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Eine hochatmosphärische Geschichte über Freundschaft und Verrat von »einem der besten lebenden amerikanischen Autoren« (New York Times) Blowing Rock, North Carolina, zu Beginn der 1950er Jahre. Der junge Blackburn Grant, seit seiner Kindheit von einer Polioerkrankung gezeichnet, arbeitet als einziger Friedhofswärter der kleinen Stadt in den Appalachen. Sein Leben mit den Toten passt gut zu seiner zurückhaltenden Art, und die gelegentlichen Momente des Unbehagens bringen ihn längst nicht so aus dem Konzept wie die Gespräche mit den Bewohnern der Stadt. Doch als sein einziger Freund Jacob für den Koreakrieg eingezogen wird, bekommt Blackburn die Aufgabe, sich um dessen schwangere Frau Naomi zu kümmern. Die sechzehnjährige, mittellose Naomi und Jacob sind seit ihrer Hochzeit, die gegen den Willen von Jacobs wohlhabenden Eltern vollzogen wurde, Ausgestoßene in Blowing Rock. Naomi und Blackburn kommen sich näher, und als Jacob im Krieg schwer verwundet wird, entsteht ein Plan, der das Leben von vielen Menschen erschüttern wird …
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Seitenzahl: 319
Veröffentlichungsjahr: 2024
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RON RASH
DERFRIEDHOFSWÄRTER
ROMAN
AUS DEM AMERIKANISCHEN ENGLISCH VON SIGRUN ARENZ
ARS VIVENDI
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel
The Caretaker bei DOUBLEDAY, New York.
Copyright © 2023 by Ron Rash
Deutsche Originalausgabe
1. Auflage 2024
© 2024 by ars vivendi verlag
GmbH & Co. KG, Bauhof 1,
90556 Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Lektorat: Dr. Felicitas Igel
Druck und Bindung: Pustet, Regensburg
Gedruckt auf holzfreiem Werkdruckpapier Munken Premium Cream
Printed in Germany
ISBN 9783747206089
Der Friedhofswärter
Für Steve Yarbrough
Jene Welt, die sich dir öffnet, wenn sich ein neuer Schmerz in deinem Herzen festsetzt. Oder wenn eine bedeutsame Musik dich erschüttert ... Oder wenn du das Wunder des heraufziehenden neuen Tages siehst. Dann weißt du, dass wir Fremde sind auf dieser Erde.
Martin A. Hansen, Der Lügner
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Epilog
Danksagung
JACOB HATTE WACHDIENST, postiert am Ufer eines Flusses, der die beiden Armeen voneinander trennte. Die Nacht war kälter als alles, was er daheim in Watauga County je erlebt hatte. Diese Kälte kroch nicht nur unter die Haut. Sie schloss Finger und Füße wie in Eisen ein, brachte Zähne zum Klappern wie Glas kurz vor dem Zerspringen. Die Schichten von Wolle und Baumwolle, die er unter dem gefütterten Parka trug, konnten sie nicht abhalten. Seit Wochen wartete Jacob darauf, dass die Kälte aufhörte. Jetzt war es März geworden, aber dieser Ort scherte sich nicht um das, was im Kalender stand. Der Fluss war noch immer zugefroren. Jacob stellte sich vor, dass das Eis bis zum Grund hinunterreichte – ohne Strömung, die Fische unbeweglich, wie fixiert. Der Fluss hatte einen Namen, aber Jacob ließ nicht zu, dass er sich in seinem Gedächtnis festsetzte. Seit er in Pusan auf den Landungssteg getreten war, war es sein Ziel gewesen zu vergessen, nicht sich zu erinnern.
In Fort Polk hatte er alle möglichen Geschichten darüber gehört, was ihn in Korea erwartete. Vieles davon war völliger Unsinn: dass die Nordkoreaner rohe Ratten und Schlangen aßen und in der Dunkelheit sehen konnten wie Katzen. Aber es gab Geschichten, die der Wahrheit entsprachen, etwa dass sie bei Nacht in die Außenposten krochen, einem Soldaten die Kehle durchschnitten und dann wieder in der Dunkelheit verschwanden. Selbst wenn man sich auf der anderen Seite des Flusses befand, kamen sie und brachten einen einzigen Mann um, obwohl sie genauso gut drei oder vier hätten töten können. Sie hinterließen damit eine Botschaft: Dich heben wir uns für das nächste Mal auf.
Dass der Fluss gefroren war, spielte keine Rolle, das wusste Jacob. Zwei Nächte zuvor hatte ein Nordkoreaner den Wachtposten einer anderen Einheit enthauptet. Dazu war er über das Eis gekrochen. Jacob spähte in die flache, geräuschlose Schneelandschaft vor sich. Zumindest war heute Nacht Vollmond. Jägermond, so nannten sie ihn daheim. Er versilberte die Eiskristalle auf dem Fluss. Hätte er nicht das Messer eines Feindes fürchten müssen, Jacob hätte die schimmernde Schönheit dieses Augenblicks bewundert. Doch er konnte sich das nicht einmal für einen kurzen Moment erlauben. Er war entschlossen, dass Korea für ihn wie ein Haus sein würde, das er betrat und dann wieder verließ, die Tür für immer hinter sich verriegelt. Er musste nur überleben. Zwölf Tage zuvor war seine Einheit zum ersten Mal in Kampfhandlungen verwickelt gewesen. Aubert, ein Cajun aus Louisiana, war ins Bein geschossen worden. Die Kugel hatte seine Kniescheibe zertrümmert, und die Ärzte sagten, dass er den Rest seines Lebens einen Gehstock brauchen würde. Das sei kein Problem, hatte Aubert geantwortet. Er würde lebend zu seiner Frau und seinen Kindern heimkehren, und ihm würde endlich wieder warm sein.
