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Wenn ein Game zur mörderischen Realität wird ...
Michaels Leben ist ein einziges Game. Denn Michael will eine Cyber-Legende werden. Doch als sich eine Gamerin im VirtNet vor seinen Augen umbringt, ist plötzlich nichts mehr, wie es war. Dahinter steckt der berüchtigte Cyber- Terrorist Kaine, dessen Motiv ebenso im Dunkeln liegt wie sein Aufenthaltsort. Und Michael ist derjenige, der Licht in die Sache bringen soll – im Auftrag des virtuellen Sicherheitsdienstes. Eine Mission mit höchstem Risikolevel, denn ab jetzt bewegt er sich auf Pfaden, auf die sich noch keiner vor ihm im VirtNet gewagt hat ...
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Seitenzahl: 396
Foto: © Maria Wood
DER AUTOR
James Dashner ist in Georgia aufgewachsen. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Utah. Seit seiner Kindheit wollte er Schriftsteller werden, arbeitete aber zunächst im Finanzwesen, bevor er sich vollständig dem Schreiben zuwandte und mit seinen Jugendbüchern in den USA die Bestsellerlisten stürmte, u. a. mit der Trilogie Mazerunner.
James Dashner
Der Game Master
Tödliches Netz
Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr
Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe April 2015
© 2013 by James Dashner
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »The Eye of Minds« bei Delacorte Press, an imprint of Random House Children’s Books, a division of Random House, Inc., New York.
© 2015 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr
Lektorat: Kerstin Weber
Umschlaggestaltung: semper smile, München,
unter Verwendung eines Bildes von
Demurez Cover Arts/Luis Beltran/Trigger Image
he ∙ Herstellung: kw
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-13723-6
www.cbt-buecher.de
Dieses Buch widme ich Michael Bourret und Krista Marino, die mir meine Karriere ermöglichten und immer gute Freunde waren.
Kapitel 1
Der »Sarg«
1
Sie hieß Tanja. Michael musste gegen den Wind schreien, um sich verständlich zu machen.
»Okay, da unten ist nichts als Wasser, aber es könnte genauso gut Beton sein! Kein Unterschied aus dieser Höhe – du bist platt wie ein Pfannkuchen, wenn du aufschlägst!«
Nicht besonders tröstlich, wenn man einen Menschen davon abhalten will, sich das Leben zu nehmen. Aber wahr. Tanja war gerade über das Geländer der Golden Gate Bridge geklettert, während hinter ihr der Verkehr vorbeirauschte. Jetzt lehnte sie sich in die Leere hinaus und hielt sich mit zittrigen Händen nur noch an einer nebelfeuchten Eisenstrebe fest. Selbst wenn es Michael gelang, ihr den Sprung irgendwie auszureden, konnte es immer noch sein, dass ihre rutschigen Finger den Halt verloren und die Sache zu Ende brachten. Dann würden alle Lichter ausgehen. Und später würde irgendein armer Fischer glauben, er hätte endlich den ganz großen Fang gemacht, nur um dann eine böse Überraschung zu erleben.
»Erspar mir deine blöden Witze«, schrie das zitternde Mädchen zurück. »Das ist kein Spiel – schon lange nicht mehr.«
Michael war im VirtNet unterwegs – dem Virtuellen Netz, auch »The Sleep« genannt, vor allem von den Gamern, die sich so oft einloggten wie er. Er war daran gewöhnt, dort völlig verängstigten Leuten zu begegnen. Sogar jeder Menge. Aber unter der Angst lag normalerweise immer die Gewissheit, dass nichts, was im Sleep geschah, real war.
Nicht jedoch bei Tanja. Tanja war anders. Oder zumindest ihre Aura, ihr computersimuliertes Ich, ihr Avatar. Das Gesicht ihrer Aura spiegelte nackten, blanken Terror wider, der Michael einen Schauder nach dem andern über den Rücken jagte – und ihm das Gefühl gab, er selbst sei nur noch einen Schritt von dem Todessturz entfernt. Und Michael war alles andere als ein Fan des Todes, egal, ob virtuell oder real.
»Es ist ein Spiel, und das weißt du auch«, sagte er lauter, als er beabsichtigt hatte – er wollte sie nicht erschrecken. Aber die kalten Windböen rissen ihm die Worte von den Lippen und wehten sie auf die Bucht hinab. »Komm wieder hier rüber und lass uns reden. Dann kriegen wir beide unsere Erfahrungspunkte, und wir könnten ein wenig in der Stadt abhängen und einander besser kennenlernen. Hey, vielleicht finden wir ein paar Irre, denen wir nachspionieren können. Oder wir hacken uns in einem der Läden was zu essen, völlig gratis. Haben ein bisschen Spaß. Und danach suchen wir dir ein Portal, damit du dich nach Hause liften kannst. Und du nimmst dir einfach mal für eine Weile eine Auszeit vom Spiel.«
»Das hat nichts mit Lifeblood zu tun!«, schrie ihn Tanja an. Der Wind zerrte an ihren Kleidern und ihr dunkles Haar flatterte hinter ihr wie Wäsche an der Leine. »Hau einfach ab und lass mich in Ruhe! Dein Pretty-Boy-Face ist das Letzte, was ich jetzt sehen will!«
Michael dachte an Lifeblood Deep, der nächste und höchste Level, sein ultimatives Ziel. Wo alles noch tausendmal realistischer war, noch hoch entwickelter, noch intensiver. Noch drei Jahre, bis er sich den Zugang verdient haben würde. Oder vielleicht auch nur zwei. Aber dazu musste er dieses völlig durchgeknallte Mädchen unbedingt an ihrem Date mit den Fischen hindern, sonst drohte ihm die Zurückstufung auf einen niedrigeren Level, und dann wäre Lifeblood Deep erst mal wieder in weiter Ferne.
