Der Fünfzigjährige, der nach Indien fuhr und über den Sinn des Lebens stolperte - Mikael Bergstrand - E-Book
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Der Fünfzigjährige, der nach Indien fuhr und über den Sinn des Lebens stolperte E-Book

Mikael Bergstrand

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Beschreibung

Eat, pray, love für den bewegten Mann.

Die 50 liegt weit hinter ihm, die Exfrau weilt mit ihrem Neuen im Liebesurlaub, und das Wohlstandsbäuchlein spannt schon etwas unter dem Cordjackett. Es ist nicht von der Hand zu weisen: Die Midlife-Crisis hat Göran Borg fest im Griff. Als er auch noch seinen Job verliert, tut er das einzig Vernünftige, was man(n) in so einer Situation tun kann: sich hängen lassen und in Selbstmitleid baden. Doch dann lässt sich Göran in einem schwachen Moment zu einer Gruppenreise (!) nach Indien überreden. Eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen. Denn kaum ist der Schwede im Land der heiligen Kühe angekommen, geht alles schief. Doch mit Hilfe des findigen Textilhändlers Mr. Yogi, der betörenden Schönheitssalonbesitzerin Preeti und ca. 1000 Hindu-Gottheiten kommt Göran nicht nur dem Zauber Indiens auf die Spur, sondern auch seiner eigenen Sinnkrise ...

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Seitenzahl: 495

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Mikael Bergstrand

DER 50-JÄHRIGE, DER NACH INDIEN FUHR

UND ÜBER DEN SINN DES LEBENS STOLPERTE

Roman

Aus dem Schwedischen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die schwedische Originalausgabe erschien 2011 unter dem TitelDelhis vackraste händer bei Norstedts, Stockholm.
Copyright © Mikael Bergstrand 2011Norstedts, Stockholm 2011Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by btb Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-10669-0V003
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

12. JANUAR 2010

Und, was denkst du? Ist es nicht schön geworden nach der Renovierung?«

Ich nicke und lächele. Im Grunde sieht es so aus, wie es schon immer im Salon Cissi ausgesehen hat. Ich kenne keinen Menschen, der so besessen von ständiger Veränderung ist und dabei so gar kein Talent dafür hat. Das weiße Sofa, das bei meinem letzten Besuch noch links neben der Yuccapalme stand, hat nun einen roten Überzug und steht rechts neben einem Fikus. Außerdem glaube ich – auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin –, dass die Brünette mit der androgynen Pagenfrisur auf dem eingerahmten Plakat hinter dem Empfangstresen früher eine Blondine mit einer androgynen Pagenfrisur war.

»Die neue Farbe macht ein ganz anderes Licht, nicht wahr?«

Cissi blickt mich unter ihrem rasiermesserscharfen Pony erwartungsvoll an. Wenn ich sie nicht so gut kennen würde, würde ich sagen, dass mich ihr Gesichtsausdruck an ein unschuldiges, neugieriges Kind erinnert.

»Absolut«, erwidere ich und versuche vergeblich, mich an die vorherige Farbe zu erinnern, die nicht mehr als zwei Nuancen von dem Eierschalenton entfernt gewesen sein konnte, in dem die Wände jetzt gestrichen sind.

»Du hast abgenommen«, sagt Cissi.

»Ja, ein paar Kilo.«

»Sieht gut aus. Macht dein Gesicht gleich männlicher.«

»Danke«, erwidere ich und frage mich einen Moment, ob sie mich vorher für ein Weichei gehalten hat.

Vor etwa elf Jahren habe ich den Salon Cissi in der Östergatan in Malmö zum ersten Mal betreten, die äußerst ungenaue Anweisung meiner Frau Mia im Ohr, ich solle mich modernisieren. Eine halbe Stunde später trat ich wieder auf die Straße und war um einen Pferdeschwanz ärmer. Und meiner Identität beraubt.

Mein Pferdeschwanz hatte mich seit meiner Teenagerzeit treu begleitet, er bot mir Halt und diente gleichzeitig auch der Ablenkung, wenn ich ihn mir in unbeobachteten Momenten um die Finger wickelte. Und jetzt hatte es eine energische Friseurin irgendwie geschafft, dass ich mir diese Nabelschnur abschneiden ließ. Etwa eine Woche lang betrauerte ich meinen Verlust zutiefst. Doch Mia mochte mein neues Aussehen, und als der erste Schock und die Trauer sich gelegt hatten, freundete ich mich mit meiner neuen halblangen Frisur an, bei der ich die Haare immerhin noch hinter die Ohren streichen konnte. Damit sah ich aus wie viele gleichaltrige Kollegen in meiner Branche – vierzigjährige Männer, die wir widerwillig eingesehen hatten, dass wir nicht länger große Jungs waren, die aber dennoch zeigen wollten, dass wir doch noch ein wenig Rock’n’Roll in uns hatten, bevor uns der Fluch des Wohlstandsbauches traf. Kurzum, ich sah aus wie all jene Kreativen, mit abgewetztem Cordjackett und schwarzem Poloshirt, das ganze Programm eben. Und dennoch erschien mir Cissi in diesem Moment – mit der unerbittlichen Schere in ihren geschickten Händen – wie die innovativste Friseurin der Welt.

Heute weiß ich, dass es reine Illusion war. Dass der Tod meines Pferdeschwanzes in Wirklichkeit von Mia angeordnet worden war, wie Cissi mir vier Monate und siebzehn Tage nach der Scheidung (9. Oktober 2000) erzählte. Sie sagte, sie schäme sich ein bisschen, mir nicht früher reinen Wein eingeschenkt zu haben, aber mir war klar, dass sie es insgeheim genoss.

Trotzdem trage ich bis heute dieselbe Frisur. Die Haare sind leicht ergraut und um einiges dünner geworden; die Geheimratsecken schreiten langsam, aber unerbittlich voran. Hoffentlich lassen sie sich noch etwas Zeit, bevor sie endgültig die Herrschaft über meinen Kopf übernehmen. Eine zurückgekämmte Frisur erfordert nun mal einen Haaransatz, der diese Bezeichnung auch verdient.

»Sollen wir auf diese Länge kürzen?«, fragt Cissi und hält ihre Hand einige Zentimeter unter mein Ohr. »Die Haare sind ja ganz schön lang geworden.«

In ihrer Stimme schwingt ein erwartungsvoller Unterton mit, als ob ihre Bemerkung mich zum Erzählen bringen sollte.

»Ja, das klingt gut«, erwidere ich nur und greife nach den Zeitschriften auf dem kleinen Regal unter dem Spiegel. Unter drei Frauenzeitschriften finde ich ein abgegriffenes Exemplar eines Männermagazins. Beim Blättern fällt mir auf, dass ich diese Ausgabe schon kenne. Den Artikel, wie Mann eine Feministin aufreißt und sie flachlegt, habe ich schon mal gelesen. Im Großen und Ganzen geht es darum, dass man keinesfalls zustimmen darf, wenn die Feministin anfängt, einen hinsichtlich Gendertheorien über die patriarchale Gesellschaft zu testen, sondern nur unbestimmte Laute von sich geben und zugleich entwaffnend und überlegen lächeln soll. Es fällt mir allerdings schwer, mir vorzustellen, wie so ein Lächeln wohl aussehen soll.

Ich blättere weiter und bleibe bei dem Pin-up-Mädchen in der Mitte des Heftes hängen. Nur ein paar Sekunden, lang genug, um nicht prüde zu wirken, aber auch nicht so lange, dass man mir Geilheit unterstellen könnte.

»Wow, Göran, deine Hände sehen aber toll aus! Hattest du eine Maniküre?«

Cissis plötzlicher Ausbruch überrascht mich. Ich spüre, wie mir die Röte blitzschnell ins Gesicht steigt und meine Ohren zu glühen beginnen.

Draußen prasselt der Regen ans Fenster. Es riecht nach fauligen Eiern im Salon, nur schwach, doch deutlich wahrnehmbar unter den Schwaden von Haarwasser und Parfüm. Haarfärbemittel riechen immer nach fauligen Eiern. Mia roch so, als sie eines Tages mit wasserstoffblondem Haar nach Hause kam. Sieben Monate und sechs Tage vor unserer Scheidung. Damals hätte ich schon erkennen müssen, dass etwas nicht in Ordnung war. Eine Frau über vierzig versucht nicht ohne Grund, plötzlich wie Marilyn Monroe auszusehen.

Bis jetzt habe ich noch keinen Menschen getroffen, der sich durch Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gequält hat. Ich bezweifle sogar, dass es unter meinen belesenen Freunden jemanden gibt, der weiter als bis zu der berühmten Szene im ersten Band kam, in der der Autor eine Madeleine in seiner Teetasse versenkt und sich durch den Geschmack des in Tee getunkten Gebäcks in seine Kindheit zurückversetzt fühlt. Wahrscheinlich ist das die meistverwendete Erzähltechnik des letzten Jahrhunderts – ein Geruch oder ein Geschmack, der Erinnerungen hervorruft und dadurch eine ganze Geschichte wieder zum Leben erweckt.

Und genau das werde ich jetzt tun. Wir werden in die Vergangenheit reisen, als alles anfing. An einem grauen und windgepeitschten Montag im Januar vor genau einem Jahr.

12. JANUAR 2009

KAPITEL 1

Im Salon Cissi roch es schwach nach fauligen Eiern.

»Die Frisur steht Ihnen fantastisch! Sie betont Ihre Augen, Sie wirken viel jünger damit und strahlen richtig.«

Die Frau in den mittleren Jahren lächelte glücklich und ging zur Kasse.

