder, vielleicht ist es ein Tick. Dann dreht er sich um und deutet mit einer Handbewegung an, dass wir gehen sollen. Diesmal lassen wir uns von den Booten wegführen, genauso vorsichtig wie auf dem Hinweg.
Es ist nurknapp eine Stunde vergangen, seit Jonny-Jimmy Peter in seinen Polizeiwagen gezwungen hat, bis er uns wieder heimfährt und unten am Weg absetzt, an der gleichen Stelle, wo wir abgeholt worden sind.
Zu meiner Überraschung ist er jetzt freundlich. Er bedankt sich bei uns. Sagt, dass sie sich vielleicht noch einmal melden.
Als er verschwunden ist und sich der aufgewirbelte Staub auf dem Weg wieder gelegt hat, ist es so, als wäre das, was wir erlebt haben, nicht passiert. Als hätten wir eines dieser anderen Universen besucht, mit dem wir nichts zu tun haben sollen.
Das Auto steht immer noch am falschen Platz neben den Fingerstrauchbüschen unten am Weg. Die Einkaufstüten warten auf dem Rücksitz auf uns. Mir kommt der Gedanke, dass die Kühlprodukte sicher hinüber sind, aber sie scheinen vollkommen in Ordnung zu sein, obwohl die Frühlingssonne das Auto ziemlich aufgeheizt hat.
Wir tragen die Tüten hinein, ohne viel miteinander zu reden. Nur die üblichen Phrasen, die wir immer sagen.
»Nimm nicht alle Tüten, ich kann auch ein paar tragen.«
»Legst du das Hackfleisch direkt in den Kühlschrank, damit es nicht schlecht wird?«
Man tanzt seine Alltagstänze. Wir könnten es genauso gut schweigend tun.
Als alles weggepackt ist und wir oben in unserem Haus am Hang sind, nimmt Peter am Küchentisch Platz. Er sitzt dort einfach nur herum, fragt nicht nach Kaffee, wie er es normalerweise tut.
»Es ist so seltsam«, sagt er nach einer Weile.
»Was?«
Er sucht nach Worten.
»Als wir nach Hause kamen und dieser Polizist hier gestanden hat, habe ich sofort gedacht, dass Jonas etwas passiert wäre. Das war das Erste, was mir durch den Kopf geschossen ist.«
»Mir auch«, sage ich, obwohl es nicht stimmt. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich mir Sorgen um unseren Sohn hätte machen müssen.
Warum habe ich es nicht? Weil meine Sorgen um ihn zum Alltag gehören, weil sie immer da sind? Oder weil er jetzt erwachsen ist, sich um sich selbst kümmern kann? Weil ich Stockholm, wo er hingezogen ist, nicht wie Peter als etwas Großes und Fremdes sehe?
»Jonas geht es gut«, sage ich. »Ruf ihn an, wenn du dir Sorgen machst.«
Peter schüttelt den Kopf. »Ich weiß, dass es ihm gut geht. Das ist es nicht.«
Er zögert, sucht wieder nach Worten, damit die richtigen herauskommen.
»Also«, sagt er. »Ich bin das Gefühl nicht losgeworden, dass ihm etwas passiert sein könnte, bis wir nach Svedjan abgebogen sind und du gesagt hast, dass wir zum Maltesviken fahren. Dass es um ein totes Mädchen geht … Als ich wusste, dass es ein Mädchen war, das ermordet wurde, konnte ich mich entspannen. Wie krank ist das bitte?«
Er sieht mich an.
»Du irrst dich«, sage ich. »Das eine Gefühl hatte nichts mit dem anderen zu tun. Es scheint nur so.«
Er fährt sich mit der Hand durchs Haar, das an den Schläfen ein wenig ergraut ist. »Ja, vielleicht. Aber trotzdem.«
»Du wirst noch genug über das Mädchen nachdenken«, sage ich. »Versprochen.«
Liebe ist so seltsam.
Es gibt niemanden, der so perfekt ist wie Peter. Er sagt immer das Richtige, hilft allen. Er unterstützt mich, ganz egal wobei, und ist nie unnötig aufbrausend. Er ist groß, stark, gutaussehend, jedenfalls wenn man mich fragt.
Er ist all das.
Wären da nicht die kleinen Schwächen, die er zwischendurch zeigt, würde ich es nicht ertragen, mit ihm zusammenzuleben.
