Der Garten Gottes - Rudolf Greinz - E-Book

Der Garten Gottes E-Book

Rudolf Greinz

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Beschreibung

Rudolf Greiz erzählt von Menschen in Südtirol, von der Liebe zwischen einem Dichter und einer sehr jungen Frau, dem Leid und Neid, der Mißgunst und dem Hass, den diese Liebe auslöst.Rudolf Heinrich Greinz (* 16. August 1866 in Pradl bei Innsbruck; 16. August 1942 in Innsbruck), österreichischer Schriftsteller. Rudolf Greinz, der Bruder des Kritikers, Erzählers und Übersetzers Hugo Greinz, wurde als Verfasser von religiösen Schriften und konservativen historischen Romanen bekannt. Sein Verhältnis zur Kirche war jedoch stets ambivalent. Obrigkeitsorientiert und dennoch kirchenfeindlich. Ab 1933 lebte der beliebte und weitverbreitete Tiroler Erzähler in Aldrans bei Innsbruck. Zahlreiche Reisen führten ihn zu Dichterlesungen im gesamten deutschen Sprachraum, wo er als der typische Vertreter des bodenständigen Schrifttums in Tirol galt und großen Anklang fand. (Quelle: Wikipedia)

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Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Der Garten Gottes

1.

2.

3.

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8

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Über den Autor

Impressum

Hinweise und Rechtliches

E-Books im Reese Verlag (Auswahl):

 

 

 

Rudolf Greinz

 

Der Garten Gottes

 

Roman

 

 

Reese Verlag

 

 

mediareese.de

 

 

Der Garten Gottes

 

 

1.

 

Setzt euch zu mir und lauschet ...

Ich will euch erzählen von einer alten, lieben Stadt. Die liegt in einem wunderschönen Land, umkränzt von hohen Bergen, von Schlössern und Burgen, lachenden Fluren und Auen, grünen Weinbergen und üppigen Obstangern. Tiefblauer Himmel wölbt sich über dem breiten Tal, und die Sonne leuchtet so goldig und warm, als hätte sie ein immerwährendes Freudenfest zu feiern.

Und ich will euch erzählen von Menschen, von der Liebe und dem Leid und dem ewigen Frieden.

Es war einmal ...

Es war einmal ein liebes, blondes Kind. So zart und fein wie ein Elflein, mit goldig rotem Haar und großen, strahlenden blauen Augen. Und es war ein feiner junger Herr, ein Fremder in diesem Land, der gekommen war, dort Heilung zu suchen von schwerem Siechtum ...

Heinrich Landgraf, der Dichter, weilte erst wenige Wochen in der alten Stadt Meran. Nach einer langen und beschwerlichen Reise war er vom Norden dorthin gekommen, mitten im Winter, hatte Eis und Schnee und rauhe Stürme hinter sich gelassen und hatte hier den Frühling gefunden.

Schon blühten vereinzelt an den Hügelländen die Mandeln und die Pfirsichbäume, und grüner Rasen bedeckte den größten Teil der Wiesen und Felder des sonnigen Landes. Man hätte es kaum glauben mögen, daß erst vor wenigen Tagen der März seinen Einzug gehalten hatte.

Wie ein Träumender durchwanderte Heinrich Landgraf die sonnbeschienenen, ungepflegten und zum Teil auch steinigen Wege. Denn damals gab es in der kleinen Stadt weder Promenaden noch Kurgärten. Wie ein schlafendes Dornröschen lag Meran in seiner einsamen Pracht und harrte des Erweckers, der erst Jahrzehnte später es zum blühenden Leben rief.

Daß es so viel Sonne geben konnte!

Immer wieder mußte Heinrich Landgraf auf seinen einsamen Wanderungen an seine nordische Heimat denken, wo es noch tiefer Winter war, während es hier mit mächtigen Schritten dem jungen Lenz entgegenging.

Und was für ein Frühling war das! Blütengarten reihte sich an Blütenhain. Berückend schön in seinem reichen Farbenrausch. Jede Schattierung von Weiß, Rosa und dunkelm Rot. Blütendolde an Blütendolde, so voll und üppig, als hätten Engel über Nacht mit feinen, segenspendenden Händen diese Gegend in einen Garten Gottes verwandelt.

Ein Garten Gottes ... so nannte es Heinrich Landgraf, der Dichter, in warmer Dankbarkeit, indes die kranke Brust tief atmend die laue Luft einsog ... indes viel hunderte kleiner Vogelkehlen den jubelnden Gesang von Liebe, Sehnsucht und Erfüllung anstimmten.

Ein junger, müder, gebrochener Mann schlich da einsam, in tiefe Gedanken versunken, den Weg entlang. Heinrich Landgraf war doppelt krank, an Leib und Seele. Hart hatte dem noch nicht Dreißigjährigen das Leben mitgespielt, und kaum wagte er zu hoffen, daß ihm hier auch Heilung für die Seele werden könnte.

Eine tiefe Furche grub sich in die hohe bleiche Stirn des jungen Mannes, und fest preßte er die Lippen zusammen, wie vor verhaltenem Weh. Ein kühler frischer Wind blies ihm ins Gesicht und rötete die blassen Wangen. Der scharfe Wind kam so plötzlich und war so ungewohnt, daß Heinrich Landgraf unwillkürlich und beinahe erschrocken auffuhr und überrascht stehenblieb.

Wo war er eigentlich hingeraten? ... Er hatte gar nicht auf Weg und Steg geachtet und war einfach planlos weitergewandert. Und nun sah er, daß er die Stadt weit unter sich gelassen hatte und daß er sich auf einer Art Berghöhe befand.

Bis hinauf zur Zenoburg war er gestiegen. Daß er dies so ohne körperliche Anstrengung hatte leisten können, freute ihn und war ihm ein gutes Zeichen der fortschreitenden Genesung. Denn der Weg, der zu der alten Ruine emporführte, war steil und .Innig. Wiederholt schon hatte Landgraf es unternommen, die alte, graue, mit Efeu bewachsene Burg näher zu besichtigen. Doch stet’, hatte er auf halbem Wege kehrtmachen müssen.

Heute aber war es gelungen; und beinahe wäre er jetzt achtlos an der Ruine vorbeigegangen. Denn schon war er ein Stück des Weges weitergewandert, als ihn der frische Passeirerwind aus seiner Gedankenwelt aufschreckte und in die Wirklichkeit zurückrief.

Vom Norden herüber grüßte der Jaufenpaß, der das enge Tal der Passer abschloß, und mit ihm grüßte der Winter; denn heftiges Schneegestöber war auf dem Paß zu sehen. Das nahm sich aus wie das lose Spiel von feinen weißen Schleiern im Wind, die schelmisch immer wieder die tiefe Bläue des Firmamentes zu verdecken suchten und denen es doch nur gelang, für Augenblicke die äußerste Spitze des Berges in leichten, durchsichtigen Nebel zu hüllen.

Eine Weile blieb Heinrich Landgraf stehen und schaute wie gebannt auf das herrliche Panorama des Nordens, das sich hier seinen Augen erschloß. Nur der strahlend blaue Himmel erinnerte hier noch an den Süden ... und doch, sowie er seine Blicke nach rechts lenkte, hinüber nach Obermais, von dem ihn das breite Bett der Passer trennte, war er schon wieder mitten im Blütenmeer des Südlandes.

Wie scharf und schneidend hier oben der Wind wehte! Heinrich Landgraf erinnerte sich an die Mahnung des alten Arztes, unter dessen sorgender Obhut er sich befand. Nicht stehenbleiben und vor allem nicht im erhitzten Zustand. Kalte Winde schaden der Lunge, hatte der alte Herr gemahnt.

Eingedenk dieser Warnung, widerstand Landgraf der Lockung, hier am Wegrand eine kurze Rast zu machen. Eine plötzliche Müdigkeit überfiel den Kranken, und der Heimweg erschien ihm mit einem Male weit und beschwerlich.