»Okay. Ganz ruhig …« Er gab sich Mühe, seine Worte sorgfältig zu wählen, aber er hatte bereits einen ziemlich großen Fehler gemacht, und das wusste er auch. Er war aus seiner Rolle geschlüpft, und hatte das Spiel selbst als Grund angeführt, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen – und hatte sich damit wohl jede Menge Strafpunkte eingehandelt. Und Punkte waren alles, worum es ging. Aber dieses Mädchen hier schaffte es tatsächlich, ihm echte Angst einzujagen. Vor allem ihr Gesicht – blass und eingefallen, als sei sie schon halb tot.
»Hau endlich ab!«, schrie sie schrill. »Du blickst es einfach nicht, was? Ich bin erledigt! Dein Scheißportal nützt mir nichts mehr – ich sitze in der Falle! Er wird niemals zulassen, dass ich mich wieder in den Wake lifte!«
Michael hätte sie am liebsten an den Schultern gepackt und geschüttelt und angeschrien – das war völliger Schwachsinn, was sie da redete. Seine dunkle, böse Seite meldete sich, flüsterte ihm zu, die Sache zu vergessen, sie einfach anzublaffen, dass sie sowieso ein Loser sei … Sollte sie doch ihren Kopfsprung machen! Sie war so was von stur – als würde auch nur irgendetwas von alldem real passieren! Es ist doch nur ein Spiel!, bläute er sich selbst immer wieder ein.
Trotzdem – er durfte es nicht vermasseln. Er brauchte die Punkte! »Okay. Hör mir zu.« Er trat ein wenig zurück und hob beide Hände, als wollte er ein verängstigtes Tier beruhigen. »Wir sind uns doch gerade erst begegnet. Lass dir ein bisschen Zeit. Ich verspreche dir, nichts Verrücktes zu tun. Du willst springen. Okay, ich werde dich nicht daran hindern. Aber du könntest wenigstens mit mir reden. Mir sagen warum.«
Tränen rannen ihr über die Wangen und ihre Augen waren rot und verschwollen. »Geh einfach nur weg. Bitte.« Ihre Stimme klang jetzt sanfter, niedergeschlagen. »Diese Sache … ich mach keinen Scheiß. Ich hab genug davon, von allem!«
»Du hast genug davon? Das ist okay. Aber du musst es deshalb ja nicht auch mir vermasseln, oder?« Michael setzte darauf, jetzt doch über das Spiel sprechen zu können, schließlich hatte sie es selbst als Grund angeführt, das Ganze zu beenden – und das hieß, die codierte Hülle, den virtuellen Fleisch- und Knochen-Körper abzustreifen und nie mehr in ihn zurückzukehren. »Im Ernst. Komm mit mir zum Portal. Und dann liftest du in den Wake zurück, so wie immer. Du hast das Spiel hinter dir, bist endgültig draußen, und ich kriege meine Punkte. Wäre das nicht das schönste Happy End, das du dir vorstellen kannst?«
»Ich hasse dich!« Sie spuckte die Worte buchstäblich aus. Speichel sprühte aus ihrem Mund. »Ich kenne dich nicht mal und trotzdem hasse ich dich! Was ich hier mache, hat nichts mit Lifeblood zu tun!«
»Dann sag mir doch, womit es zu tun hat.« Er bemühte sich um einen freundlichen Tonfall und darum, nicht auszurasten. »Du hast den ganzen Tag Zeit zu springen. Schenk mir nur ein paar Minuten. Rede mit mir, Tanja.«
Sie verbarg den Kopf in ihrer rechten Armbeuge. »Ich kann einfach nicht mehr weitermachen.« Sie wimmerte, und ihre Schultern bebten, sodass sich Michael wieder um ihren Halt an der Strebe sorgte. »Ich kann einfach nicht …«
Manche Leute sind einfach zu schwach, dachte er, war aber klug genug, es nicht laut zu auszusprechen.
Lifeblood war das bei Weitem beliebteste Spiel im VirtNet. Klar, man konnte sich auch auf echt grauenhafte Schlachtfelder im Bürgerkrieg stürzen oder mit einem magischen Schwert gegen Drachen kämpfen, man konnte in Raumschiffen durchs Universum jetten oder mit einem Girl in irgendwelchen baufälligen Blockhütten herumknutschen. Aber dieses Zeug wurde einem echten Hardcore-Gamer ziemlich schnell langweilig. Irgendwann wollte man mehr und noch mehr, bis einen am Ende nur noch Spiele faszinierten, welche die Schmerzen, den Dreck, den Gestank, den Ekel des echten Lebens absolut perfekt vortäuschten. Das, und nichts weniger. Dabei gab es eben immer ein paar Leute wie Tanja, die damit nicht fertigwurden und schließlich daran zerbrachen. Michael wurde damit fertig. Sein Aufstieg durch die Level war fast so schnell gewesen wie der des legendären Gamers Gunner Skale.
