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Die junge Lastotschka ist hart im Nehmen. Voller Zielstrebigkeit und mit festem Willen hat sie sich hochgearbeitet, von der Flaschensammlerin zur Chefärztin. Doch ihre von Armut geprägte Kindheit im Moldawien der Achtziger- und Neunzigerjahre verfolgt sie immer noch. Warum musste sie so viele Jahre im Waisenhaus zubringen? Warum hat ihre ruppige Ziehmutter Tamara sie schließlich zu sich geholt und zum Flaschensammeln mitgenommen? Und was ist aus den Frauen in ihrer damaligen Nachbarschaft geworden, ohne die Lastotschka nicht die wäre, die sie heute ist? Gemeinsam mit der Erzählerin kehren wir zurück in den Hof ihrer Kindheit und zum schmerzhaften Aufwachsen in einem System, in dem Menschlichkeit nicht vorgesehen ist. Tatiana Țîbuleac schildert die Umbrüche, die das heutige Moldawien und besonders Transnistrien noch immer prägen, unsentimental und mit poetischer Sprache.
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Seitenzahl: 318
Veröffentlichungsjahr: 2023
Inhalt
[Cover]
Titel
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
75. Kapitel
76. Kapitel
77. Kapitel
78. Kapitel
79. Kapitel
80. Kapitel
81. Kapitel
82. Kapitel
83. Kapitel
84. Kapitel
85. Kapitel
86. Kapitel
87. Kapitel
88. Kapitel
89. Kapitel
90. Kapitel
91. Kapitel
92. Kapitel
93. Kapitel
94. Kapitel
95. Kapitel
96. Kapitel
97. Kapitel
98. Kapitel
99. Kapitel
100. Kapitel
101. Kapitel
102. Kapitel
103. Kapitel
104. Kapitel
105. Kapitel
106. Kapitel
107. Kapitel
108. Kapitel
109. Kapitel
110. Kapitel
111. Kapitel
112. Kapitel
113. Kapitel
114. Kapitel
115. Kapitel
116. Kapitel
117. Kapitel
118. Kapitel
119. Kapitel
120. Kapitel
121. Kapitel
122. Kapitel
123. Kapitel
124. Kapitel
125. Kapitel
126. Kapitel
127. Kapitel
128. Kapitel
129. Kapitel
130. Kapitel
131. Kapitel
132. Kapitel
133. Kapitel
134. Kapitel
135. Kapitel
136. Kapitel
137. Kapitel
138. Kapitel
139. Kapitel
140. Kapitel
141. Kapitel
142. Kapitel
143. Kapitel
144. Kapitel
145. Kapitel
146. Kapitel
147. Kapitel
148. Kapitel
149. Kapitel
150. Kapitel
151. Kapitel
152. Kapitel
153. Kapitel
154. Kapitel
155. Kapitel
156. Kapitel
157. Kapitel
158. Kapitel
159. Kapitel
160. Kapitel
161. Kapitel
162. Kapitel
163. Kapitel
164. Kapitel
165. Kapitel
166. Kapitel
Glossar
Autor:innenporträt
Übersetzer:innenporträt
Kurzbeschreibung
Impressum
Widmung
Ihr sagtet, ich sei eine sentimentale Hündin.Ich beiße euch bis auf die Milch.
1
Ich werde bei Nacht geboren, bin sieben Jahre alt. Sie würde mich umarmen, sagt sie, aber sie hat keine Hand frei. Über uns leuchtet eine blaue Lampe, sie ist mit einem Kabel an einen Baum gebunden. Sie schaukelt. Ich lege den Kopf in den Nacken und kann sie besser sehen: Rund ist sie, wie ein noch nicht angeschnittenes Brot. Wir gehen durch Porţi wie durch einen steinernen Bauch. So ist es also in der Stadt, denke ich. Immer zu Tal, immer weiter talwärts führt der Weg. Eis erfasst unsere Sohlen, die Straße wird kürzer. Sie streckt mir ihre Manteltasche entgegen, damit ich nicht ausrutsche. Und damit ich mich umsehe, der Schönheit ansichtig werde! Dieses durchgesiebte Licht. Dieser Himmel mit den abgehauenen Sternen. Wohnblocks, Wohnblocks, Wohnblocks. Keiner höher als vier. Keiner breiter als vier. Ihre Tasche hat einen Pelz, mein Fingernagel fängt Feuer. In den Fenstern sieht man kleine Menschen schön leben. Tausende Vierecke mit je einem Glutkern. Das eine neben dem anderen, das eine über dem anderen. Die ganz unten tragen die anderen auf den Schultern. Die von unten sind kräftig. Ein blauer Hund folgt uns mit kleinen Trippelschritten. In der Stadt ist alles vier und blau, denke ich. Und ich darf nicht zurückbleiben, darf nicht zurückbleiben, auf keinen Fall. An einem Zaun bleiben wir stehen. Sakroj glasa i sabud wsjo – schließ die Augen und vergiss alles. Ich verstehe ihr Russisch nicht, vergesse von einer Sekunde auf die nächste alles.
2
Tamara Pawlowna nannte ihn unseren Mann und ist nie daran vorbeigegangen, ohne mit ihm zu sprechen wie mit einem Lebenden. Lang wie ein Lied – unser Zaun, der Zaun. Unsere Stärke, unser lieber golubtschik. An ihm hielten wir uns fest, wenn wir mit Schnitten in den Schultern und den Händen voller Spucke heimkamen. Zu seinen Füßen ließen wir uns nieder, ausgewrungen, um unser Zittern zu besänftigen. Dort haben wir am häufigsten geweint. Aber wir lachten dort auch: laut, von Herzen, wie ein paar Krähen im Winter. »Es steckt eine Seele in diesem Eisen!«, sagte sie jedes Mal, und ich glaubte ihr aufs Wort. Denn es gab nichts auf der Welt, das Tamara Pawlowna nicht am allerbesten gekannt hätte. Jahre später, als ich ihn von Rost zerfressen vorfand, die Verstrebungen wie ein paar Rippen auseinandergefallen, habe ich geweint wie vor einem Toten. Eisen umzubringen, ist nicht leicht, aber wenn man es stark genug will, schafft man es.
