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Ein junges Paar kauft eine alte Moorkate komplett mit dem dazugehörigen Moor. Die Renovierung von Haus und Grundstück wird zur Lebensaufgabe, weil die Kate selber in einem sehr maroden Zustand ist und das Moor bislang vom ganzen Dorf als Müllkippe benutzt wurde. Doch allen Unkenrufen zum Trotz gelingt es den beiden in jahrelanger Arbeit das Moor zu renaturieren und sich ein kleines Paradies zu schaffen. - Dies alles geschieht unter den neugierigen Augen des Nachbarn und dessen Frau, die auf dem Nachbargrundstück eine Garage besitzen. Unerwartet bricht ein sich rasch ausweitender Zaunkrieg über das junge Paar herein, der bis zum tragischen Tod des Mannes in Erpressung gipfelt, von der seine Frau erst hinterher erfährt. Da findet sie eines Morgens den verhassten Nachbarn, bis zur Brust im Moor eingesunken, auf ihrem Grundstück. Doch bevor sie Hilfe organisieren kann, fallen ihr all die Gemeinheiten ein, die der Mann ihr im Laufe der Jahre angetan hat …
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Seitenzahl: 245
Veröffentlichungsjahr: 2016
Ellen Lukas
Der Gefangene im Moor
Besser ein Moor mit Schlange als gar kein Moor
Copyright: © 2016 Ellen Lukas
Lektorat: Erik Kinting / www.buchlektorat.net
Umschlag & Satz: Erik Kinting
Titelfoto: © Irina Fischer (fotolia.com)
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
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Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.
Für meinen Sohn, der als kleiner Bub schon helfen musste, das Moor zu retten.
Es war ein stürmischer Apriltag. Der Wind fegte in Böen um die Häuser, als ob er wütend wäre, und bog die Birken tief auf die Wiese. Eigentlich war es schon eher ein Orkan, wie er nur selten hier anzutreffen ist. Und da bei solchem Wetter die alten Birken immer und immer wieder Zweige und auch ganz große Äste abwerfen, ging ich in den Sturm hinaus und fing an, das ganze Zeug einzusammeln. Ich achtete genau darauf, dass ich nicht zu lange unter meiner uralten Lieblingsbirke verweilte, weil die Gefahr, von so einem dicken Ast erschlagen zu werden, ziemlich groß war. Es war für mich die schönste Birke der Welt, weil sie wirklich ein Gesicht hatte. Zwar hätte sie keinen Schönheitswettbewerb gewinnen können, aber mir gefiel sie. Es war ein bisschen verrückt, jetzt draußen zu sein, aber ich brauchte etwas frische Luft.
Der Sturm heulte und pfiff und es war sehr laut da draußen, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ich eine menschliche Stimme hörte. Ich hielt inne, stand ganz still und horchte. Aber da war nichts mehr und ich glaubte, dass ich mich verhört hatte. Wer sollte auch bei solchem Wetter draußen rumlaufen? Das tat doch nur ich. Die Kinder saßen wahrscheinlich am Computer und die kleinen Buben, die da manchmal rumtobten, schrien immer so laut, dass sie nicht zu überhören waren.
Und doch war da etwas; ich fühlte es. Aber was? Ich horchte wieder und wieder und dann kam mir die Idee, dass ich doch zum Moor gehen könnte und nachsehen, obwohl das eigentlich völlig blödsinnig war.
Ich hörte auf mein Bauchgefühl und ging Richtung Moor. Da hörte ich es wieder, es war ein Hilferuf! Nicht gerade sonderlich laut, weil der Wind das Geräusch dämpfte, aber es klang nach »Hilfe«.
Wer in aller Welt trieb sich bei solch einem Sturm im Moor herum? Unmöglich, ich musste mich verhört haben. Ich ging weiter und plötzlich sah ich eine Gestalt bis zu den Hüften, fast bis zur Taille im Morast stecken. Träumte ich das jetzt? Ich zwickte mich, aber es änderte die bizarre Ansicht nicht. Zögernd ging ich noch einen Schritt, weil ich neugierig war und es einfach nicht fassen konnte. Doch, da war ein Mensch im Moor eingesunken.
Ganz zaghaft ging ich noch einen Schritt und noch einen … dann erkannte ich, dass es kein Kind war. Gott sei Dank, wenigstens das nicht! Aber welcher irre Erwachsene wagte sich bei diesem Wind in das Moor? Wer ist denn so ausgesprochen blöd? Da verschlug es mir die Sprache, weil ich diesen Irren jetzt erkannte. Ich hätte beinahe angefangen zu lachen, hielt mich aber zurück. Da er in die andere Richtung schaute, sah und hörte er mich nicht kommen und das war gut so.