Der ältere Kommissar, Christian,kommt eine halbe Stunde später zu uns nach Hause. Er hat sich jetzt eine große blaue Polizeijacke angezogen, die nichtssagend ist, ihm aber besser steht als das Sakko. Den Kaffee, den Peter ihm anbietet, lehnt er ab.
Er räuspert sich.
»Wissen Sie noch etwas anderes, das wir verwenden können?«, fragt er in seinem breiten Dialekt. »Wir wollen den Stockholmern etwas vorweisen können, wenn sie kommen. Wie gesagt, eine Kriminaltechnikerin und ein Mordermittler sind auf dem Weg, um die Ermittlungen zu leiten. Und wir wollen hier nicht wie Schuljungen herumstehen, die ihrer Lehrerin keinen Apfel mitgebracht haben.«
Er lächelt, um deutlich zu machen, dass es ein Witz ist, obwohl es das vermutlich nicht ist.
»Ich wüsste nicht, was das sein könnte«, sagt Peter.
»Vielleicht wissen Sie, wem die Boote am Strand gehören? Wir müssen die Besitzer möglicherweise so schnell wie möglich kontaktieren.«
Natürlich weiß Peter das. Er kann jedem Boot einen Besitzer zuordnen.
Ich habe nie verstanden, warum sich Peter so etwas merkt. Dinge, die keine Rolle spielen. Wer mit wem verwandt ist, wem der Wald gehört, an dem wir vorbeifahren, wie viele Pferdestärken jedes Automodell hat, das gebaut wird.
Ich habe einmal von einer Studie gelesen, bei der man Personen Bilder von Waschbären gezeigt hat. Es hat sich gezeigt, dass Kinder in weniger als drei Sekunden Unterschiede zwischen verschiedenen Waschbärengesichtern erkennen konnten. Erwachsene waren dazu nicht in der Lage. Die Erklärung war, dass wir lernen müssen, Informationen und Details zu verdrängen, damit wir in der von uns geschaffenen Gesellschaft funktionieren können, ansonsten wird das Chaos um uns herum unkontrollierbar.
Manchmal glaube ich, dass Peters Leben hier im Dorf und im Bergwerk, in dem er arbeitet, so begrenzt ist, dass er am Ende des Tages noch genug Platz im Gehirn hat, um sich die Gesichtszüge von Waschbären zu merken.
Christian schreibt auf, was Peter zu den Booten sagt.
»Ich habe noch an eine andere Sache gedacht«, sagt der Polizist. »Hier draußen in den Dörfern werden Verbrechen manchmal aufgeklärt, weil jemand ein fremdes Auto bemerkt und sich das Nummernschild aufgeschrieben hat. Etwas in der Richtung.«
Der große Kommissar sieht uns fragend an, und wir verstehen, auf was er aus ist.
»Also, das meine ich nicht abfällig«, sagt er. »Solche Leute gibt es überall. Aber an Orten wie diesem hier bekommen sie sozusagen die Gelegenheit, es auszuleben.«
»Das könnte stimmen«, sagt Peter nickend.
»Also, gibt es hier so jemanden? Jemanden, der fremde Kennzeichen aufschreibt oder etwas Ähnliches?«
Da können Sie mit jeder beliebigen Person sprechen, denke ich. So ist es hier in der Gegend. Die Leute schämen sich nicht einmal dafür, ihre Ferngläser auf der Fensterbank aufzubewahren. Sobald einer hier etwas weiß, wissen es alle. Es hat etwas Schönes und zugleich Unangenehmes an sich. Ein Sicherheitsnetz, das sich jederzeit in die Schlinge eines Lynchmobs verwandeln kann.
Aber Peters Gedanken sind wie gewöhnlich konkreter.
»Es gibt da jemanden«, sagt er. »Er heißt Henning und wohnt in der grünen Bruchbude, kurz vor Svedjan, wenn man in den Ort reinfährt. Aber er ist ein wenig, tja, speziell.«
Allein der Gedanke an ihn lässt mich erschaudern.
Peter wägt seine Worte ab.
»Er kommt nicht gut mit Autoritätspersonen zurecht, könnte man sagen. Er hat eine Schwester, der es zeitweise schlecht ging und die nicht die Hilfe bekommen hat, die sie braucht.«
Was mein Mann alles über die Leute hier weiß.
»Aber Henning ist über alles im Bilde, was im Dorf passiert«, fährt er fort und sieht den Polizisten an. »Die kleinste Abweichung, und Henning hat sie sich notiert.«
Christian nickt anerkennend und schreibt etwas auf seinen Block.