»Komm schon, Tanja«, sagte er. »Kann doch nicht schaden, mit mir zu reden, oder? Und wenn du schon raus willst, wieso willst du dann dein letztes Spiel ausgerechnet mit einem idiotischen Selbstmord beenden?«
Sie hob ruckartig den Kopf und starrte ihn mit einem so harten Blick an, dass ihm erneut ein Schauder über den Rücken lief.
»Kaine hat mich zum letzten Mal gejagt«, sagte sie. »Hier kann er mich nicht mehr in die Ecke treiben und mich für sein Experiment benutzen – oder mir die KillSims an den Hals hetzen. Ich reiße mir den Core selbst heraus.«
Der letzte Satz änderte schlagartig alles. Michael beobachtete voller Entsetzen, wie Tanja mit der einen Hand die Strebe noch fester umklammerte, die andere Hand zur Schläfe hob und die Nägel in ihre eigene Haut grub.
2
Michael vergaß das Spiel, vergaß seine Punkte. Die Sache war von einer lästigen Situation zu einer auf Leben und Tod eskaliert. In all den Jahren als Spieler hatte er noch nie erlebt, dass sich jemand den Core herausriss – den Core! – und damit die im Coffin installierte Sperrsicherung zerstörte, die wichtigste aller Sicherungen, die Barriere, die dafür sorgte, dass im Verstand des Gamers die virtuelle von der realen Welt stets streng getrennt blieb.
»Hör auf!«, brüllte er, einen Fuß bereits auf dem Geländer. »Hör sofort auf!«
Er sprang auf den schmalen Wartungssteg hinunter, der den äußersten Rand der Brücke bildete. Und erstarrte. Nur noch wenige Schritte von ihr entfernt, wollte er jede schnelle Bewegung vermeiden, durch die sie in Panik geraten könnte. Beschwichtigend streckte er beide Hände aus und schob sich einen kleinen Schritt vorwärts.
»Tanja. Tu es nicht«, sagte Michael so sanft, wie es der schneidende Wind erlaubte.
Tanja grub ihre Nägel immer tiefer in die rechte Schläfe. Schon hatte sie einen Hautlappen losgerissen. Blut strömte ihr über die Hand und die rechte Gesichtshälfte, die dadurch wie eine große klaffende Wunde aussah. In ihren Augen lag ein Ausdruck beängstigender Ruhe, als hätte sie keine Vorstellung davon, was sie da eigentlich tat. Doch Michael wusste, dass sie eifrig versuchte, ihren eigenen Code zu hacken.
»Hör mit dem Codieren auf, nur für einen Augenblick!«, schrie Michael. »Lass uns darüber reden, bevor du deinen verdammten Core herausreißt! Du weißt doch, was das bedeutet!«
»Was interessiert dich das eigentlich?«, gab sie zurück, so leise, dass Michael es nur von ihren Lippen ablesen konnte. Aber wenigstens hörte sie auf, ihre Schläfe aufzureißen.
Michael starrte sie fassungslos an. Denn sie hatte nur aufgehört, weil die Wunde schon groß genug war – und sie nun mit Daumen und Zeigefinger in ihrem Fleisch wühlen konnte. »Es geht dir doch nur um deine Erfahrungspunkte.« Langsam zog sie einen kleinen blutverschmierten Metallchip heraus.
»Ich verzichte auf meine Punkte«, sagte Michael und versuchte mühsam, seinen Ekel und seine Furcht zu unterdrücken. »Ich schwöre es. Hör auf mit dem Mist, Tanja. Codier das Ding und setz es wieder ein, dann können wir reden. Noch ist es nicht zu spät.«
Tanja hielt den kleinen Gegenstand, die visuelle Verkörperung des Core, in die Höhe und betrachtete ihn fasziniert. »Siehst du denn nicht, wie ironisch das alles ist?«, fragte sie. »Wenn ich die Sache mit dem Codieren nicht so draufhätte, hätte ich nie herausbekommen, wer Kaine ist. Ich wüsste nichts über seine KillSims, nichts über die Pläne, die er mit mir hatte. Aber ich bin eben echt gut, und wegen diesem … Monster habe ich jetzt den Core aus meinem eigenen Kopf herausprogrammiert.«
»Nicht aus deinem realen Kopf – es ist immer noch eine Simulation, Tanja. Es ist noch nicht zu spät.« Michael konnte sich an keinen einzigen Augenblick in seinem Leben erinnern, in dem er sich so grauenvoll gefühlt hatte.
Sie blickte ihn so scharf an, dass er unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Ich kann es nicht mehr ertragen … Kann ihn nicht mehr ertragen! Wenn ich tot bin, kann er mich nicht mehr benutzen. Ich bin fertig, mit allem.«
Sie schob den winzigen Chip auf ihren Daumennagel, dann schnippte sie ihn in Michaels Richtung. Der Chip flog über seine Schulter – er sah das Sonnenlicht darin aufblitzen, als das kleine Metallplättchen durch die Luft wirbelte, als ob es ihm spöttisch zurufen wollte: Hey, Kumpel, die Selbstmordverhandlung hast du total vermasselt. Mit einem leisen Klicken landete der Chip irgendwo auf der Straße, wo er innerhalb von Sekunden von Autorädern zermalmt würde.