»Wenn Sie noch ein Shampoo möchten, das die Haare schützt und die Farbe lange bewahrt, kann ich Ihnen diese beiden hier empfehlen«, sagte Cissi und stellte zwei Plastikflaschen auf den Tresen.

Die Kundin drehte und wendete die Shampoos in der Hand, während Cissi noch zwei weitere Produkte hervorholte und danebenstellte.

Typisch Frau, alles erst einmal hin und her zu drehen und genau zu betrachten, dachte ich.

»Wenn Sie eine gute Spülung brauchen, dann ist das genau das Richtige für Sie.«

Schließlich kaufte die Kundin alle vier Flaschen plus drei weitere Haarpflegeprodukte, bevor sie endlich ihre Jacke anzog, sich zufrieden im Spiegel betrachtete, die Kapuze über den Kopf zog und sich verabschiedete. Cissi sah ihr nach, während sie routiniert die Haarsträhnen auf dem Boden zusammenkehrte und mir gleichzeitig mit einem Nicken bedeutete, auf dem Friseurstuhl Platz zu nehmen.

»Wieder so eine Wechseljahrsgeplagte, die garantiert zurückkommt«, bemerkte sie lächelnd und blickte durch das Fenster zu der Frau, die mittlerweile auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig stand. Trotz des beißenden Windes und des peitschenden Regens lag das glückliche Lächeln immer noch auf ihren Lippen.

»Henna überdeckt die grauen Haare, und der ausrasierte Nacken ist gegen die Hitzewallungen. Klappt immer. Alle Frauen in den Wechseljahren sind ganz verrückt nach dieser Frisur. Schau nur, wie glücklich sie aussieht«, fuhr Cissi fort und winkte der Frau fröhlich zu.

Ich lachte leise und ließ mir von Cissi den Friseurkittel umlegen. Schloss die Augen für einige Sekunden und fühlte mich wie eine Puppe in einem Kokon. Nach vielen Besuchen im Salon hatten wir ein recht vertrautes Verhältnis. Ich erzählte ihr Geschichten über meine jüngeren, hoffnungslos durchschnittlichen und überforderten Arbeitskollegen, und sie lästerte über ihre Kundinnen. Doch unser Verhältnis war alles andere als unkompliziert. Der wunde Punkt war Mia, die wie ich immer noch Kundin bei Cissi war.

»Mia und Max fahren in ein paar Wochen nach Thailand, habe ich gehört«, sagte Cissi.

Mia und Max, das klang wie zwei Comicfiguren aus den Dreißigerjahren.

»Ja, sie hat so etwas erwähnt, als wir das letzte Mal miteinander sprachen.«

»Ach, wie herrlich, dieses Mistwetter hier hinter sich lassen zu können. Wie ich diese Jahreszeit hasse!«

»Ja, es ist nicht gerade schön zurzeit.«

»Die Kinder fahren auch mit, habe ich gehört.«

»Na ja, Kinder, sie sind schon fast erwachsen.«

Cissi kicherte und ließ die Schere ein paarmal in der Luft klappern, bevor sie sich wieder meinen Haaren widmete.

»Sie werden in einem richtigen Luxushotel wohnen, habe ich gehört.«

Wenn sie noch einmal »habe ich gehört« sagt, schnappe ich mir die Schere und schneide ihr die Ohren ab, damit sie nie wieder etwas hören kann, fuhr es mir plötzlich durch den Kopf.

Cissi wechselte das Thema – ein weiteres ihrer vielfältigen Talente. Sie wusste genau, wann es genug mit dem Thema Mia war. Die restliche Zeit unterhielten wir uns über andere Dinge. Unterdessen war eine Frau Mitte dreißig in den Salon gekommen, hatte Cissi knapp begrüßt und sich auf das weiße Sofa gesetzt. Ich warf ihr im Spiegel ab und an einen Blick zu. Sie war sehr hübsch, mit langen roten Locken. Echtes Rot, kein Henna.

Nachdem Cissi mit mir fertig war, versuchte sie mir eine Dose Gel für den richtigen Wetlook zu verkaufen. Freundlich, aber bestimmt lehnte ich ab.

»Wir sehen uns dann in zwei Monaten?«, fragte sie.

»Aber natürlich«, antwortete ich und tätschelte ihr leicht den Arm.

Vor dem Salon blickte ich noch einmal durch das Fenster. Die hübsche Frau saß mittlerweile auf dem Friseurstuhl, während Cissi meine abgeschnittenen Haare zusammenfegte. Sie winkte mir fröhlich zu, ihre Lippen bewegten sich. Offensichtlich sagte sie etwas zu der neuen Kundin. Ich wusste, dass sie über mich redeten. Natürlich hörte ich ihre giftige Stimme nicht durch das Fenster, doch ich konnte mir ihre Worte bestens vorstellen:

»Das ist so typisch. Mitte fünfzig und Bauchansatz, aber hält sich für unglaublich cool. Halblange Haare, das zieht immer bei diesen Typen. Verdeckt den ersten Glatzenansatz, und unter den langen Haaren im Nacken sieht man die Borsten nicht, die langsam den Rücken hinaufwuchern.«

So ungefähr wird sie es formuliert haben. Es beschlich mich das unangenehme Gefühl, dass mir etwas zu entgleiten drohte. Ein Gefühl, das durch den unerbittlichen Wind noch verstärkt wurde.

KAPITEL 2

Zum Glück gelang es mir, ein Taxi heranzuwinken, und ich richtete es mir auf dem Rücksitz behaglich ein. Als wir am Gustav Adolfs Torg vorbeifuhren, erhaschte ich einen Blick auf den Mann mit dem krummen Rücken, der selbst an diesem ungemütlichen Tag auf seinem Stammplatz am Anfang der Fußgängerzone stand. Auf seinen Rollator gestützt, mit einem T-Shirt bekleidet, auf dem mit Filzstift in schiefen Buchstaben geschrieben stand »Für eine bessere Behandlung von psychisch Kranken«, wirkte er wie ein Masochist aus dem Bilderbuch. Keiner der anderen Passanten, die sich bei diesem Wetter vor die Tür gequält hatten, nahm Notiz von ihm und den durchweichten Flugblättern in seiner ausgestreckten Hand.

Das Taxi brachte mich zum Restaurant Der kleine Italiener, ein einfaches Lokal, das in einem alten Fahrradkeller in einer Wohnsiedlung in Lorensborg untergebracht war, in gebührendem Abstand zu den stärker frequentierten Restaurants in der Innenstadt, wo das Risiko, Kollegen zu treffen, viel größer war. Der Wirt war tatsächlich ziemlich klein, allerdings kein Italiener, sondern ein serbischer Pizzabäcker namens Ljubomir, der seine Speisekarte um ein paar italienische Gerichte erweitert hatte. Das Essen war gut, wenn auch eher vom Balkan als italienisch; man schmeckte eigentlich überall einen Hauch Ajvar durch.

Ich bestellte Pasta mit Pesto, Saltimbocca, zwei kleine Gläser alkoholfreies Bier und zwei Espressi, so dass ich die Rechnung als Kundentermin einreichen konnte. Einmal im Monat gönnte ich mir ein ordentliches Gratismittagessen als inoffiziellen Bonus. Bisher hatte die Buchhaltung nie Probleme gemacht, und ich hatte auch kein schlechtes Gewissen deswegen. Die Restaurants, in die ich ging, waren verhältnismäßig günstig, und nach so vielen Jahren im Betrieb stand einem ein kleines Sahnehäubchen ja wohl zu.

Doch dieses Mal stellte sich nach dem Essen nicht das vertraute Wohlbehagen ein, sondern ein schweres Gefühl im Magen, das mich auch bei der Taxifahrt in die Firma und während der nächsten Stunden im Büro nicht losließ. Der Regen hatte zugenommen und rauschte nun trostlos und unerbittlich auf Malmö hinab.

Ich war der Älteste in der Firma und der Einzige, der von Anfang an, seit fünfundzwanzig Jahren, dabei war. Damals hießen wir noch Smart Publishing und machten alles, von Werbetexten über Interviews bis hin zu Reportagen für Hochglanz-Businessmagazine. Mittlerweile hatten wir uns in »Die Kommunikatoren« umbenannt und arbeiteten nahezu ausschließlich im Online-Bereich für verschiedene Unternehmen und kommunale Verwaltungen. Webseiten, Newsletter und Online-Firmenzeitungen. Ganz schön sexy, was? Doch das einzig Glamouröse an den Kommunikatoren war unsere Firmenadresse draußen im Västra Hamnen, dem alten Werft- und Industriegebiet am Meer, das zu Malmös Hotspot und Spielplatz für Architekten geworden war, mit dem sich in die Höhe schraubenden Wolkenkratzer Turning Torso des spanischen Stararchitekten Calatrava im Mittelpunkt.

Unsere Büroräume befanden sich in einem Gebäude neben dem spektakulären Hochhaus, im Erdgeschoss hinter großen getönten Fenstern, so dass vorbeigehende Menschen nur unsere Silhouetten erahnen konnten, wenn wir über Tastaturen und Laptops gebeugt an unseren Schreibtischen saßen.

Also alles andere als hip, doch der Job hatte einige nicht zu vernachlässigende Vorteile. Zum Beispiel war ich oft im Außeneinsatz bei Kunden, wodurch ich mir den Arbeitstag selbst einteilen konnte. Und selbst im Büro hatte ich als langjähriger Mitarbeiter gewisse unausgesprochene Privilegien, wie etwa längere Mittagspausen oder einen etwas früheren Feierabend.

Zumindest war das immer noch meine feste Überzeugung, als ich mich an diesem Januarnachmittag an meinem Schreibtisch niederließ und mit der rechten Hand durch die frischgeschnittenen Haare strich.