Doch hier oben, wo der Norden mit dem Süden um den Vorrang zu kämpfen schien, war nicht der geeignete Ort zur Rast. Er mußte sich ein ruhiges, windgeschütztes Plätzchen suchen und hoffte es hinter den Mauern der alten Zenoburg zu finden.

Langsam wanderte Heinrich Landgraf die kurze Strecke bis zu der alten Ruine zurück. Obwohl der Weg nur etliche Minuten in Anspruch nahm, erschien er dem Kranken doch weiter, als er es in Wirklichkeit war, länger und auch beschwerlicher.

Beinahe schleichend vor Erschöpfung stieg der einsame Wanderer die kleine Anhöhe hinan, umweht von dem scharfen Passeirerwind, der sich ihm nun in unangenehmer Weise bemerkbar machte.

Ganz erhitzt langte Heinrich Landgraf vor dem Eingangstor der Burgruine an und war nun mit wenigen Schritten nicht nur im Südland, sondern sah sich auch plötzlich um Jahrhunderte zurückversetzt.

Auf einem langgestreckten, in das rauschende Bett der Passer vorspringenden Felsknoten liegen die Überreste der einstmals weitläufigen Zenoburg, inmitten abschüssiger Wiesen, umstanden von uralten breitästigen und hochwipfeligen Bäumen. Efeu und Gesträuch klettern an den Trümmern der Ringmauer empor. Nur noch ein einsamer hoher viereckiger Turm und der dem heiligen Zeno geweihte Kirchenbau mit dem romantischen Sandsteinportal, dessen halbverwitterte eingemeißelte Figuren in den hellen Sonnenschein starren, zeugen von der entschwundenen Herrlichkeit jener seit Jahrhunderten versunkenen Zeit, als König Heinrich von Böhmen da droben glänzenden Hofstaat hielt.

Drunten am jäh abstürzenden Felsen gurgeln die Wellen der Passer. Droben träumt die weltabgeschiedene Einsamkeit, weht der Wind durch die grünen Wipfel und spielen die Sonnenlichter über dem grauen Gemäuer.

Wie feierlich und still es hier oben in dem kleinen Burghof war. Nichts regte sich, kein Laut... nur ab und zu der halb verschollene Schrei eines Hahnes, der an die Nähe menschlicher Behausungen gemahnte. Warm brannte die Sonne auf den Burghof herab, und leise raschelte das Laub des Efeus, wenn flinke grüne Eidechsen ihr hurtiges Spiel über die altersgrauen Mauern trieben.

Der hohe viereckige Turm, zu dem steile Steintreppen emporführten, stand getrennt von dem Kirchenbau, der mehr gegen Süden lag und einen herrlichen Ausblick nach Meran und Obermais bot. Bäume und Sträucher wuchsen hier in wirrem Gestrüpp. Welkes, goldgelbes Laub, ein Überrest des reichen Herbstes, bedeckte den Boden und knisterte unter den beinahe vorsichtigen Tritten des jungen Dichters. Denn Heinrich Landgraf überkam ein heiliger Schauer in dieser altehrwürdigen Vergangenheit, und mit ehrfürchtiger Hingabe ließ er den Zauber dieser ganzen Umgebung auf sich einwirken.

Er genoß die Ruhe, den tiefen Frieden, genoß den Blick auf die Weingärten und Blütenhaine von Obermais, bewunderte die Schlösser und Burgen, die zumeist von Efeu überwuchert mitten in weit ausgedehnten Weingärten lagen, schaute hinauf zu der spitzen Bergzacke des Ifingers und erfreute sich an dem Anblick des Kirchleins Sankt Katharina in der Scharte, das im Osten auf waldigem Bergkamm gelegen freundlich ins Etschland grüßte.

Jäh senkte sich vor dem einsamen Mann der felsige Abgrund ins Tal. Die Passer brauste in enger Talschlucht, und zu Füßen des Berges sanft angeschmiegt an diesen, lag eine kleine Wiese. Die war so tiefgrün und sah aus wie eine weiche Matte. Sie lockte verführerisch. Ein Schwindelgefühl überkam den jungen Dichter, als er von dem niederen Mauerausschnitt neben der Kirche längere Zeit in die steile Tiefe schaute.

Eine kleine Steinbank war am Kircheneingang der alten Ruine angebracht und lud zu kurzer Rast. Heinrich Landgraf ließ sich auf der Bank nieder, um sich hier von den Beschwerden des Weges zu erholen. Die Sonne brannte warm und mild, und den einsamen Mann überkam ein so eigen wohliges Gefühl, daß er allmählich Zeit und Ort vergaß und leicht zu schlummern begann.

Wie lange er so, den breitkrempigen Strohhut mit dem schwarzen Band tief in die Stirn gedrückt, dagesessen hatte, wußte er nicht. Als er erwachte, herrschte noch immer die feiertägliche Stille wie zuvor. Die Eidechsen kletterten munter über das alte Gemäuer, oder sie hielten eine Weile reglos inne und äugelten klug und beobachtend auf den Fremden, um dann flink und hurtig in ihr efeuüberwuchertes Versteck zu entfliehen.

Weiße Schmetterlinge flatterten umher, und leise surrend durchschwirrten bunte Käfer die Luft. Von Obermais tönte der helle Klang einer Turmuhr. Vier Uhr ... Heinrich Landgraf mußte schleunigst an den Heimweg denken, wenn er noch vor Sonnenuntergang sein schützendes Dach erreichen wollte. Denn so warm und mild die Luft jetzt war, so kalt und rauh konnte sie zu späterer Stunde werden.

Noch einmal sah sich Landgraf in diesem stillen Märchenreich um, blickte hinüber zu den alten Schlössern nach Obermais und hinunter gegen Süden in das breite Etschtal. In feinem blauen Dunst lagen dort die zarte Silhouette der Mendel und die spitzen Zacken der Trientinerberge, die das Tal abschlossen. Ein würziger Hauch von Blüten war in der Luft, und der schmelzende Gesang einer Amsel kündete den angehenden Abend.

Nur eine ganz kurze Wanderung durch diesen kleinen Zaubergarten wollte sich Heinrich Landgraf noch leisten, ehe er den Heimweg antrat.

Ein paar halb verfallene Steintreppen führten von dem viereckigen, nach rückwärts gelegenen Turm in einen kleinen verwilderten Garten. Von niederen Steinmauern umgeben und vom Efeu übersponnen, ohne Zier und Blumen war dieser Fleck Erde. Nur Veilchen lugten verstohlen aus ihren Verstecken.

Heinrich Landgraf bückte sich, um etliche von ihnen zu pflücken. Er war ein schlankgewachsener blonder Mann, und sein von einem kurzen Vollbart umrahmtes Gesicht hatte beinahe die zarte rosige Farbe eines jungen Mädchens. Das volle Blondhaar wellte sich leicht unter dem breitkrempigen gelben Strohhut, der den müden Ausdruck der hellen Augen etwas verdeckte.

Als sich Landgraf zur Erde beugte, übersah er die schmale, vom welken Herbstlaub noch ganz überschüttete Steintreppe, die abwärts zu einem zweiten kleinen, gleichfalls eingemauerten Garten führte. Und wie ein kleiner Junge fiel er der Länge nach hin, mit der Nase auf dem Boden und die Hände weit von sich gestreckt.

Er mußte einen unbeschreiblich komischen Anblick geboten haben; denn zwei helle Mädchenstimmen lachten schadenfroh und unbarmherzig und schienen sich vor Lustigkeit gar nicht mehr fassen zu können.