»Nur wie gesagt, vermutlich will er nicht mit der Polizei reden«, gibt Peter zu bedenken. »Sie gehören zur Obrigkeit.«
»Zu den Weißhemden«, sagt Christian, ohne aufzusehen.
Er denkt an diesen Film, den alle gesehen haben, Ein Mann namens Ove. Peter versteht die Anspielung nicht, nickt aber trotzdem.
»Gibt es jemanden, dem er vertraut?«, fragt Christian, als er fertig geschrieben hat. »Einen Kollegen? Seine alte Mutter? Einen Saufkumpan? Jemanden, den wir mitnehmen können und der sozusagen das Eis bricht.«
Peter schüttelt den Kopf. »Ich glaube, dass Henning sich mit den meisten hier in der Gegend verkracht hat.«
»Mit dir nicht«, sage ich.
Die beiden Männer verstummen, als hätten sie nicht erwartet, dass ich etwas beizutragen habe.
»Er vertraut dir«, lege ich trotzdem nach.
Peter sieht skeptisch aus. »Also, wir sind nicht verfeindet oder so«, sagt er zu Christian. »Aber er hat sich im Laufe der Jahre sicher schon über mich aufgeregt. Er ist niemand, der schnell vergisst.«
»Nein, er vertraut dir«, beharre ich.
»Glaubst du das wirklich?«
»Nein«, erwidere ich. »Ich weiß es.«
Ich habe es schon vorhinerwähnt, und jetzt sind wir wieder dort angekommen. Dass ich gewisse Dinge manchmal weiß. Solche, die ich in Menschen sehe.
Wie gesagt kann ich nicht erklären, wo es herkommt. Ich stelle mir gerne vor, dass es keine besondere Fähigkeit ist, kein sechster Sinn, der mir verliehen worden ist, sondern dass ich einfach nur ein bisschen besser in dem bin, was eigentlich jeder kann.
Denn bestimmt hast auch du oft so ein instinktives Gefühl, wenn du Menschen zum ersten Mal triffst? Du kannst jemanden nicht leiden, der dir eigentlich sympathisch sein müsste, ohne selbst zu verstehen, warum. Oder musst gegen ein Unbehagen ankämpfen, obwohl die Person, die vor dir steht, die ganze Zeit lächelt und die richtigen Dinge sagt.
So als würdest du mehr über sie wissen?
Als Peter und ich uns gerade kennengelernt hatten, haben wir einmal im Café Viktors gesessen, und ich habe ihn gezwungen, die Leute um uns herum zu lesen. Anfangs wollte er es nicht, aber dann fing er an.
Bei manchen verrannte er sich, aber bei anderen kam er dem, was ich wahrnahm, überraschend nahe. Er merkte, dass das Paar vor uns Probleme hatte, obwohl sie sich nicht stritten. Er ahnte nicht das, was ich spürte, dass sich die Frau bereits entschieden hatte, die Beziehung zu beenden, aber trotzdem.
Auch er sah es.
Ich denke, dass unsere Lebensgeschichten auf unser Äußeres geschrieben sind. In die Züge um unsere Augen, in unsere Haltung, in die Art und Weise, wie wir zögern, darin, hinter wie viel Schminke wir uns verstecken, wie viel wir essen, trainieren, lügen und ausweichen.
Ich stelle mir vor, dass ich so etwas erfasse, auf eine Weise, die nicht gut für mich ist.
Hennings Bruchbude ist ein wenig abgelegen, kurz vor Svedjan, von der Straße durch eine verwilderte Wiese getrennt, auf der scheinbar ein wenig willkürlich Schrott und Autowracks zurückgelassen wurden. Am Waldrand befindet sich ein großer Stapel Feuerholz, das nass und grau geworden ist, und hier und da wurden offenbar nur zur Verwirrung kleine Nebengebäude gezimmert. Sogar das eigentliche Haus scheint dem Verfall überlassen.
Wie kann man so leben?, denke ich. Als ob es niemand sieht. Als würden sich andere kein Urteil bilden.
Vergilbtes Gras vom letzten Jahr streift am Untergestell des Autos entlang, als wir der Auffahrt folgen und mitten auf dem Gehöft parken. Wir steigen aus, und ich gehe langsam zum überdachten Hauseingang, aber Peter und der Polizist biegen in die entgegengesetzte Richtung ab, weil der alte Mann hinter einem der Schuppen steht und gräbt.