Nach Hause kommen war das Einzige, worauf es ankam. In ihrem letzten Brief hatte Naomi geschrieben, Dr. Egan zufolge würde das Baby im Mai geboren werden. Dieser Gedanke war ein Talisman, der Jacob immer begleitete. Er konnte nicht sterben. Gott oder das Schicksal, was auch immer, hatte Naomi und ihn zu einem gemeinsamen Leben bestimmt. Wie sonst wäre dieser Abend in Blowing Rock vor zwanzig Monaten zu erklären? In genau dem Moment, in dem er am Yonahlossee-Kino vorbeigegangen war, hatte Naomi, eine völlig Fremde, mit einer Münze in der Hand neben der Abendkasse gestanden. Hätte er in diesem Augenblick zur Anzeigentafel hochgeschaut oder hätte ihm ein Freund auf der anderen Straßenseite etwas zugerufen, Jacob hätte sie nie bemerkt. Sie hatte weder Ohrringe noch Rüschensöckchen getragen, weder bunte Schleifen noch Armreifen wie alle anderen Mädchen, die er kannte. Aber solche Accessoires hätten nur von ihrem Gesicht abgelenkt, von der glatten Haut und den hohen Wangenknochen, den bemerkenswerten blauen Augen und den langen schwarzen Haaren. Liebe auf den ersten Blick. Ihr hübsches Aussehen war nur ein Teil dessen gewesen, was ihn gebannt hatte. Naomi hatte eine Zehn-Cent-Münze zwischen Daumen und Zeigefinger gerieben und erst auf das Poster und dann auf die Münze geschaut, während die anderen Leute an ihr vorbeigingen, ohne einen Gedanken an den Eintrittspreis zu verschwenden.
So vieles war in jenem Moment in Gang gesetzt worden, unter anderem ein gemeinsames Leben, das jetzt für Jacobs sichere Heimkehr sorgen würde. Schon dass Naomi an jenem Abend überhaupt in Blowing Rock gewesen war, grenzte an ein Wunder; ihr Schwager hatte zufällig ein Exemplar des Nashville Tennessean gekauft und die Stellenanzeige bemerkt: Zimmermädchen für die Saison gesucht. Green Park Inn. Blowing Rock, North Carolina. War nicht auch das ein Wink des Schicksals gewesen? Viele Soldaten brachten von zu Hause etwas mit, das sie schützen sollte, eine Hasenpfote, eine Glücksmünze, eine Spielkarte – warum also nicht eine Überzeugung? Aber vergangene Woche war Doughtery, trotz zweier Kruzifixe und einer Streichholzschachtel mit vierblättrigen Kleeblättern, auf eine Mine getreten und getötet worden. Deshalb hielt Jacob seinen Blick auf den Fluss gerichtet, lauschte, ob das Rascheln von Kleidung auf dem Eis oder das Kratzen eines Fingernagels zu hören war.
In den meisten Nächten heulte der Wind über die harsche Landschaft, aber heute Nacht herrschte eine seltene, beunruhigende Stille. Der Rest der Einheit campierte fünfzig Meter hinter ihm; die Choseniabäume verschluckten Schnarchgeräusche und Traumgemurmel. Ob die Nordkoreaner jemals schliefen? Vielleicht warteten sie nur, bis man selbst schlief. Die Stille war ebenso greifbar wie die Kälte. Die Dorfbewohner glaubten, dass die Geister toter Amerikaner in diesen Bergen umgingen. Gwisin nannten sie sie. Die meisten Männer lachten darüber, doch aufgrund der Gegend, in der er aufgewachsen war, lachte Jacob nicht.
Er wünschte, er könnte eine rauchen, aber das Aufleuchten der Streichholzflamme oder das Glimmen der Zigarettenspitze konnten einen umbringen. Seit einer Stunde hatte Jacob sich kaum geregt. Eine unmerkliche Bewegung des Gewehrs, ein langsames Wenden des Kopfes, sonst nichts, ganz wie Sergeant Abrams es ihnen geraten hatte. Seine Finger tasteten nach dem Kaugummi in der Tasche seines Parkas, bis ihm einfiel, dass er ihn vor zwei Tagen einem Kind im Dorf geschenkt hatte. Jacob blickte wieder auf. Nur der Mond; kein einziger Stern. Er hatte das Gefühl, als hätten sich beide Armeen still zurückgezogen und ihn allein an diesem gefrorenen Fluss zurückgelassen.
Dann, wie um ihn eines Besseren zu belehren, eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Seite des Eises. Jacob veränderte die Position des Gewehrs, legte seine behandschuhte Hand auf den Abzug. Er beobachtete das ferne Ufer, die vereisten Untiefen. Nichts regte sich. Nach stundenlangem Wachdienst konnte ein Soldat sich leicht etwas einbilden, sogar halluzinieren. Der Wind wurde zu einem Wispern, Schatten verdichteten sich zu menschlichen Leibern. Jacob legte seine Finger wieder auf den Schaft der Waffe. Wenn man Wachdienst hatte, war nur eines schlimmer als das Alleinsein: die Angst davor, es nicht zu sein. Die Posten hatten unterschiedliche Strategien, mit dieser Furcht umzugehen. »Ich stelle mir vor, ich wäre kein Mann, sondern ein Baum, und mein Herz befindet sich in der Mitte des Baumes, ganz innen im innersten Ring«, hatte Sergeant Abrams ihnen erzählt. »Wenn ihr euch richtig verwurzelt, schauen sie euch an und sehen bloß einen Baum. Sie gehen direkt an euch vorbei und bemerken euch nicht.«
Jacob stellte sich vor, wie ihn das Farmhaus umgab, in dem er mit Naomi lebte. Zuerst die Balken und das Gerüst, dann Wände, Böden und Fenster, Dach und Terrasse. Jeder Nagel und jedes Brett an seinem Platz, und Jacob in der Mitte von allem. Herzholz nannten die Bauleute diesen zentralen Balken, und das war es, was ihn beschützte.
Jacob ließ seinen Blick von links nach rechts schweifen. Daheim in North Carolina hatte er breite Bäche gesehen, die vom Eis bedeckt waren, aber niemals einen ganzen Fluss. Wie er Naomi geschrieben hatte, hatte er nicht gewusst, was Kälte bedeutete, bis er hierhergekommen war. Oder Einsamkeit. Erneut dachte er daran, dass sie eine Familie gründen würden. Naomi würde erst im Mai achtzehn werden. Obwohl ihre Schwester Lila ihr erstes Kind mit siebzehn bekommen hatte, beunruhigte der Gedanke ihn. Seine Eltern hätten helfen können. Ein volles Jahr lang hatten er und Naomi, nachdem sie durchgebrannt waren, bewiesen, dass sie auch ohne ihre Unterstützung ein gutes Leben für sich schaffen konnten. Sie hatten Geld gespart; als Dr. Egan sagte, Naomi solle nicht länger schwer heben, hatten sie es sich leisten können, dass sie ihren Job in der Wäscherei des Krankenhauses aufgab. Dann, im Dezember, als Naomi im vierten Monat gewesen war, kam der Einberufungsbefehl.