Der Klang menschlicher Stimmen in diesem stillen Zauberreich schien den jungen Mann noch mehr zu überraschen als sein Mißgeschick, und ganz verdutzt und unbeholfen schaute er um sich. Er wäre nicht im mindesten überrascht gewesen, wenn sich plötzlich aus dem altersgrauen Gemäuer ein paar Kobolde losgelöst und ihn mit ihrem Spott gehänselt hätten.

Wie in Erwartung einer spukhaften Erscheinung blieb Heinrich Landgraf reglos liegen und reckte nur den Kopf ein klein wenig in die Höhe, neugierig der Richtung folgend, aus der das lose Mädchenlachen kam. Die Eigentümerinnen der hellen Stimmen aber konnte er nirgends entdecken.

Schon bildete er sich ein, daß ihn tatsächlich bei hellichtem Tag Spukgestalten höhnten, als ihm plötzlich ein kleiner Strauß Vergißmeinnicht mitten ins Gesicht flog und ihn zur Wirklichkeit zurückrief.

»Aber Mariele!« hörte er eine weiche dunkle Stimme vorwurfsvoll sagen. »Wer wird denn ...«

»Laß’ mich!« kam es resolut zurück. »Der Herrische ist gar so teppet!«

Und ehe Landgraf es sich versah, bekam er mit derbem Wurf eine ganze Ladung Blumen ins Gesicht geschmissen. Das waren so viele, daß er vorerst nicht einmal die Augen öffnen konnte. Erst allmählich befreite er sich von der schönen Last und sah, daß es lauter Vergißmeinnicht waren. Offenbar ganz frisch gepflückt und von seltener Größe und tiefblauer Farbe.

»Oh ... die armen Blumen!« rief er mit komischem Bedauern. Dabei erhob er sich langsam und etwas schwerfällig; denn es fiel ihm nun mit einem Male ein, daß die Stellung, in der er sich befand, nicht gerade sehr männlich aussah und den Spott der jungen Mädchen entfesseln mußte.

Als er aufgestanden war und noch ganz verwirrt um sich schaute, erblickte er auch die Besitzerinnen der hellen lachenden Stimmen in seiner allernächsten Nähe. Eng aneinandergedrückt saßen zwei blutjunge Mädchen am Rand der niederen Steinmauer, und ihr Schoß war voll von Blumen, die sie zu Sträußen ordneten.

Jetzt, da der Fremde vor ihnen stand und höflich grüßend seinen Hut zog, bekamen sie’s mit der Scheu zu tun. Verlegen, mit ängstlichen Kinderaugen sahen beide zu ihm auf. Es waren halbe Kinder. Sie mochten ungefähr sechzehn und siebzehn Jahre alt sein.

Ein zartes goldblondes Köpfchen mit hellen strahlenden Augen, glührot im Gesicht vor Verlegenheit, suchte Deckung vor dem forschenden Blick des Fremden und verbarg sich scheu hinter den Schultern der Freundin. Diese, ein bräunlich derberes Mädel, nicht sehr groß, aber gut gewachsen, schien bedeutend resoluter zu sein. Denn nachdem sie die erste Scheu überwunden hatte, sprang sie entschlossen in die Höhe, pflanzte sich kühn vor Heinrich Landgraf auf und erwiderte mit frischer Stimme seinen stummen Gruß ... »Grüß Gott!«

Es klang herausfordernd, und in ihren dunkeln Augen leuchtete es übermütig. Offenbar belustigte sie der Fremde noch immer sehr; denn mit einem Male platzte sie fröhlich lachend los.

Das lustige Lachen wirkte so ansteckend, daß Heinrich Landgraf unwillkürlich mit einstimmte. Auch das zarte Blondköpfchen, das anfangs schüchtern versucht hatte, dem Heiterkeitsausbruch ihrer Freundin Einhalt zu tun, lachte nun frei und ungebunden mit.

So lachten sich denn die drei Menschenkinder, die sich eben erst gesehen hatten, gründlich und vom Herzen aus. Jedes lachte, weil es das andere lachen sah, und keines wußte eigentlich mehr, warum es lachte. Aber sie freuten sich über ihren Frohsinn und über ihre Jugend ... und der Fremde fühlte es als etwas ungemein Befreiendes, so vom Herzen mitlachen zu dürfen.

Erst nach geraumer Zeit, als sie alle drei wieder ernst geworden waren, frug Heinrich Landgraf: »Ich muß wohl drollig ausgesehen haben, wie ich so dalag, weil Sie soviel Spaß daran haben?«

»Wie ein Kiniglhas ...« antwortete das brünette Mädchen. »Und so ein dummes G’sicht wie Sie g’macht haben!« Und neuerdings wollte sie belustigt losbrechen.

»Aber Mariele ...« Die kleine Goldblonde mit den großen hellen Augen hatte sich nun erhoben, und überrascht sah Landgraf auf das zarte, feine Figürchen herab. Etwas ungemein Kindliches lag in dem weichen Gesichtchen, und hätte nicht ihre fast frauenhafte Kleidung und ihre Haartracht sie älter erscheinen lassen, so hätte man sie ruhig für ein zwölfjähriges Mädchen halten mögen.

Sie trug wie ihre Freundin ein langes helles Kattunkleid, und ein weißer Spitzenkragen, der den feinen Hals nur ganz wenig freiließ, war über der Brust kreuzförmig geschlossen. Der Rock war bauschig und verlieh der zierlichen Gestalt das gravitätische Aussehen einer gut angezogenen Puppe. Das goldblonde Haar trug sie in weichem Scheitel tief über die Ohren gekämmt und rückwärts in Zöpfen über einen großen Hornkamm geschlungen. Das zarte, beinahe durchsichtige feine Gesichtchen hatte einen weichen Liebreiz. Zwei Grübchen spielten beim Lachen um den frischen kleinen Mund, und der Ausdruck ihrer großen blauen Augen hatte etwas Inniges und Verträumtes.

»Kleine Märchenprinzessin ...« sagte Heinrich Landgraf galant, während er sich nochmals tief vor ihr verbeugte. »Wie heißen wir denn?« frug er sie dann in beinahe väterlichem Ton.

»Gabriele ...« sagte das Mädchen leise, und ihre Freundin ergänzte: »Gabriele Falger, und ich bin die Marie Neuner. Und wie heißen Sie?« forschte sie und sah neugierig zu ihm auf.

»Doktor Heinrich Landgraf und bin ein Dichter. Wissen die jungen Damen, was das ist?«

Gabriele schüttelte verneinend den Kopf, während das Mariele vorlaut meinte: »Was recht Gescheites kann das einmal nit sein. Denn sich bei hellichtem Tag auf die Zenoburg aufersetzen und da zu schlafen, nachher herzukugeln und liegenzubleiben wie ein Strohsack ...«

»Aber Mariele ...« sagte die Kleine vorwurfsvoll, und mit bittendem Blick entschuldigte sie die Freundin ... »Sie dürfen’s ihr nit verübeln, gnädiger Herr, ’s Mariele ist nur ein bissel resch ... aber sonst ist sie schon recht.«

Die Art, wie sich die Kleine ausdrückte, überzeugte Landgraf, daß sie ein Mädchen aus dem Volke war. Er hätte sie wirklich und wahrhaftig für ein feines Fräulein gehalten. Die zarten kleinen Hände waren weiß und gepflegt und zeugten nicht von harter Arbeit. Das Mariele hingegen hatte eine derbe Arbeitshand, und die Haut war rauh und stark gerötet.

Das alles sah Heinrich Landgraf, während er jetzt neben den beiden Mädchen den steilen Hang von der Zenoburg herabstieg. Und er sah auch, daß das Mariele gar nicht so gut und sorgfältig gekleidet war wie ihre Freundin. Diese trippelte nun mit kurzen schnellen Schritten voran und hatte dabei etwas ungemein Possierliches an sich. Eine Art gravitätischer Grazie, frühreifer Frauenwürde, von der das kindliche Gesichtchen seltsam abstach.