Ich lief zurück ins Haus, ging auf den Dachboden und kramte die alte Truhe mit den Faschingssachen heraus. Schließlich fand ich, wonach ich suchte: eine Polsterung für Brust und Rücken, die mein Sohn zum Schauspielern in der Schule verwendet hatte. Zusätzlich zog ich noch eine uralte Trachtenjacke aus der Truhe, die einstmals Opa gehörte. Ich zog beides an, stellte mich vor den Spiegel und war sehr zufrieden mit dem Resultat: das war ganz sicher keine Frauengestalt, sondern ein kräftiges Mannsbild, das mir da entgegensah. Jetzt musste ich nur noch das Gesicht irgendwie verändern, denn ich wollte auf keinen Fall, dass dieser Mensch mich erkannte. Zuerst versuchte ich es mit einer dunkelbraunen Perücke aber dann fand ich noch eine schwarze, ziemlich kurzhaarige. Ja, das sah schon ganz gut aus. Als ich dann noch eine Schläger-Mütze und eine dunkle Brille aufsetzte, erkannte ich mich fast selber nicht mehr.
Ich ging festen Schrittes zurück zum Moor, verstellte meine Stimme und fragte den Mann ganz scheinheilig, was er denn da treibe: »Suchen Sie etwas oder warum knien Sie da?«
»Ich knie nicht, ich bin eingesunken«, erwiderte er ziemlich barsch und drehte sich um, soweit das möglich war.
Typisch für ihn, dachte ich. »Ja, wie können Sie denn in so eine Lage kommen? Noch dazu bei diesem Wetter?«
»Das erkläre ich Ihnen später, helfen Sie mir erst mal hier raus.«
Kein freundlicher Ton, kein Bitte, nur ein Befehl. »Klar, mach ich, aber erst mal muss ich ein Brett besorgen.«
»Wieso?«, fragte der dämliche Kerl.
»Das erkläre ich Ihnen auch später«, war meine Antwort, dann ging ich.
Er hatte meine Stimme nicht erkannt, mich auch nicht und das war sehr gut so, denn ich war mir nicht sicher, ob ich ihm überhaupt helfen sollte und wollte. Ich brauchte erst mal Zeit zum Nachdenken. Es tat richtig gut, ihn da in der Brühe gefangen zu sehen. Falls ich ihm helfen wollte, dann sicher nicht gleich. Er sollte schon noch ein bisschen schmoren, das hatte er verdient.
Vielleicht helfe ich ihm ja gar nicht, sinnierte ich. Schließlich machte mir dieser gemeine, hinterfotzige und verlogene Mensch das Leben zur Hölle. Ich hatte kein Paradies mehr hier, seit dem frühen Tod meines Mannes, sondern die Hölle auf Erden. Falls ich ihm nicht helfen wollte, musste ich ganz schnell in die Stadt fahren, um ein Alibi zu haben.
Ganz langsam ging ich zurück zum Haus und setzte einen Kaffee auf. Den brauchte ich jetzt dringend zum Nachdenken. Was sollte ich tun? Helfen oder nicht? Es lag ganz in meiner Hand. Helfen oder nicht? Ich tendierte zu nicht. Es war ein ganz tolles Gefühl, ihn da hinten im Morast zu wissen, wie er im Dreck steckte und ängstlich auf Hilfe wartete … gefangen. Ich konnte entscheiden – ich!
Der Kaffee war fertig und ich genoss ihn in aller Ruhe und in vollen Zügen. Ich kam mir mächtig erlöst vor, endlich den Spieß einmal umdrehen zu können. Ich habe mich lange nicht so gut gefühlt, obwohl ich wusste, dass ich nicht richtig handelte. Ich konnte ja vor der Dämmerung nach hinten gehen und ihn zufällig finden, weil ich den Rest meiner abgeschnittenen Hecke, die seit Tagen hinter dem Haus lag, entsorgen wollte, zusammen mit den Ästen, die der Sturm heruntergeweht hatte. Ich würde ganz entsetzt entdecken, dass da ein armer Mensch eingesackt ist und würde ganz überrascht sein und mitleidsvoll. Und wenn er mir dann wütend erzählt, dass vor mir schon jemand da war, den er um Hilfe gebeten hatte, dann würde ich total erstaunt sein und eine Schimpftirade über diesen so ganz und gar nicht hilfsbereiten Menschen loslassen.
