Der Garten über dem Meer - Jane Corry - E-Book

Der Garten über dem Meer E-Book

Jane Corry

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Beschreibung

Ein alter Garten. Ein verwunschener Ring. Ein dunkles Geheimnis ...

Südengland am Meer. Die Londonerin Laura Marchmont und ihr frisch angetrauter Ehemann Charles ziehen in ein restauriertes Haus mit einem alten Garten direkt über den Klippen. Als Laura auf einem Sticktuch ihrer Großmutter ein ähnliches Haus und einen geheimnisvollen Schriftzug entdeckt, macht sie sich auf die Spuren der Vergangenheit …

Devon, 1866. Die junge Mary Rose erbt von ihrer Mutter einen Rubinring. Er soll sie beschützen, doch fällt er in die falschen Hände, wird er Unglück über die ganze Familie bringen ...

Eine spannende, atmosphärische Familiensaga vor der malerischen Küste Südenglands.

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Seitenzahl: 722

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Jane Corry

Der Garten über dem Meer

Roman

Aus dem Englischen von Claudia Geng

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2014 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 2012 by Jane Corry

Originaltitel des Romans: »The Ruby Ring«

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Blanvalet Verlag,

München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-11861-7www.blanvalet-verlag.de

Mary Rose Marchmont 1866

1

Schritte. Sie konnte Schritte hören, die die breite alte Holztreppe neben ihrem Zimmer hocheilten. Nicht den schmalen Hinteraufgang, den die Dienerschaft hinauf- und hinunterhastete, sondern die offizielle Treppe – mit dem eleganten Bogen auf halber Strecke und dem kunstvoll geschnitzten Geländer, das von Früchten und brüllenden Tierköpfen strotzte –, die nur von der Familie und von Besuchern und, in jüngerer Zeit, von dem Doktor benutzt wurde.

War es der Doktor? War es endlich so weit?

Steif vor Anspannung lag Mary Rose Marchmont auf ihrem Bett und lauschte so angestrengt, dass ihr vor lauter Konzentration die Ohren klingelten. »Es wird nicht mehr lange dauern«, hatte Mama gesagt, als Mary Rose zu ihr in das riesige Bett mit den vier hohen Eckpfosten und dem seidenen Himmel kletterte, der aus Stoff gemacht war, so weich, dass er an eine Wolke erinnerte. Das war gleich nach der Epiphaniasnacht gewesen, als die Weihnachtsdekoration entfernt wurde und die Januarwinde aufkamen. Das Geräusch der Wellen, die draußen gegen die Klippen rollten, war durch die klappernden Fensterscheiben zu hören und machte es schwer, sich im Haus Gehör zu verschaffen.

»Nicht mehr lange«, hatte Mama mit ihrer sanften Stimme wiederholt, die immer klang, als würde sie zugleich singen, »und du hast endlich ein Brüderchen oder Schwesterchen zu deinem Zeitvertreib.« Dann hatte sie Mary Rose sanft auf die Wange geküsst. »Aber du wirst für mich immer etwas Besonderes sein, weil du meine Erstgeborene bist. Vergiss das nicht.«

Gleich darauf hatte die neue Haushälterin – eine strenge große Frau mit wachen schwarzen Augen, die auf den Namen Mrs. Hasberry hörte und nicht so freundlich war wie ihre Vorgängerin, die sich aufgrund ihrer schweren Gicht zur Ruhe gesetzt hatte – scharf an die Tür geklopft, bevor sie mit frischer Bettwäsche für ihre Mutter hereinmarschierte. In der Tat, die alten Laken waren so feucht geschwitzt, dass Mary Rose, als sie widerstrebend aus dem Bett kletterte, dunkle Flecken auf ihrem blauen Seidenkleid entdeckte.

Das war vor fünf Tagen gewesen. Seitdem schien es, als wäre sie von allen vergessen worden mit Ausnahme von Annie, dem kleinen Dienstmädchen mit dem runden Mondgesicht und dem seltsamen rechten Auge, das über einen hinwegsah, wenn man mit ihr sprach. Es hieß, ihr Auge sei schief, weil ihre Mutter sie während eines Unwetters zur Welt gebracht hatte. Natürlich empfand Mary Rose Mitleid, aber gleichzeitig konnte sie nicht aufhören, auf das Auge zu starren.

»Ihr Papa sagt, Sie sollen auf Ihrem Zimmer bleiben«, hatte Annie heute Abend wichtigtuerisch verkündet, als sie Mary Rose’ Zimmer mit einer Schüssel dampfender Hammelsuppe betrat, der eine Portion Hasenragout folgte. »Es ist zu viel Tumult.«

»Warum?«, hatte Mary Rose verdutzt gefragt. »Warum kann ich nicht zu meiner Mutter gehen wie sonst immer?«

Annies rechtes Auge hatte sich daraufhin sogar noch höher in Richtung Decke geschoben. Während Mary Rose ihm mit dem Blick folgte, wurde ihr Hals immer länger. »Sie hat das Fieber«, erwiderte Annie.

Das Fieber? Aber ihre Mutter war nicht krank. Vielmehr erwartete sie ein Baby! Sie hatte wieder und wieder mit Mary Rose darüber gesprochen, in gedämpftem Ton, weil, wie Mama sagte, dies nicht die Art von Konversation war, in der sich eine Dame »ergehen« sollte. Denn eine Dame zu sein, das hatte Mary Rose im Laufe der Jahre gelernt, war von höchster Wichtigkeit, selbst wenn Papa sein Vermögen durch »Handel« gemacht hatte; ein Wort, das immer nur flüsternd ausgesprochen wurde, in einem Ton, der mehrere Noten tiefer lag als der restliche Satz.

»Und warum ist das kein angemessenes Konversationsthema?«, hatte Mary Rose einmal gefragt, während sie eine kupferrote Haarsträhne um ihren Finger wickelte, was sie immer tat, wenn sie nervös war.

Daraufhin war ihre Mutter leicht errötet. »Weil eine Niederkunft eine private Angelegenheit ist.«

Ah! Das war ein Wort, das Mary Rose kannte. Und das wiederum war ausschließlich der Frau des Reverends zu verdanken. Als diese nämlich im Jahr davor mehrere Sonntage in Folge der Kirche ferngeblieben war, waren Gerüchte über mysteriöse »andere Umstände« aufgekommen, die zu ihrer »Niederkunft« führten.

Ihr geliebter Papa lobte Mary Rose oft für ihren Wortschatz und hatte erklärt, dass sie sich für »ein Kind von gerade einmal elf Jahren« rasch neue Begriffe einprägte. Und so, als die Frau des Reverends sich wieder in der Kirche zeigte, einen rotgesichtigen brüllenden Säugling im Arm, war Mary Rose verblüfft gewesen und zugleich stolz über das Wissen, das sie gerade erworben hatte.

Als ihre Mutter ihr eröffnete, dass auch sie »in anderen Umständen« sei, hatte Mary Rose daher genau gewusst, was zu erwarten war. »Ich wünsche mir schon so lange einen Bruder oder eine Schwester«, hatte sie erwidert und ihre Mutter fest umarmt. »Danke! Danke!« Nun, während Mary Rose sich auf die Fensterbank in ihrem Zimmer setzte, von der aus man auf das Meer blickte, die leere Suppenschüssel vor sich, juckte es sie, die Treppe zu ihrer Mutter hochzulaufen und zu sehen, ob das versprochene Baby endlich angekommen war. Rasch. Jetzt. Bevor jemand kam, um nach ihr zu schauen, beispielsweise der Hausdiener oder die Haushälterin oder das Küchenmädchen oder die Gouvernante, die sie sich hin und wieder mit Letitia aus dem Hause Mills teilte.

Mary Rose spähte vorsichtig aus ihrem Zimmer, konnte aber niemanden entdecken. Das war ihre Chance! Sie streifte ihre Schuhe ab, um weniger Lärm zu machen, und sauste die Brüstung entlang, vorbei an dem Zimmer, in dem ihre Tante Sophia immer nächtigte, wenn sie zu Besuch kam, vorbei an dem erwartungsfrohen Kinderzimmer, das mit einer handbemalten rosa-blauen Tapete frisch renoviert worden war, dann die zweite Treppe hoch, vorbei an dem Zimmer ihres Vaters mit dem großen Mahagonibett und dem aufwendigen Sekretär, und weiter zum Boudoir ihrer Mutter.