»Wie eine lebendige Puppe ...« sagte Heinrich Landgraf halblaut vor sich hin und betrachtete die Kleine mit nachdenklichen Blicken.

»Da haben’s recht. Akkurat wie eine Puppen. Der alte Kruckenhauser sagt’s auch alleweil ...« bestätigte ihm das Mariele, die mit scharf beobachtenden Augen neben dem Fremden herging.

»Der alte Kruckenhauser? Wer ist das?« frug Heinrich Landgraf über eine Weile.

»Sie werden ihn nit kennen.« Das Mariele schob verächtlich die kräftige Schulter hoch. »Ein halber Narr ist’s, und den Puppenspieler heißt man ihn.«

»Den Puppenspieler? Warum?«

»Weil er nix tut wie Puppen schnitzen. Lauter Grafen und Gräfinnen und Fürsten und ...«

»Und Könige und Räuber und ...« ergänzte Landgraf munter.

»Ja, woher wissen denn Sie das?« Das Mariele schaute verwundert zu dem Fremden auf, als wollte sie sagen ... sie hätte ihm beim besten Willen nicht so viel Geist zugetraut, daß er dies alles erraten könnte.

»Das ist aber schwer zu erraten!« spottete nun Landgraf und sah lustig auf das braune Mädel herab. »Sie scheinen noch immer keine hohe Meinung von mir zu haben.«

»Ich kenn’ Ihnen ja gar nit.« Nun wurde das Mariele mit einem Male rot, und eilig davonlaufend sprang sie flink wie ein Wiesel ihrer Freundin nach.

»Heda! Nur nicht gar so schnell! Wollen mich die Damen nicht mitnehmen?« rief Heinrich Landgraf fröhlich. Er fühlte sich plötzlich wie umgewandelt. Alle Müdigkeit war jetzt verschwunden, und er dachte gar nicht mehr daran, daß er eigentlich ein kranker Mann war und auf sich achtzugeben hatte.

»Wo wohnen Sie denn?« frug Gabriele mit ihrer vollen dunkeln Stimme, die so seltsam weich klang und bei dem zierlichen Persönchen so überraschte.

»Drunten in Meran.« Der Fremde wies mit der Hand in die Richtung, von woher er gekommen war.

»Jetzt sind wir akkurat so gescheit wie zuerst!« meinte das Mariele. »Sie müssen schon sagen, wo Sie in Meran wohnen. Die Stadt ist groß.«

»Sehr groß!« spottete Heinrich Landgraf. »So groß, daß ich mich wundere, Sie beide erst heute kennenzulernen. Man stolpert ja sonst über jeden Bekannten auf Schritt und Tritt.«

»Bei uns können’s lang warten, bis Sie über uns stolpern!« gab das Mariele beleidigt zurück. »Wir gehen unsere eigenen Wege, und in die Stadt kommen wir nur selten.«

»Das soll doch keine Abfuhr sein ... Fräulein Mariele ...« bat der Fremde. »Es hat mir so gut getan, zwei junge frische Menschenkinder anzutreffen. Sie wissen gar nicht, wie gut es mir getan hat...« fügte er warm hinzu, und der müde Ausdruck des Gesichtes überkam ihn wieder und ließ ihn älter und krank erscheinen.

»Wenn’s Ihnen eine Freude macht, dann zeigen wir Ihnen den Weg, auf dem Sie uns öfters treffen können!« sagte da Gabriele. Sie hatte die Veränderung bemerkt, die mit dem Fremden vorgegangen war, und ein ehrliches Mitleid mit dem jungen Mann überkam sie.

»Oh ... es würde mir eine große Freude sein!« erwiderte Landgraf eifrig und sah mit warmer Dankbarkeit auf die Kleine.

Mit großen ernsten Augen schaute Gabriele zu dem Fremden empor. »Sie sind wohl auch krank?« frug sie dann nachdenklich.

»Ich war krank ...« bestätigte der junge Mann. »Aber hier in diesem gottbegnadeten Land muß man ja genesen. Da kann’s ja überhaupt gar keine Kranken geben.«

Sie waren nun schon eine Weile von der steilen, holprig gepflasterten Landstraße abgebogen und hatten auf schmale Pfade eingelenkt, die längs der Weingärten führten. Nun waren sie an dem alten Pulverturm vorbeigekommen, und knapp zu ihren Füßen lag die Stadt.

Die rötlichbraunen Dächer der Häuser schoben sich eng aneinander. Die kleinen Gäßchen durchzogen das Häusergewirr wie schmale Striche; der Turm der Pfarrkirche überragte in stattlicher Höhe das Gemäuer des Steinachs und der Laubengasse, überragte auch die vier Türme, welche von der alten Stadtmauer zurückgeblieben waren, durch ihre Torbogen den Straßen von auswärts her Einlaß gewährend.

Vom Pulverturm aus war der Blick in das breite Etschland noch weit großartiger wie drüben auf der Zenoburg. Das Tal weitete sich, und hohe steile Bergketten schlossen es im Norden gleich einer unüberwindlichen Mauer ab. Und überall, wohin das Auge schaute, grünte und blühte es. Die alten Gärten, die sich an den Häusern des Steinachs aufbauten, sandten weichen Blütenduft zu den Hängen des Küchelbergs empor.

»Da ... sehen Sie nur, wie schön!« Mit trunkenen Blicken sah Heinrich Landgraf hinüber nach Mais, das sich jenseits der Passer in sanfter Anhöhe bis zu dem Fuß des Berges hinstreckte und wie ein großer ausgedehnter Blütenhain erschien. »Hier kann man ja gar nicht krank sein ...« wiederholte der junge Dichter sinnend. »Es ist alles so reich hier und so schön.«

Staunend und etwas scheu sahen die beiden Mädchen zu dem Fremden auf.

»Ist’s bei Ihnen daheim nit so schön?« frug dann das Mariele über eine Weile.

»In meiner Heimat kämpft jetzt der Winter noch mächtig mit dem Frühling. Und wenn der Lenz dann endlich kommt, so ist er ernst und schlicht... so ernst wie die Leute dort sind, die sich kaum über ihn zu freuen wagen; denn sie verstecken ihre Gefühle und man kann nicht warm werden bei ihnen.«

»Wie seltsam Sie reden ...« meinte Gabriele nachdenklich. »So ähnlich kann man’s öfters in den Büchern lesen ...« fügte sie dann leise hinzu.

»Lesen Sie denn Bücher?« frug Landgraf überrascht.

»Manchmal schon. Wenn mir der Kruckenhauser eins borgt.«

»Der Puppenspieler?«

»Ja. Und die Bücher sind alle alt und riechen feucht. Ich lese sie nicht gern.«

»Warum?« Heinrich Landgraf frug es mit gespannter Neugierde. Das kleine Mädchen mit dem sinnenden Gesichtchen interessierte ihn immer mehr.

»Weil sie nach Moder riechen und mich ans Sterben erinnern. Und ich will nicht an das Grab denken; denn dort ist’s dunkel und feucht.«

»Der alte Korbinian Kruckenhauser macht’s Madel noch ganz narrisch!« sagte nun das Mariele ehrlich empört. »Was der ihr für Flausen in den Kopf setzt ... es ist nit zu glauben. Jetzt hat er sie gar schon abgerichtet, daß sie ihm für seine Puppen die Kleider macht. Und dann muß sie das alte stinkende Zeug lesen, von der Margarete Maultasch und dem König Heinrich und wie die alle heißen.« Das Mariele nahm jetzt energisch den Arm ihrer Freundin

und munterte sie zum Heimweg auf. »Geh’ jetzt, Gabriele ... du weißt schon, wenn’s so spät wird ... dann ...«

Heinrich Landgraf konnte die letzten Worte, die mit leiser Stimme gesprochen wurden, nicht mehr verstehen. Er hatte aber den Eindruck, daß das praktische Mariele ein sehr gesunder Ausgleich für das verträumte blonde Mädchen war.