Der Kaffee schmeckte immer besser!
Inzwischen war es 15.30 Uhr und ich konnte mich immer noch nicht entschließen, nach hinten zu gehen. Naja, bis 21 Uhr war es ja taghell und ich konnte noch fünfeinhalb Stunden heimliche Schadenfreude empfinden, ja sogar genießen.
Ich wusch mich, zog mich um und machte mich schick für meinen Stadtbummel. Ich holte mein Auto aus der Garage und fuhr los, um mich für sein Missgeschick zu belohnen. Ha!, konnte das Leben doch schön sein. Als Beweis, dass ich ihn nicht gesehen hatte, brauchte ich ja sowieso einen Kassenzettel.
Es schien ein richtiger Glückstag zu sein heute, denn ich fand ein tolles Schnäppchen und belohnte mich dafür noch mit einem Weizen in meiner Lieblingskneipe. Außerdem war es gut, wenn mich viele Leute sahen, für den Fall der Fälle, dass dieser Mensch doch noch behauptete, dass ich ihn gesehen hätte.
Ich rief meine Freundin an, sie kam auch in die Kneipe und dann trank ich ein zweites Bier (was ich sonst nie tat) und noch ein drittes. Dann merkte ich, dass ich nicht mehr heimfahren konnte. Naja, fahren hätte ich noch können, aber die Polizei hätte da sehr viel dagegen gehabt. Also blieb ich bei meiner Freundin über Nacht in der Stadt. Meinen Nachbarn vergaß ich total, weil wir beide ziemlich angeheitert waren und uns mit unserem Nebenmann an der Bar angeregt unterhielten.
Erst am nächsten Morgen fiel der Nachbar mir wieder ein und ich schoss aus dem Bett hoch und ließ einen Schrei los: »Verdammt, ich habe ihn total vergessen!«
»Was hast du denn? Wen hast du vergessen? Warum schreist du denn so?«, wollte meine Freundin wissen.
»Meinen lieben Nachbarn, den Erpresser.«
»Kapier ich nicht. Das kannst du mir ja später erzählen. Jetzt möchte ich noch ein bisschen schlafen, wenigstens noch ein Stündchen, mir brummt der Kopf.«
»Nein, nein, ich muss sofort heim und ihn befreien, das wollte ich eigentlich gestern Abend noch machen.«
Jetzt wurde sie grantig und murrte: »Ich verstehe bloß Bahnhof und erwarte, dass du mich sofort aufklärst oder mit dem Mist aufhörst.«
Ich erzählte es ihr hastig und da brach es aus ihr heraus: »Wegen diesem gemeinen, verlogenen, unverschämten und bösartigen Schleimer muss ich jetzt aufstehen und du machst dir Vorwürfe, dass du ihn nicht rausgeholt hast? Ja spinnst du jetzt? Lass ihn doch da drin jaulen bis zum St. Nimmerleinstag. Lass ihn doch ganz versinken, dann bist du endlich alle, oder wenigstens fast alle Sorgen los und kannst endlich wieder richtig schlafen – und ich auch. Die ganzen Jahre habe ich mir deine Sorgen und Ängste angehört und mir Gedanken darüber gemacht, wie ich dir helfen könnte und nun willst du ihm helfen? Ich verstehe dich nicht, ganz und gar nicht. Was hat er denn da hinten eigentlich getan? Was hat der da schon wieder auf deinem Grundstück rumgeschnüffelt? Der hat sich doch selber in diese Lage gebracht, also ignoriere ihn einfach.«
Sie schüttelte mit dem Kopf wie ein Wackel-Dackel und sie schaute mich ziemlich böse an.
»Hast du vergessen, wie er dir das Leben schwer gemacht hat? Er hat dir das Leben zur Hölle gemacht und jetzt willst du ihm helfen! Er hat dich wie ein Stück Dreck behandelt, seit dem Tod deines Mannes, und jetzt hast du Mitleid mit ihm? Wie dumm bist du eigentlich?« Ihre Schimpftirade hörte gar nicht mehr auf und sie wurde immer lauter.