Michael konnte kaum fassen, was sich hier vor seinen Augen abspielte: Da stand eine Person mit dermaßen guten Hackerqualitäten, dass sie ihren Code manipulieren und dadurch ihren eigenen Core zerstören konnte – jene Sicherung, die den wichtigsten Schutz für den Verstand der Spieler darstellte, solange sie im Sleep waren. Ohne den Core war das Gehirn eines Gamers nicht in der Lage, die Stimulationen des VirtNet korrekt zu filtern. Würde der Core im Sleep vernichtet, bedeutete das den Tod des Gamers auch im Wake, also in der Wirklichkeit. Michael kannte niemanden, der so etwas jemals mitangesehen hatte. Noch vor zwei Stunden hatte er zusammen mit seinen besten Freunden im Dan the Man-Bistro geklaute BluChips gegessen. Jetzt wünschte er sich nichts sehnlicher, als wieder dort zu sitzen, ein Chickensandwich zu vertilgen und Brysons Uraltwitze über Oma-Unterwäsche über sich ergehen zu lassen, oder von Sarah gesagt zu bekommen, wie grauenhaft sein neuester Sleep-Haarschnitt sei.
»Wenn Kaine dich holen kommt«, sagte Tanja, »dann richte ihm von mir aus, dass ich am Ende gewonnen habe. Erzähl ihm, wie mutig ich war. Egal, wie viele Leute er in seine Falle lockt und wie viele Leichen er stiehlt – mich kriegt er nicht.«
Michael hatte genug. Er konnte kein weiteres Wort mehr aus dem blutverschmierten Mund dieses Mädchens ertragen. Schneller als jemals zuvor in seinem Leben und seinen VirtNet-Games sprang er auf die Eisenstrebe zu, an die sie sich klammerte.
Sie schrie auf und erstarrte für einen Moment angesichts der Plötzlichkeit seiner Bewegung. Doch dann ließ sie los und stieß sich sogar noch von der Brücke ab. Michael griff mit einer Hand nach dem Geländer, mit der anderen nach ihr – und verfehlte beides. Seine Schuhe prallten gegen etwas Festes, rutschten ab, er ruderte wild mit den Armen, spürte aber nichts als Luft – und fiel fast synchron mit ihr in die Tiefe.
Ein wahnsinniger Schrei entfuhr ihm, der ihm vielleicht sogar lächerlich oder peinlich vorgekommen wäre, wenn seine Begleiterin nicht kurz davor stünde, ihr Leben zu verlieren. Ihr wirkliches Leben. Denn ohne ihren Core wäre ihr Tod real.
Michael und Tanja stürzten auf die unerbittliche graue Wasserfläche der Bucht zu. Der Wind zerrte an ihren Kleidern und Michaels Herz schien plötzlich in seinem Hals zu schlagen. Er schrie noch einmal. Irgendwo in seinem Verstand war ihm klar, dass er auf dem Wasser aufschlagen und für einen Sekundenbruchteil die volle Wucht des Schmerzes spüren würde – aber dann würde er in den Wachzustand liften und sich wohlbehalten zu Hause in seinem Coffin wiederfinden. Doch die Macht des VirtNet lag in der Täuschung, und in diesem Augenblick erschien ihm die vorgetäuschte Realität wie blanker Horror.
Irgendwann und irgendwie während dieses langen Falls fanden sich Michaels und Tanjas Auren, Brust an Brust, wie bei einem Tandem-Fallschirmsprung. Als die aufgewühlte Wasseroberfläche immer näher raste, schlangen sie die Arme umeinander und schmiegten sich eng zusammen. Michael hätte beinahe erneut aufgeschrien, doch dann sah er die absolute Ruhe in ihrem Gesicht.
Ihr Blick bohrte sich in seine Augen. Und irgendetwas tief in seinem Innern zerbrach.
Sie schlugen auf dem Wasser auf, genau so hart wie er es vorhergesehen hatte. So hart wie Beton. So hart wie der Tod.
3
Der Schmerz war kurz aber heftig. Er explodierte praktisch durch Michaels Körper und schoss in jede einzelne Nervenfaser. Doch noch bevor Michael schreien konnte, war er auch schon vorbei. Tanja schien es ebenso zu gehen, denn er hörte nichts außer dem grauenhaften Aufprall. Dann verschwamm alles und sein Verstand setzte aus.
Als Michael wieder zu sich kam, lag er in der NerveBox – von den Gamern Coffin oder auch »Sarg« genannt.
Was sich von dem Mädchen nicht behaupten ließ. Trauer, gefolgt von Fassungslosigkeit schlug wie eine Monsterwelle über ihm zusammen. Mit eigenen Augen hatte er beobachtet, wie sie ihren Code änderte, sich den Core aus dem virtuellen Fleisch riss und den Chip wegwarf, als sei er nichts weiter als eine Brotkrume. Ihr virtueller Tod hatte ihr Leben auch in der realen Welt beendet, und bei dem Gedanken, dass er daran beteiligt gewesen war, verkrampfte sich etwas in ihm. Noch nie hatte er so etwas mit angesehen.
Er blinzelte ein paarmal, während er auf das Ende des Abkoppelungsprozesses wartete. Nie zuvor war er so erleichtert gewesen, sich aus dem VirtNet ausloggen und das Spiel hinter sich lassen zu können, aus seiner Box zu steigen und die schmutzige Luft der Echtwelt einatmen zu dürfen.