»Darf ich denn noch ein Stückchen mitkommen?« frug der Fremde über eine Weile. Die beiden Mädchen hatten es jetzt mit einem Male so eilig, daß Landgraf sich Mühe geben mußte, mit ihnen Schritt zu heilten. Wie zwei junge Rehe hüpften sie munter voran.

Der Weg führte nun abwärts und war eigentlich kein richtiger Weg mehr zu nennen. Über kahle Felsenplatten und teilweise über steiniges Geröll ging’s schräg nach unten der Laubengasse zu.

»Mit uns können’s jetzt nimmer weiter gehn!« meinte das Mariele stehenbleibend. »Sie werden doch in Steinach wohnen. Da müssen’s jetzt links abbiegen, bis Sie zu die steinernen Staffeln kommen. Gleich hinter der Pfarrkirchen kommen’s dann außer!« erklärte sie wichtig.

»Das heißt also, ich soll für heute Abschied nehmen.« Eine leise Traurigkeit lag in den Worten des Fremden. Es tat ihm ehrlich leid, daß diese schöne letzte Stunde so rasch verstrichen war.

Gabriele hielt ihm die kleine weiche Hand entgegen. »Morgen nach dem Mittag sind wir wieder beim Pulverturm ...« sagte sie tröstend.

»Oder auch nit!« widersprach das Mariele boshaft. »Aber wenn’s uns einmal aufsuchen wollen ... beim Falgerbuschen sind wir zu erfragen ...« fügte sie dann lustig hinzu.

»Falgerbuschen? Wo ist das?« erkundigte sich Landgraf interessiert.

»Da sieht man’s, daß Sie noch gar nix kennen von unserm Meran!« schimpfte das Mariele scherzend. »Der Falgerbuschen ist unter den Berglauben und gehört der Gabriele ihren Eltern. Und wenn’s wirklich einen guten Wein kosten wollen, dann müssen’s in Falgerbuschen gehn. Meinen Vater treffens alle Abend dort und den Kruckenhauser und noch eine ganze Menge von die alten Herrn. Die wissen halt, wo’? gut ist bei uns ...« rühmte sie dann.

»Und Sie beide sind auch dort?«

»Wir? Naa!« Hellauf klang das lustige Lachen der beiden Mädchen.

»Was hätten denn wir bei die alten Mannder zu suchen?« höhnte das Mariele. »Nur erfragen können’s uns dort, weil’s die Eltern sein von der Gabriele. Und weil mein Vater auch alleweil dort hocken muß.«

Der letzte Satz kam etwas herb über die frischen Lippen des jungen Mädchens, so daß Landgraf sie leicht verwundert ansah. Er sagte aber kein Wort, sondern drückte den beiden nur warm die Hände zum Abschied.

»Auf baldiges Wiedersehen denn!« sagte er leise.

»Auf Wiedersehen!« kam es frisch zurück, und schnell eilten die Mädchen ihres Weges und verschwanden bald unter einem der Laubengänge, der nach rechts abbog und zu den Gärten gehörte, die sich von den Häusern der Berglauben bis zu den Hängen des Küchelberges hin ausdehnten.

Als Heinrich Landgraf die schmalen Steinstufen herabstieg, die hinter der Pfarrkirche einmündeten, schlug die Uhr des Turmes fünf. Im Nu war ihm die Zeit vergangen, und er fühlte sich durch das Zusammentreffen mit den beiden jungen Mädchen angeregt und um vieles kräftiger.

Durch enge, holprig gepflasterte Gäßchen führte ihn sein Weg zu dem kleinen Platz am Steinach, wo der Fremde bei einer freundlichen Bürgersfrau Unterkunft gefunden hatte. Ein einfaches Zimmer, rein, aber ohne jeden Komfort. Den brauchte Heinrich Landgraf nicht. Was er nötig hatte, war Licht und Sonne. Und das fand er hier in überreicher Fülle.

Die Fenster des Zimmers hatten den Ausblick auf einen großen Blumengarten. Hohe Mauern zäunten den Garten ein. Alte Bäume, in denen zu abendlicher Stunde die Nachtigall schlug, und blühende Sträucher, duftender Flieder, Rosenhecken und wuchernde Nachtschatten, Kletterrosen und Glyzinien bildeten den Schmuck des Gartens und wuchsen in regellosem Durcheinander. Ein kleines Reich für sich, weltabgeschieden und weltverloren inmitten der stillen alten Stadt.

Von ferne hörte man das gedämpfte Rauschen der Passer. Eine weiche laue Stimmung lag über dem Garten ... so weich und lau, daß Heinrich Landgraf der Versuchung nicht widerstehen konnte, trotz der späten Stunde noch ein wenig in dem Garten herumzuwandern.

Dort blieb er dann, völlig seinen Gedanken nachhängend, bis die Dunkelheit einfiel und die ersten Sterne am Himmel funkelten.

2.

 

Der alte Doktor Jakob Tyrler hatte es seinem Patienten gestattet, jetzt, da die Nächte so sommerlich mild waren, öfters des Abends auszugehen und auch Gesellschaft aufzusuchen. Er hielt darauf, daß seine Kranken soviel wie möglich unter Menschen gingen und ihre Kräfte mit jenen maßen, die gesund und stark waren. Nur auf diese Weise konnte er jener seelischen Niedergeschlagenheit beikommen, die in so vielen Fällen die Hauptursache eines langen Siechtums bildete.

Heinrich Landgraf gehörte zu dieser Art hypochondrischer Kranker, die sich einbildeten, weit leidender zu sein, als sie es in Wirklichkeit waren. Mit echt menschenfreundlicher Liebe und Fürsorge hatte sich der Arzt um den jungen Fremden bemüht. Hatte ihn freundschaftlich aufgefordert, bei ihm zu verkehren, und hatte sich auf jede Weise Mühe gegeben, das Vertrauen des jungen Mannes zu erringen.

Bisher hatte er nur wenig Erfolg erzielt, und all die gut gemeinten Vorschläge des Arztes, doch mehr gesellig zu leben, waren an der vollständigen Gleichgültigkeit des Kranken gescheitert.

Und nun äußerte Heinrich Landgraf ganz unvermittelt den Wunsch, die Stammtischgesellschaft im Falgerbuschen kennenzulernen und dort eingeführt zu werden. Das kam so überraschend, daß der alte Herr, der wieder einmal gekommen war, um Nachschau bei seinem Patienten zu halten, ganz erstaunt auf den jungen Mann schaute. Dieser saß ihm gegenüber auf einem der hochgepolsterten, hellgeblümten Stühle, die so einladend aussehen und in Wirklichkeit einen recht unbequemen Sitz bieten.

»Ja ... woher wissen Sie denn etwas von unserm Stammtisch?« lachte der alte Herr dröhnend auf. Er freute sich innerlich herzlich über die neu erwachte Lebenslust seines Patienten, ohne daß er sich die Ursache hierfür hätte erklären können.

In letzter Zeit hatte Landgraf immer häufiger Spaziergänge unternommen, die er oft stundenlang auszudehnen pflegte. Sogar nach Schenna, Dorf Tirol und Riffian war er auf seinen Wanderungen schon gekommen, ohne davon sonderlich ermüdet zu werden.

Die Veränderung, die seit kurzem mit Landgraf vorging, war dem scharf beobachtenden Auge des erfahrenen Arztes keineswegs entgangen. Er hatte darauf gehofft, daß irgendein neues inneres Erlebnis den gesunkenen Lebensmut des jungen Mannes wieder heben würde. Daß aber Heinrich Landgraf jetzt ausgerechnet die Sehnsucht verspürte, in den Kreis alter Herren aufgenommen zu werden, kam Doktor Tyrler denn doch merkwürdig überraschend.