»Ich habe ja gar kein Mitleid mit ihm, aber ich muss ihm doch helfen, weil er mich sonst wieder anzeigt und ich möchte nicht schon wieder verlogene Dinge aufklären müssen, die er mir in die Schuhe schiebt.«
»Na, dieses Mal hätte er ja wirklich einen Grund, nämlich wegen unterlassener Hilfeleistung, und müsste nichts erfinden, wie all die anderen Male vorher, aber dieses Mal drehst du den Spieß einfach um und stellst dich dumm. Oder hat er dich etwa schon gesehen?«
»Nein, nein, auf gar keinen Fall, ich habe sogar meine Stimme verstellt und das war ganz schön schwierig.« »Na, wenigstens ein Lichtblick. Dem geht es doch gut da draußen im Moor, dem tut nichts weh und kalt ist es auch nicht. Der hat Glück, dass es so ein warmer Sommer ist, das hat er gar nicht verdient. Und dastehen und nur schauen hat er ja auf dem Balkon und am Küchenfenster jahrelang geübt. Nur Pech, dass er da hinten so gar nichts sehen kann und keiner vorbeigeht den er anquatschen und anschleimen kann und der ihn als großen Geschäftsmann bewundert. So ein Pech aber auch.«
Ihre Rede war irgendwie ansteckend und nahm mir mein schlechtes Gewissen, das ich in gewissem Sinne noch hatte. Es war nicht wirklich ein schlechtes Gewissen, sondern nur die Angst, dass ich in Schwierigkeiten kommen könnte wegen dieser nicht erbrachten Hilfeleistung. Aber musste ich mich selber in Gefahr bringen, wegen diesem erpresserischen Idioten?
»Ja, du hast ja recht, in jeder Beziehung. Erstmal lasse ich ihn noch schmoren und werde mir für jede Unverschämtheit, jede Gemeinheit und Lüge und Anzeige, die er mir verpasst hat, auch eine Gemeinheit einfallen lassen.«
»Na, endlich bist du schlau geworden. Und jetzt fahr heim und schau nach ihm. Und setz dich hin und nimm deine ganzen Notizen und füge sie zu einem Märchen zusammen, denn für eine wahre Geschichte ist das alles eigentlich zu unglaublich.
Ich fuhr heim, setzte das Wasser für meinen Frühstückstee auf und dann rannte ich in den Wald. Er stand noch in der gleichen Stellung da wie am Vorabend und ich machte mich nicht bemerkbar, sondern ging zurück ins Haus und fing an, mein Tatsachen-Märchen zu schreiben. Zuerst musste ich allerdings meine alten Taschenkalender der letzten Jahre und die kleinen Notizzettel zusammensuchen. Außerdem benötigte ich noch den Ordner mit den ganzen Briefen meines Rechtsanwaltes und den Gerichtsbeschlüssen.
Moorkatenkauf
Es war einmal ein alter Mann, der lebte mit seiner noch älteren Freundin in einer Moor-Kate am Rande eines kleinen Dorfes in Bayern. Mit im Haus lebten einige Katzen. Die Leute erzählten, dass der Mann früher, vor vielen Jahren einmal, ein Pony und eine Kuh besaß, aber das war lange her. Jetzt war er zu alt für die schwere Landarbeit und da hatte er eine Idee: Wie wäre es, wenn ich das nutzlose Moor einfach zuschütten lasse und danach kann ich Baugrundstücke daraus machen und verkaufen? Das Moor war sowieso die Mülldeponie des ganzen Dorfes und das ärgerte ihn schon seit Jahren. Die Schilder Schutt abladen verboten wurden einfach ignoriert. In seinem kleinen Birkenwäldchen rosteten Fahrräder, Springfederkernmatratzen, Kühlschränke, Dachrinnen, Rohre und alte Herde vor sich hin, ganz zu schweigen von Autoreifen, alten Töpfen und Tausend und Abertausend Dosen. So ein Moor hat überhaupt keinen Wert und bringt keinen Profit. Ich werde einmal mit einigen Straßenbaufirmen reden, dachte er sich.
Und so ließ der alte Mann das schöne Moor, in dem früher die Heide blühte und in das Maler aus der Stadt kamen, um die Naturschönheit auf Papier zu bannen, einfach zuschütten, mit Bauaushub und Teerplatten aus reparierten Straßen. Erst ein Bauplatz und dann ein zweiter und warum denn eigentlich nicht noch ein dritter? Das bessert die kleine Rente auf.
Die Lkws fuhren Tag um Tag und Woche um Woche, brachten Schutt und Geröll und luden alles immer näher an seiner Moor-Kate ab, waren nur noch fünf Meter davon entfernt. Langsam bekam der Mann es mit der Angst zu tun und verbot ihnen ausdrücklich, noch mehr Fuhren abzuladen. Aber jede der beteiligten Firmen dachte sich, dass noch ein oder zwei Fuhren nicht so tragisch wären und hielten sich nicht an seine Anweisungen. Die bösen Geister, die er selber rief, wurde er nun nicht mehr los.