Aber während sie sich der Tür näherte, wurde diese unerwartet aufgestoßen. Es gelang Mary Rose gerade noch rechtzeitig, in das Zimmer ihres Vaters abzutauchen und sich dort zu verstecken, während draußen Schritte – die genauso klangen wie jene, die sie zuvor gehört hatte – vorbeigingen, im Takt mit dem gleichmäßigen, gemessenen Gang ihres Vaters.

Die Stimmen klangen gedämpft und dringlich (es war der Doktor!), aber dennoch schnappte sie ein paar Worte auf. »Kindbettfieber. Brandy und Canapé. Kritisch.«

Mary Rose’ Brust schnürte sich zusammen. Mama war zuvor schon krank gewesen, als frühere versprochene Brüder und Schwestern dann doch nicht gekommen waren. Aber sie hatte sich immer davon erholt und war danach wieder ganz die Alte gewesen. Bestimmt würde es dieses Mal auch so sein? Mit trockenem Mund wartete Mary Rose, bis die Schritte treppabwärts verklungen waren, und schlich dann auf Zehenspitzen zum Zimmer ihrer Mutter.

Was? Mary Rose blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen, sprachlos. Was hatten sie mit ihrer Mutter gemacht? Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst – und so blass! Ein furchtbarer Laut entwich Mary Rose’ Lippen; er erinnerte sie an die armen Kühe, die auf den Hügeln schrien, wenn man ihnen ihre Kälber wegnahm. Dann streckten sich ihr zwei dünne Arme entgegen. »Meine Tochter.« Die Stimme war so schwach, dass sie sie kaum verstehen konnte. »Bitte, komm zu mir.«

Ohne wirklich zu wollen, aber zugleich mit dem Gefühl, dass sie sollte, näherte Mary Rose sich zaghaft. »Näher«, hauchte die Stimme. »Näher.«

Es war schrecklich. Diese Frau hier hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Sie roch anders. Ihre Augen waren wild und unruhig. Und ihre Haare tropften, als wäre sie draußen im Meer geschwommen. »Vergiss nie, dass ich dich liebe, meine Tochter.«

Jedes Wort klang, als wäre es erzwungen, und Mary Rose musste sich anstrengen, um alles zu verstehen. »Vergiss … das … Lachen … nicht … wenn … ich … nicht … mehr … bin.«

Lachen? Mama lachte immer. Das war laut Papa einer der Gründe, warum er sich in sie verliebt hatte. Es herrschte allgemeine Übereinstimmung darüber, dass Mary Rose die Heiterkeit und Begeisterungsfähigkeit ihrer Mutter geerbt hatte. Mit ihrer wilden roten keltischen Mähne und den Sommersprossen, die sich weigerten zu verblassen, egal, wie oft sie mit Zitronensaft darüberrieb, kam sie äußerlich jedoch ganz nach ihrem Vater.

Einige herrliche Sekunden lang dachte Mary Rose an all die Momente zurück, in denen sie und ihre Mutter im Laufe der Jahre gemeinsam gelacht hatten. Wenn sie im Garten gesessen hatten, unter der gewaltigen Zeder, die sich wie eine riesige grüne Hand über ihnen spannte und ihnen Schatten spendete wie ein Sonnenschirm. Wenn sie gemeinsam am Strand entlangspaziert waren, Hand in Hand, und über die feuchten, rutschigen Steine balancierten oder sich bückten, um Muscheln von den Felsen zu schälen. Wenn sie sich gegenseitig herausgefordert hatten, in die Wellen hinein- und wieder hinauszulaufen. Wenn ihre Mutter ihr am Abend diese langen widerspenstigen roten Haare gebürstet hatte und ihr nebenbei Geschichten erzählte.

Und was für Geschichten das waren! Sie stammten alle aus Mamas Kindheit, als sie in ebendiesem Haus am Rand der Steilklippe – daher der Name Seamouth House – aufgewachsen war, mit Blick auf die Wellen, die unten gegen die Felsen schlugen. »Gab es hier damals auch Esel?«, fragte Mary Rose dann. Obwohl sie die Antwort kannte, war es tröstend, sie immer wieder aufs Neue zu hören, so wie es tröstend war, den Rubinring an der linken Hand ihrer Mutter zu drehen, zuerst in die eine Richtung, dann in die andere, während sie den Erzählungen lauschte.

Ja, erwiderte ihre Mutter dann lachend, es gab Esel. In jenen Tagen wurden sie gebraucht, um den schweren Kalkstein die Steilklippe hoch zur Straße zu transportieren, wo er abgeholt wurde, um damit Häuser zu bauen.

»Erzähl mir von dem Ring«, bat Mary Rose dann. Daraufhin bekam ihre Mutter immer einen verträumten Blick und hielt mit dem Kämmen inne, was eine Erleichterung war, da Mary Rose’ Haare sich grundsätzlich verknoteten, was auch immer Mama damit anstellte. »Der Ring gehörte meiner Mutter und davor ihrer Mutter.« Mama blickte dabei auf die perfekt geformte Reihe aus funkelnden Steinen, eingefasst in einen schmalen Goldring. »Eines Tages, Mary Rose, wird dieser Ring dir gehören. Er wird dich für immer beschützen.«

Sie umklammerte Mary Rose’ Arm, als würde sie sich plötzlich fürchten. »Aber wenn der Ring in die falschen Hände gelangt, wird der Dieb keinen Frieden finden, und die rechtmäßige Besitzerin wird nicht länger vor Unheil in ihrem Leben gefeit sein. Dann wird ein Fluch auf unserer Familie lasten! Darum ist es deine Pflicht, auf ihn achtzugeben, so wie ich es getan habe.«

Mary Rose durchrieselte ein kalter Schauer, denn wenn sie den Ring erhielt, bedeutete das, dass Mama nicht mehr am Leben sein würde, um ihn zu tragen. Aber gleichzeitig sehnte sie sich danach, das schmale Schmuckstück aus Gold mit der glitzernden Sternenreihe an ihrem Finger zu spüren. Es war so hübsch. Und es schien nach ihr zu rufen.

Nun, als sie sich auf das Bett mit dem Wolkenhimmel setzte, sah sie, dass der Ring beinahe von Mamas Finger rutschte, der dünn und knochig geworden war. »Nimm ihn.« Die Stimme klang schwach und rasselnd, aber gleichzeitig auch gebieterisch. »Nimm meinen Ring. Trage ihn jeden Tag und denke an mich, wenn ich heimgegangen bin.«

Heimgegangen? Das war die Sprache des Todes. Mary Rose überkam ein Frösteln, und sie zitterte. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis wegzulaufen, sich von dieser Frau zu entfernen, die zwar ihre Mutter war und doch auch wieder nicht. Sie rappelte sich vom Bett hoch und wandte sich zur Tür, gerade als ihr Vater zurückkehrte, gefolgt von einer Frau, die eine steife weiße Haube und eine Schürze trug. »Mary Rose«, rief er, aber nicht auf seine übliche freundliche Art. »Was hast du hier zu suchen?«

Ihre Stimme kam leise und stockend heraus. »Ich musste mit meiner Mutter sprechen.« Bei ihrer Antwort wurde der Blick ihres Vaters weicher, und sein Schnurrbart zitterte leicht. »Natürlich«, sagte er in einem sanfteren Ton. »Schwester, warum haben Sie meine Frau unbeaufsichtigt gelassen?«

»Ich habe Medizin besorgt, Sir.« Dann stieß die Schwester ein leises Geräusch aus, ähnlich einem Keuchen oder einem Hickser. »Mr. Marchmont. Bitte, kommen Sie.«

Mary Rose wandte sich um, und schockiert bemerkte sie, dass die Augen ihrer Mutter die Decke fixierten, so wie Annies rechtes Auge das immer tat. Aber irgendetwas war anders. Beide Augen starrten in dieselbe Richtung, und statt sich zu bewegen, blieben sie steif und starr.

Gleichzeitig ertönte ein Schrei aus tiefer Kehle, der die Luft mit solch einem Terror durchdrang, dass Mary Rose’ Haut zu prickeln begann, als würde sie in Flammen stehen oder im Schnee erfrieren oder beides zugleich. Entsetzt wurde sie gewahr, dass der Laut von ihrem Vater kam, der nun vor dem Bett auf die Knie fiel und mit den Fäusten gegen einen der Eckpfosten drosch.