Vom Hügel aus, wie von unserem eigenen Everest herab, sah unser Hof wie eine offene Handfläche aus. Wir sahen die Kastanie mit ihren mastbaumartig verzweigten Ästen und den Polkownik zwischen den Blumen. Sahen die rote Rakete mit der funkelnden Spitze und das Flugzeug mit den vier Sitzen, das von weiß umkringelten Köpfen besetzt war. Wir sahen, wie bläuliche Leintücher auf Drähten vom Wind bewegt wurden, steif vor Stärke wie Dachpappe. Sahen Shurotschka auf dem Balkon, wie sie sich mit der Teppichbürste den Fuß rieb. Pawlik, der nicht spielte, sondern nur so dasaß. Auch sahen wir, verstreut in den Fenstern, dicke Frauen in Kleidern und mit Halsbändern, ja, unbedingt mit Halsbändern, die eben etwas fertig gekocht oder gebraten hatten. Bella Isaakowna und Rosa, beide mit Hüften wie Birnen, wie sie mitten auf der Straße tuschelten. Geheimnisse, immerzu Geheimnisse. Sahen Sachar Antonowitsch, die eine noch übrige Hand an seine Medaille gedrückt. Eine schreckliche Sache wäre das, eine Medaille zu verlieren, und welche Schande! Alle, alle, alle waren sie dort. Die hässliche Marina, der besoffene Ljontschik. Jekaterina wie der Mond. Alle unsere Leben unter einer Glasglocke. Und in diesen kurzen und hellen Sekunden, ein Spiel mit gespiegeltem Licht, waren wir glücklich bis ins Mark. Alle zusammen und jede für sich. Wir freuten uns für sie, für uns, über einen weiteren Tag, an dem wir einen Ort hatten, an den wir zurückkehren konnten. »Einen Ort unter Leuten zu haben, ist nicht eben wenig«, sagte Tamara Pawlowna, die Bescheid wusste. Sie wusste viel über Dinge und über Leute – mehr, als sie tragen konnte.
Vom Zaun bis nach Hause gab es noch ein Tal. Zwanzig Schritte einer erwachsenen Frau und zweiunddreißig einer kleinen Frau. Die machte ich vorsichtig, ohne Eile, vor allem ohne Eile. Damit ich nicht genau dann Bruch produzierte. Dann ließen auch wir uns sehen. »Die Flaschen kommen!«, flüsterten die Jüdinnen, aber das konnte ganz sicher alle Welt hören: Was hieß schon Flüstern bei den Jüdinnen? Und da war Schluss. Nach ihrem Gerede, ah, diesem Gerede, das wie ein Urteil klang, konnten wir nichts mehr tun. Unser teurer Tag, den wir mit Freuden bezahlt hätten, wenn er sich noch hätte ausdehnen lassen, wenn er noch etwas verweilt wäre, uns noch etwas umarmt hätte, er begann zu zerschmelzen. Wir schauten ihm zu, wie er sich, noch warm, widersetzte, mit allem, was er auf uns verteilt und uns gebracht hatte, und wir verabschiedeten ihn, als stünden wir an einem verzauberten Bahnhof, von dem man lediglich abfahren konnte. »Die Flaschenfrauen kommen!« war das Ende. Wir waren das Ende.
3
Kein anderer Morgen war wie jener erste, als ich in ihrem Bett aufwachte. Ich hatte genau in der Mitte geschlafen, als sei ich seine Füllung. Fünf weitere Mädchen hätten neben mir Platz gehabt, wenn wir uns quergelegt hätten. So leben die Bonbons, dachte ich. In knisternde Folien gewickelt, bis ein Mund sie aufisst. Im Internat hatte ich nur eine Decke gehabt. Sie hatte nach Mäusen gerochen, aber es hätte auch schlimmer sein können. Rings um mich schoss das Licht aus den Dingen, wie ich es noch niemals gesehen hatte. Sogar aus den Stühlen und den Wänden. Vor dem Fenster – eine neue Welt. Ein Zweig mit Knospen wie Perlen. Ein verzaubertes Tier. Am Himmel ein Durcheinander von Baumwipfeln und Vögeln. Eine Stimme wandte sich an mich. Ty prosnulas – bist du wach? Wie ein Schlüssel öffnete sie mich und fand ihren Platz links zwischen den Rippen. Ich stand vom Bett auf und hatte eine Mutter. Welch ein Wunder, kein Waisenkind mehr zu sein, und welche Angst, es innerhalb einer Sekunde wieder zu werden! Lastotschka, Schwalbe, nannte sie mich, und so hieß ich von nun an.
Ich aß dreimal, und es wurde Mittag. Ihr Tee duftete, das Brot – Butter, die Butter –, Honig. Vom Zuviel begann es mich links zu drücken. Das Gas brannte wie eine blaue Seerose. Im Radio kamen schöne Klänge: ljubow, ljubow, ljubow. Die Liebe, Liebe, Liebe. Tamara Pawlowna hörte zu, lächelte schmal, das Zimmer füllte sich mit Wärme. Sie zeigte mir das Haus und es wurde Abend. Jenen Tag trage ich mit mir in alle Länder, in alle Zustände. Ich habe kein Äquivalent dafür gefunden, weder im Geld noch in der Liebe. Niemand hat mich sonst haben wollen. Nicht einmal ihr.