Eines Tages, als gerade wieder ein Lkw mit einer Fuhre einer aufgelassenen Straße angefahren kam, rannte er aus dem Haus, stellte sich dem Laster in den Weg und füchtelte mit den Armen, um das Abladen zu verhindern. Ob der Fahrer ihn nicht sah oder einfach nicht reagieren wollte, hat man nie erfahren. Jedenfalls hielt er nicht an und der alte Mann musste in letzter Sekunde auf die Seite springen. Er regte sich fürchterlich auf, ging ins Haus und packte seinen Rucksack.
»Was machst du? Warum packst du deinen Rucksack?«, fragte ihn seine Lebensgefährtin. Sie war noch betagter als er und bekam es mit der Angst.
»Ich werde zur Gemeinde gehen und dem allem ein für alle Mal ein Ende bereiten.«
Er regte sich so sehr auf, dass er Schmerzen in der Herzgegend bekam. Alles Flehen seiner Freundin, er solle dableiben und erst morgen gehen, nützte gar nichts: »Ich muss zur Gemeinde laufen, diese Sache muss ein Ende haben. Ich muss mich über diese unverschämten Firmen aus der Nachbargemeinde beschweren!«
»Bitte, bitte, bleib wenigstens heute hier und geh morgen«, jammerte sie wieder, aber er blieb stur.
In höchster Erregung lief er also los und obwohl seine Schmerzen immer schlimmer wurden, schaffte er es gerade noch bis in die Amtsstube und dort brach er zusammen. Herzinfarkt! Er starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Der alte Mann war tot und das Moor bis auf einen kleinen Teil zugeschüttet. Das Einzige, das auf diesem Teil zu sehen war, waren drei Haufen mit Moor-Erde – schöne schwarze Moor-Erde, die übersät mit Disteln und Brennnesseln war. Alles andere war Lehm und Bauschutt. Nur im hinteren Teil seines Grund und Bodens und auf dem Nachbargrundstück war das Moor noch erhalten.
Der alte Mann hatte einen Sohn, der in der Stadt lebte. Dieser erbte nun das Geld für die Grundstücke mit den Bauplätzen und natürlich die alte Moor-Kate und die Freundin des alten Mannes noch dazu.
Das Geld war prima, aber die alte Hütte in diesem Moor war absolut nicht nach seinem Geschmack. Er wollte nicht auf dem Land leben und die Hütte war eigentlich so nicht bewohnbar. Außerdem gehörte er seit einiger Zeit einer Sekte an und musste täglich zur Versammlung gehen. Da er aber keinen Führerschein und kein Auto besaß, musste er in der Stadt wohnen bleiben.
Was tun? Er wollte die Hütte nicht und das verdreckte Grundstück erst recht nicht. Und was sollte er mit einem Moor anfangen? Da wuchs doch nichts Vernünftiges, das wusste jeder im Dorf. Nur dumm, dass die Freundin noch da lebte, die musste er, ob er wollte oder nicht, mit übernehmen, die konnte er nicht einfach ignorieren, das stand im Testament. Er nahm die Freundin mit zu sich in die Stadt und gab ein Inserat in der Zeitung auf, um die Kate und den Rest des kleinen Moores zu verkaufen.
***
Im gleichen Dorf, aber in der entgegengesetzten Richtung und nicht in dem Tal, wo das Moor war, sondern hoch oben auf dem Berg, hatte sich ein reicher Arzt aus der Großstadt ein ganz altes Bauernhaus gekauft und zum Teil selber renoviert. Die Freunde des Arztes, durch die er zu dem Hauskauf gekommen war, halfen dabei kräftig mit (sie glaubten zu der Zeit noch an Freundschaft). Eines Tages lagen die beiden Frauen zur Mittagspause unter einem Apfelbaum und lasen die Zeitung.
»Du, schau mal, die Anzeige klingt sehr interessant«, sagte Uli, die Ehefrau des Arztes. »Da steht: Bauernhaus im Dorf mit guter Zufahrt zu verkaufen. Der Preis ist angemessen und ihr wolltet doch schon lange so etwas!«
»Das stimmt schon, aber wenn es schon heißt gute Zufahrt, dann ist da doch etwas faul«, sagte ich und blinzelte wegen der Sonne.