»Pass auf, Papa!«, hörte sie sich rufen. »Du wirst Mama noch verletzen!«

Währenddessen marschierte Mrs. Hasberry, die Haushälterin, in das Zimmer und verzog das Gesicht vor Unmut. »Wer hat dieses Kind hier reingelassen? Annie! Bring Miss Mary Rose auf ihr Zimmer. Hörst du mich?«

Widerwillig erlaubte Mary Rose dem Dienstmädchen zu tun, wie ihm befohlen war. Aber kaum war Annie gegangen, klopfte es heftig an die Fensterscheibe. Wer war das? War ihre Mutter – Gott bewahre – gestorben? War das ihr Geist, der versuchte hereinzukommen? Falls ja, musste Mary Rose ihn sehen! Zum Trost!

Fieberhaft kämpfte sie mit den schweren bordeauxroten Vorhängen, um diese einen Spaltbreit aufzuziehen, aber alles, was sie sehen konnte, war der Leuchtturm, der ihr von den Klippen im Osten zuzwinkerte. »Das war der Wind«, sagte sie sich entschlossen, während sie die Angstgräte in ihrem Hals ignorierte. »Das war bloß der Wind.«

Dann glitt ihre Hand geräuschlos in ihre Tasche und brachte den Ring zum Vorschein, den ihre Mutter ihr vor weniger als einer Stunde gegeben hatte. Mary Rose ahnte instinktiv, dass es nun kein Brüderchen oder Schwesterchen geben würde. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass die glasigen Augen ihrer Mutter bedeuteten, dass sie in das Land ihrer Vorfahren mit den Eseln und den alten Geschichten hinübergegangen war. Die einzige Verbindung zu ihr war nun diese Reihe von Rubinen in ihrem perfekten Ring aus Gold.

»Ich werde auf den Ring achtgeben, Mama«, schwor Mary Rose laut, mit vor Entschlossenheit bebender Stimme, trotz ihrer Trauer. »Ich schwöre bei meinem Leben, dass ich mein Versprechen halten werde. So wird immer ein Teil von dir nah bei mir sein.«

2

Was für ein herrlicher Tag! Der Horizont war mit Apricot bespritzt, und ihr Zimmer, das nach Süden zeigte, war in das Morgenlicht getaucht, das durch das Fenster strömte.

Mary Rose streckte sich wohlig in ihrem Bett. Es war fast Zeit für ihren üblichen Morgenspaziergang am Strand mit Mama. Gemeinsam, Arm in Arm, stapften sie immer barfuß durch den feuchten Sand, während sie ihre Rocksäume anhoben, damit diese nicht schmutzig wurden, und blieben hin und wieder kurz stehen, um eine Muschel aufzuheben, die ihnen gefiel.

Aber dann fiel es Mary Rose blitzartig wieder ein. Die Augen ihrer Mutter, an die Decke geheftet. Glasig. Leer. »Steh auf«, drängte Mamas Stimme in ihrem Kopf. »Steh auf und finde heraus, ob es wirklich passiert ist oder ob es nur wieder eines deiner Hirngespinste ist.«

Es stimmte, dass Mary Rose sich oft Dinge einbildete, dabei aber fest davon überzeugt war, dass sie wahr waren. »Das kommt daher, dass du eine geborene Geschichtenerzählerin bist«, sagte ihre Mutter einmal anerkennend. »Das liegt in der Familie.«

Trotzdem, wenn die gestrigen Ereignisse nur in ihrem Kopf stattgefunden hatten, wie konnte der Ring dann jetzt neben ihr auf der Matratze liegen? Sie musste damit eingeschlafen sein, das Schmuckstück sicher in ihrer Hand verschlossen. Aber vielleicht – nur vielleicht –, falls es doch magische Kräfte besaß, war Mama noch am Leben!

Den kostbaren Ring fest umklammert, schlich Mary Rose auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer und verharrte kurz am Treppenabsatz, um zu horchen. Nicht ein Geräusch. Nicht einmal der übliche leise Hall von Betriebsamkeit unten im Quartier der Dienerschaft, wo normalerweise um diese Zeit das Frühstück vorbereitet wurde.

Wie bereits gestern huschte Mary Rose am Kinderzimmer vorbei. Es war nach wie vor leer. Im Obergeschoss war die Tür zum Zimmer ihres Vaters geschlossen, aber die ihrer Mutter stand leicht offen. »Mach, dass sie lächelt und sich aufsetzt«, sagte sie zu dem Ring, der sich von Sekunde zu Sekunde stärker in ihrer Hand erwärmte.

Aber das Bett war leer, und die Decken waren zusammengefaltet, sodass es aussah, als hätte nie jemand darin gelegen.

Plötzlich wurde Mary Rose von einer überwältigenden Furcht ergriffen. »Mama!«, rief sie, während sie aus dem Zimmer rannte und weiter durch den Flur zur Treppe und hinunter ins Erdgeschoss. Auf ihrem Weg zum Morgenzimmer registrierte sie, dass scheinbar alles war wie immer. Die schweren Eichenkommoden, der Kartentisch, der sich auffalten ließ wie ein Blatt Papier, das Pianoforte aus Walnussholz in der Ecke, der Ofenschirm aus Seide, der auf einer Seite des Kamins stand, in dem ein Feuer brannte, die dunkelrote Samtchaiselongue, das Porträt unserer ehrwürdigen Königin in dem schweren Goldrahmen über dem Kamin, die Porzellanteller und die rosaroten Vasen, die dunkel oder hell aussehen konnten, je nachdem, wie das Licht darauffiel. Wenn Mama gestorben wäre, würde das alles hier doch sicher anders aussehen, oder nicht?

Vielleicht, kam Mary Rose plötzlich in den Sinn, war ihre Mutter im Musikzimmer. Oder draußen, um ihren kostbaren Kräutergarten zu begutachten. Vielleicht war sie auch in der Küche, um der Köchin Anweisungen zu geben …

»Mein liebes Kind!«

Mary Rose wirbelte herum und sah sich ihrem Vater gegenüber. Sie fand schon immer, dass Papa ein schöner Mann war mit seinem feuerroten Schnurrbart und der leicht gebogenen Nase. Letztere würde streng wirken, wären da nicht seine funkelnden Augen, die die Angewohnheit hatten, den Blick ihres Gegenübers zu fixieren, als würden sie keine andere Person wahrnehmen.

Heute Morgen waren Papas Augen jedoch gerötet, als hätte er geweint, und die Haut darunter war zerknittert wie das Material des italienischen Fächers, den Tante Sophia ihr geschenkt hatte.

»Wo ist Mama?«, keuchte sie. Aber statt zu antworten, legte Papa nur die Arme um sie und drückte sie kurz an sich, bevor er sie wieder losließ. Dabei sah sie, dass seine Augen nicht nur rot waren. Sie waren auch feucht. »Sie ist zu den Engeln gegangen.« Er kniete nieder, sodass ihre Gesichter auf einer Höhe waren. »Sie wird gerade im Salon aufgebahrt.«

Die Worte jagten Mary Rose einen Schauer über den Rücken. Sie hatte im vergangenen Jahr die alte Lady Romer besucht, als man diese aufgebahrt hatte. Es war eine Furcht einflößende Erfahrung gewesen, die Mary Rose selbst jetzt noch zum Zittern brachte, während sie daran zurückdachte, wie ihre Mutter tröstend ihre Hand gehalten hatte und ihr auftrug, einen Knicks zu machen vor der wächsernen bleichen Gestalt, die in einem offenen Sarg lag.

»Dann ist sie tot?« Mary Rose’ Finger schlossen sich enger um den Ring und drückten ihn verstohlen. Der Umstand, dass er noch vor kurzem am Finger ihrer Mutter gewesen war, spendete ihr Trost. »Sie ist wirklich tot?«

Tränen rannen über die Wangen ihres Vaters, während er nickte.

»Und mein Brüderchen oder Schwesterchen?«

Ihr Vater schüttelte den Kopf.

Eigentlich hätte sie in Tränen ausbrechen sollen. Mary Rose wusste das. Und sie wollte es auch. Wie gerne sie es wollte! Aber aus irgendeinem Grund kamen die Tränen einfach nicht.