Ein blaues Licht ging an und enthüllte die Umrisse des Coffin-Deckels, nur eine Handbreit von Michaels Gesicht entfernt. Die LiquiGels und AirPuffs hatten sich bereits zurückgezogen, und jetzt stand jener Teil des Prozesses an, den Michael am meisten hasste, egal, wie oft er ihn auch schon hinter sich gebracht hatte – und das war so oft, dass er es gar nicht mehr zählen konnte: Die dünnen, eiskalten Stränge der NerveWires glitten aus seinem Nacken, Rücken und seinen Armen, wanden sich wie Schlangen über seine Haut und verschwanden in ihren winzig kleinen Schlupflöchern, wo sie desinfiziert und bis zum nächsten Game verwahrt wurden. Seine Eltern staunten immer, wie er es überhaupt ertrug, dass sich diese Dinger so oft in seine Haut gruben, und das konnte er ihnen nicht einmal übel nehmen. Die Sache hatte definitiv etwas Unheimliches.
Ein lautes mechanisches Klicken folgte, dann das Zischen der hereinströmenden Luft. Der Deckel hob sich an, schwang nach oben und an seinen Scharnieren seitwärts, als öffnete sich Draculas Ruhestätte. Bei diesem Gedanken musste Michael beinahe lachen. Ein bösartiger, blutsaugender Vampir, dem die Ladys zu Füßen lagen, war nur eines von einer Milliarde Dingen, die man im Sleep sein konnte. Eines von einer Milliarde.
Er stand vorsichtig auf – nach dem Lift fühlte er sich immer leicht benommen, besonders dann, wenn er ein paar Stunden lang im Sleep gewesen war –, schweißgebadet und völlig nackt. Kleidung würde die sensorische Stimulation der NerveBox ruinieren.
Michael stieg über den Rand der Box. Ein Gefühl der Dankbarkeit durchströmte ihn, als er den weichen Teppich spürte – er hatte wieder festen Boden unter den Füßen, war zurück in der Realität. Er hob die Boxershorts auf, die er hatte liegen lassen, und zog sie an. Ein respektabler Mensch wäre wohl auch in Hosen und ein T-Shirt geschlüpft, aber im Moment fühlte er sich alles andere als respektabel. Seine einzige Aufgabe war es gewesen, einem lebensmüden Mädchen den Selbstmord auszureden und dafür jede Menge Erfahrungspunkte zu kassieren. Aber er hatte nicht nur versagt, sondern ihr irgendwie auch noch dabei geholfen, es wirklich durchzuziehen. Wirklich. Wirklich.
Tanja – wo auch immer sich ihre Leiche nun befinden mochte – war tot. Bevor sie starb, hatte sie sich den Core herausgerissen. Dahinter steckte eine gewaltige Programmierleistung, denn der Core war durch Passwörter geschützt. Es war absolut unmöglich, die Entfernung des Cores im VirtNet vorzutäuschen. Was auch viel zu gefährlich gewesen wäre. Denn sonst könnte man ja nie wissen, ob jemand nur eine Show abzog, um sich einen Nervenkitzel zu verschaffen oder um irgendwelche Reaktionen zu provozieren. Nein – sie selbst hatte ihren Code verändert, hatte die Sicherheitsbarrieren zwischen dem Virtuellen und dem Realen in ihrem Verstand weggefegt und den Chip einfach weggeworfen – und das alles mit voller Absicht. Tanja, das hübsche Girl mit den traurigen Augen und der Wahnvorstellung, dass sie gejagt würde. Tot.
Michael war klar, dass in den NewsBops schon sehr bald über den Vorfall berichtet würde. Und es würde auch erwähnt werden, dass er dabei gewesen war, und dann würde die VNS – die VirtNet-Security – wahrscheinlich schon sehr bald vor seiner Tür stehen und ihn wegen dieser Angelegenheit ins Kreuzverhör nehmen. Sie würde definitiv vor seiner Tür stehen.
Tot. Sie war tot. So leblos wie die durchgelegene Matratze auf seinem Bett.
Erst in diesem Augenblick traf es ihn mit voller Wucht. Wie ein Golfball direkt ins Gesicht.
Er schaffte es gerade noch bis ins Bad, um sich zu übergeben. Er kotzte alles aus, was sich in seinem Magen befand. Dann kippte er auf den Boden und rollte sich wie ein Fötus zusammen. Es kamen keine Tränen – er war kein Typ, der heulte –, aber er blieb sehr, sehr lange so liegen.
Kapitel 2
Das Angebot
1
Michael war klar, dass die meisten Jugendlichen sich zu allererst an ihre Eltern wenden würden, wenn sie am Boden zerstört waren oder das Gefühl hatten, dass kein Mensch auf Erden sie mehr gern hatte. Oder vielleicht an einen Bruder oder eine Schwester. Und wer eben keine dieser nahen Verwandten mehr hatte, klopfte vielleicht bei einer Tante, einem Großvater oder bei einem Onkel fünften Grades an.
Aber Michael nicht. Michael wandte sich an Bryson und Sarah, die beiden besten Freunde, die man sich nur wünschen konnte. Sie kannten ihn besser als jeder andere, und es war ihnen völlig egal, was er sagte oder anhatte, tat oder aß. Und ebenso war er für sie da, wenn sie ihn brauchten. Aber etwas an ihrer Freundschaft war ziemlich eigenartig.
Michael hatte sie noch nie getroffen.