4
Es war Montag und Dezember. Seitdem beginnen alle meine Monate mit dem Montag und die Jahre mit dem Dezember. Es hatte die ganze Nacht geschneit, der Hof hatte sich an seinen Gelenken gerundet. Sowohl das Grüne als auch das Schwarze waren nun weiß. Allein die rjabinka, die Vogelbeere, brannte rot an den Zweigen, und Morkowkas Augen leuchteten orange auf dem Rohr der Kanalisation. Ich war so schön wie nie zuvor. Und wenn ich das damals verstanden und gewusst hätte, wie es im Leben zugeht, hätte ich mir all diese Schönheit für später aufgehoben. Aber ich habe es nicht gewusst. Ich war ein Kind, gerade noch.
Tamara Pawlowna hatte mir für sehr viel Geld neue Anziehsachen gekauft. So viel gaben nur Brautleute oder Tote auf einmal aus. »Ich habe nur das Beste genommen«, sagte sie, und dass ich mir das merken solle. Wenn ich etwas Gutes täte, dann sollte ich das nicht in alten Klamotten tun. Ich drehte mich um die eigene Achse und sie lachte zufrieden. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich gesehen werden. Ich hätte es in der Kälte ausgehalten, mich zum Eiszapfen gefrieren lassen, wenn mich bloß die Mädchen aus dem Internat hätten sehen können! Sie hatte einen Mantel mit Kragen, hätten die aus der Gruppe der Großen gesagt, böse und verträumt. Sie hatte pelzgefütterte Stiefel, hätten die aus der Gruppe der Kleinen gesagt, traurig und krank. Mit der Zeit, das weiß ich, wäre die Geschichte dünner geworden, wie jede Geschichte. Es hätte möglicherweise nicht mehr geschneit. Aus Morkowka wäre vielleicht ein Hund geworden und aus mir ein Junge. Aber selbst das wäre ausreichend gewesen. Selbst das. Im Internat hatte ich einen einzigen Traum gehabt: ein ausländisches Brautkleid zu besitzen.
Wir gingen los, die Wand entlang, an der Kastanie vorbei, vorbei am vor Kälte toten Garten. Mitten auf der Straße streute ein fröhlicher Mann mit einer neuen Schaufel Salz. Tausende Halbmonde funkelnden Salzes! »Auf dem Weg zur Arbeit?«, fragte er Tamara Pawlowna. »Auf dem Weg zur Arbeit«, antwortete sie, und beide nickten. Um zu bedeuten, dass es gut war – die Arbeit und auch der Rest –, und so nickte ich mit. Die Stadt vor uns begann sich zu regen, ein Riese nach einem Besäufnis. Ich war an einen seltsamen Ort gelangt, voller Dinge, aber ohne Menschen. Das Gegenteil dessen, was ich bis dahin erlebt hatte. In den Höfen sah man Autos, aber keine Fahrer. In den Fenstern sah man Blumen, aber keine Menschen. Die Luft – zur Hälfte Benzin. Die Hunde – fett und brav. Auf den Straßen – Hunderte brennende Lichter. Wo war der Schalter? Wer hatte das Licht angelassen?
Unter einer Birke lagen ein paar leere Flaschen, wie vergessen. Tamara Pawlowna bückte sich und packte sie ins Netz. Ringsum niemand, eine weitere Lüge. Ich wusste, weiß, dass jedes Ding einen Besitzer hat. Und jeder Besitzer hat Fäuste. Eine Falle! Sie wollte mich prüfen. Wollte mich verwirren. Die Stadt war kein Ort, sondern eine Strafe. Ich war gekommen, um für alle verprügelt zu werden.
Hinter einer Ecke versperrte uns ein Mann wie ein Haus den Weg, und ich blieb erschrocken stehen. Pamjatnik, ein Denkmal, für einen Helden. Sergej Laso – Geroj, ich erfuhr, dass Helden leiden müssen, wenn sie ein Denkmal errichtet bekommen wollen. Laso war bei lebendigem Leib in einer Lokomotive verbrannt worden, aber es hätte auch schlimmer ausgehen können. Sergej der Held gefiel mir. Er hatte den rechten Arm ausgestreckt, als wollte er jemandem beim Reden Einhalt gebieten, und ein so trauriges Gesicht, als hätte er schon als kleines Kind gewusst, dass er lebend verbrannt werden würde. Ich hätte in einer seiner Hände ausreichend Platz, dachte ich. Tamara Pawlowna lachte kurz und stieß mir in den Rücken, damit ich losging. Das wunderte mich am meisten, dass draußen überhaupt kein Wind ging. Ich hatte keine Angst, aber ich fragte mich: Was waren die Städter für Menschen?
5
Eine volle, richtig volle Wanne. Ich vermaß sie mit den Augen. Ich hatte noch nie so viel sauberes Wasser verbraucht. Das erste Wasser, so hieß es bei uns im Internat, und wir benutzten es, um uns das Gesicht und das Untenrum zu waschen. Von den Klamotten wurden nur die Höschen im ersten Wasser gewaschen. Der Rest wurde mit dem zweiten Wasser gewaschen. Die Fußböden wurden mit dem dritten geputzt und unsere Schuhe mit dem, was übrig blieb. Den letzten Schmutzrest kippten wir in die Hagebuttensträucher der Direktorin. Die Direktorin hatte einen Sohn, Ruslantschik, der trank nur Hagebuttentee. Der von den Waisen bewässerte Hagebuttenstrauch gedieh gut, Ruslantschik allerdings weniger. Seine Augen traten hervor, der Bauch quoll auf. Wir nannten ihn »die Blase« und streckten ihm die Zunge heraus.
Tamara Pawlowna hatte ein Bad mit blauen Fliesen, mit blauen Blumen und blauer Mitte. Es gab viel Schönes ringsum, ich fühlte mich wie in einem Gemälde. Nicht die Wanne zerkratzen, das Wasser nicht verstinken, mich gründlich einweichen. Als sie mit dem Schwamm reinkam, sprang ich auf die Beine. Sie drehte mich lange in alle Richtungen, als sei ich ein neues Kleid, suchte nach Fehlern. Ich sah ihre runden und gelben brauenlosen Augen. Die dünnen Ohren, den weißen Schädel. Sie machte nicht groß was her, aber sie war die Einzige, die mich hatte haben wollen. Und mit Seife, und mit Seife. Und da noch, und da noch.