Henning ist vielleicht fünfundsiebzig Jahre alt, sein Haar weiß und ungepflegt, sein Körper krumm von der Last, die die Jahre ihm aufgebürdet haben. Eine deutlich spürbare Einsamkeit strahlt von ihm aus. Ich habe sie jedes Mal gefühlt, wenn ich ihn getroffen habe, wurde fast davon überwältigt. Eine Einsamkeit, die alles andere in ihm überschattet.
Er hat ein Loch gegraben, das er jetzt wieder zudeckt. Spontan kommt mir der Gedanke, dass er gerade die Frau beerdigt. Dass er sie umgebracht hat und jetzt die Beweise beseitigt. Aber sie liegt schließlich immer noch in dem schleimigen Wasser, es passt nicht zusammen.
Als wir uns nähern, hört er auf zu graben. Er erkennt Peter wieder, aber vermutlich ist er unsicher, wer Christian und ich sind, ich sehe, wie er versucht, uns einzuordnen. Als wir näher kommen, gräbt er demonstrativ weiter. Vielleicht sieht er das leuchtende Emblem auf Christians Jacke. Wie gesagt, er hat ein Problem mit Autoritäten.
Wir bleiben einige Meter von dem grabenden Mann entfernt stehen.
»Entschuldige, dass wir uns aufdrängen«, spricht Peter ihn an.
Henning tut so, als würde er es nicht hören. Er macht noch einige Spatenstiche. Dann überlegt er es sich anders und steckt den Spaten in die Erde, lehnt sich nach hinten, wie man es in Werbungen für Rasierwasser macht. Allerdings steifer.
»Hallo, Peter«, sagt er.
Dann sieht er mich an. Etwas zu lang, als würde er mich prüfen.
»Du bist also sie?«
Ich weiß nicht, was er meint.
»Bestimmt hast du meine Frau Ramona schon getroffen?«, fragt Peter.
»Ich weiß, wer sie ist.«
Die Grimasse, zu der sich sein Gesicht verzieht, ist sie der Versuch eines Lächelns?
Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn als Kind. Er ist vielleicht zwölf Jahre alt und badet in einem Waldsee. Es ist idyllisch. Der Sonnenuntergang, die Wasseroberfläche, dieses endlose, zeitlose Gefühl, das man nur an wenigen schwedischen Sommerabenden bekommt, wenn sich das Licht weigert nachzugeben. Aber alles, was er fühlt, als er dort schwimmt und im Wasser seine Bahnen zieht, ist, dass er es mit niemandem teilen kann.
Peter sieht Christian an, als ob er Kraft schöpfen will.
»Du bist also gerade beim Graben«, sagt er zu Henning.
»Die Katze hat heute früh wieder Junge bekommen. Ich kann hier keine Unmengen Katzen herumlaufen haben.«
Der alte Mann zieht seinen Ärmel hoch und zeigt uns lange, tiefe Kratzspuren auf dem Unterarm. Dann wechselt er die Seite und zeigt, dass der andere Arm ähnlich aussieht.
Er sieht uns vielsagend an und wartet anscheinend darauf, dass wir etwas sagen.
Aber was soll man dazu sagen?
Hast du nur die Jungen getötet oder auch die Mutter?
Hat sie das getan, als sie um ihr Leben kämpfte oder als sie ihren Nachwuchs verteidigt hat?
Peter nickt. Wartet kurz, gerade lang genug, wie er es so gut kann, bevor er das Gespräch fortsetzt.
»Das hier ist Christian«, sagt er. »Er repräsentiert den langen Arm des Gesetzes. Er hofft, dass du der Polizei bei einer Sache helfen kannst, die hier passiert ist.«
Henning starrt den Polizeikommissar an. Ein Schweißtropfen läuft ihm die Schläfe herunter, er wischt ihn weg.
»Was wollen die denn?«, fragt er.
Peter dreht sich zu Christian, wie um ihm zu signalisieren, dass er jetzt das Gespräch übernehmen kann. Aber bevor der Kommissar etwas sagen kann, beginnt der alte Mann zu reden.
»Man wundert sich nur«, sagt er. »Die Behörden machen nie, worum man sie bittet, wollen jetzt aber selber Hilfe haben?«
Christian widerspricht ihm nicht. Trotzdem regt sich Henning weiter auf.
Er sieht sich um und erblickt das baufällige Haus.