Dann richtete ihr Vater sich wieder auf und sprach in seinem wunderbaren tiefen Bass mit dem singenden Tonfall, der aus einem Gebiet namens Wales stammte, viele Stunden von hier entfernt. »Mary Rose, ich muss dich etwas fragen.«

Seine Stimme nahm wieder einen heiseren Klang an, und ihr Herz fühlte mit ihm. Wäre sie größer gewesen, hätte sie sich auf die Zehenspitzen gestellt und seine Tränen getrocknet. »Du warst bei deiner Mutter, als es dem Ende zuging. Hast du gesehen, ob sie ihren Ring trug?«

Die Frage, so dicht auf den Fersen ihrer Trauer, traf Mary Rose unvorbereitet. Ja, hätte sie beinahe geantwortet. Er ist hier. Fest umschlossen in meiner rechten Hand, damit ihn niemand sehen kann. Mama hat ihn mir gegeben, damit ich ihn verwahre, bis ich älter bin und vermählt. Aber bis dahin soll ich darauf aufpassen, und er wird mich beschützen.

Stattdessen ertappte sie sich dabei, dass ihr andere Worte aus dem Mund rutschten, als hätten sie ihren eigenen Willen. Worte, die sie nicht beabsichtigte. »Nein, Papa. Ich habe ihn nicht gesehen.«

Daraufhin wurde sein Gesicht noch trauriger, und Mary Rose hätte am liebsten die Lüge sofort zurückgenommen. Sie zurückgerissen. »Ich dachte es mir«, sagte er sanft, bevor sie etwas hinzufügen konnte. »Nun komm. Sie werden inzwischen fertig sein. Lass uns deiner Mutter die letzte Ehre erweisen.«

Er bot ihr seinen rechten Arm, aber Mary Rose zögerte. Dies war der Zeitpunkt, um die Wahrheit zu sagen. Doch stattdessen hakte sie sich bei ihm ein, ihre Finger fest um den Ring geklammert, und ging mit ihm hinüber in den Salon. Ihre Mutter lag dort in einem offenen Sarg. Aber wie sah sie aus!

Ihre Haut hatte einen seltsam cremefarbenen Ton statt der üblichen rosig gesunden Farbe. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid, dabei war Hellblau ihre Lieblingsfarbe. Und ihre Augen waren geschlossen.

Mary Rose ballte die rechte Faust so fest, dass der verborgene Ring in ihr Fleisch bohrte. »Mach, dass sie atmet«, befahl sie ihm stumm. »Mach, dass sie atmet!«

Aber Mama rührte sich nicht. Aus irgendeinem Grund funktionierte der magische Ring nicht. Dieses Mal kamen die Tränen wirklich – heiß und schwer über Mary Rose’ Wangen –, aber sie entsprangen eher bitterer Enttäuschung als Trauer.

»Ruhig, mein Kind«, sagte Papa, der sie sicher in den Armen hielt. Währenddessen hörte man draußen im Hof das Klappern von Pferdehufen. »Das ist deine Tante Sophia«, erklärte ihr Vater mit einer Spur von Besorgnis in der Stimme. »Sie ist mit deinem Cousin Henry eingetroffen.«

Zu jeder anderen Zeit wäre Mary Rose davongelaufen und hätte sich versteckt, wie sie das oft tat, wenn Henry zu Besuch kam. Er war ein arroganter Junge, der nie mit ihr spielen oder Konversation betreiben wollte. Aber nun gab es kein Entkommen. Es war zu spät, denn gleich darauf hörte sie das Rascheln von Seide in den Salon rauschen.

»Ralph.« Die außergewöhnlich große Frau mit dem breiten schwarzen Hut, an dem eine Straußenfeder steckte, neigte den Kopf. Mary Rose hatte nicht viel übrig für ihre verwitwete Tante mit der schmalen hakenförmigen Nase und dem hochmütigen tiefen Tonfall, der mehr der Stimme eines Mannes ähnelte als der einer Dame.

»Nichte, ich bete für dich in dieser traurigen Zeit.« Sie musterte Mary Rose streng, als hätte diese den Tod ihrer Mutter verschuldet. Dann wandte Tante Sophia sich von ihr ab. »Und, Ralph, hast du den Ring gefunden?«

Ihr Vater schüttelte den Kopf. Das war ihre Chance, dachte Mary Rose benommen. Das war der Zeitpunkt, um ihnen die Wahrheit zu sagen. Aber ein Blick in das strenge Gesicht ihrer Tante brachte sie ins Wanken. Sicher war es besser, einen ruhigen Moment mit ihrem Vater abzuwarten und ihm unter vier Augen die Wahrheit zu sagen.

Die Beisetzung sollte in drei Tagen stattfinden. Es schien einfach nicht möglich! Worte wie »Beisetzung« und »Tod« gehörten zu anderen Leuten wie der runzeligen alten Lady Romer, aber doch nicht zu Mama, deren Haut so weich war wie die Rosenblätter im Garten.

»Meine liebe Tochter, ich fürchte, wir müssen die Wahrheit akzeptieren«, sagte Papa bekümmert. »Aber wir zwei haben immer noch uns, nicht wahr?«

Das war richtig, und Mary Rose wusste, dass ihre Mutter von ihr erwarten würde, dass sie Papa tröstete und ihm in seiner Trauer beistand. Aber in dieses Wissen mischte sich Schuld. Ihr Vater sprach jeden auf den Ring an, und je länger Mary Rose sich zurückhielt, desto mehr Ausreden erfand sie in ihrem Kopf, um ihre Beichte hinauszuzögern. »Wenn ich sage, dass Mama mir den Ring anvertraut hat, wird man mir vielleicht nicht glauben«, überlegte sie bang.

Aus Angst, der Ring könnte entdeckt werden, nähte Mary Rose ihn in den Saum ihres rechten Ärmels ein. Abends nahm sie ihn heraus, um ihn zu halten, aber statt sich kühl anzufühlen, glühte er nun auf ihrem Handteller. Manchmal hatte sie das Bedürfnis, sich Annie anzuvertrauen, die ihr tagsüber wie ein besorgtes Hündchen folgte.

Aber wenn sie das täte, würde das Mädchen sie womöglich verraten! »Ich bin noch nicht bereit, den Ring aufzugeben«, sagte sie sich. »Außerdem hat Mama gesagt, dass ich ihn für sie in meine Obhut nehmen soll.«

Unterdessen war Mrs. Deedes vom Stoffgeschäft in der Stadt zum Seamouth House bestellt worden, um Mary Rose’ Trauerkleidung anzupassen. Mary Rose kam es so sonderbar vor, sich in Schwarz zu hüllen, wo Mama doch helle Farben geliebt hatte. »Weinen nützt nichts«, sagte Tante Sophia in einem barschen Ton, als sie in Mary Rose’ Zimmer kam, um ihr Kleid zu begutachten. »Was vorbei ist, ist vorbei. Ich erzähle deinem Vater schon seit Jahren, dass er dich nicht mehr wie ein Kind behandeln soll.«

Dann warf sie einen missbilligenden Blick auf Mary Rose’ Mähne. »Bitte, sag deinem Mädchen, es soll sich um deine Frisur kümmern.« Sie stieß ein Seufzen aus. »Ich halte nichts von dieser neumodischen Sitte, dass Frauen an Begräbnissen teilnehmen dürfen, aber dein Vater besteht auf unserer Anwesenheit. Nun komm. Wir haben viel zu tun.«

Es gab keine Gelegenheit für einen ruhigen Moment mit Papa. Er brach mit der ersten Kutsche auf, die von vier gewaltigen schwarzen Rössern mit Federschmuck gezogen wurde. Mary Rose folgte in der nächsten, zusammen mit ihrer Tante und ihrem Cousin. Nichts von alldem hier fühlte sich real an, dachte sie, während sie wie betäubt aus dem Fenster auf die hügeligen Felder starrte, die steil zu dem aufgewühlten Meer abfielen.