Heinrich Landgraf war selig über die Fortschritte, die seine Genesung machte. Er freute sich auf die Wanderungen, die er nun häufig in Gesellschaft unternehmen durfte. Gabriele und das Mariele waren nun recht oft seine Begleiterinnen und führten ihren Schützling, wie ihm deuchte, die einsamsten Wege in Merans herrlicher Umgebung.

Kein Mensch begegnete ihnen da, und das gehörte mit zu dem Allerschönsten an diesem Erlebnis. Niemand wußte um die Freundschaft dieser drei jungen Menschen, und kein Mensch ahnte auch nur, daß Heinrich Landgraf und die beiden jungen Mädchen sich kannten.

Nicht einmal der alte Doktor kam auf diesen Gedanken. Wohl wunderte er sich darüber, durch wen Landgraf etwas von seinem Stammtisch beim Falger erfahren hatte. Er wußte, daß Landgraf in der Stadt so gut wie niemanden und sicher keinen einzigen kannte, der ihm vom Falgerbuschen hätte reden können.

Die Herren, die dort verkehrten, wollten ganz unter sich sein und sahen es nicht gerne, wenn ein Fremder zugezogen wurde. Sie betrachteten jeden Fremden von vornherein mit einer Art Mißtrauen und konnten auch nie den richtigen Ton für ihn finden.

Oft schon in früheren Jahren hatte es der Doktor versucht, einen oder den anderen Fremden in die Stammtischgesellschaft einzuführen, und jedesmal hatte er selber das peinliche Gefühl gehabt, die ganze Gesellschaft dadurch gestört zu haben.

Dies erzählte denn der alte Herr auch ganz ehrlich dem jungen Mann und bereitete ihn so auf die kühle Aufnahme vor, die er sicher bei der Stammtischgesellschaft finden würde.

»Wissen’s, eigentlich dürfet ich Ihnen gar nit mitnehmen in unsere Gesellschaft ...« sagte er nachdenklich und strich sich dabei ein paarmal wie liebkosend über den langen schneeweißen Vollbart. »Wir sind alleweil grad’ unter uns Meraner. Und ein Dasiger sein Sie ja nit, grad’ so ein Zuawig’schmeckter!« sagte er mit gutmütigem Spott. »Werden Ihnen halt auch als einen Zuawig’schmeckten behandeln, die Herren vom Stammtisch. Dürfen’s ihnen halt weiter auch nit für übel haben!« lachte er dann dröhnend auf.

Es belustigte den Doktor Tyrler stets, wenn er sah, daß Landgraf seine derben Tirolerausdrücke nicht ganz verstehen konnte ... »Gelten’s, Zuawig’schmeckter, das verstehen’s wieder einmal nit?«

»Ehrlich gestanden ... nein!« sagte Landgraf lachend. »Woher sollte ich auch?«

»Sie werden bei uns da noch allerhand lernen, von was Sie keine Ahnung nit haben!« meinte der Doktor. »Zuletzt werden’s gar noch ein waschechter Meraner und siedeln Ihnen ganz da an ...« neckte er den jungen Mann. »Alsdann! Zuawig’schmeckter ist einer, der kein Dasiger, also Hiesiger ist, sondern grad’ einmal zur Abwechslung seine Nasen in unser Landl einerg’steckt hat. G’schmeckt heißt bei uns riechen. Verstehen’s?«

»Ja, ja. Jetzt versteh’ ich schon!« lachte Landgraf zustimmend. »Und zum Falgerbuschen darf ich, trotzdem ich ein Zu-i-wi-«

»Gehen’s, lassen’s das Wörtl bleiben!« meinte der Doktor in komischer Verzweiflung. »Das bleibt Ihnen ja doch im Hals drein stecken.«

»Also darf ich kommen?« bat Heinrich Landgraf nochmals dringend. Es schien ihm tatsächlich sehr viel daran gelegen zu sein, den Stammtisch kennenzulernen, was den alten Doktor innerlich immer mehr verwunderte.

»In Gottes Namen ja! Weil Sie’s sind! Will ich Ihnen halt heut’ auf’n Abend mitnehmen. Rauchig ist’s zwar auch und grad’ kein gutes Lokal für einen Kranken ...«

»Ich will aber nicht immer als Kranker behandelt werden ... ich will ...«

»Ja, ja. Ich weiß schon!« winkte der Doktor ab. »Und das ist auch recht so. Wir sind ja auch gar nit so krank, wie wir uns alleweil stellen!« fügte er dann im väterlich wohlwollenden Tone hinzu. »Alsdann heut’ abends um siebene kommen’s mich abholen. Gelt? Dann führ’ ich Ihnen halt ein bei uns. Und wünsch gute Unterhaltung. Freilich. Grau sind wir alle wie die Schimmel. Und reden tun wir nit grad’ extra viel. Und wenn da einmal ein Element zu uns hereingeratet, das uns nit paßt, dann redet überhaupt keiner ein Stebenswörtel. Verstehen’s?«

»Ja. Sehr gut. Und jetzt interessiert es mich erst recht, Ihre Gesellschaft kennenzulernen, Herr Doktor. Jetzt erst recht. Also auf Wiedersehen heute abend!« ...

Doktor Jakob Tyrler wohnte in allernächster Nähe, kaum fünf Minuten von dem alten Steinachplatz entfernt, wo Heinrich Landgraf Wohnung gefunden hatte. Der Doktor war ein gemütlicher alter Junggeselle, ein Kind der Stadt und in Wuchs und Art der vollendete Typus des Burggräflers. Das Burggrafenamt heißt man dort Meran und seine allernächste Umgebung. Die Burggräfler sind kräftige, sehnige Gestalten, breitschultrig, kernig, und derb im Auftreten, gutmütig und von einem gewissen schwerfälligen Ernst.

Die heitere, sangesfrohe Art ihrer nordtirolischen Stammesbrüder liegt ihnen nicht, und nur selten hört man in jener Gegend fröhlichen Gesang bei der Arbeit auf Wiesen und Äckern. Die feiertägliche Festesstimmung, die über dem Sonnenland zu liegen scheint, hat sich auch seinen Bewohnern mitgeteilt. Mit Ruhe, Gelassenheit und Würde verrichten sie ihre Arbeit, und ein feierlicher Ernst drückt sich in ihrem ganzen Gehaben aus.

Doktor Tyrler, zu jener Zeit der einzige Arzt im Städtchen, war eine große, stattliche Erscheinung. Ein Apostelkopf mit vollem weißem Haar und Bart. Derb in seiner Rede und wuchtig in seinem Auftreten, besaß er trotzdem eine Feinheit des Empfindens, wie sie nur bei Frauen selten zu finden ist.

Es war kein Wunder, daß Doktor Tyrler nicht nur in der Stadt, sondern auch weit und breit als Arzt und als Mensch das allergrößte Ansehen genoß. Die Leute sprachen davon, daß ein anderer Arzt in Meran einmal einen schweren Stand haben werde. Man konnte es sich gar nicht vorstellen, daß man auch zu einem andern Doktor außer zu dem Tyrler Vertrauen haben könnte.

Da war der junge Ernst von Stecher, der Sohn des reichen Kaufmanns, der jetzt in Innsbruck die Universität besuchte, um sich dann in seiner Vaterstadt als Arzt niederzulassen. Höchst überflüssig fanden das die Leute; denn Doktor Tyrler genügte vollkommen den Anforderungen, die an ihn gestellt wurden.

Der alte Herr selber aber freute sich schon auf den jungen Kollegen. Er sehnte sich innerlich nach jener Zeit, wo er mehr seiner eigenen Behaglichkeit leben durfte. Auch war er von Merans großer Zukunft als Kurort überzeugt und fand, daß die Stadt noch viele Ärzte brauchen werde für all die Tausende, die einmal hierherkommen würden, um Heilung zu suchen.