»Du hast geschworen, nie wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzen«, hatte sein Vater gesagt, als Jacob auf der Veranda vor dem Eingang stand. Im Flur hallten die Fußtritte seiner Mutter. Die Hand seines Vaters ruhte auf dem Türknopf, aber er öffnete die Tür etwas weiter, damit sie sehen konnte, wer da war. Auf dem Kaminsims hinter seinen Eltern stand die Fotografie von Jacob und Veronica Weaver beim Schulball, das einzige Bild, das sie nicht entfernt hatten. Das war gehässig und zugleich so, als wollten seine Eltern verkünden, dass sich nichts ändern würde, solange sie es nicht gestatteten.
»Ich weiß, dass die Dinge zwischen uns nicht gut gelaufen sind, aber ich möchte, dass es anders wird.«
»Wir haben dir gesagt, was du dafür tun musst«, antwortete sein Vater, »und du hast dich dagegen entschieden.«
»Ihr seid immer noch meine Eltern, und ich bin euer Sohn, und schon bald werdet ihr ein Enkelkind haben.«
Sein Vater verzog den Mund zu jenem kalten, selbstgewissen Lächeln, das Jacob schon sein ganzes Leben lang gekannt hatte.
»Aha, es geht also um dein Erbe.«
»Nein, Sir, darum geht es nicht.«
»Worum dann?«, fragte seine Mutter.
Er zögerte und wappnete sich für das, was als Erstes kommen würde – die tadelnde Gewissheit, dass, wenn er nur auf sie gehört hätte ...
Aber im Gesicht seiner Mutter sah Jacob bereits eine andere Gewissheit: dass das, was auch immer er zu sagen hatte, nichts Gutes bedeuten konnte.
»Ich habe meinen Einberufungsbefehl bekommen.«
Die Hand seines Vaters glitt vom Türknauf. Er schien weder schadenfroh noch bedrückt, sondern erschüttert. Seine Mutter schüttelte den Kopf, schüttelte ihn die ganze Zeit weiter, als sie sprach.
»Reicht es nicht, dass wir zwei Kinder verloren haben?«, sagte sie klagend, und ihre Stimme brach, als ihr Arm in Richtung Friedhof deutete, wo die Grabsteine von Jacobs Schwestern standen. »Ich will das nicht hören«, sagte sie und hob eine Hand vor ihr Gesicht. »Ich will es nicht. Ich werde es nicht hören.«
Sie ging den Korridor entlang zu ihrem Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich.
Sein Vater machte Anstalten, ihr zu folgen, wandte sich dann aber wieder zu Jacob.
»Du kannst mir die Schuld geben, weil ich geheiratet habe«, sagte Jacob. »Vielleicht hätte ich warten sollen, wie du gesagt hast, aber es ist nicht meine Schuld, dass ich eingezogen worden bin.«
»Hättest du getan, was wir dir gesagt haben, wärst du fürs College zurückgestellt worden, genauso wie Doyle Brocks Sohn«, schäumte sein Vater, »aber wie immer wolltest du ja nicht auf uns hören.«
Jacob wollte erwidern, dass niemand, nicht einmal sein Vater, hatte wissen können, dass es Krieg geben würde, aber das hätte ihn nur noch wütender gemacht, noch selbstgerechter und rachsüchtiger.
So verbindlich wie möglich sagte er: »Ich bin nicht nur wegen der Einberufung hier.«
»Warum sonst?«
»Es geht darum, Naomi und dem Baby zu helfen, während ich fort bin. Egal, wie sehr ich dich enttäuscht habe, es ist nicht ihre Schuld. Ich möchte, dass du und Momma nach Naomi schaut, dass ihr sie bei euch wohnen lasst, wenn ihre Zeit gekommen ist. Trotz allem, was passiert ist, wird es euer Enkelkind sein, euer Fleisch und Blut.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, entgegnete sein Vater. »Bei diesem Mädchen kann es genauso gut von einem anderen sein.«
Da war Jacob gegangen, war runter zur Middlefork Bridge gefahren und hatte dort angehalten. Nach einer Weile war er umgekehrt. Blackburn hatte auf dem Friedhof Blätter zusammengerecht. Er war allein gewesen, hatte aber trotzdem seinen Hut tief ins Gesicht gezogen, als wollte er selbst den Toten seinen Anblick ersparen. »Niemand sonst wird uns helfen«, hatte er zu Blackburn gesagt, »also frage ich dich.«
Jacob ließ das M1 in seiner rechten Armbeuge baumeln und zog die Kapuze seines Parkas enger. Er entblößte ein behandschuhtes Handgelenk und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Der Anblick des langsamen, stetigen Kreisens des Sekundenzeigers, der die Zeit verstreichen ließ, tröstete ihn. Noch ein paar Minuten, dann würde Murphy ihn ablösen. In North Carolina war es jetzt Nachmittag. Er stellte sich Naomi am Ofen vor, eine halbe Welt entfernt.
So kalt ihm auch war, der Feind auf der anderen Flussseite hatte es noch kälter. Jacob hatte gesehen, was ihre Toten trugen, die braune Jacke, allenfalls mit einem Sweatshirt darunter. Das Material ihrer Kleidung war so weich und geschmeidig wie das der Decken, mit denen sich Jacob in Winternächten zugedeckt hatte. Er konnte verstehen, warum einige GIs glaubten, dass die Feinde sich mit Branntkalk und Steinöl einschmierten. Wie sonst konnte man so wenig am Leib haben und trotzdem überleben?