Sie war nervös, weil sie kurz vor dem Aufbruch den Ring an ihren linken Ringfinger gesteckt hatte. Es schien ihr richtig, ihn für das Begräbnis »herauszulassen«, und außerdem verbarg der schwarze Handschuh ihn vor fremden Blicken. Das Gold begann nun, sich zu erwärmen, und während die Kutsche weiter voranrumpelte, spürte Mary Rose die tröstende Wärme in ihren Finger sickern. »Sei glücklich«, flüsterte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. »Ich bin immer bei dir.«

Mary Rose lächelte schwach und fing dabei den Blick ihrer Tante Sophia auf, die ihr in ihrer üppigen schwarzen Seide gegenübersaß, die bei jeder Bewegung raschelte. Die Miene ihrer Tante drückte tiefe Missbilligung aus. »Ein Lächeln«, bemerkte sie scharf, »ist auf einer Trauerfeier nicht angemessen. Beherrsche dich gefälligst. Du bist eine Marchmont. Wir sind aus härterem Stoff gemacht. Denk immer an deinen Rang.«

Widerwillig gehorchte Mary Rose und zwang sich, ihre Gedanken auf das zu lenken, was sie gleich erwartete. Mama würde in der Kathedrale von Exeter beigesetzt werden, ungefähr fünfzehn Meilen entfernt, statt in der hübschen Pfarrkirche von Seamouth. Das war, sagte ihre Tante, »auf die gesellschaftliche Stellung deines Vaters zurückzuführen«.

Die restliche Fahrt verlief schweigend, während sich die Kutsche die Hügel hinaufmühte und wieder hinunter in Richtung Stadt. Mary Rose schaute aus dem Fenster und beobachtete, wie die Arbeiterhütten hinter ihnen kleiner wurden, zusammen mit den Männern, die ihre grauen Dockermützen abgenommen hatten, und den Frauen, die ihre kleinen Kinder an der Hand hielten, die Münder staunend aufgerissen. Sie bemitleideten sie! Dabei hatte Mary Rose ihr ganzes Leben lang sie bemitleidet.

Schließlich hielten sie auf dem Kopfsteinpflaster vor der prächtigen Kathedrale mit ihren taubengrauen Engeln aus Stein, die über dem massiven Holzportal in die Fassade eingebettet waren. Mary Rose ertappte sich bei der belanglosen Frage, wie der Steinmetz wohl dort hochgekommen war, um sie herauszumeißeln. Hatte er ein hohes Treppengerüst benutzt wie das eine in der Nähe von Seamouth House, das hinunter zum Meer führte?

Als sie die Kathedrale betraten, starrte Mary Rose zu den weißen Arkadenbogen und dem gewaltigen Rippengewölbe empor, wofür sie den Kopf in den Nacken legen musste. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, dass ihre Mutter ihre restlichen Tage nicht in diesem kalten prunkvollen Mausoleum verbringen würde. Es ähnelte eher einem leeren Palast aus einem Märchenbuch als einer letzten warmen Ruhestätte.

Ihr Vater, der nun neben ihr erschien, warf ihr einen sanft tadelnden Blick zu, als wüsste er, was sie gerade dachte. Beschämt ergriff sie seinen Arm zum Trost. Die Kirchenbänke waren brechend voll! Viele Gesichter waren ihr fremd, aber es waren auch Händler aus der Stadt gekommen, ebenso der Bürgermeister und Männer aus dem Steinbruch, die Mary Rose wiedererkannte. Alle starrten sie mit einer Mischung aus Mitleid und Neugier an, sodass sie froh war über den schwarzen Spitzenschleier vor ihrem Gesicht, hinter dem sie ihre Gefühle verbergen konnte.

»Armes Kind«, hörte sie jemanden raunen. »Viel zu jung, um seine Mutter zu verlieren.« Die Worte kamen ihr unwirklich vor, als würden sie jemand anders betreffen und nicht sie. Außerdem war sie kein Kind mehr. Sie war fast eine Frau!

Ein kleiner Mann, der ein langes schwarzes talarähnliches Gewand trug, geleitete sie zur vordersten Reihe, nahe den Plätzen, die von der neuen Lady Romer und ihrem Sohn besetzt wurden. Beide blickten starr geradeaus, als wäre niemand hier außer ihnen selbst. Mary Rose war froh darüber, dankbar, nicht noch mehr aufdringliche Blicke zu ernten. Die Kälte im Raum durchdrang sie bis auf die Knochen, während sie an den kunstvollen Säulen emporblickte. Was war dort oben, zwischen den Gewölberippen? Ein Schmetterling? Im Winter?

Gebannt beobachtete sie die weiße Kreatur, die umherschwirrte und sich im Flug immer wieder fallen ließ, als wollte sie Mary Rose’ Aufmerksamkeit erringen. War es die Seele ihrer Mutter, die nach ihr rief, wie der Wind an jenem Abend, als Mama gestorben war? Um ihr zu sagen, dass alles gut werden würde? Mary Rose sprang auf und streckte die Hände empor, um zu zeigen, dass sie verstand. Aber zu ihrer Enttäuschung tauchte die Kreatur unter einer Rippe durch und verschwand dahinter.

»Setz dich, bitte«, ermahnte ihr Vater sie und griff nach ihrer linken Hand, um Mary Rose sanft wieder auf ihren Platz zu ziehen. Ein kaltes Prickeln überkam sie, als sie spürte, dass seine Hand sich über dem Ring schloss. »Was ist das?«, flüsterte er. »Mary Rose, zieh deinen Handschuh aus.«

Sie zögerte, einen Moment lang beunruhigt, als Papas Blick sich verhärtete. »Ich wiederhole, zieh deinen Handschuh aus.«

Widerstrebend fügte sie sich. Mamas herrlicher Rubinring steckte an ihrem Finger, als würde er dort hingehören. Als wäre er schon immer dort gewesen. Die Gesichtsfarbe ihres Vaters wechselte von Rot zu Weiß und wieder zurück zu Rot. In diesem Augenblick erhoben sich alle Anwesenden von ihren Bänken, da nun der Bischof von Exeter, gefolgt von mehreren Priestern, den Mittelgang durchschritt.

Mary Rose wusste, dass ihr Vater es nicht wagen würde, während der Trauerfeier mehr zu sagen. Dennoch erkannte sie an seiner Miene, dass er – der in ihrem ganzen Leben nicht ein Mal seine Stimme erhoben hatte – zutiefst enttäuscht war. Etwas sagte ihr, dass sie einen Fehler begangen hatte. Einen gewaltigen.

3

»Wie konntest du so etwas Niederträchtiges tun? Ist dir nicht bewusst, dass alle Dienstboten für dein Vergehen unter Verdacht standen? Dieser Ring gehört der Familie. Es steht dir nicht zu, ihn wie eine Art Tand zu behandeln.«

Die wütende Stimme ihrer Tante und ihre frostigen grauen Augen schnitten wie ein Tranchiermesser durch Mary Rose, sodass sie sich geradezu körperlich krank fühlte vor Selbsthass. Nachdem sie von der Trauerfeier zurückgekehrt waren, hielten sie sich nun im Morgenzimmer auf, und zweifellos hatte Papa seine Schwester über Mary Rose’ Tat informiert. Tante Sophias verkniffene Miene blickte missbilligend unter dem Gasleuchter, den jemand angezündet hatte, nun, da das Tageslicht draußen allmählich verblasste.

»Meine Mutter gab mir den Ring«, versuchte Mary Rose zu erklären, aber Sophia fiel ihr wütend ins Wort.