Zelka?, Jungfrau?, fragte sie schmallippig und ich spürte ihre rauen Finger in mich eindringen. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich wartete auf ein anderes Wort, das ich verstehen konnte, aber sie hatte kein anderes. Zelka, Zelka, Zelka?, der Schmerz in mir wurde heftiger. Die Wörter fielen ihr wie Mistkäfer aus dem Mund und krochen auf mich zu. Ich nickte. Die Finger kamen heraus und wanderten zu meiner Fußsohle. Und mit Seife, und mit Seife. Und da noch, und da noch. Budesch poslushnoi, sdelaju is tibja tscheloweka. Wenn du auf mich hörst, mache ich einen Menschen aus dir.
6
Wenn du drei Dinge über einen Ort weißt, kann er dich nicht mehr vertreiben. Ich hatte Morkowka Knochen mitgebracht, hatte als Erste den Mann mit der Schaufel gegrüßt. Ich hatte das Netz. An jenem Morgen war die Stadt nicht mehr leer. Man konnte die Menschen spüren. Ich hörte, wie über unseren Köpfen ein Fenster geöffnet wurde, worauf ein Zigarettenstummel in unsere Richtung flog. Swinja, rief Tamara Pawlowna hinauf, Schwein, ging aber weiter. Der Stummel glühte noch eine Weile auf dem Schnee und erinnerte mich flüchtig an die Zigaretten von Rodion Eduardowitsch. Ich beschleunigte meine Schritte – jeder rote Punkt brannte mich. An einer Kreuzung öffnete sich mit einigem Gepolter ein kleines weißes Häuschen, dessen Sinn und Zweck ich nicht kannte, und zeigte uns eine halbe Frau ohne Kopf. Kiosk Gasety, Zeitungskiosk, klärte sie mich auf, und ich freute mich sehr. Ich wusste, was Zeitungen waren, und nun hatte ich erfahren, wo sie herkamen. In der Stadt erfährt man viele Dinge, dachte ich. Im Internat sagte man uns nichts oder man sagte es uns zu spät. So wie damals, als Olea den ganzen Winter hindurch gehustet hatte und im Frühling dann in Mantel und Stiefeln zu den Tuberkulösen geschickt worden war. Zu spät, hatte die Direktorin gesagt, zu spät. Olea habe ich nicht mehr wiedergesehen.
Ich wollte sie fragen, was Swinja hieß, aber gleich darauf hörte ich Uliza. Straße. Swinjauliza wiederholte ich, um es nicht zu vergessen. Es nie zu vergessen. Swinjauliza. An einer Tanne löste sie den Schal, den sie sich als Kopftuch umgewickelt hatte, und zeigte auf deren Spitze. Jolka, sagte sie und fing an zu lachen. Tanne. Joolka, lachte ich und spürte, wie mein Mund auf der Stelle voll silberner Glöckchen war. Joool-ka. Tamara Pawlowna redete und redete, zeigte mir neue Dinge und Orte, brachte mir Wörter bei, und mir kam es so vor, als sänge sie für mich. Sie waren schön, ihre Wörter. Rund und dampfend, und einmal ausgesprochen, hallten sie noch lange und fern nach, als hätte jemand rings um uns herum Kristallgläser zerschlagen. Ich wollte sprechen wie sie, wollte alles so tun, wie sie es tat.
7
Am nächsten Tag sagte sie Swetofor. Ampel. Swefator, wiederholte ich eilig, ganz und gar auf dem falschen Fuß erwischt, aber der Zauber verflog. Die Glöckchen begannen eines nach dem anderen zu verstummen, bis sie sich schließlich in eine Zielscheibe verwandelten. Ich spürte es im Nacken, wie damals, wenn nachts Rodion Eduardowitsch auf den Fluren zu hören gewesen war, dass etwas Böses passieren würde. Tamara Pawlowna schaute mich verärgert an, als sei sie zu spät über etwas informiert worden, das ihr ganz und gar nicht gefiel. Ihre Augen verengten sich, die Lippen wurden schmal, und so, die Wangen ganz und gar eingezogen, wirkte sie wie ein Zimmer, in dem das Licht ausgeschaltet worden war. Ich hatte einen Fehler gemacht, ich wusste, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Aber das Wort war einfach zu lang gewesen. Schön, aber zu lang. Ein Verräter.
Ich erwartete einen Schlag von ihr, aber die Faust kam nicht. Verzieh sie mir oder bereitete sie insgeheim eine andere Strafe für mich vor? Ich richtete mich auf und reckte das Kinn vor, wie Olea es uns allen beigebracht hatte. Wenn du ihr zeigst, dass es dir nicht wehtut, hört sie auf, sagte sie uns eines Nachts, als sie in den Schlafraum kam und nach versengtem Fleisch roch. Swefator, versuchte ich es noch mal, und wieder war’s verkehrt. Swe-fa-tor.
Tamara Pawlowna spuckte in den Schnee und machte sich auf nach Hause. In ihrer Folge begann die Woche alles einzufalten, was sie mir versprochen hatte. An meiner Seite zogen wie winzig kleine Särge die letzten Worte der Direktorin vorbei, das Butterbrot, dass ich morgens gegessen hatte, Sergejs offener Mantel. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Ich rannte hinter ihr her, packte sie an der Hand und schleuderte ihr entgegen: Swetofor, swetofor, swetofor, swetofor. Viermal, wie in der Stadt. Utschi russkij jasyk, bes nego nikuda, sagte sie zu mir. Lerne die russische Sprache, ohne sie wirst du zugrunde gehen. Und dabei blieb es.
DassdichjemandzusichinsHausnimmt,allesmitdirteilt.
Ohne Hintergedanken?
Dass du etwas bekommst, ohne es zu verlangen. Dass du aufbrauchst, was du nicht selbst gekauft hast.