»Kannst dü mal kommen, Göran?«

Das war Kent Hallgren, mein Chef. Er kam aus dem nordwestlichsten Eck der Provinz Skåne, aus der Gegend von Ängelholm, und sein U klang immer wie ein Ü. Ja, ich weiß, auch das Schwedisch, das man hier in Malmö spricht, gewinnt nicht gerade einen Schönheitspreis, aber im Vergleich zu Kents schiefen Tönen ist es geradezu wohlklingend. Aber es war nicht nur sein Dialekt, der gegen ihn sprach, sondern auch, dass er durch und durch ein Zahlenmensch war, einer, der nur in Tabellen dachte. Ein Zahlenhengst ohne das geringste Gefühl für sprachliche Kommunikation – und das in einem Betrieb wie unserem. Er war außerdem der lebende Beweis dafür, dass selbst jemand, dem wirklich die elementarste Bildung fehlte, in der Medien- und Kommunikationsbranche ganz schön weit nach oben kommen konnte.

Dennoch dachte ich, dass er mir zumindest ein winziges bisschen Respekt entgegenbrachte, doch als ich seine Stimme in meinem Telefon schnarren hörte, lag darin nur ein deutlicher Befehlston. Ich ging die Wendeltreppe zu seinem Büro im ersten Stock hinauf.

»Setz dich, Göran.«

Während ich mich auf dem Besucherstuhl niederließ, schloss Kent die Bürotür. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

»Schnecke?«

Kent hielt mir einen Korb mit Zimtschnecken entgegen. Ich nahm eine, auch wenn ich immer noch satt vom Mittagessen war.

»Es gab Beschwerden, Göran.«

»Ach ja?«

Mein Pulsschlag beschleunigte sich, und ich umklammerte den Bewirtungsbeleg in der linken Sakkotasche mit feuchten Fingern. Kent musterte mich ausdruckslos, bevor er sich leicht räusperte und fortfuhr.

»Der Abteilungsleiter des Straßenbauamts ist mit der Webseite, die du entworfen hast, nicht zufrieden. Sie hat zu viele Bugs und Probleme mit den Verlinkungen. Vierunddreißig, um genau zu sein. Das ist ein neuer Rekord.«

Ich atmete tief ein und sah ihm so fest wie möglich in die Augen.

»Aber das sind doch nur ein paar kleine technische Fehler, die Daniel oder Gisela korrigieren können. Ich habe hart an den Texten gearbeitet, und über die gab es ja wohl keine Klagen?«

Ich versuchte angemessen indigniert zu klingen.

»Die Sprache, Kent, die Sprache sollte ja wohl bei unserer Arbeit hier das Wichtigste sein, oder?«

Kent nestelte zuerst an seinem Krawattenknoten, dann an seinem Brillengestell. Sein jungenhaftes Gesicht hatte einen leicht nervösen Ausdruck. Doch seine Stimme jagte mir Angst ein. Sie klang immer noch nachdrücklich und bestimmt, ohne das leiseste Zittern darin.

»So geht es nicht weiter, Göran. Wir können nicht Daniel und Gisela jedes Mal hinter dir aufräumen lassen, wenn du etwas übersiehst. Sie haben genug mit ihren eigenen Projekten zu tun.«

»So viele Fehler habe ich gar nicht gemacht.«

»Doch, das hast du. Im letzten Jahr mussten wir bei jeder externen technischen Lösung, an der du beteiligt warst, nacharbeiten. Sieh es ein, Göran, die Zeit hat dich überholt. Die Dienste, die wir unseren Kunden heutzutage anbieten, haben nicht mehr viel mit dem zu tun, was du vor zwanzig Jahren gemacht hast.«

Ich war sprachlos. Nach fünfundzwanzig Jahren Firmenzugehörigkeit wurde ich in nur zwei Minuten in Schutt und Asche gelegt. Von einem Nichtskönner mit seltsamem Akzent. Von einem kleinen Lackaffen in Nadelstreifenhosen und Wollpullover. Und er war noch nicht fertig.

»Da wäre noch etwas, Göran. Du hast dich Gisela gegenüber nicht korrekt verhalten.«

»Wie bitte?«

»Sie findet, dass du sie ausgenutzt hast. Das nehmen wir sehr ernst.«

Ein kafkaeskes Gefühl überkam mich. Gisela war eine der drei weiblichen Angestellten der Firma, außerdem die jüngste und hübscheste. Sie hatte ziemlich große Brüste, die sie einem auch gern entgegenhielt, wenn man mit ihr sprach. Zugegeben, vielleicht hatte ich meinen Blick ein paar Mal ein paar Sekunden zu lang in ihrem Ausschnitt ruhen lassen. Vielleicht gab es in den Anti-Diskriminierungs-Vorgaben der Firma einen Passus, der das verbot.

»Und wie soll ich Gisela ausgenutzt haben?«, fragte ich geduldig.

»Du hast ihr Unmengen an Routinearbeiten überlassen und dir selbst die prestigeträchtigen Sachen unter den Nagel gerissen. Dir also die Rosinen herausgepickt. Damit hast du ihr die Chance genommen, sich mit ihrer Arbeit zu profilieren.«

Es klang, als läse er alles aus einem Manuskript ab, und vielleicht tat er das auch, denn sein Blick wanderte immer wieder zu seinem Monitor. Dennoch war ich erleichtert, dass man mir keine sexuelle Belästigung vorwarf. Hätte ich hier nicht gerade bei meiner eigenen Hinrichtung gesessen, hätte ich Kent etwas zu den »prestigeträchtigen Sachen« erzählt.

»Ich habe sie um Hilfe bei gewissen technischen Fragen gebeten, und ich habe die Firma vor der Peinlichkeit bewahrt, eine Mitarbeiterin mit Dyslexie Pressemitteilungen schreiben zu lassen«, schoss ich in einem verzweifelten Angriff-ist-die-beste-Verteidigung-Versuch zurück, in der Hoffnung, das kenternde Boot wieder aufzurichten.

»Gisela hat keine Dyks… Dykselexie.«

»Und du kannst das beurteilen?«

Kent ignorierte meinen Einwurf und nahm ein Blatt Papier zur Hand, das er etwa dreißig Sekunden lang eingehend studierte. Es fühlte sich wie dreißig Minuten an.

»Da wäre aber noch etwas, Göran. Siebenundvierzig Prozent der Zeit, die du hier im Büro verbringst, surfst du im Internet.«

Erst dachte ich, dass er einen Witz machte, doch es war ihm bitterernst.

»Willst du damit sagen, dass ihr Zeit und Arbeitskraft verschwendet, um das Internetverhalten eurer Angestellten zu überwachen? Um dann alles in Ziffern und Prozenten vorliegen zu haben?«

»Ja, wenn der Anlass gerechtfertigt ist.«

»Entschuldige, aber ich dachte in meiner Naivität, dass wir uns hier mit Kommunikation im Online-Bereich beschäftigen. Dass das Internet also ein unerlässlicher Teil unserer Arbeit ist.«

Kent schob sich die Brille auf die Nasenspitze und sah mir starr in die Augen. Es wirkte wie eine einstudierte Pose, die er sicher auf irgendeinem Führungskräfteseminar gelernt hatte.

»Das kommt darauf an, wo im Internet man sich herumtreibt.«

»Ich war nie auf einer Pornoseite, niemals!«

Wenn man sich so reflexartig und heftig gegen etwas verteidigt, dessen man noch gar nicht angeklagt wurde, ist das normalerweise ein Zeichen von Schuld. Doch in diesem Punkt war ich tatsächlich unschuldig. Ich würde niemals im Büro Pornoseiten aufrufen und konnte auch nicht verstehen, wie andere das tun konnten.

»Reg dich nicht auf, Göran. Ich sage ja gar nicht, dass du Pornoseiten angeklickt hast. Doch du interessierst dich etwas zu sehr für eine Seite namens Himmelreich. Wenn du im Netz bist, dann bist du einundsechzig Prozent der Zeit auf dieser Seite.«

»Aber da geht es um Fußball«, entgegnete ich leise.

»Ja, das verstehe ich. Um den Malmö FF. Soweit ich weiß, gehört der Club nicht zu unseren Kunden. Und doch hast du im letzten halben Jahr durchschnittlich jeden Tag zwei Stunden und dreiunddreißig Minuten deiner Arbeitszeit hier im Büro im Forum von Himmelreich verbracht. Das ist doch etwas seltsam.«

In der Sekunde, in der Kent »seltsam« sagte, erkannte ich, dass es vorbei war. Schließlich hatte er recht, der Idiot. Es war seltsam, schon fast an der Grenze zu besessen, pervers, dass ein zweiundfünfzigjähriger Mann mit einem Universitätsabschluss in Literatur- und Politikwissenschaft, mit fünfundzwanzig Jahren Berufserfahrung als Texter und Journalist, mit einer Vergangenheit als gar nicht mal übler Schlagzeuger, mit einem schwarzen Poloshirt unter einem abgewetzten Cordsamtjackett ein Drittel seiner Arbeitszeit darauf verschwendete, zu lesen, was ein paar Arbeitslose, Arbeitsscheue und sonstige Fußballfanatiker über das örtliche Fußballteam schrieben. Und das drei Monate, bevor in der Allsvenskan, der schwedischen Liga, die neue Saison überhaupt wieder begonnen hatte.

»Bist du Fan von HIF?«, fragte ich mit hohler Stimme.

Zum ersten Mal in unserem Gespräch sah Kent verwundert aus. Dann lächelte er doch tatsächlich kaum merkbar.