»Du hast ihn ihr gestohlen, auf ihrem Sterbebett!«

»Nein!« Mary Rose wandte sich Hilfe suchend an ihren Vater. »Ich weiß, ich hätte dir sagen sollen, dass ich den Ring habe. Aber irgendetwas hat mich daran gehindert. Und je länger ich es verschwiegen habe, umso schwieriger wurde es, dir die Wahrheit zu sagen.« Sie fröstelte, immer noch durchgefroren von der kalten Kathedrale, obwohl im Kamin ein Feuer brannte. »Außerdem hatte ich Angst, du würdest ihn mir wegnehmen und ich würde so den letzten Teil von Mama verlieren.«

Die Miene ihres Vaters wurde nun weicher. »Ich verstehe das, mein Liebes.« Er tätschelte sanft ihre Schulter. »Trotzdem hättest du es mir sagen müssen. Es ist nicht der Wert dieses Rings, der mich beunruhigt, obwohl der wahrlich groß genug ist. Vielmehr geht es ums Prinzip. Unaufrichtigkeit ist eine Sünde, mein Kind. Eine schwerwiegende Sünde.«

Aus dem Sessel, in dem ihre Tante saß, drangen ein Fächerwedeln und das Rascheln der schwarzen Seide, als Sophia sich erhob, um sich vor ihrem Bruder und Mary Rose aufzubauen. »Ralph, ich habe genug gehört. Ich werde meine Zofe bitten, meine Koffer zu packen, und zu meiner eigenen Familie zurückkehren.« Ihr habichtähnliches Gesicht starrte Mary Rose wütend an. »Deine Tochter wurde ihr ganzes Leben lang mit zu viel Nachsicht behandelt, und nun ist sie nicht besser als eine gemeine Lügnerin. Ich hoffe, du wirst mit ihr angemessen verfahren.«

Ihr Vater wartete, bis seine Schwester den Raum verlassen hatte. »Mary Rose, du weißt, dass du dich falsch verhalten hast, aber ich kann nachvollziehen, warum.« Er klopfte gegen die Tasche seines schwarzen Gehrocks, wo der Ring sich nun befand. »Es ist meine Schuld, weil ich dich dein ganzes Leben lang ermuntert habe, dich wie ein Kind zu benehmen.«

Er blickte traurig. »Das liegt daran, dass wir keine weiteren Kinder hatten, verstehst du.« Dann hellte seine Miene sich auf. »Aber ich verspreche dir, wenn du dein mündiges Alter erreicht hast, gehört der Ring dir. In der Zwischenzeit wird es keine Unwahrheiten mehr geben. Deine Mama würde sich wünschen, dass wir beide in Harmonie zusammenleben.«

Mary Rose warf sich an die Schulter ihres Vaters. Der Ring war fort! Er war ihr weggenommen worden! Obwohl sie ihn nur für so kurze Zeit besessen hatte, fühlte sich ihr Finger nackt an ohne ihn. Vielleicht war Papa der Fluch nicht bekannt; vielleicht war das ein Geheimnis, das Mama nur mit ihr geteilt hatte. Aber das Wichtige war, dass ihr Vater sie immer noch liebte. Eine Zeitlang, vorhin in der Kathedrale, hatte sie befürchtet, seine Zuneigung für immer verloren zu haben. Und das hätte sie nicht ertragen.

»Ich verspreche es«, sagte sie ernst, während sie ihn fest umarmte. »Ich verspreche dir, Papa, dass ich dich nie wieder belügen werde.«

Während der nächsten paar Monate nahm das Leben allmählich wieder seinen normalen Gang. Oder zumindest so normal, wie es ohne ihre Mutter sein konnte. Aus dem verzweifelten Wunsch heraus, ihre Fehleinschätzung über den Ring wiedergutzumachen, machte Mary Rose es sich zur Pflicht, ihren Vater aufzuheitern, indem sie sich lachend und singend durch das Haus bewegte, so wie Mama früher, auch wenn ihr innerlich das Herz brach.

»Man sollte meinen, das Mädchen würde mehr Respekt zeigen«, hörte sie einmal Mrs. Hasberry murmeln, aber Annie verstand Mary Rose.

»Sie möchten den Master seine Sorgen vergessen lassen«, sagte sie schleppend, als sie Mary Rose für das Dinner ankleidete, dem Mary Rose nun als die einzig verbliebene Herrin des Hauses beiwohnen durfte.

Das entsprach der Wahrheit. Mary Rose gab sich große Mühe – obwohl sie es nicht so betrachtete –, ihren Vater beim Dinner mit kleinen Anekdoten von ihrem Tag zu unterhalten. »Miss Baker nimmt mit uns gerade Afrika durch«, erzählte sie dann zum Beispiel mit Begeisterung, wenn sie ihren Morgenunterricht mit Letitia beschrieb. »Hast du gewusst, dass es dort so heiß ist, dass man auf dem Boden ein Ei braten kann?«

Dann lächelte ihr Vater, aber auf eine Art, die ihr verriet, dass er das nur ihr zuliebe tat. Also versuchte sie es erneut. »Miss Baker ist so schwerhörig, dass Letitia und ich manchmal so tun, als könnten wir sie nicht verstehen, besonders wenn sie schwierige Fragen stellt.«

»Das ist nicht sehr nett«, tadelte ihr Vater, aber sie sah, dass sein Mundwinkel zuckte.

An den Tagen, an denen die Kutsche sie nicht zu Letitia brachte, wagte Mary Rose sich hinunter in die Küche und bat die Köchin, für ihren Vater etwas Besonderes zuzubereiten. Am besten etwas, das seinen Appetit anregte.

»Wie wäre es mit eingelegten Rinderröllchen?«, schlug sie einmal vor, während sie in einer Ausgabe von Mrs. Beeton’s Book of Household Management blätterte, das ihre Mutter immer gerne zu Rate gezogen hatte. Daraufhin nickte die Köchin verständnisvoll und erwiderte, dass Mary Rose eines Tages in ihrem eigenen Haus eine sehr gute Herrin abgeben würde, und wenn sie der Auffassung sei, dass Mr. Marchmont durch das besagte Gericht seinen Appetit wiederfinden würde, werde sie es gerne zubereiten.

Mary Rose verspürte selbst nur wenig Appetit, aber sie zwang sich, alles aufzuessen, was man ihr servierte, um ihren Vater zu ermutigen. Sie wusste, dass ihre Mutter sich genau das wünschen würde, und abgesehen davon wurde sie nach wie vor von der enttäuschten Miene ihres Vaters verfolgt, nachdem er den Ring entdeckt hatte. Sie musste das wiedergutmachen. Sie musste sein Vertrauen und seine Liebe zurückgewinnen.

Und allmählich gelang ihr das auch. Oder zumindest hatte es den Anschein. »Du machst deine Aufgabe gut«, bemerkte der Pfarrer anerkennend, als er zu Besuch kam. »Wie ich sehe, bereitest du deinem Vater gute Laune. Du hast offensichtlich ein Talent dafür, andere Menschen glücklich zu machen.« Er tätschelte Mary Rose’ Schulter, und sie strahlte über das Lob. »Ein kleiner Rat von mir, mein Kind. Sorge dafür, dass dein Vater regelmäßig an die frische Luft kommt. Die Natur ist die beste Medizin, sage ich immer.«

Also machte Mary Rose ihrem Vater den Vorschlag, immer nach dem Mittagessen gemeinsam einen Spaziergang zu machen, wie sie das früher mit Mama getan hatte. Sie führte ihn zu ihren alten Lieblingsplätzen, wovon sie aber nichts erwähnte, falls es ihn zu sehr aufwühlte. Zusammen erkundeten sie kleine Felstümpel, an denen sie und ihre Mutter immer gesessen hatten. Gelegentlich stiegen sie unter viel Gelächter die lange Holztreppe hinunter, die vom Rand der Steilwand zu einem Strandabschnitt führte, an den sich nur wenige trauten.

Dort unten waren sie völlig unter sich. Sie konnten nach Muscheln suchen oder nach Napfschnecken, die die Form von Halbmonden hatten und innen dieselbe blaue Farbe wie Mamas geliebte Schwertlilien im Garten. Oft stapften Vater und Tochter gemeinsam durch den Sand, Arm in Arm, manchmal plaudernd und manchmal schweigend, während sie sich allmählich leichter taten mit den Erinnerungen an die Frau, die zwar nicht mehr leibhaftig unter ihnen weilte, aber deren Geist beständig über ihnen schwebte.

Ein volles Jahr war verstrichen, und Mary Rose wurde erklärt, dass sie ihre schwarze Trauerkleidung ablegen könne. Dies betrachtete sie persönlich mit einer gewissen Schwermut, weil es befürchten ließ, dass Mama in Vergessenheit geraten würde. Es gab weitere Veränderungen. Als Letitias Gouvernante so starke Schmerzen in den Fingern entwickelte, dass sie immer häufiger nicht mehr in der Lage war zu unterrichten, durfte Mary Rose ihren Vater in sein Büro am Steinbruch begleiten und sogar an seinem riesigen Schreibtisch aus Holz mit den tiefen Rillen in der Oberfläche sitzen, in die sie einen Bleistift stecken konnte.