Und wenn es einen Hintergedanken gibt, wenn es den immer gegeben hat? Wie verborgen muss ein solcher Gedanke sein, damit er alles Schöne ringsum überwindet?
8
Vielleicht müsste ich auf Russisch schreiben. Im Russischen werden die Wörter anders angeordnet. Auf Rumänisch kann ich mich deutlicher erinnern. Ich will alles sagen. Engel oder Teufel, was wählt man, wenn beide hinter derselben Sache her sind? Ich hätte mich sogar an eine scharfe Klinge gelehnt, wenn sie mich gestreichelt und mir Brot zugeworfen hätte. Hinter jener schmalen und schmutzigen Tür öffnete sich mir eine ganze Welt. Ich betrat sie gedankenlos, mit der Angst eines Kindes, das bis dahin lediglich von Resten gelebt hatte. Seit ich nach Chişinău gekommen war, hatte ich mir ein Leben zusammengeheftet, in dessen Mitte es eine Sonne gab – Tamara Pawlowna. Die strahlte, brannte und verwandelte alles in Asche. Sie war wie ein Zaubervogel – meine Tamara Pawlowna! Mörderisch, aber mitfühlend. Listig, aber gerecht. Vor ihrem Lästermaul und ihrem Verstand hüteten sich alle wie vor einer Krankheit, aber wenn sie nicht mehr weiterwussten, kehrten alle zu ihr zurück. Manchmal, wenn ich nachts heimkehrte und sie sich auszog zum Schlafen, schien mir, als sollte sich ihr Haar in Federn verwandeln und die Zunge in einen Flammenstoß.
Am ersten Tag wies sie mir eine Ecke zu. »Setz dich hin und lerne!«, und dabei blieb es. Sie arbeitete immerzu. Nahm Altglas entgegen oder sammelte es ein, tröstete die Säufer und redete allen anderen gut zu. Vergrößerte, rundete auf, erbaute aus Kopeken das Imperium, das schließlich mal meines sein würde. Wenn sie etwas Wichtiges tat, fragte sie mich kurz, ob ich sie verstanden habe. Ob ich, wenn es darauf ankäme, das Gleiche tun könnte wie sie. Nur einmal habe ich njet geantwortet, nein, und das hat ihr nicht gefallen. Sie brachte mir das Alphabet bei, die Republiken und den Umgang mit Geld. Vor allem den Umgang mit Geld, denn »Zahlen und Rubel sind nicht dasselbe«. Auch Dummköpfe können zählen, aber sie können kein Geld ansammeln. Das schnelle Geld – ihre Ikone auf der Brust. Ihr alltäglicher Glaube – in Ermangelung eines anderen –, der möglicherweise falsch war?
Am allerwichtigsten war ihr aber, dass ich Russisch sprach. An jedem Tag hatte ich sieben Wörter zu lernen. Keine zehn, aber auch keine fünf, und ich hatte sie richtig zu lernen. Wenn ich einen Fehler machte, und ich machte ständig Fehler, bog sie ihren Zeigefinger zu einem Dreieck und schlug mir damit auf die Stirn. Ihre brauenlosen Augen drehten sich wie Kreisel vor Wut, und mir war danach, mich selbst zu züchtigen.
9
Vielleicht interessiert es euch, dass ihr eine Enkelin habt. Verkrüppelt und ziemlich hässlich. Hässlich aufgrund ihrer Krankheit, denken alle. Ich aber weiß: Von der Krankheit kommt es nicht. Er ist hässlich. Was soll’s, dafür ist er klug, sagten alle zu mir, und das hat mich überzeugt. Sei’s drum, eine Schönheit bin ich selbst nie gewesen. Warum sollte man von einem Menschen Schönheit verlangen, wenn er der Einzige ist, der einem bleibt? Kann ein Mensch, selbst ein schöner, je die Sonne überstrahlen? Seine Klugheit hat mir allerdings nicht groß weitergeholfen. Auch die Klugen stechen zu, bloß klingen ihre Entschuldigungen schöner. Diesen Teil der Geschichte erzähle ich euch nicht mehr, ihr wisst ja bestens Bescheid. »Verstand und Herz sind zwei verschiedene Dinge, Lastotschka«, sagte Tamara Pawlowna bis kurz vor Schluss. Ich hielt sie für verrückt. Sie sagte, der Verstand komme an erster Stelle, er stehe auf einer anderen Stufe. Er war kein Fleischklumpen unter einer Rippe – er war ein Himmel!
Ich habe sie Tamara genannt, und es gibt Tage, an denen scheint die Sonne. Wenn sie ganz bei sich bleibt, ist es, als hätte ich euch verziehen. Ich schaue ihr in die Augen, sie spürt es und lächelt. Es gibt aber auch andere Tage, da ich euch beinahe verstehe. Dann wünsche ich mir, sie wäre nicht mehr da. Dass sie verschwindet, sich nicht mehr quälen muss. Dass ich nicht mehr mitkriege, wie sie in meinen Armen in Scherben geht.
Lobstein, sagte der Arzt, und mit einem Mal wusste ich Bescheid. Auf Rumänisch klingt es schöner, dachte ich. »Zwischen Lobster und Einstein«, erschrocken, hörte ich nur noch wirres Zeug und dachte, es würde schon vorbeigehen. Hoffte, es würde vorbeigehen. Schließlich hatte ich von meinen Eltern gelernt, dass alles im Leben ein Ende hat. Und dann, als klar war, dass es nicht vorbeigehen würde, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Verstand und Herz sind zwei verschiedene Dinge.