»Sie nehmen für jede noch so kleine Sache, die Ihnen einfällt, Geld. Das Haus da, zum Beispiel, gehört mir und sonst niemandem, und Sie wollen, dass ich Steuern dafür bezahle, nur um es behalten zu dürfen. Erklären Sie mir mal, wie das richtig sein kann?«
Er fasst alle Behörden zusammen. Menschen ohne Macht tun das leicht. Aber Christian lässt ihn.
»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagt er.
»Bald müssen wir sicher noch für die Luft bezahlen, die wir atmen …«, brummt Henning.
Peter lacht darüber, als wollte er es nachträglich zu einem Witz machen. Aber der alte Mann sieht ernst aus.
»Und wenn man etwas zurückkriegen will, weht plötzlich ein ganz anderer Wind.«
Er denkt an seine Schwester, von der mein Mann gesprochen hat, die nicht die Hilfe erhalten hat, die sie braucht. Es geht bei allem hier um sie. Ihre Geschichte hat auch ihn verändert.
Christian antwortet nicht. Er schaut einfach nur zu Boden.
»Ich verstehe auch, wie du das meinst«, sagt Peter. »Aber die Situation ist gerade etwas speziell.«
Peter will noch mehr sagen, vermutlich vom toten Mädchen erzählen, aber Christian legt ihm die Hand auf die Schulter.
»Ihr Freund braucht nicht mit mir zu reden, wenn er nicht will.« Dann richtet er sich an Henning. »Entschuldigen Sie, dass wir Sie gestört haben. Einen schönen Tag noch.«
Er deutet mit der gleichen Geste wie am Boot an, dass wir gehen sollen. Aber bevor wir den alten Mann verlassen, wendet sich der Polizist an ihn.
»Darf ich nur eine Sache fragen? Haben Sie die Schuppen hier gebaut?«
Henning antwortet nicht, aber Christian kümmert es nicht. Er geht näher zu dem Schuppen, neben dem wir stehen, und mustert die Ecke.
»Verdammt, was für eine Handwerksarbeit. Was für eine Präzision.« Er betastet eine der Fugen mit der Hand. »Darf ich fragen, wie lange es dauert, so einen Schuppen hochzuziehen?«
»Das kann man nicht sagen«, murmelt Henning. »Ihn zu bauen, dauert nur ein paar Tage. Aber die Bäume auszuwählen, die Stämme abzuhauen, sie zurechtzuschneiden, das Holz zu trocknen … Das ist die eigentliche Arbeit.«
Christian nickt. »Natürlich.«
Ich sehe, was Christian macht, ich sehe die Karotte, die er vor dem Gesicht des alten Mannes baumeln lässt.
»Nehmen Sie Bestellungen an?«, fragt er.
»Nein, das habe ich noch nie gemacht. Werde ich auch nicht.«
Christian schaut sich trotzdem weiter den Schuppen an. Er nimmt seinen Block und kritzelt etwas auf ein Blatt, reißt es dann heraus und gibt es Henning. »Meine Telefonnummer«, sagt er. »Falls Sie Ihre Meinung ändern sollten. Das hier schlägt alle anderen, mit denen ich Kontakt hatte.«
Henning nimmt den Zettel tatsächlich entgegen. »Das werde ich nicht tun«, sagt er.
Aber er klingt nicht mehr so abweisend.
Und dann gehen wir wieder von dort weg. Wir sagen nichts mehr. Nichts über sie. Nichts darüber, dass ein paar Kilometer entfernt ein totes Mädchen in einem schleimigen Fischerboot liegt. Vermutlich liegt sie immer noch dort. Unbedeckt. Ich verstehe nicht, warum wir es Henning nicht erzählt haben.
Aber Christian scheint zu wissen, was er tut, denn nach nur wenigen Metern hören wir Henning rufen:
»Wobei wollten Sie denn Hilfe haben?«
Wir drehen uns um.
»Unten am See wurde ein Mädchen gefunden«, sagt Christian. »Vermutlich wurde sie ermordet.«
Wir warten. Darauf, dass es Henning dazu bringt, seine Meinung zu ändern.
Ich glaube, er ist kurz davor. Sehr kurz.
»Jemand von hier?«, fragt er.
Peter schüttelt den Kopf.
»Vermutlich eine Geflüchtete. Oder Einwanderin. Sie wissen es noch nicht.«
»Dann war es vielleicht gut so«, sagt der alte Mann.