Danach schlenderte sie oft an der Seite ihres Vaters, der in seinem Anzug und mit seinem Stock mit dem silbernen Knauf prächtig aussah, durch die Stadt. Wie erwachsen sie sich vorkam! Und sie achtete streng darauf, sich gerade zu halten, so wie Mama es ihr immer eingeschärft hatte. Wenn sie Kindern begegneten, die Reifen rollen ließen, hatte Mary Rose nun nicht mehr das Bedürfnis mitzuspielen. Schließlich hatte sie fast ihr zwölftes Lebensjahr vollendet. »Du bist ganz schön erwachsen geworden, wie ich sehe«, sagte Miss Lillibet im Kurzwarengeschäft, wo sie vorbeischauten, um die Bänder zu begutachten. »Ein blaues Band für deine bezaubernden roten Locken? Natürlich. Ganz wie deine liebe Mama. Sie hat genau diese Farbe bevorzugt, weißt du?«

Nach und nach schien Papas Lethargie über ihrer beider Verlust nachzulassen. Aber an ihre Stelle traten ständige Fragen. Wohin gehst du? Wer begleitet dich?

»Er erlaubt mir nicht einmal, allein an der Steilküste entlangzuspazieren«, beklagte sie sich eines Abends bei Annie.

»Der Master ist in Sorge um Sie«, erwiderte das Mädchen, während es ihr Korsett aufschnürte. »Ich habe gehört, dass Ihre Tante immer noch sehr wütend sein soll. Sie sagt, man kann Ihnen nicht vertrauen.«

Mary Rose’ Gedanken schweiften ab zu der silbernen Schatulle, die oben auf Mamas Frisierkommode stand. Sie war sich sicher, dass Papa den Ring darin verwahrte. Manchmal juckte es sie in den Fingern, den Ring herauszunehmen und mit dem Daumen über die Rubine zu streichen, um sich zu vergewissern, dass ihre Mutter nicht völlig verschwunden war. Aber wenn sie das tat, würde sie einmal mehr Papas Missbilligung auf sich ziehen. Und dieses Mal würde er vielleicht nicht so verständnisvoll reagieren.

»Damit waren wir bereits durch.« Mary Rose schüttelte trotzig ihre Locken. Annie meinte es gut, aber manchmal war ihre Einfalt äußerst lästig. »Meine Mutter hat mir den Ring gegeben. Ich habe für sie nur darauf aufgepasst.«

Annies Finger zerrten mit einem unnötigen Ruck an ihrer Taille. »Das mag ja sein, Miss. Aber in diesem Haus sind Unschuldige zu Unrecht beschuldigt worden. Die Leute hier in der Gegend vergessen nicht so rasch.«

Dabei musste Mary Rose an Mrs. Hasberry denken, die sich kühl und distanziert zu ihr verhielt, obwohl Mary Rose nun die Hausherrin war. Und ein ungutes Gefühl ließ sie erschaudern.

Annies Worte ließen ihr keine Ruhe. Sie sagt, man kann Ihnen nicht vertrauen. Von nun an war es Mary Rose, der es Unbehagen bereitete, wenn ihr Vater außer Sichtweite war. Sie war entschlossen, alles zu tun, um Papas Vertrauen voll und ganz zurückzugewinnen. Wenn er mittags von der Arbeit nach Hause kam, seine Kleidung bedeckt von weißem Staub aus dem Kalksteinbruch, nahm sie ihm persönlich seinen Gehrock ab und führte ihn anschließend in den Salon, wo sie ihm ein kleines Glas Sherry eingoss, zu seiner »Seelenstärkung«. Das war ein Ausdruck, den ihre liebe Mama früher gerne verwendet hatte, folglich war es richtig, wenn Mary Rose es ihr gleichtat.

Als das Wetter wärmer wurde, saßen Vater und Tochter in dem herrlichen Garten mit seinen prächtigen Rhododendren und Azaleen, die Mama so geliebt hatte. Manchmal fand Mary Rose sich an der Mauer wieder, die den Garten von der steil abfallenden Klippe trennte, und sie fragte sich, wie es wohl sein würde, wie die Kohlweißlinge im Sommer herunterzuflattern, tiefer und tiefer bis auf den Kiesstrand. »Bitte, Mary Rose, tritt ein Stück zurück«, sagte ihr Vater dann mit sorgenzerknitterter Stirn. »Du machst mir Angst.«

Unartigerweise freute sie sich darüber, weil es ihr zeigte, dass sie ihm noch etwas bedeutete. »Aber Papa, die Geister werden mich beschützen.«

Wieder runzelte er die Stirn. »Geister? Welche Geister?«

Mary Rose lehnte sich immer noch gegen die Mauer, während sie antwortete. »Ich habe zufällig gehört, wie die Männer im Steinbruch sich darüber unterhalten haben, Papa. Sie sprachen vom Tischrücken, um die Geister auf der anderen Seite zu rufen. Glaubst du, wenn wir uns ihnen anschließen, können wir vielleicht mit Mama in Kontakt treten?«

Es folgte das dumpfe Geräusch einer Faust, die auf eine Stuhllehne fiel. »Hör mir gut zu, Mary Rose!« Die Augenbrauen ihres Vaters waren eng zusammengezogen. »Diese Sitte des Tischrückens ist unbegründeter Unfug. Ich werde mit meinen Männern ein Wörtchen reden. Es ist nicht möglich, mit den Toten in Kontakt zu treten, indem man in einer Tischrunde sitzt und die Hand über ein Glas oder eine Karte hält.«

Ein Gefühl der Schwere senkte sich auf Mary Rose’ Brust. Sie hätte nichts sagen sollen! Nun konnte sie beinahe Papas Gedanken lesen, und seine folgenden Worte bestätigten ihre Vermutung. »Deine Tante hält es für falsch, dass du ganz allein in einem Haushalt aufwächst, ohne eine Mutter oder Geschwister.«

»Nein, Papa!« Sie klammerte sich an seinen Arm. »Bitte, schick mich nicht fort zu meiner Tante und meinem Cousin! Das könnte ich nicht ertragen. Ich würde sterben. Ich schwöre, das wäre mein Tod!«

Es war die Wahrheit. Wie könnte sie ohne ihren geliebten Vater leben? Und wie könnte sie ohne den Geruch des Meeres leben, das in ihren Ohren sang, oder ohne das Salz, das sie in der Nase kitzelte? Verglichen damit waren die nassen grauen Straßen in London, wo ihre Tante lebte, nackt und kahl. Leblos. Trist ohne das Rauschen der Wellen.

»Also gut, mein Liebes.« Ihr Vater wirkte beinahe erleichtert über ihre Reaktion. Er tätschelte sanft ihre Hand. »Aber wir werden in Zukunft auf weiteren Unfug wie Tischrücken verzichten, hast du mich verstanden?«

Einstweilen zog Mary Rose weiterhin Trost aus dem Garten, den ihre Mutter so sehr geliebt hatte. Besonders angetan hatte es ihr der alte knorrige Holzapfelbaum, der in Kürze einen wundervollen Mantel aus weißen Blüten tragen würde. Mary Rose stellte sich oft vor, dass Mama in diesem Baum saß, und wenn keiner hinsah, sprach sie mit ihr. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie dann. »Papa und ich sind wohlbehalten. Ich hoffe, du bist es auch. Bitte, bitte, gib mir ein Zeichen.«

Aber es kam nie eins. Nicht einmal ein Schmetterling oder ein Windstoß, der an das Fenster klopfte.

Der Frühling blühte einmal mehr, und mit ihm begann Mary Rose’ Körper, sich noch stärker zu verändern, als er das bereits getan hatte. Ihre Brüste schwollen an, sodass Annie große Mühe hatte, Mary Rose in ihre üblichen Mieder zu schnüren.

Die Veränderung schien jedoch bis zum nächsten Besuch ihrer Tante unbemerkt zu bleiben, der Mary Rose mit tiefer Sorge erfüllte. Angenommen, Papa überlegte es sich anders und schickte sie fort, damit sie bei seiner Schwester und deren garstigen Kindern lebte? Mary Rose’ Befürchtungen waren nicht unbegründet.

»Wie kannst du deiner Tochter erlauben, über den Alkohol zu walten?«, fragte Tante Sophia am ersten Abend, als Mary Rose ganz selbstverständlich ihrem Vater seinen üblichen Sherry servierte und in aller Unschuld ihre Tante fragte, ob sie auch ein Glas wünsche.