Aber ich hatte eine Idee: Ich wollte meinen Bekannten, den zweiten Bürgermeister fragen, ob er mit mir hinfahren würde, um es anzuschauen. Zu was hat man denn gute Bekannte, die aus der Gegend kommen und im Dorf wohnen? Erstmal rief ich den Makler an und erkundigte mich, wo dieses gut zu erreichende Bauernhaus lag. Mir wurde die Adresse mitgeteilt und ich rief meinen Bekannten an und fragte ihn, ob er mir helfen würde. Natürlich wollte er und wir machten einen Termin aus.
Dann fuhren wir hin, um es zu besichtigen.
Oh Gott! Ein Bauernhaus war das auf gar keinen Fall, auch wenn es so in der Anzeige stand. Das Einzige, das stimmte, war der gute Zufahrtsweg; es lag genau an einer kleinen, allerdings nicht geteerten Straße. Nur drei ganz große Birken standen zwischen Haus und Schotterstraße. Die Bezeichnung Haus war stark übertrieben, weil man in einem Haus wohnen könnte, aber dies hier sah nicht danach aus. In welchem Zustand das wohl innen war?
Manuel, der Bekannte, stand da, schaute, kratzte sich am Ohr und meinte: »Das müsste man alles auffüllen, das Haus abreißen und neu bauen. Und dann das Grundstück … das ist ja eine Lebensaufgabe, um Gottes willen.«
»Heißt das, dass du das auf keinen Fall kaufen würdest, auch wenn das Haus bewohnbar wäre?«, fragte ich ihn.
»Niemals, auf gar keinen Fall, im Leben nicht.«
Da stand ich nun und blickte abwechselnd auf das Haus und das Grundstück, sah das Birkenwäldchen im Hintergrund und war verliebt, sah den Dreck im Vordergrund und war erschrocken. Was sollte ich tun? Ich wusste, wenn ich meinem Mann dieses Grundstück zeigte, dann gab es kein Halten, kein Zurück mehr. Sein großer Traum war immer schon gewesen, einmal nach Sibirien zu fahren, weil er die Birken so liebte und hier, genau hier war Kleinsibirien. Dieses kleine Birkenwäldchen würde ihn faszinieren, das wusste ich sofort, denn immer nach seinen Spaziergängen schwärmte er von den kleinen Mooren mit ihren jungen Birkenwäldchen. Und hier war genauso eines. Ich entdeckte Fieberklee, Wollgras, Primeln und viele vom Aussterben bedrohte Blumen wie Zittergras und Knabenkraut. Allerdings nur im Hintergrund, denn vorne sah man Teerplatten von den Straßenaufschüttungen, Kies, Lehm und Steine, Steine, Steine … Es gab keinen Humus (bis auf drei Unkrauthaufen), keine Wiese, kein Bäumchen, keine Blumen, nichts. Das wäre wirklich eine Lebensaufgabe, was sollte ich nur tun?
Ich fuhr nach Hause und grübelte. Den ganzen Tag ging es mir durch den Kopf: Sagst du es oder verschweigst du es? Es war eine verdammt schwierige Entscheidung, aber am Ende entschloss ich mich doch, meinem Mann zu erzählen, was ich gesehen hatte.
Mein Mann war in Hessen geboren, im Rheinland aufgewachsen und war genau das Gegenteil von einer rheinländischen Frohnatur. Er war hochintelligent und sehr belesen, aber nicht sonderlich lustig. Seine Größe hielt sich in Grenzen, aber er hatte eine gute Figur, nicht zu dick und nicht zu dünn. Er war der gewissenhafteste Mensch, der mir in meinem Leben untergekommen ist und ich bin nie einem schlagfertigeren Mann begegnet. Er liebte die Natur und vor allem die Moore. Wie könnte ich ihm da dieses Klein-Moor vorenthalten?