Am Rand seines Gesichtsfelds bewegte sich ein Schatten. Jacob berührte den Sicherheitskolben des Gewehrs und wandte langsam den Kopf. Eine Gestalt stürzte aus der Dunkelheit auf ihn zu, eine Messerklinge fuhr durch seinen Parka, und die Spitze ritzte in seinen Brustkorb. Er packte den Mann am Arm und ließ das M1 los, während sie beide zu Boden fielen. Jacob warf sich auf den anderen, streckte die Hand nach dem Gewehr aus, ergriff es am Lauf und merkte erst jetzt, dass er vergessen hatte, das Bajonett aufzustecken. Während Jacobs Hand zunächst den Schaft und dann den Abzugsbügel fand, umklammerte der feindliche Soldat sein Handgelenk. Sie rollten von der Uferböschung hinab auf das Eis. Es brach nicht. Der Aufprall trennte sie, und das M1 entglitt Jacobs Griff und schlitterte außer Reichweite.
Der Nordkoreaner trug nur einen Pullover. Er war kleiner als Jacob, aber breitschultrig wie ein Ringer. In der Hand hielt er noch immer das Messer. Die beiden Männer keuchten; jeder Atemzug färbte die Luft zwischen ihnen weiß. Sobald sie wieder zu Atem gekommen waren, lauschten sie. An den Ufern war alles still. Jacob riss sich die Handschuhe herunter und zog das Bajonett aus der Scheide. Keiner der beiden versuchte aufzustehen. Sie krochen aufeinander zu, stachen aufeinander ein, aber das Eis nahm ihren Stößen die Kraft. Jacob war noch dazu durch seinen Parka beeinträchtigt. Dann duckte sich der andere Mann, sprang nach vorne, und seine Messerklinge streifte Jacobs Hals. Blut quoll hervor. Die freie Hand des Nordkoreaners rutschte weg, und er fiel mit dem Gesicht nach unten. Er kam auf die Knie, doch in diesem Moment schlitzte Jacobs Bajonett seine linke Wange vom Ohr bis zum Mund auf. Backenzähne blitzten weiß auf, wo die Haut aufriss. Mit einer Hand auf dem Eis, um sich abzustützen, schwangen und stießen sie ihre Waffen, und alles war langsam und unerbittlich wie in einem Albtraum. Wieder prallten sie aufeinander, die Arme verschlungen, und rollten auf die Seite. Mitten auf dem Fluss trennten sie sich, nach Luft ringend, beide in dem Bewusstsein, dass ein Schrei Gewehrsalven von beiden Ufern auslösen würde.
Kniend und weniger als einen Meter voneinander entfernt, konnten sie einander in dem hellen Mondlicht, das ihren Kampf wie eine Bühnenszene beleuchtete, deutlich sehen. Das Haar des Nordkoreaners war lang für einen Soldaten, und er musste es sich aus dem Gesicht streichen. Dunkle Flecken markierten ihren Weg übers Eis. Das meiste Blut stammte von Jacob. Das an seiner linken Hand war gefroren und hatte seine Finger zusammengeklebt. Jacob schloss und öffnete die Faust, um sie wieder freizubekommen. Während die Männer einander beobachteten, wurde ihr Atem langsamer. Jacob bemerkte ein Muttermal auf dem Kinn des Nordkoreaners, eine Laufmasche in der Wolle seines Pullovers. Alles schien mit Bedeutung aufgeladen. Der Nordkoreaner warf sich nach vorne, nicht, um zuzustechen, sondern um Jacob aus dem Gleichgewicht zu bringen. Jacob fiel, und das Eis knackte. Jetzt war der andere Mann über ihm. Jacob hob den linken Arm, und ihre Unterarme trafen aufeinander, einen Moment, bevor die Klinge des Nordkoreaners in Jacobs Handgelenk schnitt. Ein weiterer Stoß fuhr in seine linke Schulter, und sein Arm erschlaffte, während das Eis noch mehr brach. Alles um ihn herum erschien Jacob plötzlich weit weg, selbst seine eigenen mühsamen Atemzüge. Das Bajonett entglitt seiner Hand. Welt und Zeit lösten sich leuchtend auf, sein Körper war eine schwere Bürde, die sich ganz leicht abschütteln ließ. Lass einfach los, es wird nicht lange wehtun. Aber Naomi konnte er nicht loslassen.
Als der Nordkoreaner das Messer hob, brachte Jacob ihn durch einen Hieb mit seiner rechten Hand aus dem Gleichgewicht. Die Messerspitze durchdrang das Eis, während Jacob sich wand, um freizukommen. Inmitten des Mondlichts befreite der Nordkoreaner das Messer aus dem Eis, und Jacob hob das Bajonett auf. Beinahe feierlich knieten sie voreinander. Ihre Atmung beruhigte sich und vergrößerte die Stille. Der Nordkoreaner ging in die Hocke, rutschte aus und fiel mit gespreizten Ellenbogen rückwärts. Das Eis zerbrach unter ihm, und er stürzte ins Wasser. Halb untergetaucht, aber noch immer mit dem Messer in der Hand, tastete er nach Halt, hob erst einen, dann den zweiten Arm auf das Eis. Jacob ließ das Bajonett fallen, kroch vorwärts und drückte den Koreaner nach unten. Als dessen Kopf die Wasseroberfläche wieder durchbrach, packte Jacob, jetzt flach auf dem Eis liegend, ein Büschel Haare und drückte fester, tiefer. Direkt unter seinem Arm brach eine Eisspitze ab. Einen endlosen Augenblick lang schwebte er starr über dem dunklen Wasser. Die Zeit zerrann noch langsamer. Das Mondlicht lag schwer wie ein Gewicht auf seinem Rücken. Jacob zog den Arm ganz langsam zurück. Sein Brustbein war gegen das Eis gepresst; er versuchte, nicht zu atmen, aber das heftige Schlagen seines Herzens konnte er nicht verhindern.
Dass ausgerechnet mein Herz es zerbrechen wird, dachte er beinahe staunend. Der Herzschlag beruhigte sich. Jacob spannte seine Bauchmuskeln an, hob die Arme und den Brustkorb über das Eis, atmete. Er platzierte seine rechte Hand unter dem Bauch und drückte gerade so fest nach unten, dass er sich aufstützen und sein Gewicht auf Hände und Knie verteilen konnte. Vorsichtig drehte er sich um, ließ das Bajonett in die Scheide gleiten und schob seinen Körper behutsam auf festeres Eis.