»Nein, nein, Fußball ist nicht meins, und Helsingborg auch nicht meine Stadt. Ich komme aus Ängelholm, da interessieren wir uns für Eishockey. Rögle ist meine Mannschaft.«

Ich hätte wissen müssen, dass Kent ein Eishockeymensch war. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Fußball- und Eishockeymenschen. Fußballfans sind erdverbunden, in der Kultur verankert. Eishockeyfans rutschen auf der Oberfläche herum wie entwurzelte, verirrte Seelen. Das war eine unumstößliche Wahrheit, auch wenn es mir in diesem Moment nicht möglich war, sie zu verteidigen.

Nachdem Kent den letzten Tropfen Blut aus mir herausgepresst hatte, wurde er sofort freundlicher. Auch das hatte er sicher auf einem Führungskräfteseminar gelernt. Er machte mir ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte. Ein Jahresgehalt als Abfindung. Gutes Zeugnis. Die Zusicherung, zwei Freelance-Aufträge pro Jahr für zwei Jahre (nur Schreibarbeiten) zu bekommen, sowie eine Pressemitteilung, dass die Kommunikatoren mit Bedauern bekannt geben müssen, ihr langjähriger Mitarbeiter Göran Borg würde die Firma auf eigenen Wunsch verlassen, um fortan als Freiberufler zu arbeiten.

Kent wollte sogar eine kleine Abschiedsfeier für mich organisieren, doch da spielte mein Stolz nicht mit. Allein schon der Gedanke, mit einem Glas in der Hand vor den Kollegen zu stehen und Gisela nicht in den Ausschnitt zu spähen, bereitete mir Magenschmerzen.

»Ich packe dann heute Abend meine Sachen, wenn alle gegangen sind«, sagte ich abschließend.

KAPITEL 3

Die ersten drei Tage meines neuen Lebens – nach den Kommunikatoren – verbrachte ich in einem fast schon vegetativen Zustand. Ich war zwar am Leben, zeigte aber kaum Zeichen menschlicher Intelligenz. Nabelflusen und Wollmäuse blühten und gedeihten in mir und um mich herum. Meine Wohnung am Davidhallstorg verließ ich nur für die zehn Minuten am Tag, in denen ich zum nächsten kleinen Supermarkt an der Ecke ging, um etwas einzukaufen.

Das kaugummikauende Mädchen an der Kasse sah mich mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu an, wenn ich die immer gleichen Sachen aufs Band legte. Außer einem tiefgefrorenen Mikrowellengericht, ein paar Dosen Cola, Brot, etwas Käse und Wurst kaufte ich meistens Eis. Ben & Jerry’s in verschiedenen Geschmacksrichtungen, von Caramel Chew Chew bis New York Super Fudge Chunk. Ein Urinstinkt in mir schrie nach Ben & Jerry’s, Feind Nummer eins der Weight Watchers, mit derselben zwanghaften Nachdrücklichkeit wie ein Kater im März nach willigen Katzen. Das war gar nicht gut. In einer Lebenskrise sollte man billigen Schnaps trinken und filterlose Zigaretten rauchen, aber kein dickmachendes Eis in sich hineinstopfen.

Alles in allem musste ich einen wirklich jämmerlichen Anblick geboten haben, wie ich da auf dem Sofa saß, das Eis mit dem Löffel direkt aus der Packung aß und mit leerem Blick auf den Flachbildfernseher starrte. Wie in einem dieser Bridget-Jones-Filme, mit dem kleinen Unterschied, dass ich keine einigermaßen junge Frau mit eingebildeten Gewichtsproblemen war, die schlechte Nachmittagssoaps anschaute (und die letztendlich sowieso ihren Prinzen finden würde), sondern ein Mann in mittleren Jahren mit einem definitiven Gewichtsproblem, der sich Wiederholungen von Bundesligaspielen auf Eurosport ansah (und der am Ende ganz sicher nicht seine Prinzessin finden würde).

Doch deutscher Fußball hatte etwas Robustes und Aufbauendes an sich, so dass ich am vierten Tag nach den Kommunikatoren vorsichtig über die Ereignisse nachzudenken begann. Kent hatte mir die rote Karte verpasst. Nicht wegen meiner hohen Taxirechnungen und der erschlichenen Mittagessen, die er mit keinem Wort erwähnt hatte, sondern weil »die Zeit mich überholt hatte«. Dieses Urteil war so vernichtend, dass ich es noch gar nicht richtig begreifen konnte. Stattdessen trieb ich mich auf der Webseite von Himmelreich herum.

Es war so unglaublich peinlich, dass ich aus reiner Langeweile meine Zeit in der Arbeit damit vergeudet hatte, schlecht geschriebene Statements darüber zu lesen, wen der Malmö FF für die nächste Saison verpflichten sollte. Was war ich doch für ein Loser. Keine Spur mehr von dem Mann, der einmal im Aftonbladet einen Artikel über die Ähnlichkeit zwischen argentinischem Tango und argentinischem Fußball veröffentlicht hatte, der als Teenager in Gelsenkirchen Bosse Larsson dabei zugesehen hatte, wie dieser im EM-Qualifikationsmatch gegen Österreich 1973 während des Schneesturms den legendären Elfmeter im Netz versenkte, und der ein langes Interview mit Zlatan Ibrahimovi´c für ein holländisches Hochglanz-Businessmagazin geführt hatte, noch vor seinem ersten Wechsel als Profi zu Ajax Amsterdam.

Vielleicht wäre es sogar besser gewesen, wenn man mir wegen Pornoseiten gekündigt hätte. Dann könnte ich jetzt wegen Sexsucht in Therapie gehen. Von einer Entzugsklinik, die sich Männern in den mittleren Jahren annahm, die süchtig nach Fußballblogs waren, hatte ich dagegen noch nie gehört.

Der vierte Tag nach den Kommunikatoren war ein Freitag. Das Handy klingelte, und nach einem Blick auf das Display entschloss ich mich widerwillig, den Anruf anzunehmen.

»Hallo Erik.«

»Göran! Warum antwortest du nicht?«

»Tue ich das nicht gerade?«

»Jetzt. Aber davor. Ich habe es jeden Tag bei dir versucht.« Seine sonst heitere Stimme klang anklagend.

»Tut mir leid, ich hatte einiges um die Ohren.«

»Was denn, wenn man fragen darf?«

»Das erzähle ich dir ein andermal.«

»Okay, heute Abend um acht im Bullen. Alle kommen, bis auf Sverre natürlich. Er behauptet, er hat Migräne, aber ich würde einen Hunderter wetten, dass ihn seine Alte am Herd festgekettet hat.«

»Du, ich bin mir aber nicht sicher, ob ich es schaffe. Ich fühle mich nicht ganz fit.«

»Dagegen hilft am besten ein Schlückchen. Jetzt komm schon! Es ist so lange her, seit wir alle zusammen waren. Bist du ein Mann oder eine Memme?«

Es war verlockend, »Memme« zu antworten, doch gleichzeitig war mir klar, dass ich mich früher oder später meiner Umwelt würde stellen müssen. Und das konnte ich genauso gut auf dem vertrauten Terrain meiner Stammkneipe, die in Stolperentfernung zu meiner Wohnung lag, machen wie irgendwo anders. Ich musste ja nicht gleich alle Einzelheiten erzählen.

»Okay, dann also um acht im Bullen.«

Erik Pettersson war mein bester Freund – oder zumindest derjenige, mit dem ich am meisten Zeit verbrachte. Wir waren seit dem Gymnasium befreundet. Damals gründeten wir die Rockband Twins, die immerhin eine Single herausbrachte, die sich über siebenhundert Mal verkaufte und sogar ab und zu im Lokalradio gespielt wurde. Doch eigentlich waren wir eine Live-Band und traten gerne in kleinen Clubs und auf privaten Feiern auf. Ich war der taktsichere Drummer, der im Hintergrund saß und sich die Seele aus dem Leib trommelte, während Erik den charismatischen Sänger mit der E-Gitarre gab, dem schon damals die Herzen aller Mädchen zuflogen.

So ging es auch nach der Schule weiter. Eriks Frauengeschichten waren so vielfältig wie legendär. Einmal war er sogar mit einem türkischen Supermodel verheiratet, doch die Ehe hielt nur drei Wochen. Umso mehr Freundinnen gab es: eine bekannte schwedische Schauspielerin, eine russische Primaballerina, eine vom Satanismus angehauchte Dichterin aus Årjäng, eine dänische Unternehmenschefin, eine Ärztin und Mutter von vier Kindern aus Lund sowie unzählige weitere spannende und schöne Frauen. Kinder hatte er keine gezeugt, jedoch viele Herzen gebrochen. Eines davon gehörte Mia, meiner Ex-Frau.

Mia Murén ging in unsere Parallelklasse, und ich hatte schon früh ein Auge auf sie geworfen. Sie war nicht schön auf diese oberflächliche, aufgeblasene Art, die Jungs in diesem Alter normalerweise gefällt. Sie hatte eine markante Nase, fast schon groß, und ihr rechtes Auge schielte ein ganz klein wenig. Für mich waren das jedoch nur charmante kleine Fehler, die ihrem Aussehen Charakter verliehen und ihren schlanken, aber kurvigen Körper, ihr etwas wehmütiges Lächeln und ihr unwiderstehlich langes, dickes, kastanienbraunes Haar, das ihr offen über den Rücken hing, komplettierten. Von der Bühne schickte ich ihr Trommelwirbel und vielsagende Blicke, versorgte sie in den Pausen mit Bier und lud sie schließlich backstage ein, wie ein richtiger Rockstar. An diesem Abend ging sie mit Erik nach Hause.