Jedenfalls nicht persönlich. Noch nicht. Aber im VirtNet waren sie best friends forever. Er hatte sie schon auf den Einsteiger-Levels von Lifeblood kennengelernt, und während sie sich Level um Level nach oben arbeiteten, war ihre Freundschaft immer enger geworden. Fast vom ersten Tag an hatten sie sich verbündet, um gemeinsam im Spiel der Spiele voranzukommen. Sie waren das »Terrible Trio«, die »Three Bloody Avengers«, die »Brandschatzer«. Ihre Nicknames brachten den dreien nicht gerade Freunde ein – viele hielten sie für angeberisch, andere für schlicht idiotisch –, aber sie selbst hatten Spaß und deshalb war es ihnen egal.
Der geflieste Boden war hart und Michael konnte nicht ewig liegen bleiben. Er riss sich zusammen und schleppte sich zu seinem Lieblingsplatz in dieser Welt.
Zum Sessel.
Der Sessel war eigentlich ein ganz normales Möbelstück, aber das bequemste, das er sich vorstellen konnte – es war, als würde man in eine von Menschen gemachte Wolke sinken. Michael musste gründlich nachdenken und er musste dringend ein Treffen mit seinen besten Freunden arrangieren. Er ließ sich in den Sessel fallen und starrte aus dem Fenster auf die trostlose graue Fassade des Apartmentblocks gegenüber. Grau und trostlos wie in Beton gegossener Novemberregen.
Das Einzige, was die Trostlosigkeit unterbrach, war ein Werbeplakat mit der Aufschrift Lifeblood Deep – blutrote Schrift auf schwarzem Grund. Sonst nichts. Als ob die Spielentwickler vollkommen sicher waren, dass diese beiden Wörter allein völlig ausreichten. Tatsächlich kannte sie jeder, und jeder wollte mitmachen, um sich eines Tages den Zugang zum Deep zu verdienen. Und Michael war wie jeder andere Gamer – nur einer in einer riesigen Herde.
Er dachte an Gunner Skale, den größten Lifeblood-Gamer, den das VirtNet jemals gesehen hatte. Aber vor Kurzem war er aus dem Grid verschwunden. Gerüchten zufolge habe ihn das Deep selbst verschluckt – es hieß, er habe sich in dem Spiel, das er über alles geliebt hatte, verloren. Skale war eine Legende, und ein Spieler nach dem anderen hatte sich auf die Suche nach ihm gemacht, sogar bis in die tiefsten Winkel des Sleep – aber ohne Erfolg. Jedenfalls bisher. Michael wollte unbedingt diesen Level erreichen und ein neuer Gunner Skale werden. Er musste es einfach schaffen, und zwar noch vor diesem neuen Typen, der in der Szene aufgetaucht war. Diesem … Kaine.
Michael berührte seinen EarCuff – ein kleines Metallplättchen, das an seinem Ohrläppchen befestigt war –, und schon leuchteten mitten in der Luft der NetScreen und die Tastatur auf und schwebten direkt vor ihm. The Bulletin, sein Messenger-Programm, zeigte an, dass Bryson bereits online war und Sarah gepostet hatte, in ein paar Minuten wieder zurück zu sein.
Michaels Finger tanzten über die glänzenden roten Tasten.
Mikethespike: Hey, Bryson, hör auf, Dinoknochen zu suchen und rede mit mir. Hab heute was verdammt Uncooles erlebt.
Sein Freund antwortete fast sofort. Bryson verbrachte sogar noch mehr Zeit online oder im Coffin als Michael und konnte schneller tippen als eine Sekretärin nach drei Tassen extrastarkem Kaffee.
Brystones: Was Uncooles, echt? Hat dich ein Lifeblood-Bulle wieder in den Dünen beim Fummeln erwischt? Du weißt doch, die kommen nur alle 13 Minuten vorbei!
Mikethespike: Hab dir doch gesagt, was ich mache. Musste ’ne Tussi davon abbringen, von der Brücke zu springen. Wollte Punkte sammeln. Lief aber nicht so gut.
Brystones: Warum? Hat sie einen Sturzflug gemacht?
Mikethespike: Sollten hier nicht drüber reden. Müssen uns im Sleep treffen.
Brystones: Shit, Kumpel – muss ja echt ätzend gewesen sein. Aber wir waren grad vor ein paar Stunden im Sleep. Hat das nicht Zeit bis morgen?
Mikethespike: Treffen uns im Bistro. In einer Stunde. Bring Sarah mit. Muss erst mal unter die Dusche. Rieche nach Achselhöhle.
Brystones: Gut, dass wir uns nicht real treffen. Bin nicht so scharf auf dein Aroma.
Mikethespike: Wo du es gerade erwähnst – genau das müssen wir. Uns real treffen. Bald. Du wohnst ja nicht SO weit weg.
Brystones: Aber im Wake ist es total langweilig. Und wozu überhaupt?
Mikethespike: Weil Menschen so was tun. Sie treffen sich. Schütteln einander die Hände und so. In echt.
Brystones: Würde dich lieber auf dem Mars umarmen, Kumpel.
Mikethespike: Ich hab NICHTS von UMARMUNG gesagt! Wir sehen uns in einer Stunde. Bring Sarah mit!
Brystones: Okay. Schrubb dir erst mal die stinkigen Achselhöhlen.
Mikethespike: Ich sag doch, ich RIECHE NACH … nicht … ach, egal. CU.
Brystones: Out.
Michael drückte wieder auf den EarCuff und wartete, bis sich NetScreen und Tastatur aufgelöst hatten, wie von einer steifen Brise weggeweht. Mit einem letzten Blick auf das LifebloodDeep-Plakat – das Rot-auf-Schwarz versetzte ihm einen Stich, weil ihm dabei Namen wie Gunner Skale und Kaine durch den Kopf schossen – ging er unter die Dusche.