Dann hörte er ein Klopfen, gleich darauf noch eines. Er blickte zurück, sah aber keine Bewegung am anderen Ufer. Ein drittes Klopfen. Jacob begriff, dass das Geräusch von flussabwärts kam und von unterhalb der Eisschicht. In diesem Moment brach die Messerklinge durch das Eis. Sie glänzte im Mondlicht wie eine silberne Flamme.
Jacob wartete, bis die Klinge sich nicht mehr bewegte. Mit dem unverletzten Arm hielt er das Gleichgewicht, während er erst ein Knie, dann das andere nach vorne schob und Zentimeter um Zentimeter auf das Ufer zukroch. Zum ersten Mal hatte er Angst. Fast konnte er fühlen, wie sich ein Gewehrlauf auf seinen Rücken richtete. Er glaubte, am anderen Flussufer ein Wispern zu vernehmen. Weiter, sagte er sich selbst. Sie schießen, ob du dich bewegst oder nicht. Endlich fühlte er Sand unter sich und zog sich an Land.
Jemand flüsterte seinen Namen, dann lauter, eindringlicher. Es war Murphys Stimme, aber sie kam vom anderen Ufer, ebenso wie der Strahl der Taschenlampe, der über das Eis glitt. Oberhalb des Ufers, wo Jacob kauerte, bewegte sich etwas. Zwei, vielleicht drei Männer. Sie sprachen Koreanisch, während sie ihre Gewehrkolben in Stellung brachten. Schüsse fielen und wurden vom anderen Ufer erwidert. Die Böschung hatte einen Überhang. Wurzeln strichen über sein Gesicht, als Jacob darunter kroch. Nach wenigen Fuß wurde die Unterhöhlung schmaler und endete. Er presste den Rücken gegen die klamme Erde. Die Decke rieb gegen seine Schulter, Klumpen fielen herab. Jacob atmete den feuchten Geruch der Erde ein. Er fragte sich, wie tief die Messerwunden waren, wie viel Blut er verloren hatte. Hier zu sterben und niemals gefunden zu werden ... Er versuchte, nicht an das zu denken, was die Leute aus dem Dorf glaubten. Oder was er selbst gesehen hatte, daheim in Watauga County – Geisterlaternen, die für immer und ewig die Flanke des Brown Mountain absuchten. Die Schüsse waren verklungen, aber die Nordkoreaner würden das Ufer bewachen. Warte, bis der Mond untergegangen ist, sagte sich Jacob, dann vielleicht ... Aber er versank bereits in Bewusstlosigkeit.
ALS PFARRER HUNNICUTT Blackburn den Posten des Friedhofswärters angeboten hatte, war sein Vater dagegen gewesen, aber seine Mutter sagte, mit sechzehn Jahren sei er alt genug, die Entscheidung selbst zu treffen. Er hatte einen Tag lang darüber nachgedacht und dann entschieden, Ja zu sagen, in erster Linie, weil er dann mit weniger Menschen zu tun haben würde. Einige in der Gemeinde glaubten, ein Sechzehnjähriger würde zu viel Angst davor haben, allein neben einem Friedhof zu schlafen. Die alten Männer, die sich täglich vor dem Geschäft der Hamptons trafen, stimmten zu, auch wenn Brady Lister behauptete, ein Blick in Blackburns Gesicht würde genügen, um jeden Geist zu vertreiben. Doch selbst in diesen ersten Nächten hatte Blackburn sich nicht gefürchtet. Die Toten konnten nichts tun, was die Lebenden ihm nicht bereits angetan hatten.
Jetzt, fünf Jahre später, nippte Blackburn an seinem Morgenkaffee. Er schaute aus dem Fenster seines Häuschens, während die Grabsteine langsam sichtbar wurden, fast als hätten auch sie eine Weile unter der Erde geruht. Blackburn schlug mit der Faust auf den Tisch und versuchte sich einzureden, dass das, was geschehen war, nicht allein seine Schuld war. Abgesehen von ihren Arztbesuchen hatte er Naomi von Blowing Rock ferngehalten. Einkäufe, Rechnungen bezahlen – Blackburn hatte all das ohne sie erledigt. Naomi beklagte sich darüber, eingesperrt zu sein, aber das Eis und die Winterkälte konnten als Entschuldigung herhalten. Doch vor zwei Wochen hatte wärmeres Wetter eingesetzt. Als Naomi die Tür öffnete, trug sie statt des Schwangerschaftskittels und der flachen Halbschuhe ein blauweißes Kleid und ein Paar schwarze Sandalen mit Keilabsätzen. Zwei Haarspangen mit Schildkrötenmuster hielten ihre schwarzen Haare aus dem Gesicht. Es war Donnerstag, also würde es im Yonahlossee eine Matinee geben, sagte sie ihm. Blackburn hatte versucht, Naomi ihren Plan auszureden, aber sie meinte, Jacob wisse, wie sehr sie Kinofilme liebe, und dass er nichts dagegen hätte, wenn sie noch einmal einen sah, ehe sie nach Tennessee aufbrach.
Blackburn hatte gesagt, es sei noch immer kühl, und darauf bestanden, dass sie einen Mantel überzog. Während sie nach Blowing Rock gefahren waren, hatte Naomi ihre Handtasche geöffnet und den Seitenspiegel genutzt, um sich das Gesicht zu pudern und die Lippen anzumalen, bis sie so rot glänzten wie die Beeren der Stechpalme. Als sie die Hauptstraße erreichten, fuhr Blackburn in eine Parklücke vor dem Kino. Naomi begann, ihren Mantel auszuziehen.