»Ich habe gehört«, fuhr Sophia fort, deren Hals Mary Rose an einen faltigen Truthahn erinnerte, »dass die Gouvernante der Mills mittlerweile völlig indisponiert ist und dass meine Nichte ihre Tage nun damit vergeudet, in deinem Büro zu sitzen oder im Garten zu spielen, wo sie laut mit sich selbst spricht.«

Ihr Vater stieß ein Räuspern aus. »Das ist nur vorübergehend, bis ich die Zeit gefunden habe, weitere Arrangements zu treffen.«

Tante Sophias schmale Lippen verzogen sich geringschätzig. »Ich sage dir, Ralph, diese Art Leben ist nicht angemessen für eine junge Frau.«

Mary Rose versuchte ihre Zunge im Zaum zu halten, aber die Worte bestanden darauf herauszukommen. »Papa und ich sind durchaus zufrieden mit den derzeitigen Verhältnissen, Tante.« Beide Erwachsene wandten daraufhin den Kopf zu ihr, und sie errötete leicht. Henry, der seine Mutter begleitet hatte, fing an zu kichern. Wie unhöflich. Trotzdem konnte Mary Rose nicht verhindern, dass sie noch mehr errötete. Auch wenn sie für Henry nicht besonders viel übrighatte, war er der einzige Junge, den sie kannte. Dies führte bei ihr häufig zu Schüchternheit, Verlegenheit und Nervosität, alles gleichzeitig.

»Papa und ich sind uns gegenseitig Gesellschaft«, fuhr sie entschlossen fort, »nun, da Mama nicht mehr bei uns ist.« Zum ersten Mal fühlte sie sich in der Lage, diese Formulierung auszusprechen, ohne dass ihr die Tränen kamen. »Ich erzähle ihm Geschichten, und wir unternehmen gemeinsame Spaziergänge. Was den Steinbruch betrifft, warum sollte ich mich nicht dort aufhalten? Papa hat gesagt, ich könne vielleicht mit ihm das Geschäft führen, wenn ich älter bin.«

Die entgeisterte Miene ihrer Tante, zusammen mit dem Aufblitzen von Unsicherheit in Papas Augen, war der Beweis, dass sie wieder einmal zu viel gesagt hatte. »Ralph«, begann ihre Tante bedächtig. »Ich hatte es immer so verstanden, dass das Geschäft an Henry übergeht, wenn du keinen männlichen Erben hast.«

An diesem Punkt drehte ihr Cousin sich von seiner Mutter weg und schnitt Mary Rose eine Grimasse. Das war zu viel! Mary Rose streckte ihren Fuß unter dem Tisch so weit vor, wie sie konnte, um Henry einen Tritt zu geben, und obwohl sie ihn nur leicht traf, verzog sich sein speckiges, verwöhntes Gesicht sofort zu einem Aufschrei. »Sie hat mich unter dem Tisch getreten!«, jammerte er. »Sie hat mich getreten!«

Ihr Vater blickte sie streng an. »Mary Rose«, sagte er in einem kühlen Ton, der sie innerlich zittern ließ, »ist das wahr?«

Sie nickte langsam. Nach der Episode mit dem Ring hatte sie Mama von ganzem Herzen versprochen, dass sie nie wieder die Unwahrheit sagen würde.

»In diesem Fall«, sagte ihr Vater enttäuscht, »denke ich, ist es an der Zeit, dass du dich zurückziehst.«

Später, nachdem Annie ihr schweigend eine Platte mit Bratenaufschnitt und eine Kanne kaltes Wasser gebracht hatte, hörte Mary Rose auf dem Flur die Schritte ihres Vaters, die sich ihrem Zimmer näherten.

Kaum war er eingetreten, warf sie sich in seine Arme und atmete den vertrauten Geruch seines Gehrocks ein. »Papa, schick mich nicht fort zu Tante Sophia und meinem unliebsamen Cousin. Ich flehe dich an.«

Behutsam löste er sich von ihr und ging zu dem Sessel vor dem Kamin, um darin Platz zu nehmen, während er ihr bedeutete, dass sie sich auf den hübschen rosa Sessel gegenüber setzen sollte. Dieser hatte früher einmal Mama gehört, als sie selbst noch ein Kind gewesen war. Allmählich wurde er zu klein für Mary Rose, aber sie nahm ihren Platz ein und machte sich auf ihr Schicksal gefasst.

»Deine Tante und ich hatten eine Unterredung«, begann ihr Vater.

Mary Rose fühlte sich, als würde sie gleich platzen vor Ungeduld.

»Sie hat mich davon überzeugt, dass die Zeiten sich ändern«, fuhr er fort, während er mit seinem Stock auf den Boden klopfte, als wolle er seine Aussage unterstreichen. »Bedauerlicherweise fehlt nun die Erziehung von Letitias Gouvernante, besonders hinsichtlich der Handarbeiten und anderer Fertigkeiten, die von einer Dame verlangt werden.«

Das war nicht das, was sie erwartet hatte.

»Daher habe ich beschlossen, eine Gouvernante zu uns ins Haus zu holen. Deine Tante kennt eine Frau, die vielleicht geeignet ist. Sie …«

Der plötzliche Freudenausbruch in Mary Rose’ Herz war nicht zu bändigen. »Sie wird zu uns kommen und hier bei uns leben?«

Ihr Vater nickte ernst.

»Dann wirst du mich nicht fortschicken?«

Er schüttelte den Kopf. »Mein liebes Kind, wie könnte ich?« Zu ihrer Erleichterung spürte sie seine Arme um sich. »Ich brauche dich, mein Vögelchen. Ich brauche dein Lachen und dein Lächeln, das so viel Ähnlichkeit hat mit dem deiner armen Mutter.«

Verblüfft nahm sie den scharfen Unterton von roher Trauer in seiner Stimme wahr. Aber zu ihrer Erleichterung schwang noch etwas anderes darin. Liebe! Ihr Vater liebte sie. Annie hatte sich getäuscht! Er vertraute ihr wieder. Voll und ganz.

Seine freundlichen Augen blickten sie nun beruhigend an. »Deine Tante wird sich schriftlich an die fragliche Gouvernante wenden, und ich werde sie dann persönlich treffen. Wenn sie geeignet ist, stelle ich sie sofort ein.«

Papas Mundwinkel zuckte wieder, als würde er versuchen, ein Lächeln zu unterdrücken, obwohl seine Augen tränenfeucht waren. »Und wenn auch nur, um deine Tante in Zukunft davon abzuhalten, uns ständig den Marsch zu blasen.«

4

Mary Rose lernte das Lachen von Mademoiselle Laville kennen, noch bevor sie ihr Gesicht erblickte. Zuerst verwechselte sie das perlende Geräusch mit einer Welle, die sanft unten gegen die Felsen schwappte. Mary Rose saß an dem Teich im Innengarten auf dem Klippenplateau und hatte ihrer Mama im Apfelbaum – der nun seinen weißen Blütenteppich verloren hatte und große grüne Früchte trug – erklärt, dass sie eine eigene Gouvernante bekommen werde, die den ganzen Weg von Paris hierherreiste.

Natürlich war Mary Rose inzwischen zu erwachsen, um daran zu glauben, dass ihre Mutter tatsächlich in dem Baum hockte. Aber es tröstete sie hin und wieder, so zu tun als ob.

»Stell dir vor! Die Köchin sagt, ich werde bald Französisch sprechen wie meine Muttersprache, und dass sich dadurch meine späteren Heiratsaussichten verbessern. Ich habe natürlich beschlossen, dass ich nie heiraten werde. Stattdessen werde ich zu Hause bleiben und mich um Papa kümmern, damit er niemals einsam ist.«

Das war der Moment, in dem erneut das perlende Geräusch an ihre Ohren drang. Dieses Mal klang es nicht wie ein weit entferntes Plätschern am Fuß des Steinbruchs. Vielmehr erinnerte es an ein Glöckchen oder vielleicht an einen eigenartigen Vogel. Als Mama noch lebte, hatte sie Mary Rose oft auf das Geräusch des Kuckucks aufmerksam gemacht, aber das hier klang anders. Der Laut hallte in ihren Ohren wider, als würde dieser Vogel jemanden verspotten. Gleich darauf vernahm sie die Stimme ihres Vaters.

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