2
Das VirtNet war eigentlich eine komische Sache. So real, dass Michael sich manchmal wünschte, es wäre weniger Hightech. Etwa, wenn es sehr heiß war und er schwitzte oder wenn er stolperte und sich das Knie aufschürfte oder wenn ihm ein Mädchen eine kräftige Ohrfeige verpasste. Im »Sarg« spürte er alles bis ins Kleinste. Es gab zwar die Möglichkeit, den sensorischen Input zu reduzieren – aber warum sollte man überhaupt spielen, wenn man nicht bereit war, bis zum Äußersten zu gehen?
Genau der Realismus, der dafür sorgte, dass man im Sleep Schmerzen und Unbehagen fühlte, hatte auch eine positive Seite: das Essen. Vor allem, wenn man gerade knapp bei Kasse, aber gut genug im Codieren war, um sich zu holen, was man wollte. Augen zu, Ausgangsdaten abrufen, ein bisschen im Programmcode herumfummeln – und voilà: Schon hatte man ein kostenloses Festmahl, Lachs, Sushi, Kaviar.
Michael saß mit Bryson und Sarah an ihrem üblichen Tisch vor dem Dan the Man-Bistro und fiel über einen riesigen Teller Nachos her. Daheim, in der echten Welt, führte der Coffin seinem Körper währenddessen eine reine, gesunde Nährlösung intravenös zu. Natürlich konnte man sich nicht nur auf die Nährfunktion des »Sargs« verlassen – sie war nicht dazu bestimmt, menschliches Leben über Monate hinweg zu versorgen –, aber während eines langen Trips war es sehr angenehm. Und das Beste daran war, dass man im Sleep nur dick werden konnte, wenn man sich entsprechend programmiert hatte, egal, wie viel oder was man in sich hineinstopfte.
Trotz des leckeren Essens nahm ihre Unterhaltung bald eine bedrückende Wendung.
»Ich hab’s in NewsBops gesehen, nachdem mir Bryson davon erzählt hatte«, sagte Sarah. Ihre VirtNet-Erscheinung war pures Understatement – hübsches Gesicht, langes braunes Haar, gebräunte Haut, fast kein Make-up. »Schon letzte Woche oder so hat es ein paar Core-Recodings gegeben. Macht mir echt Gänsehaut. Es geht das Gerücht um, dass dieser Typ Kaine Leute irgendwie im Sleep gefangen hält und sie nicht mehr in den Wake liften lässt. Manche bringen sich sogar um. Könnt ihr euch das vorstellen? Ein Cyber-Terrorist.«
Bryson nickte. Er sah wie ein ziemlich ramponierter Footballspieler aus – groß, dick, und alles an ihm schien ein wenig schief geraten. Er behauptete immer, in Wirklichkeit ein so verdammt heißer Bursche zu sein, dass er ständig im VirtNet abhängen müsse, um sich vor den Echtwelt-Ladies zu retten. »Gänsehaut?«, wiederholte er. »Unser Freund hier sieht ein Girl, das sich die Schläfe aufreißt und ihren Core herauspult, ihn wegwirft und von der Golden Gate springt. Ich meine, Gänsehaut ist ja wohl das Mindeste, was man da kriegt.«
»Stimmt schon – mir ist nur einfach kein stärkeres Wort eingefallen«, nickte Sarah. »Aber der Punkt ist, dass hier etwas abgeht, an dem einer der Spieler schuld sein soll, der sich zum Game Master aufschwingt und ein tödliches Spiel treibt. Oder habt ihr früher schon mal davon gehört, dass Leute ihr eigenes System hacken, um in echt Selbstmord zu begehen? Bis jetzt hatte die VirtNet Security noch nie so ein Problem.«
»Oder sie haben es geheim gehalten«, wandte Bryson ein.
»Wer würde so was tun, was sie getan hat?«, murmelte Michael, mehr zu sich selbst als zu den anderen. Im VirtNet kannte er sich aus, Sarah hatte recht: Selbstmorde waren im Sleep bisher kaum vorgekommen. Reale Selbstmorde sowieso. »Manche Leute fahren zwar darauf ab, sich im Sleep zu killen, aber ohne reale Folgen. Aber das mit Tanja … das hab ich noch nie gesehen. Um so was durchzuziehen, muss man es echt draufhaben … nicht mal ich könnte das, glaub ich. Und jetzt gleich mehrere in einer Woche?«
»Und was ist mit diesem Spieler – Kaine?«, fragte Bryson. »Ich hab gehört, dass er eine ganz große Nummer sein soll, aber kann man das überhaupt – andere Leute im Sleep gefangen halten? Ist wahrscheinlich alles bloß Gerede.«
An den anderen Tischen war es still geworden. Der Name Kaine schien wie ein Echo von den Wänden zurückzuhallen. Die Leute starrten Bryson an, und Michael konnte gut verstehen, warum. Kaine war inzwischen berüchtigt, ein Name, bei dem die Leute blass wurden. Seit ein paar Monaten gingen ständig neue Gerüchte über einen genialen Game Master namens Kaine um, der alles infiltrierte, von Spielen bis zu privaten Meetingrooms, und seine Opfer mit grauenhaften Visionen terrorisierte und sie sogar angriff. Dass er sie auch im Sleep gefangen hielt, hatte Michael zwar bis zu seiner Begegnung mit Tanja noch nie gehört, aber Kaines Name hing wie ein böser Zauber über der virtuellen Welt, als lauerte er gleich hinter der nächsten Ecke, wo immer man auch hinging. Brysons Lässigkeit wirkte daher ziemlich aufgesetzt.