Als wir am Abend beim Essen saßen, sagte ich beiläufig: »Ich weiß jetzt, wo das Haus ist, ich habe es gesehen, vielmehr das Grundstück.«
»Welches Haus? Welches Grundstück?«
»Na das, von dem wir gesprochen haben, bei Michael auf dem Hof. Das Bauernhaus mit der guten Zufahrt, das in der Zeitung annonciert war.«
»Ach so, ach das, und? Was ist damit?«
Ich dachte, ich höre schlecht; der tat ja gerade so, als ob ihn das gar nichts anginge.»Willst du es nun wissen oder nicht? Oder hast du das Interesse verloren?« Jetzt hätte ich noch zurückgekonnt, aber lügen lag mir nicht und ich sprudelte heraus: »Das ist ein Haus im nächsten Dorf, vielmehr eine Hütte mit einem herrlichen Birkenwäldchen dabei. Wenn du willst, lasse ich mir den Schlüssel geben und wir schauen es uns an.«
»Wozu? So ernst war es mir nicht mit dem Hauskauf und außerdem haben wir doch gar nicht das Geld dazu. Das können wir uns nicht leisten.«
Ich muss ziemlich entgeistert geschaut haben, weil er plötzlich einlenkend meinte: »Na also gut, dann schauen wir uns das halt mal an.«
Wir fuhren also am nächsten Tag zu dem Grundstück – noch ohne Schlüssel – und es trat ein, was ich befürchtet hatte: Mein Gatte war hellauf begeistert. Er sah nur das Wäldchen – er sah nicht die Schutthalden, Brennnesseln, Disteln, Steine und Teerplatten – er sah nur die Birken. Ihn interessierte auch nicht das Haus, das wir immer noch nicht gesehen hatten, aber er sagte zu mir: »Weib, fahr heim und rechne!« – Damals sagte er immer Weible oder Weib zu mir. Später hieß es Frau oder Alte.
Ich telefonierte wieder mit dem Makler und der sagte mir, dass er schon 40 Anfragen bekommen hätte und ich das Haus gleich am Nachmittag von innen besichtigen könnte. Am darauffolgenden Nachmittag sollte aber ein Ehepaar kommen, das Kaufvorrang hatte. Ich sollte also nicht lange trödeln. Ich traf mich sofort mit dem Makler vor Ort und besah mir das Innenleben dieser Moor-Kate.
Um Gottes willen, das durfte doch nicht wahr sein! Ich glaubte, dass ich träumte und gleich wieder aufwachen würde. Da war nicht ein einziges Zimmer, das irgendwie bewohnbar gewesen wäre. Mir wurde fast schlecht, so sehr stank es im ganzen Haus, und wo immer ich auch hinblickte sah ich nur Dreck, Dreck und nochmals Dreck!
Der Makler sah mein erschrockenes Gesicht und erklärte, dass das Haus den ganzen Winter leer gestanden hätte und bei diesem strengen Winter die Rohre aufgefroren waren und das Wasser überall raus lief. Deshalb auch dieser fürchterliche Meuchelgeruch.
Ich fand es erstaunlich, dass dieses kleine, alte Haus überhaupt eine Ölheizung hatte, aber diese schwarze Brühe überall jagte mir schon Angst ein.
»Wissen Sie, der alte Mann war es leid immer Bäume zu fällen, Holz zu hacken, zu spalten, aufzuschichten zum Trocknen, dann ins Haus hineinzuschleppen und dann die Asche wieder hinauszutragen. Er bastelte sich dann selber eine Heizung. Aber warten Sie mal, ich zeige Ihnen gleich, in welchem Zimmer er sich über den Winter aufgehalten hat.«
»Das glaube ich nicht, das ist ja die Heizung«, entfuhr es mir. Die selbst gebastelte Heizung sah auch genauso aus.
Ich konnte es kaum glauben, aber es war wahr: Der Alte hatte in einer Kombination aus Heizungskeller, Küche und Bad gewohnt! Links von der Tür an der Wand stand ein altes Küchenbuffet aus den 50er-Jahren. In der Mitte stand ein alter aber ganz stabiler Tisch und drum herum vier Stühle, auch stabil, aber total verdreckt. Dann fiel mein Blick zur Wand auf der gegenüberliegenden Seite und ich sah mit Erstaunen eine Badewanne. Über der Badewanne war ein kleines Fenster, das die Fensterläden nicht außen hatte, sondern nach innen. Eigentlich war es kein Fensterladen, sondern eine Klappe, so wie es die Farmhäuser im Wilden Westen hatten, um die Indianer abzuhalten. Die Idee war gar nicht so schlecht, nur ungewohnt. Indianer gab es hier zwar keine, aber Kälte im Winter. Auf jeden Fall praktisch.
Als ich den Blick weiterschweifen ließ, meinte der Makler: »Ich kann fast Ihre Gedanken lesen, denn wegen der Kälte hat er die Klappe sicher nicht angebracht, das glaube ich nicht. Das war wohl eher wegen der Bequemlichkeit, wo doch direkt daneben die Heizungs-Kästen und Maschinen und der Kessel stehen und Wärme abgeben.«
Normalerweise sieht man solche Sachen nur im Film, aber hier war es Wirklichkeit. Der alte Mann hatte hier seine Heizöfen aufgestellt, die das ganze Haus versorgten, aber die meiste Zeit (oder die ganze?) wohnte er hier im Heizungskeller, den er gleichzeitig als Bad und Küche benutzte. Ich konnte es nicht fassen.