Wir bleiben noch eine Weile stehen, während er weiter sein Loch mit toten Katzen füllt.
Oft bleibe ich bis spät in die Nacht auf. Ich kann sowieso nicht schlafen.
Ich mag das. Wenn es gewissermaßen zu spät ist, wenn die Teetasse kalt geworden ist, im Fernsehen nur Krimiserien vom Abend wiederholt werden und ich immer noch dort sitze, obwohl ich eigentlich schon vor langer Zeit ins Bett hätte gehen sollen. Ich spüre eine Ruhe, die ich nicht richtig verstehe.
Wenn ich dort herumsitze, spreche ich häufig mit Gott.
Oder eher, ich spreche zu ihm. Halte innere Monologe, führe Diskussionen mit jemandem, der nicht antwortet. Vielleicht nicht einmal zuhört?
Heutzutage soll man Gott nicht als Ihn bezeichnen. Gott hat ja schließlich keinen Penis oder riesiges Glied, das dort über uns hängt.
Für mich spielt es keine Rolle, wie man Gott nennt. Aber ich stelle ihn mir als Mann vor. Das passt schließlich am ehesten zu ihm, oder? Gott antwortet doch nur, wenn er selbst Lust dazu hat, und er scheut sich nicht davor, seine Entscheidungen mit Gewalt durchzusetzen. Wonach hört sich das an?
Aber trotzdem lese ich die Bibel. Oft. Ich werde von ihr angezogen.
Das meiste ist ohnehin unverständlich. Es geht viel um Männer, die Männern etwas antun. Geschichten aus einer anderen Zeit, die aber trotzdem erklären, warum wir so leben, wie wir es tun.
Und dann gibt es Dinge, die sich nicht verändert haben. Und das ist noch schwerer nachzuvollziehen.
Die Bibel erzählt häufig von Menschen, die alles zurücklassen, um zu tun, was Gott ihnen sagt. Ich kenne nur das Gegenteil. Zurückzubleiben. Das Leben vorbeiziehen zu lassen, mit dem Gefühl, dass man nicht am richtigen Ort ist.
Als würde Gott einen rufen, aber man versteht nicht, was man tun soll.
*
Am Abend, nachdem wir das tote Mädchen gesehen haben, spendet mir die Bibel keinen Trost. Sosehr ich es auch versuche, ich kann mich nicht vom Bild des Mädchens im Boot befreien, wie sie dort in dem grünen Wasser liegt und mich ansieht, ohne irgendetwas mit ihren toten Fischaugen zu sehen.
Was ich an diesem Abend auch aufschlage, alle Bibelgeschichten scheinen von ihr zu handeln. Von Missetätern und Opfern. Menschen, die sterben. Überall stirbt jemand.
Mir ist vorher noch nie so bewusst geworden, wie voll von Gewalt das ist, was Gottes Wort an uns Menschen sein soll. Normalerweise geht es doch um die Liebe, warum kann ich sie heute Abend nicht sehen?
Zwischen den Zeilen gibt es jetzt einen anderen Sinn, der in Wahrheit dahintersteckt: dass die meisten von uns ersetzbar sind. David führt Krieg gegen seine Feinde, die wahrscheinlich auch nur das Beste aus ihrem Leben machen wollen. Simson reißt den Tempel ein, in dem sich Menschen befinden.
Wenn ich es jetzt auf diese andere Weise lese, wird die Botschaft sehr deutlich.
Zeitalter kommen, Zeitalter verschwinden.
Unser Moment hier auf der Erde ist kurz.
Schließlich gebe ich mich geschlagen. Ich gehe ins Schlafzimmer, ziehe mich aus und krieche neben Peter ins Bett. Ich kann seinen Atem hören, seine Wärme erahnen, aber ich kuschele mich nicht direkt an ihn. Er muss morgen früh aufstehen, und ich will ihn nicht wecken. Stattdessen liege ich nur da und starre in die Dunkelheit.
Nach einigen Minuten höre ich seine Stimme.
»Bist du wach?«
»Ja.«
Ich nehme es als Zeichen, dass ich näher heranrücken darf. Er antwortet mit seiner typischen Umarmung, durch die ich mich wie eine Frau und gleichzeitig wie ein kleines Kind fühle. Er macht keine Bemerkung über meine Kälte, obwohl sie ihm auffallen muss.