Michael zeigte den anderen Gästen ein entschuldigendes Schulterzucken und wandte sich wieder seinen Freunden zu. »Sie sagte immer wieder, alles sei Kaines Schuld. Dass er sie gefangen gehalten hätte, bis sie es nicht mehr aushielt. Und dass er Leichen stehlen würde oder so ähnlich. Und dann redete sie noch von so was wie KillSims. Ich sag euch, noch bevor sie anfing, an ihrem Core herumzufummeln, sah ich an ihrem Blick, dass sie es todernst meinte. Sie ist diesem Kaine ganz bestimmt irgendwo begegnet.«
»Wir wissen so gut wie nichts über den Typen, der hinter Kaine steckt«, meinte Sarah. »Ich hab zwar so ziemlich jede Story über ihn aus dem Netz geholt, aber das ist auch alles, was es über ihn gibt – Gerüchte. Niemand hat jemals einen echten Hammer, einen Exklusivbericht oder so was über ihn gebracht. Keine Pix, kein Audio, kein Video, nichts. Als ob er gar nicht real wäre.«
»Aber so ist das eben im VirtNet«, entgegnete Bryson. »Dort muss etwas nicht wirklich real sein, um real zu sein. Darum geht’s doch gerade!«
Sarah schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist ein Gamer. Eine Person in ihrem Coffin. Bei der Publicity, die er hat, sollten wir inzwischen viel mehr über ihn wissen. Die Medien müssten eigentlich in Horden über ihn herfallen. Zumindest hätte ihn die VNS längst aufspüren müssen.«
Michael hatte allmählich den Eindruck, dass sie so nicht weiterkamen. »Hey, Leute, jetzt mal wieder zurück zu mir. Ich bin doch hier eigentlich der Traumatisierte, und ihr seid diejenigen, die mich trösten sollten. Bisher habt ihr das ziemlich vermasselt.«
Bryson wirkte aufrichtig betroffen. »Du hast recht, Kumpel. Sorry, aber bin ich echt froh, dass ich nicht an deiner Stelle war. Ich weiß ja, dass es zu dem ganzen Lifeblood-Erfahrungszeug gehört, einen Selbstmord zu verhindern, und wenn die Sache gut läuft, bringt es eine Menge Punkte. Aber wer hätte ahnen können, dass es bei dir echt abgeht? Wenn ich so was hätte mitansehen müssen, könnte ich wahrscheinlich eine Woche lang nicht mehr schlafen.«
»Auch nicht viel besser als vorher«, sagte Michael mit einem halbherzigen Lachen. In Wahrheit fühlte er sich schon allein deshalb besser, weil er mit seinen Freunden zusammen sein konnte. Aber irgendetwas in seinem tiefsten Innern nagte an ihm, suchte seinen Weg nach draußen. Etwas Dunkles mit riesigen Zähnen, das sich nicht ignorieren lassen wollte.
Sarah beugte sich über den Tisch und drückte seine Hand. »Eigentlich haben Bryson und ich keine Ahnung, wie das für dich war«, sagte sie leise. »Idiotisch, dass wir so tun als ob. Aber was da geschehen ist, tut mir wirklich leid.«
Michael errötete und wandte verlegen den Blick ab. Zu seiner Erleichterung brachte Bryson sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
»Ich muss mal für kleine Jungs«, verkündete er und stand auf. Das war im Sleep wie im wirklichen Leben, auch wenn sich der Hightech-»Sarg« um die Flüssigkeiten kümmerte, die der reale Körper währenddessen absonderte. Schließlich sollte sich alles echt anfühlen. Einfach alles.
»Reizend«, seufzte Sarah leise, während sie Michaels Hand wieder losließ und sich in ihrem Stuhl zurücklehnte. »Einfach reizend.«
3
Sie diskutierten noch ungefähr eine Stunde weiter und versprachen einander schließlich, sich bald in der Echtwelt zu treffen. Bryson erklärte, wenn sie das bis zum Monatsende nicht auf die Reihe brächten, würde er jeden Tag einen Finger abschneiden – so lange, bis das Treffen zustande kam. Michaels Finger natürlich, nicht seine eigenen. Was befreiendes Gelächter hervorrief.
An einem Portal verabschiedeten sie sich voneinander. Michael liftete zurück in den Wake und brachte im Coffin die übliche Routine hinter sich, bis er heraussteigen konnte. Als er zum Sessel hinüberging, fiel sein Blick ganz automatisch auf das große LifebloodDeep-Werbeplakat draußen, das er wie immer ein paar Sekunden lang sehnsuchtsvoll anstarrte. Sein ultimatives Ziel. Er war drauf und dran, sich in den Sessel fallen zu lassen, entschied sich aber in letzter Sekunde dagegen, als ihm klar wurde, dass er nie mehr aufstehen würde, so erschöpft wie er war – vom schmerzendem Kopf bis zum kleinsten Zeh. Und er hasste es, im Sessel einzuschlafen – danach wachte er immer mit Krämpfen an Stellen auf, an denen ein menschlicher Körper keine Krämpfe verspüren sollte.
ENDE DER LESEPROBE