Ich weinte Sturzbäche in meiner Einsamkeit. Drei Monate waren sie ein Paar, bis er eine Woche vor dem Abitur Schluss machte.

Mia weinte Sturzbäche in aller Öffentlichkeit.

Ich versuchte unbeholfen, sie zu trösten und gleichzeitig meine Freude darüber zu verbergen, dass sie wieder frei war. Doch auch damals geschah noch nichts zwischen mir und Mia Murén. Nach dem Sommer ging sie für ein Jahr als Au-Pair nach Paris, bevor sie nach Stockholm zog und eine Ausbildung zur Krankengymnastin machte.

Erst sechs Jahre später kreuzten sich unsere Wege wieder auf einem Fest von Bekannten in Malmö, auf dem zufällig auch Erik war. Zu dem Zeitpunkt hatte er allerdings alle Hände voll zu tun mit einer portugiesischen Fado-Sängerin. An diesem Abend gingen Mia und ich zusammen nach Hause in meine kleine Junggesellenbude, die nur einen Steinwurf entfernt von meiner jetzigen, bedeutend größeren Junggesellenwohnung lag. Ein halbes Jahr später heirateten wir, und nach einem weiteren Jahr wohnten wir in einem Reihenhaus in einer Wohnsiedlung am Rand von Malmö, hatten ein Auto, einen Hund und nach kurzer Zeit auch Kinder. Erik war übrigens Trauzeuge bei unserer Hochzeit. Noch heute verbreitet er die nicht ganz der Wahrheit entsprechende Geschichte, dass er uns zusammengebracht hat.

KAPITEL 4

Kurz nach acht Uhr abends kehrte ich meiner Wohnung und den TV-Wiederholungen der Bundesligaspiele den Rücken, frisch geduscht und rasiert, in einen dicken, schwarzen Wollpullover mit Rippenmuster und in mein obligatorisches Cordsamtjackett gehüllt. Der starke Regen hatte sich gelegt, doch die Luft war immer noch feuchtkalt.

Ich atmete tief ein und stellte fest, dass sich die Sterne und Planeten immer noch um dieses Viertel rund um den Davidhallstorg drehten, mein eigenes, kleines Universum.

Hier lag alles, was meine schönsten und meine bittersten Erinnerungen am Leben erhielt, nah beieinander: die Petri-Schule auf der anderen Seite vom Fersensväg, wo ich Mia das erste Mal gesehen hatte, die Einzimmerwohnung mit Kochnische über der stinkenden Pizzeria in der Dahlbergsgatan, wo Mia und ich das erste Mal miteinander geschlafen hatten, sowie das Sushi-Restaurant Hai am Marktplatz, wo ich Mia das erste Mal zusammen mit Max gesehen hatte – sie hielten sich über den Tisch hinweg an den Händen, an einem hellen und milden Sommerabend. Der Sushiladen war übrigens nur wenige Häuser von dem Geschäft entfernt, das früher einmal die Systembolaget-Filiale – das staatliche Alkoholgeschäft – beherbergt hatte, vor der Erik und ich als Jugendliche die Alkoholiker überredeten, uns Explorer-Wodka zu besorgen. Wiederum ein paar Meter weiter war das Zoltans, eine richtige Absturzkneipe, in der man für wenig Geld eine offene Flasche essigsauren Weines bekommen konnte, den sie dort »Künstlerwein« nannten und der – das war ein offenes Geheimnis – aus den zusammengekippten Resten des vorhergehenden Abends bestand. Ganz in der Nähe davon lag schließlich der Bullen, eine von Malmös ältesten Kneipen, die eigentlich Två Krögare hieß und so etwas wie meine zweite Heimat war.

Hier war es ein bisschen wie im Salon Cissi. Es sah immer noch aus wie in den Siebzigern: dunkle Barocktapeten, rustikale Holztische, ein majestätischer Zapfhahn, der über der Bar thronte, und eine zerstochene Dartscheibe mit dem Bull’s Eye in der Mitte, dem die Kneipe ihren inoffiziellen Namen verdankte.

Die Hälfte der Gäste im Schankraum waren auch noch dieselben wie damals, nur eben knapp dreißig Jahre älter. Bis auf Sverre saßen alle aus unserer Clique an unserem Stammtisch, als ich durch die Tür trat und dabei versuchte, so normal wie möglich auszusehen.

»Lange nicht gesehen«, sagte Rogge Gudmundsson, früherer Kommunist und Bassist bei den Twins, der nach seinem Abschied von Marx ein Vermögen als erfolgreicher Börsenanalytiker und Investor angehäuft hatte. Das sah man ihm auch an. Das Palästinensertuch hatte er schon vor langer Zeit entsorgt und gegen maßgeschneiderte Hemden mit Monogramm und eine monströse Rolex am linken Handgelenk getauscht. Außerdem baumelten an seinen Schuhen kleine Lederfransen.

»Hallo, Rogge, alles klar?«

Er nickte und machte mir Platz. Auf dem Tisch standen zwei Weinflaschen. Erik füllte ein Glas bis zum Rand und schob es mir hin.

Ich nahm einen großen Schluck und wechselte ein paar Worte mit Bror Landin, Eriks altem Wehrdienstkumpel, der seine journalistische Karriere als Urlaubsvertretung in der Lokalredaktion des Skånska Dagbladet in Svedala begonnen hatte, danach jedoch recht bald auf selbstständiger Theaterrezensent umgesattelt hatte, was er auch jetzt noch betrieb.

Bisher hatte ich noch keine Rezension von ihm gelesen, die keinen Einwand enthielt. Einmal hatte er es sogar geschafft, eine Aufführung eines Lars-Norén-Stücks am Staatstheater Malmö als das beste schwedische Theaterstück des Jahrzehnts hochzuloben, um dann über ein paar minimale Fehler im Programmheft herzufallen. Niemals vollkommen zufrieden sein zu können, war charakteristisch für ihn.

»Der Wein ist gut, Erik, aber er hat zu viel Tannin«, sagte er gerade.

»Und du bist ein übellauniger alter Sack, da passt das doch perfekt«, grölte Erik.

Alle bis auf Bror lachten. So war es meistens. Auch Richard Zetterström lachte schallend. Mit seinen achtundvierzig Jahren war er das jüngste Mitglied unserer ergrauenden Herrenriege. Richard war früher als knallharter und sehr vielversprechender Mittelverteidiger bekannt gewesen. Wir hatten zusammen bei Limhamns IF gespielt, einem örtlichen Fußballverein, der es seit Jahrzehnten nicht über die Kreisliga hinaus schaffte. Ich saß meistens auf der Reservebank, während Richard früh durch sein aufopferungsvolles Spiel der Star der Mannschaft wurde. Die Talentscouts des Malmö FF waren schon an ihm dran, als ein zerfetztes Knie seiner Karriere mit einundzwanzig ein frühzeitiges Ende bereitete. Doch in meinem fußballverrückten Herzen hatte er dafür einen ganz besonderen Platz.

Da Richard nach seiner Verletzung nicht weniger aß als zuvor, wurde er rasch ein wenig rundlich. Und schließlich dick. Er ist der einzige mir bekannte Mensch, der dank seines Gewichts Karriere gemacht hat. Richard schrieb für verschiedene Wochenmagazine äußerst beliebte Kolumnen, die stets um zwei Themen kreisten: seine Liebe zum Essen und seinen Hass auf Sport und Diäten.

Ein weiteres Mitglied unserer Runde war Mogens Gravelund, seines Zeichens kettenrauchender Galerist, der ursprünglich aus Dänemark kam und von dem man oft nur eine Rauchwolke sah. Wenn er nicht fröstelnd auf dem Gehsteig vor dem Bullen stand und seine selbstgedrehten Zigaretten qualmte, lag er uns mit seinem Raucherhusten in den Ohren oder auch mit seinen Ausführungen über das kommende Jazz-Festival in Kopenhagen, das er über alles liebte.

Als Einziger fehlte wie gesagt Sverre, Kulturreferent in Eslöv und der Mann, der uns vor dreizehn Jahren zusammengetrommelt und den Herrenclub gegründet hatte, selbst aber in den letzten drei Jahren zu keinem Treffen mehr erschienen war. Zufällig war das genau der Zeitraum, den er mit seiner neuen Frau verheiratet war.

Aber niemand vermisste ihn wirklich. Der heimliche Anführer der Gruppe war sowieso Erik, um den alles kreiste. Manchmal lästerten wir über ihn, wenn er noch nicht da war, ließen uns darüber aus, was für ein Gefühlskrüppel er doch war, dem keine längere Beziehung zu einer Frau gelingen wollte, oder über seine Faulheit, weil er nie einen vernünftigen Beruf ergriffen hatte. Wie ein orientierungsloser Jungspund arbeitete er mal als Aushilfsmusiklehrer, mal als Reiseleiter. Und im Gegensatz zu uns anderen scherte er sich herzlich wenig um aktuelle Kulturdebatten oder vieldiskutierte Bücher.

Doch im Grunde waren wir alle nur neidisch auf ihn. Alle wollten wir wenigstens ab und zu so charmant, mutig und unbekümmert sein wie Erik Pettersson. Für einen Mann über fünfzig sah er zudem unglaublich jugendlich und gut aus. Sein Haar war immer noch dicht, blond und lockig, ohne eine graue Strähne, und der lange, drahtige Körper erinnerte an den jungen Mick Jagger. Es war, als ob er die Gesetze des Alterns einfach ignorierte.