10
Der Hof war voll, und alle waren dort meinetwegen zusammengekommen. Idut, idut!, rief Pawlik vom Ende der Straße, kommt, kommt, er spielte nicht, stand nur so da. Er hatte eine Uschanka auf, eine Mütze mit Ohrenklappen, und nur noch ein Auge, das linke. Unser Pawlik. Wenn er durch den Schnee rannte, sah er aus wie ein Piratenhund. Das rechte Auge hatten ihm die Kinder mit einem Stück Rohr ausgeschlagen. Es war seltsam gewesen – alle hatten sich damals gewundert –, wie das Auge aus der Höhle trat, aber nicht zu Boden fiel. Und nicht von Geld war die Rede gewesen. Aber bis der Rettungswagen gekommen war, bis seine Mutter die Jungs zusammengebrüllt hatte – Kto? Urody! – Wer war das? Ihr Monster! –, war die Wurzel des Auges vertrocknet. So haben’s die Ärzte gesagt: Die Wurzel ist vertrocknet, und dann traurig geschwiegen. Das Unglück war groß genug, was hätten sie da noch sagen können?
Seht, auch der Rottenführer war da. Der Rottenführer war hoch aufgeschossen und gut, sein Hals selbst bei Kälte unbedeckt, und er hielt mir sogleich eine Mandarine hin. Dann schloss er meine Hand über der Mandarine mit seiner und flüsterte mir ins Ohr: »Weißt du, was wir hier haben, neeein, du weißt es nicht, warte mal bis der Frühling kommt!« Er duftete nach Rosen, und ich wunderte mich. Rosen im Winter? Da wusste ich noch nicht, wie sehr er Rosenkonfitüre liebte, und dass er den ganzen Tag lang davon naschte, mit dem Löffel und gleich aus dem Einmachglas.
Seht, auch Jekaterina Andrejewna war da. Ein Traum in Pelz mit einem goldenen Apfel! Ich wusste sofort, dass ich niemals, tatsächlich niemals im gesamten Universum einem schöneren Geschöpf begegnen würde. »Die trägt man nicht so«, lachte Katjuscha über meine Mütze und berührte meine Wange. Ich legte mein Gesicht an ihre Brust, und zwischen dem zweiten und dem dritten Knopf, wo ihr Kleid sich leicht geöffnet hatte, schoss ein weißer Duft hervor, jung, wie ein Zuckerwölkchen. So riechen Feierlichkeiten, dachte ich.
Seht, auch Sachar Antonowitsch war da. Immerzu mit seinen Medaillen beschäftigt, Medaillen hier, Medaillen da, Sachar Antonowitsch! Als wäre ein Krieg gerade zu Ende gegangen und ein weiterer hätte bereits begonnen. Der Liebe auch, unser teurer Alter. Die Taschen voller Bonbons, den Mund voller Geschichten. Zu Hause in der Wohnung zu erfrieren, hatte er nicht als letztes Gefecht erwartet, aber das war, was ihm zuteilwurde.
Seht, auch Shuuurotschka war da. Alle liebten Shurotschka, und Shurotschka liebte ihrerseits alle. Jeder Hof braucht einen Menschen, den die gesamte Herde lieben kann. Uns war Shurotschka gegeben worden.
Sie ist ganz hübsch, sagten die Leute.
Spricht sie Russisch?, fragten sie. Goworit po Russki?
Scheint es nicht im Internat gelernt zu haben, wunderten sie sich.
Es hatte zu schneien begonnen, die Mandarine des Rottenführers heizte meine Hand auf wie eine Flamme. Hätte ich nur diesen einen Tag gehabt, es hätte mir genügt.
In einem Monat vergehen: Hunger, Verbrennungen, die Angst vor der Dunkelheit, die Sehnsucht nach Olea.
In einem Monat legt die Haut den Waisengeruch ab, und du kannst werden, was du willst.
11
In Chişinău gibt es eine Straße – die längste und beschwerlichste Straße der Welt. In dieser Straße können die Gebäude, die Bäume, die Ampeln, ja selbst die Mülleimer und sogar die Schlaglöcher Russisch. Ein einziges Mal sagte sie zu mir, ich solle lieber Moldauisch reden, als Russisch zu sprechen wie ein Dummkopf. Russkij jasyk ne wto-ro-ga sorta – Russisch ist keine Sprache zweiter Klasse. Sie bog ihren Zeigefinger zum Dreieck und schlug mir siebenmal auf die Stirn. Warum siebenmal, woher kam die Sieben? Einmal für jedes einzelne Wort und dreimal für wto-ro-ga, weil es drei Silben hatte. Hätte sie es mir mit einem weiß glühenden Dorn auf die Stirn geschrieben, hätte es mich weniger geschmerzt.
Zumeist endete die Straße damit, dass ich ihre Faust ins Gesicht bekam. Es gab aber auch Tage, an denen ich keinen einzigen Fehler machte, und dann gingen wir in die Konditorei am Eck. Es begann schon in einiger Entfernung. Sie stellte das Netz mit den Flaschen ab und richtete sich das Haar; winters knöpfte sie den Mantel auf und im Sommer wischte sie sich mit dem Taschentuch über den Hals und die Achselhöhlen. Tschego chotschesch?, hörte ich schließlich, Was möchtest du?, und in meinem Herzen ging ein Sturm los. Was wollte ich? Was konnte ich noch wollen? Ich verlangte jedes Mal einen Birkensaft. Dann drückte sie mir zwanzig Kopeken in die Hand und schubste mich an, damit ich ihn mir selbst bestellte. »Odin sok birjusowij«, sagte ich beim ersten Mal, und die Verkäuferin lachte los. Auch Tamara Pawlowna lachte. Sogar ich lächelte, aber erst viele Jahre später wurde mir klar, dass ich an jenem Tag, als mir alles schwer und weit weg vorgekommen war, einen »türkisen Saft« bestellt hatte. Ein Laut hat die Birke in eine Farbe verwandelt. Ich glaube, ich habe nie einen schöneren Fehler gemacht.