Wie ein Prophet predigte der Doktor immer wieder diesen Glauben und wirkte in seinem Kreise durch Wort und Schrift für die Zukunft seiner Vaterstadt. Viele Anhänger seines Glaubens traf er unter den Meranern ja nicht. Die Leute fanden, daß es hübsch gedacht und gesprochen sei von dem alten Herrn, und daß es wahrscheinlich auch mit zu seinem Berufe gehöre, wenn Doktor Tyrler immer wieder über Meran in die Welt hinaus schrieb.

Viele verargten es ihm innerlich sogar und ärgerten sich über die Fremden, die er ihnen dadurch zubrachte und die sie als Störung ihres beschaulichen Daseins betrachteten.

An die großen Pläne, die Tyrler stets wieder über die Entwicklung der Stadt vorbrachte, glaubte überhaupt kein Mensch. Er sprach von Promenaden und Kuranlagen, von Landhäusern und großen Gasthöfen. Ganze Stadtviertel ließ er vor seinem geistigen Auge erstehen ... jenseits der Passer, wo sich die Felder von Untermais ausdehnten, bis hinunter zu der Pfarrkirche von Mais. Auch außerhalb der Stadtmauern selbst sollten noch Häuser gebaut werden, und schön gepflegte Straßenzüge sollten die neue Stadt durchqueren.

Sie ließen den alten Herrn reden, die guten Leute, und es tat ihnen leid, daß ein sonst so gescheiter Mann wie der Doktor Tyrler einen solchen Unsinn verzapfen konnte. Schließlich hatten sie Nachsicht mit ihm und betrachteten seine Pläne und Phantasien über den zukünftigen Weltkurort als sein ganz spezielles Steckenpferd, das man ihm ebenso lassen mußte wie dem Korbinian Kruckenhauser seine Puppen ...

Es war hauptsächlich der Korbinian Kruckenhauser, der Puppenspieler, um dessentwillen Heinrich Landgraf beim Falgerbuschen eingeführt zu werden wünschte. Die beiden Mädchen, Gabriele und Mariele, hatten ihm immer wieder von dem alten Sonderling erzählt und so das Interesse des Dichters immer mehr geweckt.

Daß man beim Falger nicht so ohne weiteres verkehren konnte, wie es das Mariele damals bei jenem ersten Zusammentreffen dargestellt hatte, das hatte Heinrich Landgraf bald herausgebracht. Ein paarmal schon war er beim Falger gewesen, und jedesmal hatte er allein an einem Tisch gesessen, ohne daß sich jemand sonderlich um ihn bekümmert hätte.

Ingenuin Falger, der Wirt, hatte höchsteigenhändig das Viertele Wein gebracht und es dem Gast auf den ungedeckten Tisch gestellt. Und auf alle Fragen, die der Fremde an ihn richtete, hatte er einsilbige Antwort gehabt.

Infolge dieses wortkargen Wesens wagte es Landgraf auch gar nicht, sich bei dem Wirt nach seiner Tochter zu erkundigen. Er fürchtete, ihr damit Ungelegenheiten zu bereiten.

Als er aber wieder einmal die beiden Mädchen in den Weinbergen traf, erzählte er von seinen Besuchen im Falgerbuschen und sprach auch davon, daß ihm das Benehmen des Vaters eine Art Scheu eingeflößt habe.

Verwundert hatte ihn da die kleine Gabriele angesehen. »Was? Vor meinem Vater haben’s Ihnen g’fürchtet?« frug sie ungläubig. »Mein Vater ist ja so ein guter Mensch. Kein Unrechtes Wörtl gibt der einem ... und ich schon gar ... ich kann tun, was ich mag!« fügte sie mit einem selbstbewußten Stolz hinzu, der ihr ganz allerliebst zu Gesicht stand.

»Ja ... ja! Die Gabriele hat’s gut!« nickte die Freundin bestätigend. »Ich hab’s noch nie erlebt, daß der die Eltern etwas verboten oder nit erlaubt hätten.«

Nach und nach hatte Landgraf gar vieles von Gabrieles und Marieles Leben erfahren. So wußte er denn, daß das Mariele die älteste Tochter eines kleinen Steuerbeamten war und daß es daheim sparen und arbeiten hieß; denn die Familie war kinderreich, und zu tun gab’s da in Hülle und Fülle.

Die Zeit, die sie mit ihrer Freundin zubrachte, mußte sich das Mariele sozusagen stehlen und mußte dann durch doppelten Fleiß das Versäumte nachholen. Bis in die späte Nacht wurde da oft gescheuert und geputzt; denn die Mutter war streng und hielt auf Ordnung und Zucht.

Da hatte die Gabriele ein ganz anderes Dasein. Die reine Prinzessin war die dagegen. Sie war das einzige Kind der Eheleute Ingenuin und Anna Falger, die beide schon nicht mehr jung waren, als sie einander heiraten konnten.

Jahrelang hatten die beiden in fremden Diensten gearbeitet und geschafft, bis sie so viel erspart hatten, daß sie sich den Buschen unter den Berglauben kaufen konnten, wie man im Burggrafenamt die bäuerlichen Weinkneipen nennt.

So einfach und anspruchslos sind diese Gasthäuseln ausgestattet, daß nicht einmal ein Wirtshausschild ihr bescheidenes Dasein verrät. Ein Strauß, Buschen genannt, aus grünen Buchsbaumzweigen, hängt als einziges äußeres Zeichen vor der Eingangstür. Aber Kenner eines guten Tropfens wissen, daß in diesen Buschen die allerbesten Weine zu finden sind. Und seit der Ingenuin und die Anna Falger ihren Buschen aufgetan hatten, sprach es sich bald herum, daß in ganz Meran kein besserer Wein aufzutreiben sei als beim Falger.

Als die kleine Gabriele zur Welt kam, waren der Ingenuin und die Anna schon beinahe alte Leute. In das goldblonde Haar der Frau mischten sich die ersten Silberfäden, und der einst tiefschwarze Vollbart des Mannes war stark ergraut. Wie ein kostbares Geschenk des Himmels, an das sie kaum zu glauben wagten, hüteten die beiden alternden Menschen ihr Kind.

Das war so fein und zart geartet, daß es der Ingenuin lange Zeit nicht anzurühren wagte, aus Furcht, er könnte es mit seinen rauhen Arbeitshänden zerbrechen. Und die Anna überkam oft, wenn sie das feingliedrige kleine Mädchen ansah, eine beinahe ehrfürchtige Scheu vor dem Kind.

Jahrelang hatte die Frau um diesen Segen des Himmels gebetet, und fast schien ihr das Glück für immer versagt zu werden. Am Feste des heiligen Gabriel, das auf den Vorabend von Maria Verkündigung fällt, wurde das Kind geboren und zu Ehren des Erzengels Gabriele getauft. Und manchmal glaubte Frau Anna in frommer Einfalt schier daran, daß der heilige Erzengel wirklich an der Wiege des Kindes gestanden haben müsse. Denn Gabriele war so ganz anders geartet wie die übrigen Kinder, so gut und fromm, so nachdenklich und sinnig, und sie liebte die Einsamkeit über alles und war doch dabei so sinnig und froh.

Das alles erfuhr Heinrich Landgraf durch die Erzählungen der jungen Mädchen. Eigentlich war es hauptsächlich das Mariele, das die Unterhaltung führte. Gabriele war zumeist schweigsam; aber wenn sie sprach, so zeugte die Art, wie sie etwas sagte, von innerem Nachdenken und tiefem Erleben.

Trotzdem Gabriele und das Mariele wiederholt versicherten, daß das wortkarge Wesen des Ingenuin eigentlich nur der Deckmantel innerer Schüchternheit war, verspürte Landgraf doch nur wenig Lust, den Falgerbuschen abermals aufzusuchen, ohne dort zuerst in die Stammtischgesellschaft eingeführt zu sein ...