Nach ein paar ordentlichen Schlucken Wein fühlte ich mich etwas entspannter in der Gesellschaft meiner Freunde. Noch hatte ich ihnen nicht gesagt, dass ich bei den Kommunikatoren aufgehört hatte, und wollte das Thema eigentlich auch weiterhin vermeiden, als mich Richard plötzlich aus heiterem Himmel laut fragte, wie es denn in der Arbeit so liefe. Als ich nicht antwortete, bohrte er nach: »Ist diese arrogante Rotznase aus Ängelholm immer noch dein Chef?«

Wie auf ein geheimes Zeichen hin verstummten alle Gespräche am Tisch, und jeder fixierte mich. Ich spürte, wie sich mir der Hals zuschnürte.

»Ja, er ist immer noch da. Aber ich habe aufgehört.«

»Hat man dich rausgeschmissen?«

Dieser Kommentar kam von Erik.

»Nein, hat man nicht. Ich habe gekündigt.«

»Wann?«

»Vor ein paar Tagen.«

Die unbehagliche Stille nahm zu. Ich konnte meinen eigenen Herzschlag hören, fühlte, wie die Panik größer wurde, als mich Rogge rettete.

»Das war aber auch höchste Zeit, Göran! Ich habe ja nie verstanden, warum du so lange bei dem Laden geblieben bist. Aber ganz ehrlich, ich hätte nicht gedacht, dass du den Mut zur Kündigung haben würdest.«

»Ja, ich hatte das Gefühl, dass es jetzt endlich an der Zeit war. Man wird ja nicht jünger, und wenn man noch etwas anderes im Leben machen möchte, dann sollte man es jetzt tun«, erwiderte ich, wieder etwas selbstsicherer durch Rogges Unterstützung.

»Und was willst du jetzt machen?«, fragte Bror mit misstrauisch gerunzelter Stirn.

»Ich werde wieder mehr für Zeitungen und Zeitschriften schreiben. Das liegt mir ja sowieso am meisten am Herzen.«

»Der Markt für Freelancer ist zurzeit hart umkämpft, lass dir das gesagt sein«, erwiderte er.

»Ich habe schon einige Aufträge.«

Erik betrachtete mich mit einem spöttischen Lächeln. Ich erkannte, dass er erkannte, dass ich log. Aber er hatte immerhin den Anstand, mich nicht auffliegen zu lassen.

»Dann müssen wir wohl noch eine Flasche Wein bestellen und feiern, dass Göran endlich den Absprung aus der Jobmühle geschafft hat und nun ein freier Mensch ist«, sagte er stattdessen. »Prost, Kumpel!«

Alle erhoben ihr Glas, und wir prosteten uns zu. Ich hatte meinen Freunden, ohne mit der Wimper zu zucken, ins Gesicht gelogen, schämte mich jedoch keinen Moment dafür. Ich war einfach nur froh, so glimpflich davongekommen zu sein.

Es wurde ein ungewöhnlich feuchtfröhlicher Abend. Rogge begann wie üblich ab einem gewissen Alkoholpegel, Lieder der legendären Rock-Band Nationalteatern zu singen, und Richard beharrte zum Leidwesen der Bedienung darauf, Pyttipanna zu bestellen, obwohl die Küche schon geschlossen hatte. Zum Schluss waren nur noch Erik und ich übrig, vor uns Gläser mit abgestandenem Bier und Weinresten. Für einen kurzen Moment überlegte ich, in guter alter Zoltans-Tradition mir einen Künstlerwein zu genehmigen, doch ich war schon gut bedient und beschloss, nach Hause zu gehen.

»Also, so langsam werde ich dann mal aufbrechen«, sagte ich unsicher zu Erik und erhob mich nicht ganz standfest.

Er zog mich zurück auf meinen Stuhl.

»Wie viel hast du bekommen?«

Ich sah ihn verständnislos an.

»Was meinst du?«

»Komm schon, Göran! Du bist das schlimmste Gewohnheitstier, das ich kenne. Du trägst schon seit Jahrzehnten dieselben Kleider und dieselbe Frisur. Du wohnst im selben Stadtviertel wie früher, und du denkst immer noch an dieselbe Frau, auch wenn sie schon lange nicht mehr deine ist. Du hattest fünfundzwanzig Jahre denselben Job und hast nie auch nur anklingen lassen, dass du gern etwas anderes machen würdest. Es kann gar nicht sein, dass du gekündigt hast. Wie viel haben sie dir gezahlt, damit sie dich loswerden?«

»Ein Jahresgehalt.«

Ich sank in mich zusammen und schlug die Augen nieder. Erik legte mir die Hand auf die Schulter.

»Und was willst du jetzt machen?«

»Weiß nicht.«

»Du hast dich also daheim eingeigelt. Bist du deshalb nicht ans Telefon gegangen?«

Ich nickte. Erik legte mir den Arm um die Schultern, auf die Art, wenn wir Männer richtig betrunken sind oder nicht wissen, was wir sagen sollen. Nach ein paar Minuten brach er das Schweigen.

»Ich weiß genau, was du jetzt brauchst.«

»Was denn?«

»Du musst mal aus diesem engen Scheißloch heraus. Komm mit auf meine nächste Tour. Im Bus ist genügend Platz, und wir können uns ein Hotelzimmer teilen. Du musst nur das Flugticket bezahlen. Es geht erst in drei Wochen los, du hast also noch genügend Zeit, um dich vorzubereiten.«

Mit einem Mal war ich stocknüchtern.

»Verreisen? Nein, ich glaube, ich muss hier und jetzt meine Probleme angehen. Ich kann nicht vor ihnen davonlaufen.«

Erik seufzte vernehmlich und schüttelte den Kopf.

»Das mag ja gut klingen, aber ich weiß, dass du das nur sagst, weil du ein verdammter Feigling bist. Zum Teufel, Göran! Du könntest ja wenigstens fragen, wohin es gehen soll.«

»Das werde ich ganz sicher nicht«, erwiderte ich bestimmt.

»Okay, dann bekommst du einen Tipp. Nein, genauer gesagt, drei – Cricket, Curry und Korruption.«

»Indien? Nur über meine Leiche!«

KAPITEL 5

Eines der peinlichsten Ereignisse in meinem Leben geschah, als ich neunzehn Jahre alt war. Auch wenn ich eigentlich keinen Stammplatz im Team von Limhamns IF hatte, durfte ich nach einigen Absagen in letzter Minute ins Trainingslager nach Budapest mitfahren. Das war noch zu Zeiten des Kommunismus, als die wenigen Touristen, die sich hinter den Eisernen Vorhang verirrten, wegen ihrer begehrten Westwährungen wie Könige behandelt wurden.

Wenn wir nicht auf einem heruntergekommenen Fußballplatz am Stadtrand trainierten, wohnten wir schick in einem feudalen Hotel in der Innenstadt und konnten uns eigentlich alles leisten, was wir wollten. Nicht, dass das Angebot so umfassend gewesen wäre, doch Alkohol gab es reichlich, und schon am zweiten Abend versammelten sich die meisten von uns im Zimmer zweier älterer Spieler, um ein bisschen vor dem Abendessen vorzuglühen. Die Whisky- und Wodkaflaschen kreisten, und ich trank in einer Geschwindigkeit, die ich so nicht gewohnt war. Meine übliche Zungenlähmung verschwand, und ich legte sogar noch an Tempo zu. Als der routinierte Mannschaftskapitän ein Wetttrinken vorschlug, war ich der Einzige, der die Herausforderung annahm.

An das, was danach geschah, kann ich mich bis heute nicht mehr erinnern. Als man mich weckte, starrte ich in Richards beunruhigtes Gesicht hinauf. Ich hatte gekotzt, mir in die Hosen gepinkelt und sogar geschissen. Doch das war gar nicht mal das Schlimmste. Während meines Filmrisses hatte ich unten im Restaurant Koteletts wie Frisbees unter den Kristallkronleuchtern geworfen, in den Armen einer Prostituierten geheult, war nackt über den Hotelflur gehüpft, hatte zwei Fahrstuhlpagen die Mützen geklaut und war nur knapp einer Verhaftung durch die ruppige ungarische Polizei entgangen. All das erzählten mir meine Mannschaftskameraden in allen schmerzlichen Einzelheiten, die ich nicht einmal infrage stellen konnte, weil ich mich ja an nichts erinnerte.

Der darauf folgende Kater dauerte zwei Tage, an denen ich nicht am Training teilnehmen konnte. Doch ich hätte den Betonschädel liebend gern eine ganze Woche in Kauf genommen, wenn mir dafür die ständigen Sticheleien für den Rest des Aufenthalts und in der Zeit danach im Umkleideraum unter den undichten Holztribünen des Limhamner Sportplatzes erspart geblieben wären.

Seit diesem Erlebnis waren Reisen bei mir immer mit Peinlichkeiten verbunden. Wenn ich nur das Wort Budapest hörte, errötete ich. Es wäre natürlich sehr viel logischer gewesen, einfach mit dem Trinken aufzuhören, aber dieses Opfer ging mir dann doch zu weit.

Nein, stattdessen wurden Auslandsreisen zu einem roten Tuch für mich. In der Arbeit war ich zwar gezwungen, die eine oder andere Reise innerhalb Europas zu unternehmen, gerade als die Firma im Aufschwung war, doch im Privatleben blieb ich am liebsten daheim. Als die Kinder noch klein waren, fuhren wir in den Ferien höchstens mal ins Legoland. Die einzige richtige Auslandsreise, die ich mit Mia unternahm, war ein verlängertes Wochenende in Barcelona. Ein Jahr, zwei Monate und drei Tage vor unserer Scheidung.