Tamara Pawlowna kaufte sich nie etwas, obwohl ich sehen konnte, wie ihre Augen die Tortenstücke verschlangen, die dreistöckigen Kuchenstücke mit Nusskrokant, die Körbchen mit den kleinen roten Pilzen aus reiner Butter. Ganz besonders mochte sie – und das fand ich erst später heraus – die seerosenförmigen Sandkekse mit dem Schokoladenklecks in der Mitte. Die billigsten unter den guten Sachen, aber nicht einmal die kaufte sie sich. Einmal – wir hatten eben mit irgendeiner Nichtigkeit ein Vermögen gemacht –, da wagte ich sie zu fragen, warum sie sich nicht wenigstens ein klein bisschen was Gutes gönnte. »Für mich gibt es nichts Gutes mehr, Lastotschka. Warum sollte man die süßen Sachen verderben, indem man sie auf einen unempfänglichen Mund verschwendet?« Und mir war, als antwortete sie nicht mir allein, sondern einem ganzen Haus voller Leute, allesamt in ein und demselben Körper versammelt: dem Geizkragen und der Duldsamen, der Gierigen und der, die nur noch für sich selbst lebt.
12
Es war nicht eben ein Beruf, Flaschen zu sammeln, aber es war auch nicht nichts. In Tamara Pawlownas Kopf stand eine Leiter, auf der die Leute je nach Verdienst aufstiegen. Auf jener Leiter befanden wir uns unter den Briefträgern, aber über den Kwas-Verkäufern. Briefe konnten schließlich auch wichtige Dokumente sein, während der Kwas, einmal getrunken, einem in aller Ewigkeit rein gar nichts mehr einbrachte. Eine Flasche wiederum schon. Eine Flasche, selbst eine leere, angepisste, ja sogar eine ausländische Flasche konnte dich bereichern. Zumindest, wenn du nicht faul warst oder ein Säufer, und das waren wir nicht. Wir verstanden uns aufs Sammeln und wir sammelten. Mit kältesteifen Fingern sammelten wir, den Magen vor Ekel umgedreht. Geld, das aus dem Nichts verdient wurde. Ein Vermögen aus dem Nichts. Dafür hatte sie ihr Leben in ein ständiges Herumlaufen verwandelt. Auch mich zog sie für Geld groß. Nicht aus reiner Großherzigkeit, wie ich in den ersten Monaten dachte: für noch mehr Geld.
Sie wurde langsam älter und brauchte eine helfende Hand, sagte sie zu mir. Ich denke aber, sie wollte Anerkennung, wie es sich alle Eltern und Tierhalter ab einem bestimmten Zeitpunkt wünschen. Und ich gab sie ihr, gebe sie ihr immer noch. Sie bekommt mehr als genug Anerkennung von mir. Was auch immer sie in ihrem habgierigen Kopf für Interessen verfolgt haben mag, sie war meine Mutter. Aber um welchen Preis? Was nützt es, einen Blinden auf einen Berggipfel zu stellen? Warum sollte man eine verwesende Leiche mit frischen Rosen bedecken? Je mehr sie mir kaufte, umso weniger wollte ich haben. Sie hatte ein Herz, ich kann nicht behaupten, sie hätte keines gehabt, nur war es ganz anders beschaffen als meines. Ihr Herz wollte Gold, meines die Sterne.
Würde sie weinen, frage ich mich, wenn sie mich jetzt hören könnte? Sie würde weinen, ich weiß es. Undankbarkeit ist besonders verletzend. Diese niederträchtige Kleine, dieser hässliche Bastard tut mir am meisten weh. Man kann ihr weder verzeihen noch sie bestrafen – eine Idiotin.
13
Lastotschka, sagst du?«, und sein Gesicht hellte sich auf, als er mich mit Halwa in der Hand auf der Türschwelle stehen sah. Von da an hörte ich ihm zu. Sachar Antonowitsch hatte immer Bonbons dabei, aber wir nahmen sie uns selber, er tat sich ja schwer mit nur einem Arm. Er freute sich immer, unsere Wärme um seinen Körper herum zu spüren. Gnjosdyschko dlja konfet, Bonbonnestchen, nannte er seine Tasche, und wir waren immer hinter ihm her. Er war wie ein Baumstumpf, ohne linken Arm, ohne rechtes Bein, aber vollständiger als manch ein Unversehrter. Die Kinder umringten ihn wie einen Bären, und er liebte sie wie Honig. Wegen der Bonbons ging er einmal die Woche bei dem Laden hinterm Wohnblock vorbei und bat Varea, welche von den billigsten auszuwählen. »Für die Teufel«, sagte er erfreut, stützte sich mit dem einen Arm auf seine Krücke und belastete das eine Bein schwer. Sie nickte, schüttete sie ihm direkt in die Jackentasche und gab auch noch ein paar gratis dazu. Varea nannte ihn Antonâci, und ich glaube, er war der einzige Mensch, den sie nicht mit ihrer Waage über den Tisch zog. Aus Respekt, aber vielleicht auch aus Mitleid. Vielleicht auch weder aus dem einen noch aus dem anderen Grund. Damals vergaben die Leute sich ihre Sünden selber, gerade so, wie sie’s verstanden.
In die andere Tasche wünschte sich Sachar Antonowitsch eine Bierflasche. Varea öffnete sie ihm an der Kante ihrer Kiosktheke und hielt sie ihm an die Lippen, damit er erst einmal einen Schluck nehmen konnte. Dann steckte sie ihm die Flasche umsichtig in die Tasche, damit er sie nicht unterwegs verlor. Noch nie hatte der Alte die Straße so überquert, wie es sich gehört hätte. Er ging immer bei Rot und stets sang er dabei Soldatenlieder, wie ein besoffener Soldat, der ins Maschinengewehrfeuer torkelt. »Der Irre, der Irre!«, schrien die Fahrer aus ihren hinuntergekurbelten Fenstern, aber seine Medaillen und Zähne funkelten weiter. Das Bier trank er auf der Bank im Hof aus, unter der Kastanie. Dabei erzählte er vom Krieg, er redete einfach so vor sich hin oder mit wem es sich so ergab. Oft waren das Pawlik und ich, manchmal sprach er auch zu den kleineren Kindern oder sogar mit Morkowka. Mehr als diese beiden Sachen – Bier und Bonbons – konnte Sachar Antonowitsch nicht tragen. Mehr brauchte er aber auch nicht. Milch und Brot kaufte ihm bednaja Tonea, die arme Tonea, Käse brachte ihm Galea, und den Rest – einen Borschtsch, eine gebackene Kartoffel, einen Fingerbreit Salami – schickten ihm die Frauen reihum. »Bring sie Sachar«, sagte Tamara Pawlowna, wenn sie Eier oder Halwa kaufte, seine größten Schwächen.