»Du solltest ihn anlassen, bis wir drinnen sind«, hatte er zu ihr gesagt. »Nein, ich will, dass sie meinen Bauch sehen, bevor ich hier weggehe«, hatte sie geantwortet. »Sie glauben, sie können mich beschämen, aber da täuschen sie sich.« Blackburn hatte erklärt, er könne sie so nicht allein hineingehen lassen, weil es vielleicht Ärger geben würde. »Dann kommst du eben mit mir.«
Blackburn trank noch einen Schluck Kaffee. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Karton, randvoll mit den Sachen, die er Naomi nach Tennessee bringen würde. Er sah auf die Uhr, stellte fest, dass es schon sieben war. Selbst wenn Blackburn jetzt gleich startete, würde er nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurückkommen. Er kippte den Rest des Kaffees hinunter und hob den Ärmel, um sich den Speichel aus dem Mundwinkel zu wischen. Blackburn hörte ein Auto kommen. Ein Kastenwagen mit der Aufschrift Dillards Blumenladen hielt vor dem Friedhofstor.
In ihrem Wollmantel und mit einem flachen, breitkrempigen Hut auf dem Kopf öffnete Agnes Dillard die Hecktür und hob einen Blumenkranz samt Metallgestell heraus. Blackburn nahm seine Flanelljacke und seinen Schlapphut und trat aus dem Haus zu ihr hinaus. Sie hatte einmal zu ihm gesagt, dass sie sich oft ähnlich seien, dass sie beide versuchten, es den Menschen in einer schwierigen Zeit etwas leichter zu machen. Die Art und Weise, wie Mrs. Dillard ihre Blumen und Grabgebinde arrangierte, zeugte immer von Fürsorge. Blackburn sah es an Details, die Trauergästen leicht entgingen – wie sorgfältig die Kränze geflochten oder dass die Stiele schräg angeschnitten waren, damit die Blumen ihre Farbe länger behielten. Er wusste auch, dass sie ihm, wenn er ihr anbot, den Kranz für sie zum Grab zu tragen, danken, es aber trotzdem selbst machen würde.
»Ich habe Mr. Burrs Töchtern empfohlen, bei diesem Wetter besser ein paar Tage zu warten, aber es ist sein Geburtstag, also bestanden sie darauf«, sagte sie, als sie den Friedhof betraten.
Das Grab war einen Monat alt. Kein Grabstein, nur ein Haufen schwarzer Erde, bedeckt von weißem Frost. Sie drückte die Füße des Ständers in die gefrorene Erde, drapierte den Kranz darauf und trat zurück.
»Bei dem Wind bezweifle ich, dass er stehen bleiben wird, aber mehr kann ich nicht tun.«
Als sie den Friedhof verließen, hielt Mrs. Dillard inne und schaute den Hügel hinab. Das rote Oldsmobile parkte neben dem Haus, dasselbe Auto, aus dem Mr. Hampton zwei Wochen zuvor gestiegen war. Er hatte schon wütend gebrüllt, als er die Hauptstraße überquerte und auf Blackburn und Naomi zugegangen war.
»Was Daniel Hampton zu dem Mädchen gesagt hat, war eine Schande«, bemerkte die Floristin. »Sie hätte das Baby verlieren können wegen dieser Abscheulichkeit.«
»Ich hätte sie nicht mit in die Stadt nehmen sollen.«
»Du konntest ja nicht wissen, was passieren würde«, erwiderte Mrs. Dillard. »Wie auch immer, sie ist besser dran bei ihrer Familie. Du bist so ziemlich der einzige Mensch hier in der Gegend, der ihr freundlich gesinnt ist.«
»Ich hoffe, es geht ihr gut dort«, sagte Blackburn.
»Hast du von ihr gehört?«
»Nein, Ma’am, aber ich werde heute nach ihr sehen.«
»Meinst du, das ist eine gute Idee?«, fragte Mrs. Dillard. »Im Radio heißt es, dass es schneien soll.«
»Ich komm schon klar.«
Nachdem Blackburn den Karton für Naomi im Truck verstaut hatte, sah er noch einmal auf dem Friedhof nach dem Rechten, stellte eine umgefallene Vase wieder hin, hob eine leere Zigarettenschachtel auf. Ein Friedhofswärter kümmerte sich um die Lebenden und die Toten. Das hatte Wilkie, der letzte Wärter, Blackburn beigebracht. Wie man die Kränze und Blumen platzierte, wie man das Gras mähte und die Blätter zusammenrechte, all das musste auf die richtige Art und Weise gemacht werden. Wilkie legte großen Wert darauf, dass man ein Grab richtig aushob und wieder füllte – die Länge und Tiefe mussten exakt stimmen, der angemessene Zeitpunkt vor und nach dem Gottesdienst musste genau eingehalten werden. Am letzten Tag von Blackburns Lehrzeit zeigte Wilkie ihm eine Truhe mit den Aufzeichnungen über den Friedhof und erklärte ihm, wie er sie führen musste. Danach saßen sie an dem Tisch im Cottage, zwischen ihnen ein ledergebundenes Notizbuch. »Was ich dir nicht beigebracht habe, steht in diesem Buch, und du musst es alles lernen. Die Leute kommen hierher mit Kummer im Herzen, und sie stellen Fragen. Es tut ihnen gut, wenn du die Antworten weißt, das gibt ihnen die Gewissheit, dass du dich gut um ihre Verstorbenen kümmern wirst.« Blackburn hatte die Seiten langsam umgeblättert. Am Ende fanden sich Bleistiftskizzen der verschiedenen Grabsteinformen, ein oder zwei Sätze unter jeder Bezeichnung. Blackburn hatte zuvor noch nie Begriffe wie Diskoid, Volute, Obelisk oder Fylfot gesehen oder gehört. Sogar die, die er kannte – Lebensbaum, Kompassstern –, wirkten in ihrer Gesellschaft fremd.
Danach hatte Wilkie Blackburn ein letztes Mal auf den Friedhof mitgenommen und vor einem Grab ganz hinten angehalten.