Und trotzdem stand ich jetzt hier vor dem Spiegel im Flur, mit einem von den Impfungen schmerzenden Arm und einem Ticket Kopenhagen-Neu-Delhi inklusive Rückflug in der Hand.

Selbst da konnte ich mir noch nicht erklären, wie es so weit hatte kommen können. Aber vielleicht stimmte doch, was man sagte: Man erkennt erst dann neue Perspektiven, wenn man die letzte Verbindung zu seinem sicheren alten Leben gekappt hat. Möglicherweise war ich aber auch einfach nur komplett wahnsinnig.

Ich würde Erik nach Indien und auf eine einwöchige Busreise begleiten. Auf dem Programm stand »Die goldene Triangel« mit Aufenthalten in Neu-Delhi, Jaipur, Agra und in einem Tigerreservat in Rajasthan. Erik hatte schon mehrere dieser Reisen geleitet, doch jetzt war er bei einer neu gegründeten Reisegesellschaft unter Vertrag, mit dem gleichwohl vielversprechenden wie furchteinflößenden Namen Unglaubliches Indien!.

Hätte ich gewusst, dass die indische Botschaft in Stockholm nicht nur sechshundert Kronen haben wollte, sondern auch einfach alles über mich wissen wollte – von meiner Schuhgröße bis hin zu Name und Geburtsdatum meines verstorbenen Vaters –, um mir schließlich ein einfaches Touristenvisum auszustellen, hätte ich das Ganze vielleicht noch rechtzeitig abgesagt. Doch als der Ball im Spiel war, gab es kein Zurück mehr.

»Verdammt noch mal, Göran! Du unterziehst dich doch keiner Herztransplantation, sondern fährst mit mir, deinem besten Freund, in den Urlaub«, wie Erik es so treffend formulierte, als ich ihn eines Abends anrief und versuchte mich aus der Nummer herauszuwinden.

Nur noch ein Tag bis zum Abflug. Ich hatte meine Mutter angerufen und ihr von der bevorstehenden Reise erzählt. Sie meinte, es sei eine gute Idee, dass ich mir endlich einmal die Welt ein wenig ansähe. Dann entschuldigte sie sich, sie müsse zu ihrer Golfrunde. Richard hatte versprochen, sich während meiner Abwesenheit um die Post und die Blumen zu kümmern. Alles war also organisiert und fertig. Jetzt stand nur noch das Treffen mit meiner Tochter Linda aus, von der ich persönlich Abschied nehmen wollte. So schicksalshaft dachte ich wirklich, die Bilder blutdurstiger rajasthanischer Tiger vor Augen.

Wir hatten uns seit Weihnachten nicht gesehen, nur miteinander telefoniert, weshalb ich ein wenig nervös war, als es an der Tür läutete. Linda war ihrer Mutter sehr ähnlich, sowohl im Wesen als auch äußerlich. Doch sie hatte meine grünen Augen, und jedes Mal, wenn ich in diese blickte, war ich erleichtert, dass ich ihr diesen schönen Teil von mir vererbt hatte und nicht etwa meine kraftlose Körperhaltung.

»Du siehst müde aus, Papa«, sagte sie zur Begrüßung und umarmte mich.

Wir setzten uns auf die Couch im Wohnzimmer. Ich hatte Kaffee und Ben & Jerry’s bereitgestellt. Noch etwas, das meine Tochter mit mir teilte: die Leidenschaft für ungesundes amerikanisches Eis.

»Ich kann nicht glauben, dass du gekündigt hast. Und dass du nach Indien fährst! Ist das so eine Art verspätete Midlife-Crisis?«

»Vielleicht«, erwiderte ich verlegen lächelnd.

»Wie kam es?«

»Ich weiß es nicht genau, ich hatte einfach das Gefühl, dass ich lange genug bei den Kommunikatoren gewesen war. Es war an der Zeit für etwas Neues.«

»Ist es dafür nicht ein wenig spät?«

»Es ist nie zu spät, etwas Neues zu probieren«, sagte ich, und selbst mir fiel auf, wie falsch diese Worte aus meinem Mund klangen.

Linda musterte mich skeptisch, bevor sie sich über die Musik beschwerte, die aus den Bang & Olufsen-Lautsprechern dröhnte: »Old Habits Die Hard« von Mick Jagger.

»Hast du nur alte Musik?«

Ich legte eine neue CD ein. Timbuktu, schwedischer Rap und für meine Begriffe ziemlich angesagt.

»Also wirklich, Papa!«

»Was denn? Ich dachte, du wolltest etwas Junges hören.«

»Und dann legst du Timbuktu ein? Der spielt doch nur noch mit so Rentnern wie Mikael Wiehe, Nisse Hellberg und Peps Persson.«

Innerhalb von ein paar Sekunden hatte sie drei meiner Kulturikonen als hoffnungslose Ewiggestrige abgekanzelt und darüber hinaus den einzigen jüngeren Musiker aus der schwedischen Musikszene, der mir wirklich gefiel. Deutlicher hätte mir meine zwanzigjährige Tochter nicht sagen können, wie alt ich war.

Doch Linda hatte die Musik schon vergessen und widmete sich nun hingebungsvoll der Ben & Jerry’s-Packung. Sie lehnte sich gegen den Sofarücken und leckte genießerisch den Löffel ab.

»Das ist doch wie Drogen, oder?«

»Was denn?«

»Das Eis. Es schmeckt so unglaublich gut! Wenn man nicht so dick davon werden würde, würde ich mindestens eine Packung davon am Tag essen.«

»Du bist nicht dick, Linda.«

»Das weiß ich. Aber du wirst es langsam, Papa.«

»Vielen Dank auch.«

»Bitte sehr.«

»Wie läuft es an der Uni?«

»Ich werde aufhören.«

»Warum?«

»Ich will im Herbst reisen, und dafür muss ich Geld verdienen.«

»Aber das ist schade, du hast doch einen Platz in einem so guten Kurs bekommen.«

Linda setzte sich auf und streckte sich nach ihrer Tasse. Sie nippte an dem heißen Kaffee und lächelte schief.

»Du weißt ja noch nicht einmal, was ich studiere.«

»Das weiß ich sehr wohl.«

»Und – was studiere ich?«

»Kunstgeschichte.«

»Philosophie.«

»Ja, genau, ich habe mich nur falsch ausgedrückt.«

»Nein, hast du nicht. Du hast einfach nur keine Ahnung, was deine Kinder so machen. Wann hast du das letzte Mal mit John gesprochen?«

»Das ist gar nicht so lange her.«

»Okay. Wie heißt seine Freundin?«

»Ist das ein Verhör? Sie heißt Amanda.«

»Sie hieß Amanda. Jetzt heißt sie Hanna. Er hat eine neue Freundin, was bedeutet, dass du mit John seit mindestens sechs Monaten über nichts Ernsthaftes mehr gesprochen hast, denn so lange sind sie schon zusammen.«

Das schlechte Gewissen packte mich. Es fiel mir schwer, mit Lindas drei Jahre älterem Bruder wenigstens so etwas Ähnliches wie eine Vater-Sohn-Beziehung aufrechtzuerhalten. Er studierte Medizin in Lund und war ein richtiger Streber. Solide, zielstrebig und außerdem mit einem Prachtkörper gesegnet. Wir waren uns nicht sehr ähnlich.

»Und du hast außerdem nicht gefragt, wohin ich fahren werde«, sagte Linda, die jetzt wirklich aufgebracht war.

»Okay, wo soll es denn hingehen?«

»Nach Kolumbien.«

»Und mit wem?«

»Allein.«

»Aber man fährt als junges Mädchen nicht allein nach Kolumbien.«

»Warum denn nicht?«

»Werd nicht frech, Linda!«

»Du bist so voller Vorurteile, Papa. Aber ich habe nur Spaß gemacht. Ich werde mit Steffi nach London fahren. Wir werden dort in einer Bar arbeiten.«

»Das ist aber keine besonders gute Idee.«

»Warum nicht?«

»Weil in den Bars in London viele Gefahren auf junge Mädchen lauern.«

»Kannst du dich etwas deutlicher ausdrücken?«

»Alkohol, Drogen … Herren mit unlauteren Absichten.«

»Herren? Du meinst Typen?«

In diesem Stil ging es noch eine Weile weiter, bis Linda keine Lust mehr hatte. Schweigend aßen wir unser Eis auf. Dann erzählte sie von Thailand, und wie sehr sie sich auf die Reise freute, die zwei Tage nach meinem Abflug nach Indien beginnen würde.

»Eine kleine Insel vor Phuket. Ein richtiges Luxushotel. John und ich werden in der Hochzeitssuite oder so etwas Ähnlichem wohnen. Und wir werden Business Class fliegen. Max hat auf seinen Dienstreisen unglaublich viele Meilen gesammelt.«

»Aber dann sollten doch wohl Max und Mia in der Hochzeitssuite wohnen, oder?«

»Du klingst eifersüchtig.«

»Das bin ich nicht. Es war nur eine einfache Frage, Linda. Interpretier nicht in alles, was ich sage, etwas hinein.«

»Jetzt klingst du aufgebracht.«

»Das bin ich nicht!«

»Okay.«

Ich wünschte, es wäre noch Eis da. Ich brauchte dringend Trost.

Dann verabschiedeten wir uns. Linda umarmte mich.

»Pass auf dich auf, Papa.«

KAPITEL 6

Bei der Zwischenlandung in Helsinki hatte Erik schon gute Fortschritte bei der Eroberung der einzigen alleinstehenden und attraktiven Frau in der Reisegruppe gemacht; eine etwas mystisch wirkende, mittelblonde Schönheit Mitte dreißig mit großen, runden Ohrringen und auffälliger Sonnenbräune, mit der sie aus der Gruppe winterbleicher Rentner deutlich herausstach. Erik hatte dafür gesorgt, dass er auf dem Flug neben ihr saß.