Am liebsten aß ich die Glasbonbons, die mir nicht die Zähne verkleisterten wie die Karamelldrecksdinger. Sachar Antonowitsch ließ mich stets zwei nehmen, nicht nur eines wie alle anderen Kinder, weil ich nämlich eine Waise war und deshalb mehr Bitterkeit im Mund hatte. »Meine Bonbons für deine Ohren«, präzisierte er, als hätten wir das Tauschgeschäft von Anfang an ausgemacht. Und dann fing er an. Er sprach langsam, viel, pausenlos, aber niemals über dieselbe Sache oder denselben Ort, und das war für einen so alten Mann und einen ehemaligen Soldaten sehr ungewöhnlich.
Manchmal kam es mir so vor, als würde Sachar Antonowitsch schlicht und einfach vertrocknen wie ein Baum ohne Wasser, wenn wir ihm nicht zuhörten. Es gibt Menschen auf der Welt, die nicht überleben können, wenn sie nicht erzählen. Für diese Menschen – immer sind die schön und oftmals auch verrückt – muss das Leben ein Märchen sein. Denn nur dort, zwischen dessen weichen und verzauberten Rippen, versöhnen sie sich mit dem Bösen und dem Schmerz, mit den Krankheiten und dem Verrat, weil sie wissen. Sie wissen, dass eine Geschichte die Dinge niemals unerledigt lässt. Eine Geschichte – auch die allerkürzeste und auch die traurigste – achtet stets darauf, Gerechtigkeit geschehen zu lassen.
14
Diese Sprache!
Ständig kämpften meine Ohren und mein Mund gegeneinander, wobei der Mund nur selten als Sieger hervorging. Die russischen Wörter kamen mir länger vor und konnten verschiedene Bedeutungen zugleich haben. Ein falscher Buchstabe konnte einen aus einer Welt in die andere werfen. Selbst das Schweigen war wichtig. Wenn das Wort kurz ist, kann es tief einschneiden wie in lebendiges Fleisch! Ist es lang, darfst du es nicht verlieren, geh mit ihm in einer Reihe.
Ne obesjana, a objasana. Es heißt nicht ›Affe‹, sondern ›verpflichtet‹.
Ne tschitat, a stschitat. Es heißt nicht ›lesen‹, sondern ›zählen‹.
Ty tschto, sowsem dura? Bist du eigentlich wirklich so dumm?
Russisch war zu einem strengen, stirngerunzelten Gesicht geworden. Schön, überirdisch schön, aber voller Grausamkeit. Wenn sie lächelte, erblühten sogar die Dornen rings um mich. Aber wenn ich einen Fehler machte … Da verwandelte sich meine Eiskönigin in ein Mädchen aus dem Internat, mit dem ich mich aus den tiefsten Käsekrapfen meines Seins heraus zu prügeln begann. Ich weinte jeden Tag. Ich stieß die Wörter mit dem Fuß aus mir heraus. Mit den Zähnen zog ich sie mir aus dem Fleisch, wie Hagebuttendornen. Wenn es mir besonders schwerfiel, stieß ich mir die Fingernägel in die Schenkel. Auf diese Weise war der Schmerz an mehreren Stellen gleichzeitig zu spüren. Die Töne klarten auf und verließen mich deutlich und korrekt. So hatte ich isjaschno, graziös, vierzehn Mal ausgesprochen und ebenso viele Fingerdreiecke an die Stirn gehauen bekommen. Skorochod, schnell wie der Blitz, vor Neuheit. Ja und jo waren am schwersten. Das Sch hätte ich am liebsten mit einer Hand erwürgt wie Rodion Eduardowitsch. Wenn ich spürte, dass mir die Tränen in die Augen stiegen, sagte ich mehrfach hintereinander »jolka« und fing von vorne an. Jolka – wie eine ausgestreckte Hand. Die Hand einer Bettlerin?
Das neue Jahr kommt. Ich habe ein neues Wollkleid.
Ich habe neue pelzgefütterte Stiefel. Habe neue flaumige Handschuhe.
Ich esse am Fenster Torte.
Ich trage die Stiefel in der Wohnung, damit sie mich draußen nicht aufreiben.
Wenn man sie nicht hört, sind die lachenden Kinder hässlicher als die Kinder, die weinen. Unsere Tanne ist ein Ast mit zweierlei Schmuck: einer Möhre und einer Eichel. Sie nadelt nicht auf den Teppich.
S nowym godom! La mulţi ani! – Frohes neues Jahr!
15
… Ja sebe druguju naschla, ich suche mir eine andere. Es war schon dunkel, als sie sich zum Schlafen auszog und zum Zaubervogel wurde. Ich stellte mich schlafend, sie dann auch. Im Zimmer roch es stark nach Chlor, zuletzt hatten wir die kotzeverklebten Flaschen gespült. Der Mond schien in den Flur, wo sie in mehreren langen Reihen standen, und machte sie schön. Wenn sie dich schlägt, hältst du es aus. Wenn sie dir nichts zu essen gibt, hältst du es aus. Wenn du es nicht mehr aushalten kannst, weinst du im Verborgenen. Das waren die letzten Worte der Direktorin gewesen. Olea glitt vom Dachboden herab und begann, auf dem Lüster zu schaukeln. So endete der Tag, der folgendermaßen begonnen hatte.