SHAYLEARY
Die Buchstaben drängten sich auf einem Grabstein, der nicht größer war als ein Salzblock. Nicht das kleinste bisschen Moos oder Flechte hing daran. Leary war bei einer Sprengung umgekommen, als er geholfen hatte, den Blue Ridge Parkway zu bauen, erklärte Wilkie Blackburn. Die anderen Arbeiter wussten fast nichts über ihn außer seinem Namen und dass er aus Ohio stammte. Learys Arbeitskollegen kauften die Grabstätte und meißelten den Namen mit einem Eisenbahnnagel in den Stein. Zwei Jahre lang passierte nichts, aber dann, eines Nachts, ging die Tür des Cottage knarrend auf und wurde wieder zugeschlagen. Wilkie war auf die Veranda getreten, hatte aber nur Dunkelheit gesehen. In der Nacht darauf öffnete sich die Tür erneut, obwohl er sie mit einer Kette gesichert hatte. Irgendwelche Kinder, die ihm einen Streich spielten, vermutete er, und in der dritten Nacht platzierte er seinen Schaukelstuhl direkt hinter der Tür und lauerte dort mit einem Gewehr in der Hand, um den Scherzbolden Angst zu machen. Als die Tür aufging, war niemand vor dem Haus, aber Wilkie sah ein Licht über Shay Learys Stein. Er nahm seinen Mut zusammen und ging zu dem Grab hinüber. Bevor es verlöschte, schien das Licht ganz hell auf den von Flechten verdeckten Namen. Am Morgen bearbeitete Wilkie mit einer Drahtbürste und einem Tuch das Grab, bis jeder Buchstabe auf dem Stein lesbar war. Eines regnerischen Tages eine Woche später sah er aus dem Fenster und bemerkte einen Fremden. Der Mann war Gabriel Leary, der aus Ohio gekommen war, um das Grab seines Bruders zu finden. Allein in diesem Bezirk hatte er sechs Friedhöfe abgesucht, erzählte er Wilkie, aber jetzt hatte er es endlich gefunden.
Blackburn wusste nicht, ob die Geschichte wahr war oder dazu dienen sollte, dass er als Neuling seine Aufgaben gewissenhaft erfüllte; aber obwohl er selbst nie eine solche Begegnung gehabt hatte, glaubte er doch, dass die Toten auf die ein oder andere Weise spürten, was er tat – nicht nur, was den Aushub und das Befüllen der Gräber anging. Kleine Zeichen von Respekt hatten eine Bedeutung: keinen Krach mit den Werkzeugen zu machen, nicht laut zu reden, um die Gräber herumzugehen, statt draufzutreten, Zigarettenstummel und Streichhölzer aufzuheben.
Neben dem Cottage knarrte die Wetterfahne, schwang hin und her, wie um harscherem Wetter die Tür zu öffnen. Ein anderer Tag wäre besser gewesen, aber der Montag war der einzige wirklich freie Tag, den Blackburn hatte, also schloss er das Tor. Er bezweifelte, dass es noch einmal geöffnet würde, ehe er zurückkehrte. Im Winter gab es wenige Besucher. Diejenigen, die kamen, waren in der Regel Witwen oder Witwer. Manchmal hörte er sie laut zu den Gräbern sprechen. Wilkie zufolge war Allie Higgins jeden Tag gekommen, elf Jahre lang. Sie stand neben dem Grab ihres Mannes und redete über alltägliche Dinge wie Nähen und Kochen, das Wetter und den neuesten Klatsch. Der arme Mann hatte weder im Leben noch im Tod je die Chance, ein Wort beizusteuern, hatte Wilkie in einem seltenen Anflug von Humor gesagt.
Blackburn wendete den Truck und fuhr die Straße hinunter, vorbei an der Abzweigung zu Pfarrer Hunnicutts Haus. Am Fuß des Hügels bremste Blackburn. Hamptons Store befand sich auf der anderen Straßenseite. Davor schwebte ein orangefarbenes Gulf-Logo wie ein Mond über zwei Zapfsäulen. Windböen ließen das runde Schild hin- und herschwingen. Blackburn spähte an dem zweistöckigen Haus der Hamptons vorbei auf die Weide, wo er und Jacob in einem Sommer gefleckte Forellen geangelt hatten, in Teichen, die von Rhododendren beschattet wurden. Oder wo sie an den Stellen, an denen der Bach rasch fließend und flach gewesen war, Steine umgedreht hatten, um herauszufinden, was sich darunter befand – Langusten, die mit erhobenen Zangen zurückgewichen waren, glänzend schwarze Salamander, die ihnen durch die Finger geglitten waren und dann in Schlickwirbeln verschwanden. Jacob versuchte einmal, einen zu fangen, der ihn dann biss und einen Halbmond aus blutigen Punkten auf seiner Hand hinterließ. Immer wenn Jacob und er in jenen Tagen erhitzt und durstig waren, bestand Mrs. Hampton darauf, dass Blackburn sich ebenso wie Jacob eine Flasche aus der metallenen Getränkekühltruhe nahm. Sie ließ Blackburn nie dafür bezahlen, selbst wenn er denn doch einmal ein paar Münzen anzubieten hatte. Mrs. Hampton hatte nie viel gelächelt, aber sie war immer nett gewesen. Bis Blackburn angefangen hatte, sich um Naomi zu kümmern.
Die Straße machte eine Biegung. Nach einer halben Meile kam die Sägemühle der Hamptons in Sicht, Männer, die in Flanelljacken und Stiefeln mit Stahlkappen sägten und Bäume zu Brettern verarbeiteten. Die Straße lief in eine Senke und folgte dem Laurel Fork Creek bergab. Nach einer Meile bog Blackburn wieder ab und kam bald darauf zu Jacobs und Naomis Farmhaus.
Mit seinem neuen Blechdach, dem frisch gemauerten Schornstein und neu verglasten, ehemals verrammelten Fenstern sah das Bauernhaus völlig anders aus als noch vor achtzehn Monaten. Blackburn schloss die Tür auf und trat ein. In der Woche nach der heimlichen Heirat waren Jacob und Blackburn nach Lenoir gefahren, erst zu einem Gebrauchtwarenhändler, dann zu einem Eisenbahnschrotthändler. Enterbt sei er, wurde im Ort geklatscht, und als Blackburn zugesehen hatte, wie Jacob gefeilscht und die Banknoten in seiner Brieftasche gezählt hatte, wusste er, dass es stimmte. Aber das Geld reichte, um den Truck mit einem Tisch samt vier wackeligen Stühlen, Matratzen und einem Bett sowie einem verbeulten Kühlschrank zu beladen. So viel von dem, was ein Haus zum Heim machte, hatte gefehlt, besonders die kleinen Dinge – Bilder, eine Uhr auf dem Kaminsims, ein Küchenkalender –, aber was er und Jacob an jenem Tag aus Lenoir mitgebracht hatten, war ein Anfang gewesen. Mittlerweile waren im Wohnzimmer ein Sessel und ein Sofa dazugekommen. An der frisch verputzten Wand das gerahmte Bild eines Pferdeschlittens mit dem Namen der Druckerei Currier & Ives darunter. Neben dem neuen Ölofen in der Küche ein Kalender, der in Erwartung von Naomis Rückkehr bereits auf August umgeblättert war.