»Ich muss die ganze Zeit an das Mädchen denken«, sagt er. »Ich sehe sie sogar, wenn ich die Augen zumache.«
»Ich auch.«
Wir schweigen, und eine Weile fühlt es sich an, als wäre die Welt wieder in Ordnung. Es hilft in gewisser Weise schon, dass er da ist, am gleichen Ort wie ich.
»Was glaubst du, wie alt sie war?«, fragt er.
»Keine Ahnung. Siebzehn, achtzehn?«
»Glaubst du, dass sie schon so alt war?«
»Dann sechzehn?«
»Das würde ich eher sagen«, erwidert er.
Und so haben wir gewissermaßen ihr Alter festgestellt. Einfach so.
Aus irgendeinem Grund fühlt es sich gut an. Als hätte sie einen kleinen Teil dessen, wer sie war, zurückbekommen.
»Was glaubst du, wie sie hieß?«, sage ich.
»Ich habe keine Ahnung.«
»Nein, natürlich nicht.«
Er ist einen Augenblick lang still, versteht, dass er raten soll.
»Natascha«, sagt er.
»Natascha? Warum glaubst du das?«
»Ich habe einfach nur geraten. Sie sah so aus, als wäre sie aus Osteuropa, also dachte ich einfach …«
»Ist Natascha nicht ein russischer Name?«, frage ich.
»Russland gehört doch zu Osteuropa.«
»Ich dachte eher, dass sie vielleicht aus Polen ist«, sage ich. »Oder Rumänien. Dann passt ein russischer Name nicht so gut.«
»Vielleicht heißt man ja in ganz Osteuropa Natascha«, schlägt er vor.
»Ja, das könnte sein.«
Wir liegen wieder eine Weile lang still da. Ich höre erneut Peters Atem, oder, besser gesagt, ich spüre ihn auf meinem Körper. Er ist jetzt ruhiger, als würde auch er sich entspannen, als löse sich der Knoten im Herzen, den ihr Anblick ihm gegeben hat.
»Was glaubst du, wer Natascha war?«, frage ich, weil ich will, dass er so bleibt. »Warum war sie wohl hier?«
»Im Boot? Oder in Schweden?«
»In Schweden.«
»Keine Ahnung. Was glaubst du?«, fragt er.
»Vielleicht wollte sie Friseurin werden?«
»Friseurin?«
Ich spüre, wie sein Köper schaukelt, als würde er mich lautlos auslachen.
»Was hat dich dazu gebracht, das zu sagen?«, fragt er, als sein Körper sich beruhigt hat. Weil ich das Bild ihres zerzausten Haares in dem grünen Schleim nicht loswerden kann.
»Nein, ich weiß es nicht«, murmele ich. »Ich habe einfach …«
»Ja, sie war bestimmt hier, um Friseurin zu werden«, sagt Peter. »Sie musste wahrscheinlich nie wie ein Mensch zweiter Klasse im bitterkalten Winter vor einem Geschäft sitzen und betteln.«
Ich antworte nicht darauf, denn plötzlich beruhigt mich dieses Spiel nicht länger.
»Die große Frage ist doch, warum sie ermordet in einem Boot hier im Storsjön lag«, sagt er.
Auch daran will ich nicht denken. Vorsichtig befreie ich mich aus seiner Umarmung und lege mich auf die andere Bettseite. Starre in die Dunkelheit wie vorher.
»Also Natascha, sechzehn Jahre alt und angehende Friseurin?«, sagt er nach vielleicht einer Minute.
»Natascha, sechzehn und Bettlerin«, korrigiere ich ihn.
Er seufzt. »Ja, das ist vielleicht wahrscheinlicher.«
Ich spüre seine Hand an meinem Handgelenk, folge seiner Einladung und nehme sie in meine Hand, lasse unsere Finger ineinandergreifen.
»Glaubst du, Natascha war verliebt, als sie starb?«, frage ich.
»Verliebt?«
»Ja.«
»Aber, Liebling«, sagt er.
Doch ich gebe mich nicht geschlagen.
»Glaubst du, Natascha hatte jemanden, nach dem sie sich gesehnt hat. Irgendeine besondere Person, die sich jetzt wundert, wo sie hin ist?«
Ich will ihr unbedingt eine menschliche Gestalt geben. Ich mache das immer so, sogar mit den Menschen, die ich bei meiner Arbeit treffe und die andere auf eine Weise behandelt haben, wie man es nicht soll. Solche, die ihre Menschlichkeit aufgegeben haben. Ich finde Ausreden, Möglichkeiten, sie ihnen zurückzugeben.