»Okay, meine Lieben, ihr habt jetzt etwas freie Zeit zur Verfügung. Es dauert noch eine ganze Weile bis zum Boarding des Anschlussfluges nach Delhi. Wir sehen uns um Punkt eins am Gate. Wenn ihr mich in der Zwischenzeit braucht, findet ihr mich hier«, sagte er und deutete mit der Hand auf einen großen Imbiss mit Bar und Selbstbedienungstresen.

Keiner der knapp dreißig Teilnehmer machte Anstalten, sich von ihrem Reiseleiter zu entfernen.

»Der Flughafen Helsinki hat viele interessante Bars und Restaurants zu bieten. Das ist ja das Schöne am Urlaub, dass man sich auch mal etwas gönnen kann«, fuhr Erik fort.

Niemand rührte sich.

»Wie sieht es mit den Tax-Free-Shops hier aus? Ist es günstig?«, fragte schließlich eine mollige Dame, die ebenso wie ihr molliger Mann eine neongrüne Gürteltasche trug.

»Sehr gute Frage«, antwortete Erik breit lächelnd. »Eine Flasche Whisky kann man ja immer mitnehmen, um sich die Reise zu versüßen und eventuelle Magenkrankheiten in Schach zu halten. Doch an eurer Stelle würde ich mit den großen Einkäufen bis Indien warten. Dort ist alles sehr viel billiger, und ich verspreche euch, dass ihr qualitativ hochwertiges Kunsthandwerk zu absoluten Schnäppchenpreisen erwerben könnt«, versicherte er.

»Kann man feilschen?«, fragte die Frau mit der Gürteltasche.

»Natürlich kann man das«, antwortete Erik zwinkernd. »Doch an den Orten, wo wir hinfahren werden, habe ich die Verkäufer schon so weit heruntergehandelt, dass der Spielraum fürs Feilschen sehr klein ist. Nach über vierzig Reisen nach Indien kennt man sich schließlich aus.«

Beeindrucktes Murmeln in der Gruppe.

»Dann sehen wir uns um eins am Gate«, wiederholte Erik, bevor er zu mir kam und mir leise zuflüsterte:

»Ist es in Ordnung, wenn ich mich etwas mit ihr unterhalte?« Er deutete diskret in Richtung der Mittelblonden. »In Indien haben wir dann mehr Zeit füreinander, wir werden uns ja das Zimmer teilen und so …«

»Kein Problem, Erik. Ich bin ein erwachsener Mann und brauche keinen Babysitter.«

»Ich will nur, dass du weißt, wie froh ich bin, dass du mitgekommen bist«, sagte Erik, schlug mir freundschaftlich auf die Schulter, zwinkerte mir zu und setzte sich mit seiner neuen Eroberung in das Café.

Während sie zusammen Tee tranken, sah ich, wie sich ihre Füße unter dem Tisch berührten. Wir anderen verteilten uns auf die umliegenden Tische. Ich landete neben einem Mann etwa Mitte sechzig aus Nässjö, der leider alle meine Vorurteile gegenüber den Leuten aus Småland bestätigte. Auch er litt an einem schweren Ingvar-Kamprad-Komplex. Wie der IKEA-Gründer bezeichnete er sich selbst als unverbesserlicher Geizhals und Schnäppchenjäger. Eriks Ankündigung von guten Geschäften hatte ihn beflügelt, und jetzt erzählte er mir, wie er schon als kleiner Junge zwischen den Höfen vor Nässjö hin und her geradelt sei und Strickmuster und Nähzubehör an die Bauersfrauen verhökert habe, um später seinen eigenen Versandhandel zu gründen, der Reinigungsmittel verkaufte. Schließlich hatte er noch eine Firma aufgebaut, die Softeismaschinen herstellte und die größte ihrer Art in Schweden war.

»Man muss sein Geld zusammenhalten«, wieherte er und klatschte mit der Hand auf seine mächtige Ledergeldbörse, bevor er eine Snus-Dose hervorkramte und sich einen großen Klumpen des Tabaks unter die Oberlippe klemmte. »Ich würde ja nie etwas am Flughafen kaufen, davor hätte mich der Reiseleiter gar nicht warnen müssen. Aber warte nur, bis wir in Indien sind, dann kannst du sehen, wie man die Händler dort so weit herunterhandelt, bis sie Blut weinen.«

Ich lächelte angestrengt und stellte mir vor, dass es irgendwo in den dichten Wäldern Smålands ein riesiges blau-gelbes Zentrallager geben musste, wo man sich seine persönliche Ingvar-Kamprad-Kopie in einem flachen Paket abholen und daheim mit dem bekannten Sechskantschlüssel zusammenschrauben konnte.

Am Nachbartisch saßen drei breitschultrige Finnen im Anzug und tranken Rotwein, Bier und Cocktails, bis sie schließlich auf Lakritz-Wodka von Koskenkorva umstiegen. Nur echte Finnen konnten auf die Idee kommen, so unterschiedliche Alkoholarten zu kombinieren und sie alle mit derselben methodischen Entschlossenheit zu vernichten, wie es diese gutgekleideten Herren taten. Keine Rituale, keine Lieder, keine Spielereien, wie wenn wir Schweden saufen. Nein, konsequent und zielstrebig. Glas für Glas rann ihre Kehlen hinunter, ohne dass sich Intensität oder Lautstärke ihrer wortkargen Konversation änderten. Die einzig sichtbaren Veränderungen waren der etwas verschwommene Blick und eine deutlich gerötete Gesichtsfarbe. Nach anderthalb Stunden standen sie auf, nahmen ihre Laptoptaschen und gingen erstaunlich sicheren Schrittes davon.

Erik hatte bei seiner Eroberung in der Zwischenzeit weitere Fortschritte gemacht und flüsterte der Schönen nun etwas ins Ohr, das ihr ein sinnliches Lächeln auf die Lippen zauberte. Wie schaffte er es nur, dass ihm alle Frauen aus der Hand fraßen? Ich wurde immer ärgerlicher und versuchte mich mit meinem neuerworbenen Indien-Reiseführer abzulenken, doch beim Kapitel über Krankheiten legte ich ihn wieder weg. Die Nervosität machte sich bereits jetzt in meinem Magen bemerkbar, und da war es keine gute Idee, sich in Krankheiten wie Malaria oder Dysenterie zu vertiefen.

Schließlich mussten wir aufgrund von Verspätungen noch eine Stunde länger als geplant warten, bis wir das Finnair-Flugzeug nach Neu-Delhi besteigen konnten. Der Großteil der Passagiere waren Inder, die auf der Heimreise waren und bemerkenswerte Mengen an Handgepäck dabeihatten. Sperrige, mit Schnüren umwickelte Kartons, zum Bersten gefüllte Plastiktüten und kleinere vollgestopfte Taschen wurden mit Gewalt in die Gepäckfächer und unter die Sitze gequetscht, begleitet von hektischen Wortwechseln auf Hindi und Englisch.

Hier hörte ich zum ersten Mal das charakteristische und seltsam melodische Mittelklasseindisch, das manchmal auch Hinglisch genannt wird. Selbst wenn ich das eine oder andere englische Wort identifizieren konnte, war es unmöglich zu beurteilen, ob die Menschen sich übereinander ärgerten oder einfach nur lebhaft miteinander sprachen.

Als das Gepäck endlich verstaut war, beruhigten sich alle und lehnten sich genügsam in ihren Sitzen zurück. Schon bald befanden wir uns über den Wolken. Die Reisegruppe von Unglaubliches Indien! saß gesammelt ganz vorne in der Economy Class, Erik und seine neue Flamme nebeneinander. Sie war eingeschlafen, und ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter.

Nachdem ich ja offiziell nicht zur Gruppe gehörte, sondern sozusagen als Trittbrettfahrer unterwegs war, saß ich sehr viel weiter hinten im Flugzeug zwischen zwei Indern. Links von mir saß ein Mann mit einem kleidsamen Schnurrbart über den fülligen Lippen. Trotz der sicher fünfundzwanzig Grad in der Kabine behielt er seine dicke Daunensteppjacke an. Ich musste mich nach rechts lehnen und kam deshalb einer voluminösen Inderin recht nahe, deren farbenfroher Sari ihren großen Bauch frei ließ. Ich versuchte mir unter Ellbogeneinsatz ein wenig Freiraum zu verschaffen, doch meine Ellbogen schienen in meinen Mitpassagieren einfach zu verschwinden. Die Berührung störte sie offensichtlich überhaupt nicht, und nach einer Weile gab ich den hoffnungslosen Kampf auf und ließ mich von ihren Körpern einschließen.

KAPITEL 7

Schon mal in Indien gewesen?«, fragte mich plötzlich der Mann auf Englisch.

»Nein«, antwortete ich knapp.

»Dann wappnen Sie sich besser, Sir«, erwiderte er lachend und winkte eine der Stewardessen zu sich. »Zwei große Whiskys mit Sodawasser, bitte.«

Während des restlichen Fluges tranken Mr Varma und ich diverse Gläser zusammen. Er erzählte mir, dass er als indischer Koordinator für Nokia arbeitete und nach einer Woche voller Meetings in Helsinki nun auf der Heimreise war. Mr Varma bestand darauf, dass ich den Whisky wie ein richtiger Inder mit Wasser mischte, und überzeugte mich auch davon, dass sich das Gemisch ausgezeichnet zu den Mahlzeiten trinken ließ.