Im Flur hing das Foto, das er Naomi mitbringen sollte. Es war an Jacobs und Naomis erstem Jahrestag in Lenoir entstanden. Blackburn nahm es vom Haken, sperrte das Haus wieder ab und fuhr nach Westen. Eine Stunde später zog sich die Straße zum Gipfel des Roan Mountain hinauf. In einer Parkbucht schoss ein Mann Fotos.
Als er nach Tennessee kam, erinnerte sich Blackburn, dass Naomi gesagt hatte, früher hätte sie geglaubt, man würde sofort den Unterschied sehen, wenn man in einen anderen Bundesstaat kam. Aber dann merkte sie, dass die Bäume und die Straßen und der Himmel genau gleich waren. Selbst die Werbeplakate, dachte Blackburn, als er ein leuchtend rotes Plakat für Burma-Rasiercreme und eines mit einer Flasche Royal Crown Cola passierte. Als er die Bäume schließlich hinter sich gelassen hatte und das Land flacher wurde, wurden die Plakate zahlreicher – Zigaretten von Camel und Lucky Strike, Automobile von Ford und Lincoln, Brot der Firma Sunbeam. Auf jedem Gesicht ein Lächeln.
DR. EGAN SASS AN SEINEM SCHREIBTISCH, die Pfeife im Aschenbecher vor sich. Sie war zunächst eine Requisite gewesen, als er seine Arztpraxis vor neununddreißig Jahren gegründet hatte. Egan hatte geglaubt, sie würde ihn älter und weiser erscheinen lassen. Vielleicht durchschauten seine ersten Patienten den Trick, aber über die Jahre hatte er seine Pfeife, den Tabak und die Streichhölzer auf dem Schreibtisch behalten. Es war der Raum, in dem er jene mit den gravierendsten Krankheiten empfing. Sobald die Tür geschlossen war und sie beide saßen, entzündete er den Tabak, atmete den Rauch ein und aus. Dann legte er die Pfeife in den Aschenbecher, und der brennende Tabak verströmte einen beruhigenden Dunst, beinahe wie Weihrauch. Sehen Sie, auch wenn wir hier ernste Dinge besprechen, geraten wir doch nicht in Panik. Ein Ritual, nicht viel anders als das, das er heute schon im Haus von Mindy Timberlake ausgeführt hatte. Für sie gab es in seiner schwarzen Arzttasche keine Medizin, doch während ihre drei Söhne zusahen, hatte Dr. Egan die silberne Glocke des Stethoskops an den Brustkorb der sterbenden Frau gedrückt. Sie nach rechts, nach oben, nach unten bewegt, wie beim Segen eines Priesters. Minuten später starb sie, nicht mit einem Keuchen oder Rasseln, sondern mit einem letzten leisen Seufzer, als wäre irgendeine unbedeutende Angelegenheit entschieden. Ein guter Tod.
Dr. Egan blickte aus dem Fenster. Jetzt, Mitte März, wurden die Tage wieder länger; es würde also noch eine Weile dauern, bis die runden Straßenlaternen von Blowing Rock angingen. Nächste Woche war Catherines Geburtstag. Er hatte den neuesten Erle-Stanley-Gardner-Roman für sie bestellt, wollte aber noch ein weiteres Geschenk besorgen: vielleicht personalisiertes Briefpapier oder einen Parker-50-Füllfederhalter mit ihren eingravierten Initialen. Gestern hatte er durch das Schaufenster von Agnes Dillards Blumenladen gespäht. Wenn Egan für Helen, seine verstorbene Frau, Blumen gekauft hatte, waren es immer rote Rosen gewesen. Doch ein Rosenstrauß könnte als Bruch des Paktes gewertet werden, den er und Catherine geschlossen hatten. Chrysanthemen könnten aber gehen. Ja, Blumen und das Buch, das war das Richtige. Catherine hatte ihn einmal gefragt, warum er Gedichte mochte, aber ihre Liebe zu Romanen nicht teilte. »Ich verbringe meine Tage in den Geschichten anderer Leute«, hatte er geantwortet.
Unter anderem diese Geschichte mit den Hamptons, überlegte Dr. Egan, als sein Blick auf Holder’s Soda Shop fiel. Dass Daniel und Cora Hampton nicht entzückt waren, als Jacob mit einem sechzehnjährigen Zimmermädchen durchbrannte, war keine Überraschung gewesen, und ihr Versuch, die Ehe zu annullieren, verständlich. Ein Jahr später, als Dr. Egan Naomis Schwangerschaft bestätigt hatte, hatte er gehofft, ein Enkelkind würde helfen, Jacob und seine Eltern wieder zu versöhnen. Doch nachdem er Zeuge der Szene vor dem Soda Shop geworden war, wusste er es besser. Das Mädchen hatte nicht nur Daniel, sondern viele in der Stadt provoziert mit ihrer Schamlosigkeit. Egan fragte sich, ob das Make-up und das Kleid bloße Unwissenheit oder Bosheit gewesen waren. Und warum hatte Blackburn Gant zugelassen, dass sie so unter die Leute ging? Wie auch immer, Daniel Hampton hatte kein Recht gehabt, so fürchterliche Dinge zu ihr zu sagen. Wäre Sheriff Triplett nicht zur Stelle gewesen, hätte es für alle Beteiligten, einschließlich des Babys, viel schlimmer ausgehen können. Trotz des Wetters war es folglich die richtige Entscheidung von Naomi gewesen, ein paar Wochen früher als geplant nach Tennessee zurückzukehren. Sie war im dritten Trimester, und es gab keine Komplikationen, rief er sich ins Gedächtnis. Trotzdem ...