Jetzt versuche ich, das Gleiche mit dem Mädchen zu machen. Und es gibt nichts Menschlicheres als die Liebe.
Ich höre Peter in der Dunkelheit seufzen. Dann sagt er:
»Natürlich war sie verliebt.«
Er drückt meine Hand unter der Decke etwas fester, spielt mit.
»Sie und ein Junge waren sehr verliebt ineinander.«
Es ist albern, aber es macht mich glücklich, das zu hören.
»Wie hieß der Junge?«, frage ich.
Er denkt eine Weile nach.
»Petrescu.«
Ein Unbehagen durchfährt meinen Körper, als er das sagt. Ich weiß nicht, warum.
»Es klingt fast wie Peter«, sage ich und versuche, das Gefühl abzuschütteln.
»Ja, das stimmt wohl.«
Er grinst. Dann lehnt er sich näher zu mir und küsst mich auf den Hals.
Ist es seltsam, dass ich deswegen nach ihm taste, ihn auf mich ziehe, an seiner Unterhose zerre, deutlich mache, dass ich ihm jetzt so nah wie möglich sein muss?
Zu dieser Zeit des Jahres wird es bereits in den Morgenstunden hell. Meine Arbeitskolleginnen beklagen sich oft darüber, vergleichen Möglichkeiten, ihre Schlafzimmer abzudunkeln, aber ich habe nie etwas dagegen gehabt, dass das Licht die Oberhand gewinnt. Nicht selten weckt es mich, lange bevor ich aufstehen muss, und ich kann noch liegen bleiben, nur halb bei Bewusstsein, und höre die Vögel durch das Fenster singen, das einen Spaltbreit geöffnet ist, weil Peter es beim Schlafen kühl haben will. Dann habe ich das Gefühl, in einer eigenen Welt gelandet zu sein, in der ich nichts tun muss als einfach nur daliegen und warten, dass die richtige Welt mit ihren Pflichten, Sorgen und Anforderungen mich wieder findet.
Peter beginnt morgens früher als ich mit der Arbeit, also liege ich oft wach und höre zu, wenn er sich bereitmacht. Ich kenne mittlerweile jedes seiner Geräusche. Wenn er seine Arbeitstasche auf die Spüle stellt, um seine Brotdose hineinzulegen, weiß ich, dass er bald auf dem Weg ist. Bald wird er am Schlafzimmer vorbeischleichen, um mich nicht zu wecken, und dann die Haustür mit einem Knall zuziehen, weil man sie nicht vorsichtig schließen kann.
Genau wie mein Mann folge auch ich nach dem Aufstehen immer der gleichen Morgenroutine, so als ob das Leben eine Dreiviertelstunde lang wie ein Fließband voller kleiner Details abläuft, die an sich nicht wichtig sind, aber auch nicht vergessen werden dürfen.
Von unserem Wohnort aus sind es fast vierzig Kilometer bis nach Skellefteå, aber morgens habe ich nichts dagegen, so weit zu fahren und an Wäldern, Wiesen, Perlenketten aus Dörfern und kleinen Ortschaften vorbeizukommen, deren Blütezeit bereits vergangen oder nie gekommen ist.
Die Uhr im Auto zeigt wie so oft fünf vor acht, als ich vor Samgården parke, wo ich arbeite. Vielleicht passe ich die Geschwindigkeit an, damit ich nicht zu früh bin. Ich mag meine Kolleginnen hier, das tue ich wirklich. Es sind alles Frauen, nette Frauen, der Typ Mensch, der anderen auf eigene Kosten hilft. Aber manchmal schaue ich trotzdem auf sie herab. Ich weiß eigentlich nicht, warum. Vielleicht weil alle – bis auf zwei von ihnen – Mütter sind, und in dem Augenblick, in dem ihre Kinder auf die Welt kamen, schienen sie sich in leere Hüllen verwandelt zu haben, die nur durch ihre Nachkommen leben. Ich bin ungerecht, das weiß ich, aber egal, was diese Frauen sagen oder machen, in allem findet man es wieder: ob Hausaufgaben oder Sportwettkämpfe, immer diese Sorge und Hilflosigkeit in Bezug auf die Leben, die man noch in der Hand hat.
Für Peter und mich blieb es bei einem Kind, wir bekamen einen Jungen, als ich noch viel zu jung und nicht bereit dafür war.