Wenn man den Korbinian Kruckenhauser näher kennenlernen wollte, mußte man sehr vorsichtig zu Werke gehen. Die Mädchen hatten Heinrich Landgraf ausdrücklich davor gewarnt, dem alten Sonderling das Interesse zu verraten, das er für ihn hegte. Denn sowie der Alte auch nur witterte, daß man sich um seine Person mehr als nötig bekümmerte, zog er sich mißtrauisch zurück, wie eine Schnecke in ihr Haus, und es war ihm auf keine Weise mehr beizukommen.

Der alte Kruckenhauser war schon seit vielen Jahren Witwer und wohnte mit seinen beiden Töchtern, die auch nicht mehr sehr jung waren, allein in einer bescheidenen Dachwohnung.

Diese Töchter, Afra und Walburga Kruckenhauser, waren das Unglück des alten Mannes. Zwei bös? Sieben, wie sie im Buch standen, und wegen ihrer Bösartigkeit allgemein im Städtchen gemieden. Es hieß, daß der Korbinian Kruckenhauser sich zuweilen vor seinen eigenen Töchtern mehr fürchtete, als vor dem leibhaftigen Gottseibeiuns.

Man erzählte sich in der Stadt, daß die Töchter recht oft gegen den alten Vater handgreiflich wurden. Das Mariele wußte zu berichten, daß der Alte nach einer solchen ausgiebigen Züchtigung wieder auf Wochen hinaus vernünftig wurde und dann auch wieder andere Sachen schnitzte als nur seine Puppen.

»Denn wissen’s ...« erzählte das Mariele wichtig ... »sein tut er einmal ein alter Narr. Da ist nix zu machen. Mit die Puppen spielt man nit in dem Alter; und trinken tut er auch ganz gern und auch nit zu wenig. Und wenn’s auch ganz abscheulich ist, wie seine Madeln mit ihm umgehn ... so ist’s ihm doch wieder ganz g’sund und g’schieht ihm recht.«

Das Mariele hatte sich vor lauter Entrüstung in eine förmliche Wut hineingeredet und merkte es gar nicht, daß ihre Freundin leise vor sich hinlächelte und immer wieder verneinend den Kopf schüttelte. Aber Heinrich Landgraf sah es recht gut; und just dieser Widerspruch, der zwischen den beiden Mädchen in der Beurteilung des alten Puppenspielers bestand, spornte den Dichter an, den wunderlichen Sonderling persönlich kennenzulernen.

Gabriele schien mit einer geradezu rührend kindlichen Liebe an dem alten Mann zu hängen; und was das praktische Mariele an dem Alten verurteilte, fand ein mildes, nachsichtiges Verstehen bei ihrer Freundin ...

Um in den Falgerbuschen zu kommen, mußte man zuerst durch einen langen gewölbten düstern Gang schreiten, der sich erst weit im Hintergrund zu einem großen kellerähnlichen Vorraum ausbuchtete. Hier roch es durchdringend nach Wein, ein unangenehmer, säuerlich, an Essig gemahnender Dunst. Große und kleine Fässer waren da aufgestapelt, zumeist leere, die der neuen Füllung harrten.

Eine Holzwand trennte den Raum von dem eigentlichen Buschen, zu dem eine niedere Tür führte. Das Wirtszimmer selber war ein hohes, gewölbtes Gemach, viereckig und sehr geräumig. Lange ungedeckte Tische standen da drinnen. Die Mauern waren weiß getüncht. Kein Bild oder sonstiger Schmuck zierte die Wände.

Der erste Eindruck war entschieden der eines frostigen, unbehaglichen Lokales. Aber man gewöhnte sich an diese nüchterne Umgebung, und Landgraf fand, nachdem er ungefähr eine Stunde dagesessen hatte, daß das alles etwas Romantisches und Eigenartiges an sich trug.

Romantisch und durchaus in diesen Raum passend fand er auch den Wirt, der mit seinem spitzen abgetragenen schwarzen Filzhut etwas Wildes, Räuberartiges an sich hatte. Nie war der Ingenuin ohne diese Kopfbedeckung zu sehen. Sie schien mit ihm verwachsen zu sein. Heinrich Landgraf hätte sich nicht gewundert, wenn er gehört haben würde, daß der Ingenuin auch nachts mit dem Hut im Bett liege ...

Außer an dem Stammtisch der Bürger hatten sich zu dieser Stunde nur wenige Gäste beim Falger eingefunden. Über jedem der langen Tische hing eine brennende Öllampe, und der matte Schein des rötlichen Lichtes beleuchtete die markanten Gesichter der Gäste.

Da waren außer dem Doktor Tyrler und Landgraf der Korbinian Kruckenhauser, ein kleines verhutzeltes Männchen mit einem ganz rosigen und beinahe faltenlosen Gesicht. Ein kurzer grauer Vollbart umrahmte kranzartig das Antlitz, das einen eigenartigen halb listigen, halb mißtrauisch schüchternen Ausdruck hatte. Die Augen waren klein, hell und unruhig, die etwas dicke Nase stark gerötet, das graue Haar schütter und leicht gekräuselt.

Anscheinend teilnahmslos saß Korbinian Kruckenhauser zwischen Johannes von Stecher, dem Kaufmann, und Lorenz von Meyerl, dem Benefiziaten, der trotz seines geistlichen Rocks mit zu den regelmäßigen Besuchern des Stammtisches zählte.

Der Benefiziat, ein kleiner Herr mit dem feinen Benehmen des Weltmannes, fiel dem jungen Dichter sofort angenehm auf. Lorenz von Meyerl war es auch, der heute die Stimmung rettete; denn tatsächlich hatte das Erscheinen des fremden Gastes eine beinahe lähmende Wirkung auf die Mitglieder des Stammtisches ausgeübt.

Keiner sprach zunächst eine Silbe, und schweigend starrten sie auf die Halbe Rotwein, welche der Ingenuin einem jeden Gast vorstellte. Der Wirt bildete die einzige Bedienung im Buschen.

Angetan mit einer langen weißen Latzschürze, ohne Rock, im weißen Hemd, mit breiten grünen Hosenträgern, den schwarzen spitzen Filzhut mit den dichten Reihen grüner Seidenschnüre geziert, die den Ehestand des Besitzers anzeigten, so schritt Ingenuin Falger, der Buschenwirt, langsam und mit Würde von einem Gast zum andern und erkundigte sich nach den Wünschen jedes einzelnen. Da war keine Hast oder geschäftige Eile in seinem Wesen, keine zuvorkommende oder unterwürfige Höflichkeit, sondern eine ganz selbstverständliche Artigkeit, die fast etwas Herablassendes an sich hatte.

Die Frau des Ingenuin war nur selten in der Wirtsstube anwesend. Wenn sie einmal kam, so saß sie bescheiden neben einem der Gäste und nickte dann und wann freundlich beistimmend zu einem Witz, ohne sich aber sonst an der Unterhaltung zu beteiligen. Frau Anna Falger war es am liebsten, wenn man sie im Buschen nicht brauchte. In aller Stille hantierte sie in der Küche herum, schnitt dort den bestellten Speck und das Brot für ihre Gäste zurecht und ließ es den Ingenuin in die Wirtsstube tragen.

Heute hatte sich Frau Anna gleichfalls am Stammtisch eingefunden. Der Ingenuin hatte ihr in der Küche erzählt, daß der Doktor einen Fremden mitgebracht habe und daß die Herren drinnen in der Stub’n gar nicht so recht damit zu fahren kämen ... »Vielleicht wenn du dich ein bissel um ihn bekümmerst, wird’s besser drinnen. Es redet keiner a Wörtl damit, außer dem hochwürdigen Herrn von Meyerl.«