Der Makler zog mich fort von diesem Ort. »Kommen Sie, es sieht nicht überall so schlimm aus. Das hier könnte man ja als Sauna oder Heizungskeller benutzen.«
Wir gingen in den ersten Stock und schauten uns vier kleine Räume, zwei Flure und ein weiteres Bad an. Und Türen, Türen und nochmals Türen, wie unten. Es waren schöne alte Holztüren mit jeweils vier oder fünf Schichten Farbe darauf. Aber so viele? Da müsste man als Allererstes eine Menge davon herausreißen, falls man sich zum Kauf entschließen sollte. Falls! Es standen auch noch einige alte Sachen herum und Bilder mit wunderschönen alten Holzrahmen hingen an den Wänden.
»Ja, natürlich sind diese Sachen alle im Kaufpreis enthalten«, antwortete der Makler auf meine Frage. Das klang wie Musik in meinen Ohren, denn ich war Antiquitätenliebhaber. Wie sagte meine Mutter immer? »Die Ellen kann jedes alte G’lump gebrauchen; je älter, je besser. Furchtbar, was die so alles mit in ihre alte Hütte schleift.« Und meine Tante meinte: »Ja, wenn man halt so einen armen Schlucker, so einen Studenten heiratet, dann kann man sich eben nichts Gescheites leisten und muss mit dem zufrieden sein, was andere Leute auf den Müll werfen.« Mit gescheit meinte sie die Nierentisch-Àra. Selbst meine beste Freundin aus der Schulzeit sagte nach einigen Jahren: »Also ich weiß nicht, so möchte ich nicht leben; lauter alte Schränke im Haus, da würde ich mich nicht wohlfühlen.« Ich sagte nichts darauf, denn sonst hätte ich ihr erklären müssen, dass ich nicht mit Pressspanmöbel, die zudem auch noch geschmacklos und furchtbar hässlich sind, leben wollte. Es kann ja nicht jeder den gleichen Geschmack haben, aber ich vermutete damals, dass es der Neid war, der aus ihr sprach.
Doch zurück zum Haus: Im Geiste gehörte mir dieser alte schwarze und potthässlich angemalte Schrank schon.
»Tja, reden Sie mit Ihrem Mann und wir sehen uns dann alle morgen, wenn der andere Interessent seiner Frau das Haus zeigt.«
Leicht deprimiert fuhr ich nach Hause und schilderte meinem Mann die Zustände in dieser Hütte. Der war mittlerweile fest entschlossen, seinen Traumwald zu kaufen und meinte, dass man doch alles reparieren und herrichten könne. Das schon, aber mein Vater sagte doch immer, dass Alex, mein Gatte, zwei linke Hände hätte und als Handwerker überhaupt nichts tauge. Aber der Opa, dieser Alleskönner, war tot; wer nur sollte in diesem Haus etwas machen? Wie sollte das bloß gehen?
Am nächsten Tag fuhren mein Mann und ich, wie mit dem Makler verabredet, zum Haus und kamen gerade an, als ein großer Mercedes vorfuhr.
Ich sagte zu Alex: »Halt, steig noch nicht au. Warte ein bisschen, ich möchte die Frau unseres Konkurrenten erst sehen.«
»Wozu?«, fragte er seine Lieblingsfrage.
»Das erkläre ich dir später.« Ich wollte sehen, wie unsere Chancen standen.
Wir warteten kurz und plötzlich sah ich ein Paar Stöckelschuhe aus dem Auto hervorschauen. Ich wusste sofort, dass wir gewonnen hatten.
Ich klärte Alex auf: »Die Moor-Kate gehört uns, denn wenn die erst einmal in das Haus hineinschaut, dann fliegt die rückwärts wieder raus und kaufen tun die zwei das Grundstück auch nicht, auch wenn der Ehemann noch so gerne eine Gärtnerei aufziehen möchte.«
Die Dame stieg aus dem Auto; sie hatte lange rote Fingernägel und dazu das schicke rote Kostüm an. Ich sah ihren Blick zum Haus hinüber.
»Wie kannst du so sicher sein?«, fragte Alex.
»Das wirst du gleich sehen.«
Das Ehepaar ging also zum Haus und begrüßte den Makler. Sie verschwanden in der Kate und wir warteten